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Pilgern als eine besondere Ausdrucksform von Spiritualität
Referat von Pfr. Andreas Bruderer, gehalten bei der GV des Dachverbandes der Schweizer
Pilgerinnen und Pilger am 17. November 2012 in Freiburg
Liebe Pilgerinnen und Pilger
Angekündigt als ausgewiesener Fachmann über Spiritualität zu sprechen ist nicht ganz einfach. Da
stellt sich nämlich die Frage, ob es denn Fachmänner und Fachfrauen in Spiritualität überhaupt gibt.
Wer weiss, redet nicht, wer redet, weiss nicht. So sagt es der chinesische Denker und Philosoph LaoTse und ich denke, dass sich diese Aussage auch auf die Spiritualität übertragen lässt. Spiritualität,
auch das wurde in der Ankündigung meines Vortrages festgestellt, Spiritualität sei ein schillernder
Begriff und in aller Pilger Mund. Da stellt sich eine weitere Frage: Welche Spiritualität ist denn da in
aller Pilger Mund?
In meinem Vortrag werde ich zuerst nachfragen, was denn mit Spiritualität gemeint sein könnte um
dann im Besonderen auf die Pilgerspiritualität einzugehen.
Der Begriff Spiritualität, so heisst es, sei ein sogenannter Container-Begriff. Jeder und jede fülle ihn
mit jenen Vorstellungen, die ihm bzw. ihr wichtig sind. Hier eine Auswahl von Umschreibungen
dessen, was mit Spiritualität gemeint sein könnte:
Jon Sobrino, lateinamerikanischer Befreiungstheologe: Spiritualität ist „nichts anderes als der Geist
eines bestimmten Subjektes oder einer als Subjekt auftretenden Gruppe, insoweit dieser/diese zur
Totalität der Wirklichkeit in Beziehung steht.“1 Weiter schreibt Sobrino, dass es bei der Spiritualität
darum gehe, die Wirklichkeit ehrlich sehen zu wollen, also zum Beispiel nicht blind zu sein für
Strukturen, die zu Ungerechtigkeit führen.
Vollversammlung des ÖRK 1991 in Canberra: Spiritualität bedeutet hier unter anderem „sowohl das
Leben gestalten als auch Raum schaffen, damit der Heilige Geist wirken kann“..2
Franz Xaver Jans, spiritueller Leiter des Via-Cordis-Hauses in Flüeli - Ranft: Franz Xaver Jans versteht
Spiritualität „als eine menschliche Urbefindlichkeit, die der Träger dieser Spiritualität in Verbindung
mit seinem Urgrund erlebt.“3
Pierre Stutz, kath. Theologe und Autor, am evang. Kirchentag in Köln, 2007: „Ein spiritueller Mensch
ist eine Frau, ein Mann, die/der wahr-nimmt was ist, ohne zu bewerten und zu beurteilen, um darin
die göttliche Spur zu entdecken, die zu engagierter Gelassenheit führt. Ein christlich-spiritueller
Mensch versucht seine Erfahrungen im Lebens-, Kreuz und Auferstehungsweg Jesu zu verwurzeln, in
einem gesunden Prozess von Nähe und Distanz und von Identifikation und Unterscheidung. 4
1
Sobrino, Jan: Geist, der befreit. Lateinamerikanische Spiritualität, Freiburg/Br. 1989, 26-42
Zitiert nach: Barth, Hans Martin, Spiritualität, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993, S.11ff
3
Zitiert aus einem Text von Jans-Scheidegger Franz Xaver, 2006, Spirituelle Krisen als Wandlungsschritte
4
Stutz Pierre, Referat am 31. Evang. Kirchentag in Köln 2007
2
1
Hans Urs von Balthasar, katholischer Theologe: Spiritualität ist zu bestimmen „als je praktische und
existentielle Grundhaltung des Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder
allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche
(habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und
Letztentscheidungen her“.5
Spiritualität, das zeigen diese Aussagen, meint eine Art Durchlüftung der Wirklichkeit mit einer
Geisteskraft, die von anderswoher kommt. Christlich wird dieses Anderswoher als das Göttliche
bestimmt. Gemeint ist die Heilige Geisteskraft, die wie der Wind weht, wo sie will (Johannes 3,8)
Übersetzen lässt sich das lateinische Wort spiritus mit Geist , Hauch, Wind. Es hängt zusammen mit
spirare, atmen. Indem ich atme, nehme ich auf, was von aussen kommt und gebe das
Aufgenommene wieder nach aussen weiter. Ich setze mich also in Verbindung mit dem was ich nicht
selber bin, aber aus dem heraus ich lebe.
