Einleitung: Wie entsteht Betrug in der Wissenschaft?

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Einleitung: Wie entsteht Betrug in der Wissenschaft?
Einleitung:
Wie entsteht Betrug in der Wissenschaft?
Das Thema »Betrug in der Wissenschaft« ist zweifellos sehr interessant, aber auch schwierig und vielschichtig und wird deshalb
nur relativ selten aufgegriffen. Journalisten sind meist nur an publikumswirksamen EinzelfaÈllen interessiert, die kurz und heftig
aufgekocht werden, um dann schnell wieder von den Titelseiten
zu verschwinden. Wenn weitreichende BetruÈgereien bekannt werden, befasst sich manchmal sogar die Politik damit und man versucht kurzfristig Maûnahmen zu ergreifen, um solche VorgaÈnge
in Zukunft moÈglichst zu verhindern. Da aber jeder Betrugsfall
anders gelagert ist, kann man nur schwer allgemein guÈltige Verfahrensregeln aufstellen und gut wirksame Vorsichtsmaûnahmen ergreifen. Manchmal wird in dieser Hinsicht auch zuviel
des Guten getan. In den USA fuÈhrten z. B. in den achtziger
Jahren des 20. Jahrhunderts mehrere spektakulaÈre BetrugsfaÈlle
dazu, dass der Kongress in Washington einen Untersuchungsausschuss einsetzte, der sich intensiv mit Betrug und FaÈlschung in
der biomedizinischen Forschung beschaÈftigte. Das Thema wurde
dadurch so aufgeheizt, dass zeitweilig geradezu eine Hexenjagd
nach BetruÈgern und FaÈlschern begann. Dabei wurden auch weitgehend unschuldige Wissenschaftler, wie z. B. der NobelpreistraÈger David Baltimore heftig attackiert (S. 96).
In Deutschland erregten etwa 10 Jahre spaÈter BetruÈgereien vor
allem im Bereich der Krebsforschung groûes Aufsehen und
beschaÈftigten auch die Gerichte. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft formulierte daraufhin einen Verhaltenskodex, an den
sich jeder Wissenschaftler halten muss, der von ihr FoÈrdermittel
erhaÈlt (S. 158).
Naturwissenschaftler interessieren sich fuÈr BetrugsfaÈlle meist
nur dann intensiver, wenn sie als Beschuldigte oder Gutachter
in entsprechende AffaÈren verwickelt werden. Eine freiwillige ausfuÈhrlichere BeschaÈftigung mit diesem Thema birgt auch die
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XI
Abb. 1
Gefahr in sich, als »Nestbeschmutzer« verdaÈchtigt zu werden.
Soweit feststellbar, war der groûe englische Mathematiker Sir
Charles Babbage (1792 1871) der Erste, der sich systematisch
mit dem BetrugsphaÈnomen in der Wissenschaft beschaÈftigt hat.
In seinen 1830 in London erschienenen »Betrachtungen uÈber
den Niedergang der Wissenschaft in England« widmete er ein
Kapitel dem Thema Wissenschaftsbetrug. Babbage stellte darin
eine Klassifikation von verschiedenen Betrugsformen auf, die
auch heute durchaus noch als guÈltig angesehen werden kann.
Als schlimmste Form des Betrugs nannte Babbage das »forging«. Darunter verstand er die Erfindung oder totale FaÈlschung
von Ergebnissen und Beobachtungen. Dabei herrscht im Allgemeinen das Ziel vor, einen schnellen wissenschaftlichen Erfolg
verkuÈnden zu koÈnnen, ohne die dafuÈr notwendige Datenbasis erarbeiten zu muÈssen. Babbage hielt diese Art des Betruges in der
Wissenschaft fuÈr eher selten und diese EinschaÈtzung duÈrfte wohl
auch fuÈr den heutigen Wissenschaftsbetrieb noch guÈltig sein. Es
gibt allerdings einige spektakulaÈre FaÈlle von Totalbetrug, wie z. B.
die geradezu unglaublich dreiste FaÈlschungsserie des Dr. Alsabti
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(S. 128) oder die kriminellen Machenschaften von Dr. Borison
und Dr. Diamond (S. 147).
