Steigende Nahrungsmittelpreise: Wetterereignisse bedrohen

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Steigende Nahrungsmittelpreise: Wetterereignisse bedrohen
Aktueller Kommentar
Steigende Nahrungsmittelpreise: Wetterereignisse bedrohen ohnehin labiles
Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage
14. Januar 2011
Der deutliche Anstieg der Nahrungsmittelpreise hat eine Diskussion um eine möglicherweise erneut
bevorstehende Lebensmittelkrise entfacht. Nach Angaben der UN Food and Agriculture Organisation in
der letzten Woche sind die Preise für Grundnahrungsmittel im vergangenen Monat auf Rekordniveaus
angestiegen. Weltweit stiegen die Lebensmittelpreise zwischen Juni und Dezember 2010 drastisch: um
57% für Getreide, 56% für Öle und Fette sowie um 77% für Zucker. Die Preise für Weizen, Mais, Zucker
und Ölsaaten haben mittlerweile ihre Höchststände der Jahre 2007-2008 übertroffen. Wie Robert Zoellick,
der Präsident der World Bank Group, es ausdrückt, entwickelt sich der Preisanstieg erneut zu einer
Bedrohung für das globale Wachstum und die soziale Stabilität.
Wetterbedingte Ernteausfälle waren wichtige Treiber der
jüngsten Preiserhöhungen bei Lebensmitteln. Die
Trockenperiode und Waldbrände in Russland im vergangenen
Sommer haben weltweit zu einer Verknappung des
Weizenangebots geführt, die durch das Exportverbot noch
verschärft wurde. Die jüngsten Überschwemmungen in Teilen
Australiens haben ebenfalls drastische Auswirkungen auf die
Weizenernte. Trockenes Wetter in Südamerika und dem Westen
der Great Plains in den USA könnten dieses Problem weiter
verschärfen. Alle diese Wetterereignisse scheinen im
Zusammenhang mit dem sogenannten La Nina-Phänomen zu
stehen, das niedrige Temperaturen an der Meeresoberfläche im
äquatorialen Pazifik beschreibt, also das Gegenteil von El Nino.
Unter den Klimawandel-Experten besteht ein breiter Konsens
darüber, dass extreme Wetterereignisse immer häufiger auftreten
werden, was die Agrarpreise sowie die Ölpreise beeinflussen wird.
Insbesondere deshalb, weil diese Wetterphänomene im Kontext
eines ohnehin labilen Gleichgewichts zwischen Angebot und
Nachfrage auftreten.
Weiterhin strukturelle Einschränkungen. In der Tat wird der
Verbrauch von Agrarprodukten durch steigende Einkommen und
Bevölkerungszahlen, höhere Energiepreise und die subventionierte
Produktion von Biokraftstoffen in die Höhe getrieben. Gleichzeitig leiden Produktivität und Produktionswachstum
durch eine Verknappung von Land und Wasser, Unterinvestitionen in die ländliche Infrastruktur und
Agrarwissenschaften sowie den begrenzten Zugang der Landwirte zu agrarischen Rohstoffen. Der
Preistransmissionsmechanismus zwischen internationalen und lokalen Märkten ist komplex, d.h. abhängig von
Handelsvolumina, Wechselkursen, Transportkosten etc., und sollte weiter untersucht werden. Da der derzeitige
Preisauftrieb hauptsächlich auf wetterbedingte, angebotsseitige Schocks zurückzuführen ist, kann gerechnet
werden, dass sich die extremen Preise etwa innerhalb eines Jahres zurückbilden werden.