Es geht bei der Spiritualität nicht nur um Innenbeziehung, wie sie zum Beispiel bei einer auf
Innerlichkeit reduzierten Frömmigkeit ( das ursprüngliche Wort für Spiritualität) zum Ausdruck
kommt. Spiritualität steht in der Spannung zwischen innen und aussen. Im persönlichen Leben zeigt
sich diese Spannung als Spannung zwischen innerem Erleben und äusserer Erfahrung. Im
gesellschaftlichen Kontext als Spannung zwischen einer privaten, verinnerlichten Frömmigkeit und
einer Spiritualität, welche die Augen für ungerechte Strukturen öffnet. Ein Beispiel für eine solche
gesellschaftskritische Spiritualität ist die Theologie von Dorothee Sölle. Bereits 1973 hat sie mit ihrem
Buch „Hinreise“ Gedanken aufgenommen, die auch im Blick auf die Pilgerspiritualität wichtig sind.
Zum Beispiel den Gedanke, dass zur Hinreise auch die Rückreise in den Alltag gehört.
In einem meiner Texte habe ich die Spannung zwischen innen und aussen einmal so ausgedrückt:
innen und aussen
sehend nach aussen
beobachte ich meine innere landschaft
ein wechselspiel von farben
dem kaleidoskop ähnlich
sehend nach innen
beobachte ich den baum
schweigend steht er da
mit offenen armen
unterwegs in meiner landschaft
berühre ich mit sanftem flügelschlag
die rinde
gehe dann weiter
über den brunnenrand
ab/7.9.04
5
Balthasar, Hans Urs von: Das Evangelium als Norm und Kritik aller Spiritualität in der Kirche (1965), in: Ders.:
Spiritus Creator, Skizzen zur Theologie III, Einsiedeln 1967, 247-263:247-250, 255-256
2
Es geht bei der Spiritualität also darum, innen und aussen miteinander so in eine Beziehung zu
bringen , dass die Wirklichkeit für dasjenige durchsichtig wird, was darauf wartet, entdeckt zu
werden. Oder, christlich ausgedrückt, es geht darum sich empfänglich zu machen für das Wirken der
Heiligen Geisteskraft.
Dabei geht es bei der Spiritualität weniger um eine Theorie, sondern vielmehr darum „aufzuzeigen,
wie man unter den durch eine Kulturlage festgelegten Bedingungen vom Absoluten her leben kann“6
Mit einer abgehobenen Frömmigkeit hat dies nichts zu tun. Es beginnt damit, dass ich zu staunen
beginne über das, was ist. Darum gehört für mich zur Spiritualität die Mystik, also die Offenheit für
das Geheimnis. Mystik, so schreibt Lorenz Marti, dessen Kurzgeschichten ich beim Tagespilgern
jeweils vorlese „Mystik: Das ist die Ahnung, dass alles, was ich mit meinen Sinnen wahrnehme,
etwas Geheimnisvolles in sich trägt. Ich kann es nicht benennen, und doch ist es spürbar da. Eine
verborgene letzte Wirklichkeit, die alles umfasst, durchdringt und belebt. Ein Lied, das in allen Dingen
schläft, wie es im berühmten Gedicht von Eichendorff heisst. Ein grosser Zusammenhang, in dem
alles aufgehoben ist.“7
Die Ahnung des Geheimnisvollen. Die Sehnsucht, etwas von diesem Geheimnisvollen im eigenen
Lebenszusammenhang zu entdecken. Der Wunsch, aufzubrechen, aus dem gewohnten Alltagsleben,
aufzuwachen um neue Wege zu gehen.
mache mich auf den weg
breche auf ins neue
zu suchen ein wenig stille
und vielleicht
ein verlorenes wort
bekannter weg
vielfach gegangen
dort jenes haus
dort jener baum
hinter dem bekannten
das neue entdecken
den weg gehen
innen und aussen
schritt für schritt
achtsam mich öffnen
spüren was ist
vor mir
neben mir
in mir
6
Zitat aus einem Text über Theologie und Spiritualität ohne Verfasserangabe.