Sehr viel weiter verbreitet ist aber zweifellos das von Babbage
als »cooking« bezeichnete Verfahren. Es bedeutet, dass die Ergebnisse durch das Weglassen abweichender Messwerte »geschoÈnt«
werden. Fast jeder ehrliche Wissenschaftler wird zugeben muÈssen, dass er dieser Versuchung schon mehr oder minder oft erlegen ist. Man befindet sich damit durchaus in guter Gesellschaft,
denn auch von vielen groûen Forschern wird angenommen, dass
sie in dieser Hinsicht gesuÈndigt haben. Das gilt fuÈr Gregor Mendel (S. 54) ebenso wie fuÈr Albert Einstein (S. 25) oder fuÈr Robert
Millikan (S. 21). Wahrscheinlich ist es manchmal sogar notwendig, einzelne stark abweichende Messwerte wegzulassen,
um eine GesetzmaÈûigkeit in der unuÈbersichtlichen Datenflut
zu erkennen. Vielleicht gehoÈrt es zur GenialitaÈt einzelner Wissenschaftler, dass sie intuitiv erfassen, welche Werte wichtig sind
und welche vernachlaÈssigt werden koÈnnen. Auch Babbage hielt
deshalb das »cooking« fuÈr nicht unbedingt schaÈdlich, solange
dadurch die Mittelwerte, die durch Zusammenfassung mehrerer
Messungen entstehen, nicht wesentlich verschoben werden.
GefaÈhrlicher erscheint dagegen ein Verfahren, das Babbage
»trimming« nannte und das im Deutschen oft »Datenmassage«
genannt wird. Dabei werden Messwerte so lange bewusst manipuliert, bis sie in ein vorgefasstes Erwartungsschema passen.
Zu diesem Zweck werden nicht selten auch statistische Verfahren
mehr oder minder deutlich missbraucht.
Ein Meister der Datenmanipulation war zweifellos der beruÈhmte englische Physiker und Mathematiker Isaac Newton
(S. 12). Er bearbeitete viele seiner Messungen mit relativ willkuÈrlich festgelegten Korrekturfaktoren. Dank seiner genialen FaÈhigkeiten gelang ihm mit diesem, nach heutigen MaûstaÈben nicht
ganz sauberen Verfahren, die AufklaÈrung vieler Naturgesetze.
Eine unbewusste Datenmanipulation entsteht haÈufig dadurch,
dass bei Untersuchungen z. B. bekannt ist, welches Material aus
der Kontroll- bzw. Behandlungsgruppe stammt. Bei der Datenerhebung ergibt sich dann nachweislich fast immer eine mehr
oder minder deutliche VerfaÈlschung, ohne dass man dabei eine
Betrugsabsicht unterstellen kann. Besonders deutlich ist dieser
Effekt bei pharmazeutischen Therapieversuchen feststellbar, wesEinleitung: Wie entsteht Betrug in der Wissenschaft?
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halb man in diesem Bereich den Doppelblindversuch als Standard eingefuÈhrt hat. Dabei weiû weder der Arzt noch der Patient,
ob ein echtes Medikament oder ein Plazebo verabreicht wird. Dieses Verfahren ist aber leider nicht in allen wissenschaftlichen
Bereichen anwendbar und deshalb muss man in diesen FaÈllen
immer die Gefahr einer unbeabsichtigten Datenbeeinflussung
im Auge behalten. Oft gibt es auch einen flieûenden Ûbergang
zwischen unbewusster und bewusster Datenmanipulation, sodass eine klare Grenzziehung nicht moÈglich ist.
Auf eine weitere Form des wissenschaftlichen Fehlverhaltens,
naÈmlich das Plagiat ist Babbage in seinen AusfuÈhrungen nicht
eingegangen. Vermutlich hat er sich dafuÈr nicht sonderlich interessiert, weil es in dem Bereich der Mathematik keine besonders
groûe Rolle spielt. In anderen Bereichen, insbesondere den Geisteswissenschaften, ist aber der Betrug durch unkorrekte Nutzung
fremden Gedankenguts durchaus nicht selten. Da die Geisteswissenschaften aber in dem vorliegenden Buch weitgehend
ausgeklammert bleiben, werden auch keine entsprechenden
Beispiele angesprochen. Immerhin wird aber eines der aÈltesten
Plagiate aus dem Bereich der Astronomie vorgestellt (S. 3) und
auch aus der Medizin wird uÈber einen sehr fleiûigen Plagiator
berichtet (S. 128).
