FÜNF ÄNGSTE IN KAFKAS DIE VERWANDLUNG VON LUCIE

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FÜNF ÄNGSTE IN KAFKAS DIE VERWANDLUNG VON LUCIE
FÜNF ÄNGSTE IN KAFKAS DIE VERWANDLUNG
VON LUCIE ORTMANN
Kafka und Angst – beinahe könnte man soweit gehen zu behaupten, die zwei seien
Synonyme. Mit dem Adjektiv »kafkaesk« beschreiben wir – oft ohne ein konkretes
Beispiel aus dem Kafkakosmos im Sinn – diffuse Erfahrungen der Angst, der
Unsicherheit und des Ausgeliefertseins an anonyme, bürokratische Mächte,
Erfahrungen der Schuld und inneren Verzweiflung, absurde Situationen der Auswegund Sinnlosigkeit. Sucht man nach Zuständen der Angst, beispielsweise in Die
Verwandlung, tauchen zahlreiche, oft ganz konkrete Beispiele auf: Unruhe,
Hilflosigkeit, Melancholie, Schmerz, Kälteschauer, Erschrecken, Vorsicht, höchste,
schmerzliche Aufregung, Not, Erregung, Ärger, Wagnis, Gefahr, Sorge, Furcht,
Bedrohung, Bedenken, Zögern, Scham... Elke Heidenreich hat über Kafka pointiert
festgehalten: »Da hat einer immer nur Angst. Angst vorm Vater, vor den Frauen, vor
Mäusen, vorm Büro, ein Mann über einen Meter achtzig groß, unter sechzig Kilo
meist, was für ein armes banges kleines Hühnchen und dann so eine riesige
Fluchtfantasie im Kopf! Da will er ein Käfer sein! Ungeziefer wie Gregor Samsa,
Ungeziefer wie sein jüdischer Freund Jizchak Löwy, den sein Vater so bezeichnet
hat: als Ungeziefer. Ein Käfer müsste man sein, einfach im Bett bleiben, allenfalls ab
und zu die Wände hoch krabbeln, und nur ja kein Sex, lieber die Dame mit dem Pelz
auf dem Bild betrachten und ein wenig träumen…« [Das Buch als Magazin: Die
Verwandlung, München: 2013, S. 57]
Bezeichnenderweise beginnen beide Stoffe von Kafka, die auf dem Spielplan des
Schauspiel Hannover stehen, mit einer ähnlichen Situation: Die Protagonisten
erwachen und irgendetwas ist wesentlich anders als sonst. In das vertraute,
routinierte Leben platzt plötzlich eine sonderbare Begebenheit hinein – eigentlich
schon ein Grund zur Panik, tun die Helden dies allerdings zunächst als möglichen
Scherz oder als Illusion ab. Josef K. ruft in Der Prozess eines Morgens das
Dienstmädchen nach dem Frühstück, dass er nicht wie üblich vorfindet, und wird
anschließend von zwei inoffiziellen, grotesken Handlangern »verhaftet«. Der
Handelsreisende Gregor Samsa verschläft in Die Verwandlung eines Morgens zum
ersten Mal in seinem Leben und findet sich im Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer
verwandelt. In beiden Fällen beginnt die Geschichte auf der Schwelle zwischen
Nacht und Tag, Schlaf und Wachsein. Samsa beschreibt: »Er erinnerte sich, schon
öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten
Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung
herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich
auflösen würden. Dass die Veränderung der Stimme nichts anderes war, als der
Vorbote einer tüchtigen Verkühlung, einer Berufskrankheit der Reisenden, daran
zweifelte er nicht im geringsten.« Doch die Vorstellungen lösen sich eben nicht
allmählich auf, sondern die Bedrängnis von Josef K. und Gregor Samsa steigert sich
kontinuierlich – bis die Ereignisse in beiden Fällen obendrein mit dem Tod enden.