Marti Lorenz, Wer hat die den Weg gezeigt? Ein Hund. Mystik an der Leine des Alltäglichen. Freiburg/Br. 2007,
S.11
7
3
ich gehe
und du gehst mit
hältst mich
in deiner bergenden hand
begleitest mich
auch im weglosen
du
vertrautes geheimnis
du
anfang und ende
Mit solchen kurzen Texten habe ich ausgedrückt, worum es mir bei Spiritualität geht. Es ist eine
Spiritualität, die aus der Bewegung kommt: Pilgerspiritualität. Spiritualität, so wurde gesagt, sei ein
schillernder Begriff und in aller Pilger Mund.
Ein Pilger erzählt mir auf dem Weg zwischen Schwarzenburg und Freiburg, dass er erst durch das
Pilgern auf dem Jakobsweg überhaupt zu Spiritualität gekommen sei. Dann gebraucht er ein Bild, das
mich fasziniert, weil es Körper und Spiritualität miteinander verbindet. Mit den Fusssohlen sei er in
Verbindung mit der Erde. Das sei für ihn Ausdruck der materialistischen Weltsicht. Die Knie seien
schon etwas abgehoben vom Boden. Darum verbinde er sie mit der agnostischen Weltsicht. Der
Bauch sei für ihn Ausdruck des Gefühlhaften, das ihn aufgrund seiner Biographie mit dem
Katholizismus verbinde. Im Herzen zentriert finde er sich dem reformierten Glauben nahe. Und
schliesslich sei da noch der Kopf mit seinem Verstand: Ausdruck der aufklärerischen Weltsicht.
Während er auf dem Jakobsweg gehe, spiele all das ineinander, mit unterschiedlicher Gewichtung.
Oft wähle er ein für ihn wichtiges Wort, das er dann während des Weges innerlich widerhole z.B. das
Wort Vergebung . Das gewählte Wort lasse er dann auf den verschiedenen Ebenen zu sich sprechen.
Das sei für ihn Pilgerspiritualität.
Mich fasziniert diese Bild aus zwei Gründen:
Zum einen, weil Pilgerspiritualität hier nicht zu etwas Abgehobenem wird. Körper und Geist stehen
beim Pilgern in enger Verbindung miteinander. Mit den Füssen beten hat ein Pilger oder eine Pilgerin
mit weisser Farbe auf einen Gatterzaun geschrieben kurz nachdem der Jakobsweg, von Konstanz aus
auf jenen, der von Rorschach her kommt, trifft.
Zum andern, weil der Pilger hier eine altchristliche Kontemplationsform aufnimmt, nämlich jene des
Herzensgebets. Das Herzensgebet hat eine lange Tradition, die bereits bei den Wüstenvätern, also
beim frühen Mönchtum beginnt. Dort wurden kurze Bibelworte ständig wiederholt. Später
beschränkte man sich auf den Namen Jesu. Darum heisst das Herzensgebet auch Jesusgebet. Bereits
für das 6. Jahrhundert ist die Gebetsformel Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner belegt. Ab dem
12. Jahrhundert wurde das Herzensgebet auf dem Berg Athos von den Hesychasten gepflegt Ab dem
16. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert erlebte das Herzensgebet in Russland eine grosse Blütezeit.
Im 19. Jahrhundert entstand in Russland das Buch Aufrichtige Erzählungen eines Pilgers, das grossen
Einfluss auf die Verbreitung des Herzensgebets hatte. Heute hat das Herzensgebet Anhänger in allen
christlichen Konfessionen. Ein Zentrum fürs Herzensgebet ist das Via Cordis Haus St. Dorothea in
4
Flüeli- Ranft/Schweiz. Via Cordis: Weg des Herzens – Via Jacobi: Jakobsweg. Die Kontemplationsform
des Herzensgebest hilft mir, den inneren und den äusseren Pilgerweg zu verbinden.