Eine eher vergnuÈgliche Form des Wissenschaftsbetrugs stellt
das »hoaxing« dar. Ins Deutsche laÈsst sich das englische Wort
»hoax« am ehesten als »Scherz« oder »Jux« uÈbersetzen. Dabei
wird mit einer mehr oder minder gut vorbereiteten FaÈlschung
ein anderer Wissenschaftler oder eine ganze Gruppe auf eine
falsche FaÈhrte gelockt. Wenn die IrrefuÈhrung gelungen ist, wird
die FaÈlschung mit viel Spott aufgedeckt. Ein klassisches Beispiel
fuÈr einen solchen Jux sind die WuÈrzburger LuÈgensteine (S. 213).
Nicht immer laÈsst sich aber ein wissenschaftlicher Jux von
einem echten Betrugsversuch unterscheiden. So raÈtselt man bis
heute daruÈber, ob der beruÈhmt-beruÈchtigte »Piltdown-SchaÈdel«
urspruÈnglich als Scherz gedacht war oder ob eine Betrugsabsicht
vorlag (S. 225). Eine aÈhnliche Unklarheit besteht bei den Berichten des Carlos Castaneda (S. 240) und bei den Ica-Steinen aus
Peru (S. 248).
Mit dem vorliegenden BuÈchlein verfolgte ich nicht das Ziel,
den moralischen Zeigefinger zu erheben, um damit auf verXIV Einleitung:
abscheuungswuÈrdige BetruÈgereien und FaÈlschungen hinzuweisen. Vielmehr wollte ich in kurzgefasster Form die interessantesten BetrugsfaÈlle vorstellen und dabei aufzeigen, wie vielfaÈltig die
MoÈglichkeiten fuÈr FaÈlschungen und Mogeleien in den verschiedenen Wissenschaftsgebieten sind. Es sollte auch deutlich werden, dass nicht jeder BetruÈger ein verachtenswerter Mensch ist,
sondern oft auch durch widrige UmstaÈnde eher zu einem
Opfer wird. In manchen FaÈllen haben ja mehr oder minder
starke Datenmanipulationen sogar dazu beigetragen, dass wichtige neue Erkenntnisse gewonnen werden konnten.
Die Auswahl der aufgenommenen FaÈlle erfolgte ziemlich
willkuÈrlich entsprechend meinen vor allem naturwissenschaftlich orientierten Interessen. Die nicht erwaÈhnten Wissenschaftsbereiche sollten daher keinesfalls fuÈr betrugsfrei gehalten werden. Zur leichteren Orientierung wurden die »Betrugsgeschichten« grob nach wissenschaftlichen Disziplinen geordnet. In
einigen FaÈllen war die ZugehoÈrigkeit allerdings nicht eindeutig,
sodass auch hier eine gewisse WillkuÈr zum Tragen kam. FuÈr
die Leser mit weiter gehenden Interessen werden am Ende des
Buches fuÈr jeden Betrugsfall einige Literaturhinweise gegeben.
Das relativ ausfuÈhrliche Schlagwortregister und Personenverzeichnis sollen ein schnelles Auffinden von bestimmten Textstellen ermoÈglichen.
Um den eigenen Mangel an ausreichenden Fachkenntnissen in einigen Wissensgebieten auszugleichen, habe ich einige
Kollegen gebeten, die entsprechenden Kapitel kritisch durchzusehen. FuÈr diese wertvolle Hilfe moÈchte ich mich herzlich bei
Prof. Dr. Wolfgang Trommer aus dem Fachbereich Chemie
sowie bei Dr. Hans-Jochen Foth aus dem Fachbereich Physik
und Dr. Burkhard Lehmann aus dem Fachbereich Wirtschaftsund Sozialwissenschaften der UniversitaÈt Kaiserslautern bedanken.
FuÈr den archaÈologisch-anthropologisch orientierten Abschnitt
konnte ich auf familiaÈre UnterstuÈtzung durch meinen Bruder
Dr. Franz Zankl zuruÈckgreifen, dem ich dafuÈr ebenfalls herzlich
danke. Auch meine Frau Dr. med. Merve Zankl hat mich in dankenswerter Weise unterstuÈtzt, indem sie vor allem die aus dem
medizinischen Bereich stammenden Geschichten kritisch durchgesehen hat.
