Ausgabe 23/07 - Evangelisches Zentralinstitut für Familienberatung

Transcription

Ausgabe 23/07 - Evangelisches Zentralinstitut für Familienberatung
1
Korrespondenz
Foto: Nora von der Decken
Der neue Direktor - Einführung von Dieter Wentzek
Seite 5
Spiritualität als Ressource
Seite 10
Sexualität nach der Geburt
Seite 27
SAFE® - Sichere Bindung
Seite 36
Eltern-AG - mehr Elternkompetenz
Seite 44
23
Herbst 2007
ISSN 0724-3995
2
Inhalt
Editorial
3
Einführung von Dieter Wentzek als Direktor des Evangelischen Zentralinstituts
für Familienberatung, St. Marienkirche in Berlin am 9. Mai 2007
5
Der neue Direktor im EZI
5
Ansprache zur Einführung Bischof Dr. Wolfgang Huber
6
Trösten wie eine Mutter - Predigt zu Jeremia 31,13b
7
Vortrag Prof. M. Klessmann, Spiritualität als Recource
10
31. Deutscher Evangelischer Kirchentag 6. bis 10. Juni 2007
19
Interview mit Bischof Dr. Wolfgang Huber
19
Interview mit Kerstin Griese (MdB)
20
Interview mit Präses Nikolaus Schneider
21
Das PND-Beratungsnetz wächst.
Erfahrungsberichte über die Zusammenarbeit
bei der psychosozialen Beratung in Verbindung mit Pränataler Diagnostik
23
Birgit Kriedner
23
Hilde Jürgens
24
Rita Klügel
25
Ursula Falcke
25
Erika Laue
26
Dr. Ruth Gnirss-Bormet
Keine Zeit zu Zweit, keine Lust auf Lust - Sexualität und Partnerschaft nach der Geburt
27
Dr. Ruth Gnirss-Bormet
Sexualberatung am EZI
33
Britta Vollenbroich
Auswirkungen und Nutzen der Fortbildung „Sexualberatung mit Einzelnen
und Paaren“ für den beruflichen Alltag
35
PD Dr. med. Karl-Heinz Brisch
SAFE® -Sichere Ausbildung Für Eltern - Ein Erfolgsmodell
36
Juliane Meyer-Clason
Die Eltern-AG - Das Präventionsprogramm für mehr Elternkompetenz in
Problem-und Risikofamilien
44
Martin Koschorke
Paarberatung am Rande der Taiga
52
Rezensionen
53
Margret Hauch „Paartherapie bei sexuellen Störungen“ von Dr. Ruth Gnirss-Bormet
53
Dr. Roland Weber „Paare in Therapie-Erlebnitensive Methoden und Übungen“ von Dr. Martin Merbach
55
Martin Koschorke „Jesus war nie in Bethlehem“ von Dr. Friedrich Hufendiek
57
Impressum
Jahresprogramm 2008 - Kalendarium
59
60
3
Editorial
Lebendig
Das Leben annehmen
wie ein Geschenk.
Mit Trauernden trauern,
mit Freunden fröhlich sein.
Märchen und Lieder entdecken,
sich die leisen Töne bewahren.
Kämpfen für die gerechte Sache,
wach bleiben für die Liebe.
Sich andern zuwenden,
ohne aufzurechnen.
Nie aufhören zu hoffen,
dass das Licht
über die Dunkelheit siegt.
Liebe Leserin, lieber Leser,
unsere EZI-Korrespondenz erreicht Sie in diesem Jahr zu
Vielleicht gewinnt ja auch für Sie in dieser ersten, vom neu-
Weihnachten, zu einer Zeit in der Geburt, Kind, Familie mehr
en Direktor verantworteten EZI-Korrespondenz, der in der
als sonst in den Blick kommen und ihre spirituelle, trans-
letzten Ausgabe den Mitarbeitern gewünschte „Aufbruch zu
zendente Bedeutung für unser Leben und für den Glauben
neuen Ufern zusammen mit dem neuen Direktor“, hier die
geahnt, gespürt und gefeiert wird: „Gott wird Mensch.“
entsprechenden Konturen.
Sie werden beim Lesen der Beiträge, die unsere Jahresthe-
Ein besonderer Akzent liegt in dieser Ausgabe bei der
men und derzeitige Entwicklung der Fort- und Weiterbildung
Einführung des neuen Direktors Dieter Wentzek, der nach
im EZI beschreiben, spüren, wie sich darin verdichtet auch
einem Jahr Vakanz-Zeit die Nachfolge von Friedrich-Wilhelm
die augenblickliche gesellschaftliche und soziale Situation
Lindemann antritt, der 24 Jahre unser Institut geleitet hat.
widerspiegelt.