Worum geht es also bei der Pilgerspiritualität? Im Anschluss an den Pilgergottesdienst Ende Oktober
habe ich diese Frage den Pilgerinnen und Pilgern gestellt. Hier einige Antworten:
Pilgerspiritualität bedeutet:
•
•
•
•
•
•
•
Nahrung für Herz und Körper
Im Tageschaos zu mir finden.
Mich in mich, in mein Innerstes versenken, Ruhe und Zufriedenheit verspüren.
Neben der familiären und beruflichen Kopfarbeit an Nichts denken.
Frei sein im Kopf durchs Gehen mit der Schöpfung. Mit Gott verbunden sein.
Die Einfachheit des Pilgerns in den Alltag hinüber bringen.
Singen und pilgern.
Mir persönlich sind bei der Pilgerspiritualität acht Merkmale wichtig.
1. Es geht darum, dass ich mein Herz der Sehnsucht, also dem sehnenden Suchen (Franz Xaver Jans)
nach dem , was mich wirklich betrifft, öffne.
Pilgernde Menschen sind suchende Menschen. Augustinus schreibt dazu: „Das unruhige Herz ist die
Wurzel der Pilgerschaft. Im Menschen lebt eine Sehnsucht, die ihn hinaustreibt aus dem Einerlei des
Alltags. Im Grunde seines Herzens sucht er ruhelos den ganz Anderen, und alle Wege, zu denen der
Mensch aufbricht, zeigen ihm an, dass sein ganzes Leben ein Weg ist, ein Pilgerweg zu Gott.“8
2. Es geht darum, dass ich Wichtiges vom Unwichtigen unterscheiden lerne – und das Unwichtige
lasse.
Das beginnt beim Packen des Pilgerrucksacks und geht weiter während der Schweigezeiten auf dem
Pilgerweg und deren Gedankensturm. Nur das notwendige Gepäck mitzutragen ist das eine, das
andere und oft schwierigere ist der Verzicht auf die überflüssigen Gedanken. Und schliesslich ist da
noch ein weiteres, das auch mit loslassen zu tun hat. .
Vor kurzem bin ich während eines Interviews übers Pilgerzentrum St. Jakob gefragt worden, ob
Pilgern nicht auch sektenhafte Züge habe. Spontan habe ich dies verneint. Erst nach dem Interview
ist mir die Berechtigung dieser Frage bewusst geworden. Eines der Kennzeichen von Sekten
(religiösen Sondergemeinschaften) ist die Geschlossenheit einer Gruppe unter der Leitung eines
Guru. Die Gefahr in der Pilgerbewegung ist, dass geschlossene Gruppen entstehen, die möglichst
unter sich bleiben wollen und fixiert sind auf einen Pilgerguru. Dies beinhaltet eine kritische Anfrage
an Pilgerleiter, die ihre Gruppen zu stark an sich binden.
Was hier im Blick auf den Pilgerweg gesagt wird, gilt für jeden geistlichen also spirituellen Weg.
Unterscheidung der Geister heisst es dort. Es ist die Aufgabe, das Lebensfördernde (christlich: das zu
8
Zitiert nach: Marti Lorenz, Wie schnürt ein Mystiker seine Schuhe, Freiburg/Br. 2004, 17
5
Gott Führende) vom Lebenshemmenden oder gar Zerstörenden (christlich: das von Gott weg
Führende) zu unterscheiden.
Ein Tourist darf in einem Kloster bei Kartäusermönchen übernachten. Er ist sehr erstaunt über die
spartanische Einrichtung ihrer Zellen und fragt die Mönche: „Wo habt ihr Eure Möbel?“ Schlagfertig
fragen die Mönche zurück: „Ja, wo haben sie denn Ihre?“ „Meine?“ erwidert darauf der Tourist
verblüfft. „Ich bin ja nur auf der Durchreise hier!“ „Eben“, werfen da die Mönche ein, „das sind wir
auch.“9
3. Es geht darum, dass ich den Mut finde, aus eingespielten Bindungen aufzubrechen auf den eigenen
Weg.