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Das Schreiben des Manuskripts lag in den bewaÈhrten HaÈnden
von Frau Gabriele Seidel, der ich dafuÈr zu besonderem Dank
verpflichtet bin. Frau Vera Fritzinger hat mich insbesondere bei
der Erstellung der Abbildungen tatkraÈftig unterstuÈtzt, wofuÈr ich
ihr herzlich danke. Nicht zuletzt moÈchte ich mich bei Frau
Dr. Gudrun Walter bedanken, die sich als Projektverantwortliche
beim Wiley-VCH Verlag sehr dafuÈr eingesetzt hat, dass das Buch
in der vorliegenden Form erscheinen konnte.
XVI Einleitung:
Ein historisches Plagiat
Der ptolemaÈische Sternenkatalog
Claudius PtolemaÈus lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus
in Alexandria. Er war wohl der beruÈhmteste Geograph, Mathematiker und Astronom des Altertums. In den Jahren 142 ±146 n. Chr.
verfasste PtolemaÈus sein bedeutendstes Werk, das den Titel »Syntaxis Mathematica« traÈgt und dreizehn BuÈcher umfasst. Die Benennung des Gesamtwerks aÈnderte sich im Lauf der Zeit mehrfach. ZunaÈchst wurde die Bezeichnung »Megale (Groûe) Syntaxis« eingefuÈhrt, um es so von einer kleineren Sammlung astronomischer
Arbeiten abzugrenzen. In spaÈteren Jahren wurde das Wort
»megale« (groû) durch die Steigerungsform »megiste« (groÈûte)
ersetzt. Man wollte damit deutlich machen, dass das Werk von
Ein historisches Plagiat
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uÈberragender Bedeutung ist. Die Araber setzten noch »al« davor,
sodass die Bezeichnung »almagesti« entstand. Das bedeutet soviel
wie »groÈûtes Werk aller Zeiten«. In der lateinischen RuÈckuÈbersetzung entstand dann der Name »Almagestum«, der heute weitgehend in der AbkuÈrzung »Almagest« gebraÈuchlich ist.
Das siebente Buch des Almagestum enthaÈlt einen sehr umfangreichen Katalog von Fixsternen. PtolemaÈus entwickelte aufgrund dieses Katalogs das sog. »geozentrische Weltsystem«, das
davon ausging, dass die Erde still steht und die Planeten sich
in mehr oder minder kreisfoÈrmigen Bahnen um die Erde bewegen. Das ptolemaÈische Weltbild behielt fast 1500 Jahre seine Bedeutung. Erst durch Kopernikus wurde der Glaube an dieses Weltensystem erschuÈttert, indem er 1543 nachwies, dass die Sonne
der Mittelpunkt des Planetensystems ist und damit das heliozentrische Weltbild schuf. Trotzdem blieb der Ruf des PtolemaÈus als
groÈûter Astronom des Altertums bis heute erhalten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fiel den amerikanischen Astronomen C. H. Peters und E. B. Knobel jedoch auf, dass so manches im ptolemaÈischen Katalog nicht stimmte. RuÈckrechnungen
aufgrund der heutigen Position einiger Fixsterne ergaben, dass
Abb. 2
Claudius PtolemaÈus
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viele Angaben von PtolemaÈus eindeutig falsch waren. Die Abweichungen waren zum Teil so hoch, dass sie nicht mit seinen
damals noch recht beschraÈnkten BeobachtungsmoÈglichkeiten zu
erklaÈren waren. Bei der Suche nach den Ursachen fuÈr diese auffaÈlligen Fehler machten die beiden amerikanischen Forscher eine
peinliche Entdeckung: Der groûe PtolemaÈus hatte offensichtlich
fuÈr seinen Sternenkatalog die Berechnungen des Hipparchos
von Nicaea verwendet, ohne den eigentlichen Urheber zu benennen. Der griechische Gelehrte Hipparchos, der oft auch abgekuÈrzt Hipparch genannt wird, lebte um 150 v. Chr. und gilt
heute als BegruÈnder der wissenschaftlichen Astronomie. Peters
und Knobel fassten ihre Ergebnisse 1915 in einem Aufsehen erregenden Buch zusammen, das den Titel trug »Der Sternenkatalog
des PtolemaÈus. eine Revision des Almagest«. Darin vertraten sie
die Ansicht, dass PtolemaÈus den gesamten Sternenkatalog des
Hipparchos abgeschrieben und lediglich rechnerisch auf den
neuesten Stand gebracht hatte. Eigene Beobachtungen waren
demnach von PtolemaÈus gar nicht durchgefuÈhrt worden.