In diesem Zusammenhang hat Prof. Michael Klessmann mit
Wir wollen Sie, wie jedes Jahr, gerne an den Veränderungen
seinem Vortrag, anlässlich der Einführung über „Spiritualität
und Bewegungen in unserem Institut teilhaben lassen und
als Ressource in der Evangelischen Beratung“ in einer kriti-
verbinden damit die Hoffnung, dass Sie mit uns in Verbin-
schen Bewertung des Phänomens Spiritualität einen Akzent
dung bleiben und damit unsere Arbeit unterstützen.
gesetzt für unsere Fort- und Weiterbildung. „Kirchliche Bera-
4
tungsarbeit hat hier etwas besonderes anzubieten, weil sie
Dem stärker werdenden Wunsch nach Ausbau der präventi-
in der Lage ist (oder sein sollte), spirituelle Elemente, die in
ven Angebote der Beratungsstellen im Bereich Frühe Hilfen
der Beratungssituation begegnen, aufzugreifen und mit der
und Erziehung entsprechen wir mit neuen Fortbildungs-
christlichen Tradition in ein offenes Gespräch zu bringen, um
angeboten. Dr. Brisch stellt sein SAFE®-Projekt zur Förderung
auf diese Weise zu ihrer Versprachlichung, Formgebung und
der sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind vor, das sich
Vertiefung beizutragen“ - eine spannende, vielleicht auch
an unserem Institut einer großen Nachfrage erfreut. Frau
neue Perspektive für Berater!
Meyer-Clason stellt mit „Die Eltern-AG“ ein Präventionsprogramm vor, dass Eltern in Problem- und Risikofamilien mehr
Wir dokumentieren außerdem drei Interviews, die auf un-
Erziehungskompetenz vermitteln soll. Beide Projekte deuten
serem Talk-Sofa anlässlich des Kirchentages in Köln geführt
an, dass wir im Bereich der Kooperation mit Familienbildung
wurden. Bischof Dr. Huber, Präses Schneider und die Vor-
sowohl in Fortbildung als auch für die praktische Arbeit vor
sitzende des Familienausschusses Frau Griese, MdB äußern
Ort neue Wege der Kooperation erschließen wollen.
sich zum Beitrag von Evangelischer Beratung für die Entwicklung einer seelsorglichen Kirche und zu Schwangeren-
Ich hoffe, dass Sie neugierig auf diese Korrespondenz ge-
konfliktberatung.
worden sind und uns weiterhin verbunden bleiben.
Unser PND-Projekt (Psychosoziale Beratung im Zusammen-
Ich wünsche Ihnen in diesen weihnachtlichen Tagen erhel-
hang mit Pränataler Diagnostik) wird in offiziellen Stellung-
lende Berührungen mit dem Lebendigen und einen geseg-
nahmen als vorbildlich bezeichnet. Die Vernetzung geht
neten Neuanfang im neuen Jahr unter der Jahreslosung für
weiter, wie die Berichte von Teilnehmerinnen der Ausbildung
2008: „Jesus Christus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch
zeigen. Die Qualifizierungskurse werden nachgefragt und
leben.“(Joh. 14,19)
von uns sogar in Österreich in Kooperation durchgeführt.
Ihr Dieter Wentzek
Drei weitere Beiträge geben einen Eindruck von dem Angebot an Sexualberatung am EZI. Frau Dr. Gnirss-Bormet stellt
ihr Konzept vor und befasst sich insbesondere mit Fragen
von Sexualität und Partnerschaft nach der Geburt.
5
Einführung von Dieter Wentzek als Direktor des
Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung,
St. Marienkirche in Berlin am 9. Mai 2007
Der neue Direktor im EZI
Dieter Wentzek stellt sich vor
Seit dem 1.1.2007 habe ich die Leitung im Evangelischen
Zentralinstitut für Familienberatung übernommen. Die Herausforderung, in schwierigen Zeiten zwischen Marktorientierung und kirchlicher Profilbildung die Aus- und Weiterbildung
in evangelische Beratung zu fördern und zu sichern, habe
ich mit Lust und Neugier gerne angenommen. Ich bringe die
berufliche Erfahrung eines langjährigen Gemeindepfarrers
mit Schwerpunkte in Seelsorge, Hospizarbeit, Seelsorgefortbildung und die eines Superintendenten mit, der 7 Jahre
den westfälischen Kirchenkreis Hagen geleitet hat. In dieser
letzten Phase war mir besonders die Sicherung der ökumenisch getragenen psychologischen Beratungsstelle wichtig,
die nach meinem Verständnis im Reformprozess unserer Kirche als ein „kirchlicher Ort“ gestaltet werden kann, an dem
Menschen in Krisen stützende Beziehungen und stärkende
Begegnungen erleben können.