Ein Pilger erzählt mir, wie er sich nach ungerechtfertigter Zurücksetzung im Beruf früher als
beabsichtigt pensionieren liess. Für ihn sei dieser Entschluss nicht einfach gewesen. Die Auszeit auf
dem Jakobsweg habe ihm zu diesem Schritt den nötigen Mut gegeben.
4. Es geht darum, dass ich Traditionen als Befruchtung für meinen eigenen Weg erfahre. Vergleichbar
dem Regen, der die Felder bewässert.
Pilgerspiritualität verbindet – über den Augenblick hinaus. Dies nicht nur mit den Mitpilgerinnen und
Mitpilgern, sondern auch mit all den Menschen, die den Weg vor uns gegangen sind. So entsteht eine
spirituelle Weggemeinschaft, die um vieles grösser ist als unsere Pilgergruppe. Daran erinnern wir
uns, wenn wir in den alten Kirche, diesen zu Stein gewordenen Zeichen des Glaubens, Kirchenlieder
singen, spirituelle Texte hören, beten, uns über den jeweiligen Ort informieren lassen.
5. Es geht darum, dass ich meine Sinne öffne, für das, was ist und damit die göttliche Lebenskraft in
der Natur erlebe.
Viele Pilgergruppen wünschen sich Schweigezeiten beim Gehen. Solche Schweigezeiten öffnen einen
neuen Zugang zur Natur, durch welche der Pilgerweg führt. Ich höre das Rauschen der Bäume, die
Vogelstimmen, die Geräusche meiner Schritte im Laub. Und vielleicht ahne ich etwas von der
göttlichen Kraft, die aus der Natur zu mir spricht.
Auf dem Pilgerweg durch die Schweiz haben wir einerseits wunderschöne Landschaften erlebt.
Andrerseits haben wir aber auch erfahren, wie zersiedelt mit Gebäuden, die nicht in die natürliche
Landschaft passen, manche Gebiete bereits sind. Wer seine Sinne öffnet für den Raum, durch den er
pilgert, ist für das Leben unterwegs. Er wird Verantwortung übernehmen – nicht nur für die
Pilgerinnen und Pilger seiner Pilgergruppe, sondern auch für die Natur, durch die er pilgert.
6. Es geht darum, dass ich mich selber und den andern als geliebt und akzeptiert erfahre, weil beide –
ich und der/die andere – Ausdruck der göttlichen Geisteskraft sind. Dies führt zu mehr Sensibilität
gegenüber ungerechten Verhältnissen, in denen Menschen leben müssen.
9
Hoffsümmer Willi, Kurzgeschichten 1, Mainz1981, S. 114
6
Ein suchender Mensch kam einst zur Stariza Philomena und fragte sie: „Was kann ich noch tun, um
Gott zu finden? Ich vertiefe schon lange des Herzensgebet und erreiche kein Taborlicht“ – „Wie
betest Du?*, erkundigte sich die Stariza. „Ich blicke gen Himmel und wiederhole ohne Unterlass:
Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner!“ – „Du Tor“, sagte die Stariza, „Gott ist längst
Mensch geworden! Was blickst du gen Himmel? Schaue auf die Erde und bete weiter dein
Herzensgebet; verneige dich bei jedem ‚erbarm Dich meiner‘ vor der Menschwerdung, vor der
Menschwerdung Gottes in Dir“.10
Ein Pilger hat mir während der Bahnfahrt zum Ausgangsort der Pilgerwanderung einmal erzählt, wie
wichtig ihm die besondere Mentalität in der Pilgergruppe sei. Er habe hier eine Offenheit und
Bereitschaft fürs Gespräch erlebt, wie sie in seinem ostschweizer Alltag keineswegs üblich sei.
7. Als Pilger/Pilgerin in der Tradition des Christentums geht es darum, dass ich mich dem Wirken der
Heiligen Geisteskraft öffne, also in meinem Leben Raum für sie schaffe. Dabei orientiere ich mich an
der Vielzahl biblischer Wegbilder
Solche Wegbilder sind zum Beispiel Abrahams Herausgerufen werden durch Gott auf den Weg, der
Abraham aus seiner Heimatstadt wegführt; Mose Pilgerwanderung mit seinem Volk durch die Wüste;
die Pilgerwanderung der beiden Jünger Jesu von Jerusalem nach Emmaus und deren Begegnung mit
dem Auferstandenen.