Im Folgenden greife ich fünf Ängste auf, die in der Erzählung Die Verwandlung eine
tragende Rolle spielen:
1. Die Angst, seine Arbeit zu verlieren
Als Gregor Samsa aufwacht und feststellt, dass sich sein Körper anders anfühlt als
sonst, gilt seine erste Sorge nicht sich selbst und dieser sonderbaren Veränderung,
sondern der Tatsache, dass er verschlafen und den Zug verpasst hat und dass er
dringend zur Arbeit muss. Er ahnt bereits, dass sein Fehlen sofort bemerkt und
geahndet werden würde – die Firma würde einen Angestellten, vielleicht sogar den
Krankenkassenarzt zur Kontrolle vorbei schicken. »Man kann im Augenblick unfähig
sein zu arbeiten, aber dann ist gerade der richtige Zeitpunkt, sich an die früheren
Leistungen zu erinnern und zu bedenken, dass man später, nach Beseitigung des
Hindernisses, gewiss desto fleißiger und gesammelter arbeiten wird. Ich bin ja dem
Herrn Chef so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich
die Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde mich
aber auch wieder herausarbeiten«... Er hätte sich ja längst krankmelden sollen, aber:
»Man denkt eben immer, dass man die Krankheit ohne Zuhausebleiben überstehen
wird.« So versucht Gregor den Prokuristen, der höchstpersönlich zu den Samsas
gekommen ist, um sich nach seinem Verbleib zu erkundigen, von sich und seiner
Arbeitswilligkeit zu überzeugen. Gregor hatte, so berichtet die Mutter, nichts im Kopf
als die Arbeit, abends saß er immer noch lange da und studierte die Fahrpläne. Er
war noch nie zu spät gekommen und hatte noch nie gefehlt, nicht einen Tag
krankgefeiert. Nun hat er den Zug verpasst und liegt noch immer im Bett, unfähig
aufzustehen. Vater, Mutter und Schwester sind in heller Aufregung, denn die Familie
lebt von Gregors Einkommen. Und Gregor wartet auf den Moment, an dem die
Familie ihn endlich zu Gesicht bekommt: »Würden sie erschrecken, dann hatte
Gregor keine Verantwortung mehr und konnte ruhig sein. Würden sie aber alles ruhig
hinnehmen, dann hatte auch er keinen Grund sich aufzuregen, und konnte, wenn er
sich beeilte, um acht Uhr tatsächlich auf dem Bahnhof sein.«
Aus heutiger Perspektive könnte man Gregors Verwandlung durchaus als Fall des so
genannten Burnout-Syndroms lesen: als einen Zustand körperlicher, emotionaler und
geistiger Erschöpfung aufgrund beruflicher Überlastung, der ihn schließlich komplett
lähmt. Die Stress-Expertin Carola Kleinschmidt bemerkt in diesem Zusammenhang:
»Das Frontalhirn – das ist die Hirnregion, die für klares Denken zuständig ist – ist vor
allem im entspannten Zustand aktiv. Wenn der Körper aber zu viele Stresshormone
ausschüttet, die nicht abgebaut werden, dann wird vor allem das Angstzentrum im
Hirn angeregt.« [DIE ZEIT, 26.9.13]
2. Die Angst vor dem Ausschluss aus dem menschlichen Kreis
Neben der existentiellen Not seinen Arbeitsplatz um jeden Preis zu erhalten, wird ein
Grund für Fälle des Burnout-Syndroms in einer zunehmenden Vereinsamung
ausgemacht: Der Zerfall von Familien und Gemeinschaften, fehlende Bindungen
außerhalb der Erwerbsarbeit gäben dem Job für viele Menschen eine überragende
Bedeutung, ja die einzige Quelle für Lebenssinn [vgl. Süddeutsche Zeitung zur
Zukunft der Arbeit, 20.12.11]. Das tschechische Wort Samsa bedeutet übrigens so
viel wie der Einsame: »Ich bin allein«. Gregor beklagt den für ihn als
Handelsreisenden üblicherweise nie andauernden, nie herzlich werdenden
menschlichen Umgang. Neben der Familie scheint es ohnehin keine engeren
Vertrauten in seinem Leben zu geben und das Verhältnis der Familie zu Gregor ist,