Als Ruhrgebietskind bin ich 1950 in Witten geboren und
aufgewachsen, in einer Dreigenerationenfamilie auf engem
ropologische Fragestellungen zu sehen und zu verstehen.
Raum. Früh haben meine Frau Gabriele und ich geheiratet
Die Ausbildung in klientenzentrierter Psychotherapie und
und eine Familie gegründet, unsere vier Söhne sind heute
die Diplomarbeit über Evaluation der Klinische Seelsor-
- nach 36 Ehe- und Familienjahren - erwachsen und selbst-
geausbildung bildeten die Grundlage für ein seelsorglich-
ständig.
beraterisches Berufsverständnis als Pfarrer. Mitgearbeitet
Meine religiöse Prägung begann im Diakonissenkindergarten
habe ich in der Aus- und Fortbildung für pflegende Berufe
und später im CVJM. Mein Theologiestudium war geprägt von
in Kirche und Diakonie und in der pastoralpsychologischen
den politischen Auseinandersetzungen der 68er-Bewegung
Ausbildung. Als Supervisor und Gemeindeberater habe ich
und von der eigenen Begegnung mit der Theologie Paul
meine beruflichen Erfahrungen zur Schärfung der Selbst- und
Tillichs. Die sozialethische Dimension des christlichen Glau-
Systemwahrnehmung und zur Selbstexploration, Perspektiv-
bens entdeckte ich mit den Themen Frieden, Gerechtigkeit
wechsel und Neuorientierung im pastoralen Berufsfeld zur
und Bewahrung der Schöpfung. Sie öffneten den Horizont
Verfügung gestellt.
des theologischen Studiums für Pädagogik und Psychologie.
Die langjährige Hospizarbeit hat mich sehr geprägt und
Im Rahmen meiner theologischen Examensarbeit unter-
zu den zentralen ethischen und religiösen Lebensfragen
suchte ich das Verhältnis von Theologie und Psychoanalyse
geführt. Ich habe gelernt, dass die Auseinandersetzung
bei Oskar Pfister, der als Schweizer Pfarrer einen diskursiven
mit Tod und Sterben und die damit verbundene Akzeptanz
Briefwechsel mit Sigmund Freud geführt hat über die Heilung
der eigenen Endlichkeit und Geschöpflichkeit zum Leben
der Seele in Seelsorge und Psychotherapie.
führt, zu bewusstem und vertieftem Leben, und damit zum
Im anschließenden Zweitstudium Psychologie und den
tragenden Grund des Glaubens. Was ich in dieser Zeit über
kritischen Fragen nach dem Menschenbild und der Wis-
Trauerprozesse erfahren und gelernt habe, war mir sehr hilf-
senschaftstheorie lernte ich die Theologie neu über anth-
reich in den Strukturveränderungs- und Fusionsprozessen
6
im Kirchenkreis, für die ich zuletzt verantwortlich war.
trauensvollen Schutzraum und ein Kräftefeld für ihre
In mein neues Aufgabenfeld beim EZI bringe ich Themen mit,
Lebensentwicklung geben können ?
die ich weiter verfolgen möchte:
•
•
Wie kann gerade in Beratungssituationen die Aufmerk-
Welche Strukturen in unserer kirchlichen Organisation
samkeit und Achtsamkeit für die eigene religiöse Grün-
und welche kirchliche
dung geschärft werden und dafür Raum geschaffen
Beziehungskultur behindern
oder zerstören tragfähige menschliche Beziehungen,
werden?
die doch gerade in Kirche gesucht und erwartet werden
Dazu gehört für mich die gemeinsame Suche nach ethischer
und
Orientierung in Fragen der Lebens- und der Beziehungsge-
in denen Gottesbegegnungen und Glaubenser-
fahrungen möglich sind? Was lässt ehemals feurige
staltung als Beratende und als Ratsuchende.