WaÈhrend Peters und Knobel in dieser Hinsicht nur Vermutungen anstellten, gelang es dem Astronomen Dennis Rawlins, das
Plagiat sogar zu beweisen. Er zog dafuÈr folgende Fakten heran:
PtolemaÈus war Øgypter und hielt sich fast ausschlieûlich in Alexandria auf. Der Grieche Hipparchos machte jedoch die meisten
seiner astronomischen Beobachtungen auf Rhodos. Alexandria
liegt fuÈnf Breitengrade suÈdlich von der Insel Rhodos. Dort ist deshalb ein etwas anderer Himmelbereich zu sehen als von Alexandria aus. Dementsprechend kann man an den beiden Orten zum
Teil auch andere Sterne beobachten. Rawlins stellte aber fest, dass
unter den 1025 Sternen, die im ptolemaÈischen Katalog aufgefuÈhrt
sind, sich keiner befindet, der nur von Alexandria aus zu sehen
war. Obwohl PtolemaÈus praktisch immer in Alexandria arbeitete,
hatte er dort nur Daten von Sternen erhoben, die auch von Rhodos aus zu beobachten waren. Diese Tatsache laÈsst den Schluss
zu, dass PtolemaÈus sich gar nicht erst die MuÈhe machte, eigene
astronomische Daten zu erheben, sondern die Ergebnisse des
Hipparchos einfach uÈbernommen und nur etwas umgerechnet
hat. Auch die Beispiele im Almagest fuÈr die LoÈsung von Aufgaben in der sphaÈrischen Astronomie beziehen sich alle auf
den Breitengrad von Rhodos.
Ein historisches Plagiat
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Zu ganz aÈhnlichen Ergebnissen kam auch der amerikanische
Physiker Robert Newton, der 1977 ein Buch schrieb, dessen
etwas provozierenden Titel man ins Deutsche ungefaÈhr mit:
»Die Ûbeltat des Claudius PtolemaÈus« uÈbersetzen kann. Darin
zeigt er anhand von vielen FaÈllen auf, dass PtolemaÈus so gut
wie keine astronomischen Beobachtungen durchgefuÈhrt hat,
sondern fast alle niedergeschriebenen Daten nur anhand einer
Theorie abgeleitet wurden.
Am deutlichsten wird diese Mogelei an einem Beispiel: PtolemaÈus schrieb, dass er die Tag- und Nachtgleiche (Øquinoktium)
im Herbst des Jahres 132 n. Chr. am 25. September um zwei
Uhr morgens »mit groÈûter Sorgfalt gemessen« habe. Mit dieser
Angabe wollte er unter anderem beweisen, dass bereits Hipparchos die Dauer eines Jahres sehr genau bestimmt hatte. Newton
rechnete anhand moderner Tabellen das Datum zuruÈck und
stellte fest, dass im Jahr 132 n. Chr. das Øquinoktium bereits
am Morgen des 24. September um 9 Uhr eingetreten sein musste. PtolemaÈus Angaben waren also um etwa 17 Stunden falsch.
Bei der Suche nach der Ursache fuÈr diese deutliche Abweichung
stellte Newton fest, dass PtolemaÈus die Zeitangabe von dem
Datum abgeleitet hatte, das 278 Jahre vorher von Hipparchos erhoben worden war. PtolemaÈus hatte lediglich eine rechnerische
Korrektur fuÈr die inzwischen vergangenen Jahre vorgenommen.
Er hatte also seine Hypothese durch Anwendung seiner eigenen
Theorie bestaÈtigt. HaÈtte er sich der MuÈhe unterzogen, das Øquinoktium wirklich selbst zu bestimmen, waÈre ihm aufgefallen,
dass die zeitliche Jahresbestimmung des Hipparchos doch nicht
so perfekt war wie er angenommen hatte. Auch ein deutscher
Autor namens G. Grasshoff hat sich mit diesem Thema beschaÈftigt und 1984 das Buch »Geschichte des PtolemaÈischen Sternenkatalogs« veroÈffentlicht, in dem er uÈber viele Ungereimtheiten in
diesem beruÈhmten Katalog berichtete.