trotz der enormen Leistung, die er für deren Lebensunterhalt bisher aufgebracht hat,
nicht von einer besonderen Wärme und Nähe geprägt. Die Familie hatte sich schnell
daran gewöhnt, dass Gregor viel arbeitete und dass er das Geld nach Hause
brachte. In seiner neuen Situation spürt Gregor den Wunsch nach Unterstützung und
hofft auf den Moment, in dem die Familie seine Verwandlung – seine Notlage und
Hilfsbedürftigkeit – bemerken würde. Ihn freut es bereits, dass die Eltern nach einem
Schlosser, der die Tür zu seinem Zimmer aufbrechen, und nach einem Arzt, der ihn
gegebenenfalls untersuchen soll, schicken: »Die Zuversicht und Sicherheit, mit
welchen die ersten Anordnungen getroffen worden waren, taten ihm wohl. Er fühlte
sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt
und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, großartige und
überraschende Leistungen.«
Später versucht Gregor durch größte Rücksichtnahme sein neues, nutzloses Dasein
der Familie so erträglich wie möglich zu machen. Nun, da alle anderen gemeinsam
für den Lebensunterhalt aufkommen mussten, beschämte ihn das sehr: »Wer hatte in
dieser abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um Gregor mehr zu
kümmern, als unbedingt nötig war?«... »Was die Welt von armen Leuten verlangt,
erfüllten sie bis zum äußersten.« Zwei Monate nach seiner Verwandlung, hält Gregor
fest, dass der Mangel jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit
dem einförmigen Leben inmitten der Familie, seinen Verstand hatte verwirren
müssen. Denn die Familie geht ganz automatisch davon aus, dass Gregor durch
seinen Sprachverlust auch sie nicht mehr verstehen kann: »Wenn er uns verstünde,
dann wäre vielleicht ein Übereinkommen mit ihm möglich. Aber so – .«
3. Die Angst vor dem Vater
Kafka plante Die Verwandlung gemeinsam mit anderen Texten unter dem Übertitel
Die Söhne zu publizieren. Das eigene konfliktreiche Verhältnis zum Vater hat er
wenige Jahre nach Die Verwandlung in seinem Brief an den Vater, einem Text, den
er allerdings nie abschickte, festgehalten. Seine Protagonisten, so auch Josef K. aus
Der Prozess und Gregor Samsa aus Die Verwandlung, sind in der Regel
Junggesellen – junge Männer, die zwar ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, sich
aber (noch) nicht aus dem familiären Kontext gelöst haben beziehungsweise keine
eigenen Familien gegründet haben. Auch Josef K. konzentriert sein Leben komplett
auf seine Arbeit in der Bank und scheitert an der Verwirklichung seines
»Lebensglücks«. In ähnlicher Weise rechtfertigt sich Gregor: »Wenn ich mich nicht
wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef
hin getreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt.« Es
ist eine umso härtere Einsicht, dass der Vater ihn nicht über die tatsächlichen
Vermögensverhältnisse aufklärt und seinen Sohn somit in gewisser Weise ausbeutet
und betrügt. Der Vater ist es auch, der seinen verwandelten Sohn mehrfach brutal
verletzt: Gregor wusste noch vom ersten Tage seines neuen Lebens her, dass der
Vater ihm gegenüber nur die größte Strenge für angebracht ansah. Es sind sehr
patriarchalische Familienverhältnisse, die Kafka hier schildert. In Die Verwandlung ist
das Verhältnis des Sohnes zum Vater darüber hinaus durch Konkurrenz geprägt –
Gregor hatte quasi die Aufgaben des Familienoberhaupts und des Ernährers, des
Versorgers der Familie übernommen. Durch seine Verwandlung muss der Vater
diese Rolle wieder übernehmen und blüht dadurch in dieser auch regelrecht (wieder)
auf.