Christen ausbrennen? (Burn-Out)
•
•
Wie können wir uns gegenseitig helfen, mit unserem
Ich nehme die Fäden auf, die mein bisheriges, berufliches
tragenden Grund in Berührung zu kommen und die Re-
Leben durchziehen und werde mich im EZI neben Leitung
silienzkräfte zu fördern? Wir haben in unserer eigenen
und gesellschafts- und sozialpolitischem Engagement des
Tradition einen reichen Schatz von Formen geistlicher
Instituts, besonders in dem Bereich Supervision, Führen und
Begleitung.
Leiten und um die pastoralpsychologischen und seelsorger-
Wie können wir Familien und Erziehende stärken und
lichen Aspekte evangelischer Beratung einsetzen.
fördern, damit sie bindungs- und beziehungsfähig
werden und den aufwachsenden Kindern einen ver-
Ansprache zur Einführung
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Behaupten zu wollen, Ihr Weg hätte zielstrebig auf dieses
Amt zugeführt, wäre vielleicht etwas zu gewagt; doch wer
sich mit den Stationen Ihres Berufsweges befasst, entdeckt
schnell am Rande und im Zentrum dieses Weges die Bereitschaft, über den Tellerrand der Theologie hinauszublicken,
und spürt die Lust an pastoralpsychologischer Arbeit. Das
haben Sie mir auch bei unserer ersten persönlichen Begegnung über den Dächern Dortmunds sehr anschaulich und
plausibel erzählt.
Lieber Bruder Dieter Wentzek,
Inspiration zu diesem Weg fanden Sie in der Auseinanmit dem Sonntag Kantate im Rücken singt es sich fröhlich
dersetzung mit der Theologie Paul Tillichs, konkreten Aus-
und leicht. Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut
druck fand diese Lust im Zweitstudium der Psychologie. Sie
Wunder. So steht es über dieser Woche, die in besonderer
bringen in Ihre Arbeit die Ausbildung als Psychotherapeut,
Weise unserer Lust zum Singen gewidmet ist. Sie haben
als Gemeindeberater und Supervisor mit, Sie haben sich
sich gewünscht, dass der Vers dieser Woche auch über der
besonders von der Hospizarbeit prägen lassen. Langjährig
Einführung in Ihr neues Amt erklingt. Die evangelische ist
ist Ihre Erfahrung in der Fortbildung pflegender Berufe, als
eine singende Kirche; im Jahr des 400. Geburtstages Paul
Superintendent des Kirchenkreises Hagen haben Sie reichlich
Gerhardts ist sie es in besonderer Weise. Das Singen vereint
Leitungserfahrung sammeln können. Ich freue mich, dass
uns auch heute im Dank und in der Freude über den neuen
Sie bereit sind, diesen beeindruckenden Erfahrungsschatz
Direktor des Evangelischen Zentralinstituts für Familienbera-
in Ihre neue Aufgabe einzubringen und heiße Sie im Namen
tung.
der Evangelischen Kirche von Deutschland in Ihrem neuen
7
Amt herzlich willkommen! Und als Berliner Bischof sage ich:
legt die Bahn frei, auf der ein Evangelisches Zentralinstitut für
Herzlich willkommen in Berlin!
Familienberatung in Bewegung ist. Der Psalmvers führt an die
Kreuzung von seelsorgerlichem und politisch-diakonischem
Wenn wir mit dem Gottesdienst zu Ihrer Einführung mit der
Engagement. Er rückt die Schattenseite unserer Gesellschaft
Aufforderung Kantate ernst machen, so tun wir dies auch
genauso in den Blick, wie er deren Stärken beleuchtet. Denn
mit Liedern von Paul Gerhardt: Du meine Seele singe. Paul
das eine wie das andere rückt in das Licht der Treue Gottes:
Gerhardts Lieder fordern zu einem inneren Tapetenwechsel
der Herr schafft Heil.
auf. Not und Traurigkeit menschlichen Lebens verschweigen
diese Lieder nicht; doch sie laden die Seele ein zur Probei-
Mein Wunsch ist, dass die Mitarbeitenden im Evangelischen
dentifikation frohgemuten Gesangs. Du meine Seele, singe,
Zentralinstitut für Famlienberatung unter der Leitung ihres
/ wohlauf und singe schön. Niemand vermag zu zählen, wie
neuen Direktors die Krisen und Konflikte unserer Gesell-
vielen Menschen die Lieder dieses Dichterpfarrers Trost und
schaft, die sich so oft in Familien verdichten, ebenso wie
Halt gegeben haben, wie vielen Kindern sein Abendlied ge-
das Gelingen von Beziehungen und die Versöhnung von
sungen wurden, wie viele Kranke im Laufe der Jahrhunderte
Menschen in das Licht der Treue Gottes rücken. In Ihrem
dem Herrn mit seinen Worten ihre Wege anbefohlen haben
Arbeitsfeld hören Sie oft früher als manch andere, welches
oder wie viele Sterbende mit seinen Strophen aus diesem
die religiösen Themen sind, die sich in den Tiefenschichten
Leben geleitet wurden.
unserer Gesellschaft zur Geltung bringen.