Nach diesen harten VorwuÈrfen gegen den Altmeister der Astronomie meldeten sich auch einige Verteidiger. Vor allem der Astronomiehistoriker Owen Gingerich gab zu Bedenken, dass man an
Forschungsberichte des Altertums nicht die gleichen MaûstaÈbe
anlegen duÈrfe, wie an moderne wissenschaftliche Arbeiten. Gingerich raÈumt zwar auch ein, dass der Almagest »einige recht verdaÈchtige Zahlen« enthaÈlt. Aber er vertritt trotzdem die Auffas6 Physik und Mathematik
sung, dass PtolemaÈus durchaus selbst Beobachtungen gemacht
hat, dann aber nur die Ergebnisse zur Niederschrift brachte, die
zu seinen Theorien passten. Eine TaÈuschungsabsicht kann man
ihm deswegen nach Meinung von Gingerich nicht unterstellen.
Trotz allen Wohlwollens muss man aber doch festhalten, dass
PtolemaÈus etwas zu groûzuÈgig mit dem Gedankengut anderer umgegangen ist. Zumindest aus heutiger Sicht erscheint der Vorwurf
des Plagiats zu Lasten Hipparchos' durchaus gerechtfertigt.
Das aÈndert aber nichts daran, dass PtolemaÈus trotzdem einer
der groÈûten Gelehrten seiner Zeit war. Neben seinen umfangreichen astronomischen Werken schrieb er ein achtbaÈndiges Werk
(»Geographia«), das unter anderem die astronomische Lagebestimmung von 8000 Orten der antiken Welt enthaÈlt. Auûerdem
verfasste er bedeutende Schriften zur Erkenntnistheorie (»Kriterion«), zu den mathematischen Musiktheorien (»Harmonik«)
und zu optischen Fragestellungen (»Optik«).
Die fallende Kanonenkugel
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Falscher Útzi?
Unklarheiten um den Mann im Eis
Als »Útzi« wird landlaÈufig der Steinzeitmensch bezeichnet, der
1991 in den Útztaler Alpen entdeckt wurde.
Der Fund stellte eine archaÈologische Sensation dar, aber er
war auch von so vielen ZufaÈllen und MerkwuÈrdigkeiten begleitet,
dass bald der Verdacht einer FaÈlschung aufkam. Trotz groûer
Fortschritte in der Erforschung des Fundes konnten bis heute
noch nicht alle offenen Fragen zur vollen Zufriedenheit geklaÈrt
werden.
Die abenteuerliche Geschichte der Entdeckung des »Útzi« begann am 18. September, als das Ehepaar Simon zu einer Gebirgswanderung aufbrach. Herr und Frau Simon gaben spaÈter an, dass
sie urspruÈnglich nur eine Tagestour unternehmen wollten, den
Gipfel der Similaunspitze aber erst am spaÈten Nachmittag erreicht haÈtten, sodass sie sich spontan entschlossen, auf der SimilaunhuÈtte zu uÈbernachten. Wegen des schoÈnen Wetters kehrten
die Simons am naÈchsten Tag nicht wie geplant gleich ins Tal zuruÈck, sondern bestiegen noch die Finailspitze. Auf dem RuÈckweg
stieûen sie dann nach einem Umweg uÈbers Hauslabjoch auf eine
menschliche Leiche, deren OberkoÈrper aus dem Eis ragte. Sie
kehrten deshalb zur SimilaunhuÈtte zuruÈck und meldeten dort
den grausigen Fund. Der HuÈttenwirt informierte umgehend die
Abb. 43
Der mumifizierte Steinzeitmensch »Útzi«
Falscher Útzi?
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Polizei und stieg dann selbst zu dem Fundort auf. Dort fand er
die beschriebene Leiche, daneben aber auch einen Bogen, eine
Axt und ein hoÈlzernes Tragegestell, die von den Simons angeblich
nicht gesehen worden waren. Nach Auskunft des Wirtes waren
die FundstuÈcke sehr auffaÈllig an einen Felsen gelehnt, sodass
es etwas merkwuÈrdig ist, dass das Ehepaar Simon sie nicht bemerkt haben will.