4. Die Angst vor der eigenen Potenz
In Die Verwandlung berichtet Gregor vom Wunsch der Schwester, am
Konservatorium Violinspiel zu studieren, an dessen Verwirklichung aber nicht zu
denken war, die Eltern hörten nicht einmal die unschuldigen Erwähnungen gerne.
Kafka kam neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit selbst einem Brotverdienst
nach – er arbeitete als hoher Beamter einer Versicherungsgesellschaft – und sein
Vater, so berichtet er, schätzte seine literarische Arbeit überhaupt nicht. Dies mag
bürgerliche, pragmatische Gründe gehabt haben, also Unverständnis einer wie auch
immer gearteten künstlerischen Laufbahn gegenüber, und/oder auch tatsächlich
einem beschränkten finanziellen Hintergrund geschuldet gewesen sein, der es einem
nicht zu erlauben schien, Risiken bei der Berufswahl einzugehen. Vladimir Nabokov
beschreibt Gregor in seiner Vorlesung zu Kafkas Die Verwandlung als Künstler, als
ein Genie in einer spießigen Umgebung. Gregor versucht demnach zugunsten eines
künstlerischen Lebens und seiner Selbstverwirklichung die Enge der Verhältnisse zu
verlassen – schlägt einen Weg der Erkenntnis aus der Selbst-Entfremdung und
reinen Funktionalität an: in dem Sinne kann auch der Apfel als Symbol einer
verbotenen Erkenntnis gelesen werden, den der Vater schließlich auf seinen Sohn
wirft, der ihn dann auch verletzt: ein Stück Apfel bleibt im Ungeziefer-Rücken stecken
und verfault dort.
Bezeichnenderweise kommt Gregor nur in seltenen Momenten auf die Idee, seinen
verwandelten Körper positiv zu sehen und dessen Potentiale zu erproben. Einmal
beschreibt er, wie gerne er an der Decke hängt und an den Wänden entlang kriecht.
Er braucht auch relativ lange, bis er den neuen Körper überhaupt nutzen kann.
5. Die Angst vor Insekten
Kafkas Die Verwandlung spielt auf ein phantastisches Motiv der Literatur an: Die
Verwandlung in ein Tier. Heute kennen wir dieses Motiv hauptsächlich aus dem
Horror- oder Science-Fiction-Genre, aber auch in Märchen und Sagen tauchen
Tierverwandlungen auf. In beiden Fällen gibt es meist einen Grund: Götter, Hexen,
überirdische Wesen verwandeln jemanden als Strafe oder aus reiner Lust heraus. Im
Bereich des Horror spielen Tiere ohnehin eine große Rolle: die Angst vor dem
Fremden, dem Gefährlichen – vertraute oder domestizierte Tiere wie etwa die Vögel
bei Hitchcock oder ein Haustier wie der Hund werden plötzlich bedrohlich, monströs.
Insekten kommt hierbei noch mal größere Bedeutung zu: sie lösen durch ihr
Aussehen und bestimmte Fähigkeiten besonders stark auch Faszination und Ekel
aus – man denke auch an Buñuels und Dalís berühmte Ameisen. Im Science-FictionHorror-Genre kommen den Protagonisten die besonderen körperlichen Fähigkeiten
zu –
Aber in seiner Abscheu gegenüber dem ausbeuterischen Angestelltendasein und
seinem Widerstand gegen die »normalen«, bürgerlichen Familienverhältnisse, die in
seiner drastischen Inaktivität und Trägheit kulminieren, ist Gregor Samsa letztlich
wahrscheinlich Figuren wie Melvilles Bartleby oder auch Gontscharows Oblomow
doch näher, als den von Göttern in Tiere verwandelten Figuren von Ovid und auch
näher als den durch Experimente verwandelten Wissenschaftlern aus Spider-Man
oder Die Fliege.