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Aktueller Kommentar
Die Volatilität der Lebensmittelpreise dürfte aufgrund
zeitweiliger Angebotsverknappungen in Kombination mit eher
strukturell bedingten Problemen (sowie der zunehmenden
Verknüpfung mit dem Ölpreis) auch auf längere Sicht hoch
bleiben. Die Agrarexporte sind in der Regel stark konzentriert; die
wichtigsten agrarischen Rohstoffe kommen aus zwei bis drei
Ländern. Dies bedeutet, dass Ernteausfälle oder regulatorische
Veränderungen in einem dieser Länder massive Auswirkungen auf
die Weltmarktpreise haben können. Wie bereits erwähnt, werden
Preissteigerungen durch Angebots- und Nachfragefaktoren
ausgelöst (Bevölkerung, Einkommen, Produktivität, Energiepreise,
Politikmaßnahmen), wobei in einigen Fällen auch Spekulationen
eine Rolle gespielt haben können. Dies wird vermutlich die
Aufmerksamkeit der Regulierungsbehörden erregen, die eine
größere Transparenz fordern dürften, damit Derivate auch weiterhin
ihrem ursprünglich zugedachten Zweck dienen können (nämlich
Preisvolatilitäten aufzufangen). So werden in einem Umfeld
niedriger Zinsen Agrarrohstoffe zunehmend als attraktive AssetKlasse gesehen, die Gelegenheiten zum Hedging bieten, da sie
eine geringe Korrelation mit anderen Finanzanlagen aufweisen.
Die Inflation der Lebensmittelpreise gibt besonders in Ländern mit geringen Einkommen Anlass zur
Sorge. Hohe Lebensmittelpreise haben in der Vergangenheit zum Ausbruch sozialer Unruhen in einigen
lateinamerikanischen, asiatischen und afrikanischen Ländern beigetragen. Die derzeitigen Unruhen in Algerien
und Tunesien (in einem Umfeld wirtschaftlicher und politischer Spannungen und hoher Arbeitslosigkeit) wurden
zum Teil durch die hohen Preise für Nahrungsmittel ausgelöst. In einigen Ländern hat sich die Inflation der
Nahrungsmittelpreise drastisch beschleunigt, so z.B. auf 18,3% in Indien, 15,6% in Indonesien, 11,7% in China
(gegenüber Gesamtinflationsraten von 9,7%, 7% bzw. 5,1%). Insbesondere in Ländern, in denen die arme
Bevölkerung einen Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgibt, ist dies offensichtlich ein Grund zur
Sorge. Über die durchschnittliche Inflation hinaus besteht bei einigen Lebensmittelpreisen ein größeres soziales
Konfliktpotential, so zum Beispiel bei Preisen für Produkte mit besonderer kultureller Bedeutung, wie Tortillas in
Mexiko, Gimchi in Korea und Zwiebeln in Indien. Ob hohe Preise zu einer Nahrungsmittelkrise führen hängt zum
Teil auch davon ab, inwiefern es den einzelnen Ländern gelingt, kurzfristig die ärmeren Bevölkerungsschichten zu
schützen und langfristig die landwirtschaftliche Produktion zu steigern.
Globales Handeln auf Seiten des öffentlichen und privaten Sektors gefordert. Kurzsichtige Reaktionen, wie
das Horten von Nahrungsmitteln oder Exportverbote (die für die lokalen Landwirte möglicherweise weitere
Einkommensverluste bedeuten) könnten die angespannte Situation noch verschärfen, wohingegen ein weltweit
koordiniertes Handeln das Potenzial birgt, die negativen Auswirkungen temporärer Preisspitzen auf die
Bevölkerung und Volkswirtschaften der armen Länder und somit auf das globale Wirtschaftswachstum zu
begrenzen. Die G20-Staaten haben die Möglichkeit, sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen – wie z.B. die
Bereitstellung lokaler strategischer Reserven, die Unterstützung von Kleinbauern, die Verbesserung des Zugangs
zu wichtigen Daten (wie die quantitative Erfassung von Getreidevorräten oder Wettervorhersagen) oder die
Weiterentwicklung von Risikomanagementinstrumenten, einschließlich marktbasierter Produkte. Auch der private
Sektor hat hier eine offensichtliche wichtige Rolle, insbesondere in der Integration der Kleinbauern in die globale
Nahrungslieferkette.
Siehe auch:
Risikomanagement in der Landwirtschaft: Auf dem Weg zu marktorientierten Lösungen in der EU
Lebensmittel - Eine Welt voller Spannung
Der Agrarsektor und der Hunger – Ungesicherte Nahrungsmittelversorgung treibt Kooperationsmodelle voran
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