Noch viel seltsamer erscheint der Zufall, dass kurz danach der
bekannte Bergsteiger Reinhold Messner mit zwei Begleitern auf
die SimilaunhuÈtte kam. Dort war er mit dem Volkskundler
Hans Haid und dessen Frau verabredet. Als der HuÈttenwirt
ihnen von dem Leichenfund berichtete, brachen Messner und
Haid mit ihrer Begleitung sofort zu dem Fundort auf. Dort angekommen, will Messner gleich erkannt haben, dass es sich um
einen wichtigen historischen Fund handelte. Er benachrichtigte
sofort eine italienische Zeitung, die bereits am naÈchsten Tag
einen ausfuÈhrlichen und detailreichen Bericht uÈber den Leichenfund brachte. Unter anderem wurde darin beschrieben, dass der
Tote eine Axt in der Hand hielt und dass die Beine des Toten mit
Lederriemen umwickelt waren. Auch von grasgefuÈllten Schuhen
an den FuÈûen war die Rede. Diese Beobachtungen sind insofern
hoÈchst merkwuÈrdig, als die Axt vor dem Eintreffen Messners bereits durch einen Polizisten entfernt worden war. Auûerdem
steckte der Leichnam bis zur HaÈlfte in Eis bzw. Schmelzwasser,
sodass seine Beine und FuÈûe gar nicht sichtbar waren. Die Lederriemen und Grasschuhe waren aber tatsaÈchlich vorhanden. Der
gleiche Journalist, der innerhalb weniger Stunden einen langen
Artikel fuÈr die Zeitung Alto Adige parat hatte, veroÈffentlichte bereits 6 Wochen spaÈter ein Buch mit dem Titel »Der Mann, der
aus dem Eis kam«.
Auch Hans Haid verarbeitete den Fund schriftstellerisch in der
schnell herausgebrachten Neuauflage seines Buches »Mythos
und Kult in den Alpen«, was die Verkaufszahlen zweifellos
stark erhoÈhte.
Angesichts dieser publizistischen Geschwindigkeitsrekorde ist
verstaÈndlich, dass das GeruÈcht entstand, der Fund sei wohl nicht
so zufaÈllig gewesen wie er dargestellt wurde.
Am Montag, den 23. September traf dann endlich der erste
wissenschaftlich geschulte Mann am Fundort ein. Es war Pro254 ArchaÈologie, Anthropologie und Ethnologie
fessor Rainer Henn, der als Chef des Gerichtsmedizinischen Instituts der UniversitaÈt Innsbruck groûe Erfahrung mit Gletscherleichen hatte. Er wurde verstaÈndigt, weil ja noch Unklarheiten
daruÈber bestanden, wie der Mann im Eis zu Tode gekommen
war. Henn ging bei der Bergung nicht besonders fuÈrsorglich
mit dem Leichnam um, was vermutlich darauf beruhte, dass er
das ganze fuÈr einen schlechten Scherz hielt. Henn, der kurz
danach toÈdlich verungluÈckte, hat sich dazu oÈffentlich nur wenig
geaÈuûert. Sein damaliger Oberarzt und spaÈterer Nachfolger
schilderte die Geschehnisse aber so: »Henn sah auf den ersten
Blick, dass es sich um keinen Gletschertoten handelte, der
aus dem Eis ausgeapert wurde. FuÈr ihn war es von Anfang
an eine deponierte Mumie, ein Jux. Das Ganze hat ihn sehr
amuÈsiert ... .«
Vollkommen anders sah das allerdings Professor Konrad
Spindler, der Inhaber des Lehrstuhls fuÈr Ur- und FruÈhgeschichte
der UniversitaÈt Innsbruck. Er kam am 24. September ins Gerichtsmedizinische Institut. Ohne die Leiche naÈher in Augenschein zu nehmen, betrachtete er kurz die neben dem Leichnam
gefundene Axt und eilte schon nach wenigen Minuten zum Telefon, um das Wissenschaftsministerium in Wien anzurufen. GegenuÈber dem oÈsterreichischen Rundfunk aÈuûerte sich Spindler
kurz darauf folgendermaûen: »Als ich heute morgen um acht
Uhr zum erstenmal den Leichnam zusammen mit den beigefundenen Artefakten sah, war es sofort klar, dass es sich um einen
vorgeschichtlichen Fund handelt. Die mitgefundenen GegenstaÈnde sind so typisch fuÈr die fruÈhe Bronzezeit, dass an dem
Alter 2000 vor Christi Geburt, 4000 vor heute, nicht die geringsten Zweifel bestehen koÈnnen.«
Diese Aussage war zum damaligen Zeitpunkt recht kuÈhn,
denn das Alter der Leiche war noch voÈllig unklar und die Beigaben haÈtten durchaus auch gefaÈlscht sein koÈnnen. Spindler