Auf dem Jakobsweg in Spanien in Santo Domingo de los Silos wird Jesus bei der Darstellung der
Emmaus Szene als Jakobspilger dargestellt, der seinen Jüngern vorausgeht. Dieses Bild drückt aus,
was bezeichnend ist für jede jesuanische Spiritualität: Das Unterwegs sein.
Jesus sagt nicht: „Bleib sitzen, wo du bist“.
Er sagt auch nicht „Folge Dir nach.“
Er sagt: „Folge mir nach.“
Wir als Christen müssen aufpassen, dass wir nicht zu einer Sitz- und Sitzungsgemeinschaft
verkommen.
So die treffende Formulierung in einem Referat zum Thema „Der Mensch beseelt die Pilgerwege.11
8. Es geht darum, dass ich das Schweigen lerne – auch das Schweigen der Gedanken.
Wer weiss, redet nicht.
Wer redet, weiss nicht.
Lao Tse
Wer allein geht, weiss um die wohltuende und manchmal auch herausfordernde Weise solchen
Schweigens. Doch auch in Pilgergruppen können Schweigezeiten zu einem besonderen Erlebnis
10
Zitiert aus einem Text von Jans-Scheidegger Franz Xaver, 2006, Spirituelle Krisen als Wandlungsschritte
Br. Emmanuel Hessler, Diakon, Der Mensch beseelt die Pilgerwege, Referat in Eugendorf anlässlich eines
Projekttreffens des europäischen Jakobsweges in Eugendorf, 25.9.2008
11
7
werden. Indem ich schweige, begebe ich mich auf den inneren Weg. Fragen, die durch den Lärm des
Alltags zurückgedrängt wurden, werden laut. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin führt mein
Weg?
Schweigezeiten helfen, neue Einsichten und damit neue Perspektiven für mein Leben zu gewinnen.
Besonders wichtig sind sie in Übergangssituationen: Ein naher Mensch ist gestorben, eine Beziehung
ist zu Ende gegangen, ein Wechsel im Beruf ist angesagt. Wie soll es weiter gehen? Pilgern, so hat
Bruno Kunz 2008 in seinem Referat bei uns im offenen st. Jakob einmal gesagt, Pilgern sei
Selbsttherapie.12 Wobei ich hier ergänzen möchte: Selbsttherapie im Vertrauen auf Gottes
Begleitung.
Ich komme ans Ende meiner Ausführungen. Blicken wir noch einmal zurück. In einem ersten Teil
haben wir festgestellt, dass es bei der Spiritualität darum geht, die göttliche Spur in der Wirklichkeit
um mich und in mir zu entdecken. In einem zweiten Teil haben wir uns gefragt, was dies im Blick auf
die Pilgerspiritualität bedeutet. Dabei haben wir acht Bedeutungsschwerpunkte von
Pilgerspiritualität festgehalten:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Ich öffne mich meiner Sehnsucht nach dem, was mich wirklich betrifft.
Ich unterscheide Wichtiges von Unwichtigem und lasse das Unwichtige los.
Ich finde den Mut, aus eingespielten Bindung aufzubrechen auf den eigenen Weg.
Ich erlebe Traditionen als fruchtbar für meinen eigenen Weg.
Ich öffne meine Sinne für das was ist und entdecke die göttliche Lebenskraft in der Natur.
Ich erfahre mich selber und andere als ein Ausdruck göttlicher Lebenskraft und damit als
akzeptiert und geliebt und werde sensibler für ungerechte Verhältnisse.
7. Als Pilger/Pilgerin in der christlichen Tradition schaffe ich Raum für das Wirken der Heiligen
Geistkraft . Dabei orientiere ich mich an biblischen Wegbildern.
8. Ich lerne das Schweigen – auch das Schweigen der Gedanken.
Andreas Bruderer, im November 2012
12
Kunz Bruno, Kurzreferat anlässlich des Jakobstages 2008 in der Citykirche St. Jakob in Zürich
8