Pauken und plappern

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31. August 2010, 00:00 Uhr
Fremdsprachen
Pauken und plappern
Von Annette Bruhns
Mindestens zwei Fremdsprachen soll jeder EU-Bürger können, lautet das politische Ziel. Aber was ist die
beste Lernmethode? Was nützt Latein? Und wie sinnvoll ist Englisch im Kindergarten?
Der Brite Daniel Tammet spricht Deutsch mit weichem Akzent, nur seine R-Laute kratzen im Hals. Der 31-Jährige hat
das Asperger-Syndrom und ist ein "Savant", ein Inselbegabter. In der TV-Runde bei "Beckmann" demonstrierte er
vergangenes Jahr ein Wunder: dass ein Mensch nahezu perfektes Deutsch in kaum mehr als einer Woche lernen
kann.
Er liebe Sprachen, Deutsch etwa sei "poetisch, elegant, transparent", schwärmte Tammet. Und praktischerweise
fingen deutsche Wörter für kleine runde Dinge gleich an: "Knopf, Knospe, Knolle". Eifrig warb er für seine intuitive Art
des Lernens, ohne Grammatik, ohne Vokabelpauken und mit "viel Spaß".
Anderen Deutschlernern wird diese unorthodoxe Vorgehensweise leider wenig nützen. Schon die "Kn"-Regel ist keine:
"Knecht", "Kneipe" und "Knarre" sind weder klein noch rund. Tammet kann die Wörter trotzdem. Aber wie
Normalsterbliche am besten Fremdsprachen lernen, das weiß er offenbar nicht.
Genau weiß das niemand. Auch unter Sprachforschern, Lernpsychologen und Lehrern herrscht große Uneinigkeit über
fast alle fundamentalen Fragen zum Fremdsprachenlernen: den besten Zeitpunkt, die beste Methode, die nötige
Intensität. Sicher ist immerhin, dass eine spezielle Sprachbegabung nicht erforderlich ist - deren Existenz steht
ohnehin in Zweifel. Jedes Kind erwirbt schließlich seine Muttersprache. Warum sollte ein Mensch nicht jede
Fremdsprache erlernen können?
Jungs schnatterten auf Englisch flüssiger als Mädchen
Auch dass Mädchen besser Fremdsprachen beherrschen als Jungen, ist nicht bewiesen. Bei der ersten großen
Untersuchung des Schülerenglisch, "Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International" (Desi) im Schujahr 2003/
2004, staunten die Forscher nicht schlecht: Bei einem zehnminütigen Testtelefonat auf Englisch schnatterten die
Jungen flüssiger als die Mädchen.
Gewiss, Menschen können unterschiedlich gut Laute imitieren. Abgesehen davon, so Elsbeth Stern, Professorin für
Lern- und Lehrforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, liegen die individuellen
Unterschiede aber eher in der Bereitschaft, eine Sprache zu lernen, sowie in der Effizienz. "Auch die Vorstellung, es
gebe unterschiedliche Lerntypen - visuelle, auditive, verbale", sagt Stern, "ist wissenschaftlich nicht zu halten."
Sinnvoll sei ein methodisch vielfältiger Unterricht, der jeden Lernkanal - Ohr, Auge, Sprechapparat - bediene.
Sterns Erkenntnisse sind kein Allgemeingut. Eltern entscheiden, dass ihre Kinder Latein lernen statt einer lebenden
Fremdsprache, weil sie meinen, dass es den Sprösslingen am nötigen Sprachtalent mangele. Und weil sie glauben,
was Anhänger der Altphilologie predigen: dass Latein das logische Denken fördere und als romanische "Ursprache"
die Sprache sei, die man als Erste lernen müsse.
"Latein lernen dient dem Latein können", stellt Stern klar, "es konnten keinerlei Transfereffekte auf mathematisches
oder logisches Denken nachgewiesen werden."
Auch beim Lernen weiterer Fremdsprachen nützt Latein oft herzlich wenig. Wer etwa Spanisch lernen will, dem hilft
mehr, wenn er in der Schule vorher Französisch hatte, wie Stern in einer Vergleichsuntersuchung mit zwei
Spanischanfänger-Gruppen nachwies. Nach 30 Stunden Unterricht wurden beide Gruppen getestet. Ergebnis: Die
Lateingruppe hinkte der Französischgruppe im Spanischen deutlich hinterher - gerade auch in der Grammatik.
Trotz allem - Eltern stehen auf Latein. Und: Viersprachig aufwachsen? Kann doch jedes Kind
Den Vorsprung der Französischsprecher erklärt die Forscherin mit der Strukturähnlichkeit von Französisch und
Spanisch. Diese romanischen Sprachen sind untereinander verwandter als mit ihrer gemeinsamen Wurzel Latein.
Darüber hinaus trainiert Lateinlernen nicht die Sprechfähigkeit - und schon gar nicht den Mut zum Fehler. Beim
Erlernen einer modernen Fremdsprache ist dieser Mut Teil des Erfolgs: "Goed" als Vergangenheit von "to go" (gehen)
ist im Englischen zwar nicht korrekt. Einem guten Lehrer beweist der Versuch aber Fortschritt: Der Schüler hat die
reguläre "ed"-Endung der Vergangenheitsform ("laughed", "helped") verinnerlicht. Nun muss er nur noch die
Ausnahmen ("went" statt "goed") lernen.
Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass in einem Europa, das die Mehrsprachigkeit seiner Bürger als Ziel
definiert hat, immer mehr deutsche Eltern ihren Nachwuchs den a.c.i. (accusativus cum infinitivo) pauken lassen. So
wuchs der Anteil der Lateinlerner an Gymnasien von 26 Prozent im Schuljahr 2000/2001 auf 32 Prozent 2008/2009.
Dabei muss die Empfehlung der EU-Kommission, dass jeder EU-Bürger neben der Muttersprache zwei weitere
europäische Sprachen beherrschen soll, kein frommer Wunsch bleiben. Jedes Kind kann sogar viersprachig sein,
behauptet zumindest der Neurobiologe Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig.
http://www.spiegel.de/spiegelwissen/0,1518,druck-715594,00.html
20.11.2010