hatte aber GluÈck, denn im weiteren Verlauf der Untersuchungen
ergaben mehrere Radiokarbon-Analysen in verschiedenen
Labors, dass der Leichnam etwa 5300 Jahre alt ist. Immerhin
hatte sich Spindler aber bei seiner spontanen Datierung um
1300 Jahre vertan.
Sein Gegenspieler, Professor Henn, hatte allerdings gute
GruÈnde, an dem hohen Alter der Gletscherleiche zu zweifeln.
Falscher Útzi?
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Die Fachleute waren sich naÈmlich darin einig, dass Leichen in
einem Gletscher nur relativ kurze Zeit erhalten bleiben, weil
sie durch die darin stattfindende Flieûbewegung zerrieben werden. Auûerdem war die lederartige Mumifizierung des Toten
auch sehr untypisch. Bei Gletscherleichen wird das KoÈrperfett
normalerweise in Leichenwachs umgewandelt, wodurch das Gewebe ein styroporaÈhnliches Aussehen erhaÈlt. Vor allem das atypische Aussehen der Leiche fuÈhrte zu der Hypothese, dass es sich
dabei um eine Mumie handeln koÈnnte, die aus einem anderen
Teil der Welt stammt und in die Útztaler Alpen verbracht wurde,
um eine archaÈologische Sensation vorzutaÈuschen. UnterstuÈtzt
wird diese These durch seltsame TaÈtowierungen am RuÈcken
und am rechten Fuû des Toten, aber auch durch fehlende Genitalien, die evtl. auf eine Kastrierung hindeuten koÈnnten.
Einen schweren RuÈckschlag erhielt diese FaÈlschungstheorie allerdings durch das Ergebnis einer Analyse von Útzis Erbsubstanz.
Dabei ergab sich eine groûe Ûbereinstimmung mit den Werten,
die fuÈr europaÈische BevoÈlkerungsgruppen typisch sind. Daraus
kann man zumindest schlieûen, dass die Leiche nicht von
einem anderen Kontinent stammt, denn sonst muÈssten groÈûere
Unterschiede im Erbgut vorhanden sein. Andere Untersuchungen lassen sogar vermuten, dass der Tote aus der Gegend des
heutigen SuÈdtirols stammte. Gegen eine FaÈlschung spricht
auch der Fundort. Er lag so dicht an der oÈsterreichisch-italienischen Grenze, dass zunaÈchst unklar war, wer zustaÈndig ist.
Deshalb wurde die Leiche von den Ústerreichern geborgen,
aber spaÈter nach Italien uÈberfuÈhrt und im ArchaÈologie-Museum
in Bozen ausgestellt. HaÈtte tatsaÈchlich jemand die Mumie vergraben, so waÈre ihm sicher ein besser gelegenes Versteck eingefallen, das beim inszenierten »Fund« zu keinen Streitigkeiten
uÈber die ZustaÈndigkeit gefuÈhrt haÈtte.
KuÈrzlich ist allerdings eine neue MerkwuÈrdigkeit aufgetreten.
Obwohl der »Útzi« in den letzten 10 Jahren von Kopf bis Fuû
nach allen Regeln der Kunst untersucht wurde, fand sich auf einmal in seiner Schulter ein Pfeil, der bis jetzt unentdeckt geblieben war. Ob er letztlich den Tod des Mannes verursacht hat,
konnte bisher noch nicht geklaÈrt werden. Es ist gut moÈglich,
dass »Útzi« noch weitere Ûberraschungen fuÈr die Wissenschaftler bereit haÈlt. Dass er sich aber doch noch als FaÈlschung heraus256 ArchaÈologie, Anthropologie und Ethnologie
stellt, erscheint nach dem heutigen Wissensstand ziemlich unwahrscheinlich.
FaÈlschung auf Japanisch
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