Doch stets hatte Paul Gerhardt auch jene Dimension im Sinn,
Mit dem Aufruf Kantate habe ich begonnen, mit Paul Ger-
auf die der Psalmvers von Kantate hinweist, wenn man ihn
hardt will ich enden und Ihnen mit seinen Worten Gottes
nur zu Ende liest: Singet dem HERRN ein neues Lied, denn
Segen und Geleit für Ihren Dienst wünschen: Wohl dem, der
er tut Wunder; er schafft Heil mit seiner Rechten und mit
einzig schauet / nach Jakobs Gott und Heil! / Wer dem sich
seinem heiligen Arm.
anvertrauet, / der hat das beste Teil, / das höchste Gut erlesen, / den schönsten Schatz geliebt; / sein Herz und ganzes
Gott schafft Heil. Er wendet sich zu den Geknickten wie zu
Wesen / bleibt ewig unbetrübt. Amen.
den Gebeugten. Sein Trost erneuert den aufrechten Gang. Er
Trösten wie eine Mutter - Predigt zu Jeremia
31,13b
Dieter Wentzek
„Ich will sie trösten und sie erfreuen nach ihrer Betrübnis“.
war den Menschen eher zu Mute, nach Klage über die ganze
Das ist die Tageslosung für den heutigen Tag. „Ich will sie
Trostlosigkeit. Ohnmächtig, ausgebrannt, ohne Perspektive,
trösten und sie erfreuen nach ihrer Betrübnis.“ Ich kenne
so saßen sie in den Trümmern. Und da stellt sich einer hin
keinen, der einen so vollmundigen Satz sagen könnte. Der
und sagt voller Kraft glaubwürdig und vertrauenerweckend:
Prophet Jeremia legt ihn ja auch Gott in den Mund. Ich stelle
„Gott sagt: Ich will sie trösten und sie erfreuen nach ihrer
mir vor, wie dieser Trostspruch wohl geklungen hat, in den
Betrübnis.“ Wie kommt solch ein Wort an? Ich stelle es mir
Ohren der Menschen vor 2500 Jahren. Zum Volk Israel ist
vor: Da gibt es die Resignierten, die gar nicht mehr zuhören.
er gesprochen, besser gesagt, zu denen, die davon übrig
Von Gott erwarten sie nichts mehr. Da sind die Verängstigten
geblieben sind nach den vielen Jahren der Verbannung, der
mit eingeengtem Blick, die nur auf die vor ihnen liegende
Gefangenschaft und Heimatlosigkeit. Zurück gekehrt sind
Realität schauen, nicht mehr aufblicken, nach vorne blicken
sie, nach Jerusalem, ihrer ehemals festen Burg, auf die sie
können. Da sind die Zornigen und Verbitterten, die vorwurfs-
immer ihr Vertrauen gesetzt hatten. Alles war zerstört, alles
voll anklagen: Wo war denn Gott? Warum hat er das alles
lag in Trümmern, alles was Sicherheit und Vertrauen gegeben
zugelassen?
hatte: der König, der Tempel, die Priester. Nach Klageliedern
8
„Ich will sie trösten und sie erfreuen nach ihrer Betrübnis.“
Das Kind erfährt, wie es ist, getröstet zu werden, wie das
Ein anderer Prophet, zur gleichen Zeit, konkretisiert in sei-
Leid mitgetragen wird, wie die Klagen und Anklagen seien
ner Trostrede an das Volk Israel den Trost Gottes. Er nimmt
dürfen, ja Voraussetzung sind, damit Trost erfahren und
dazu ein Bild, das an die wohl älteste und lebenswichtigste
Freude wieder gewonnen werden kann.
Erfahrungen eines jeden Menschen anknüpft. Das Bild vom
…und wie sich dann schließlich der verängstigte und veren-
mütterlichen Trost. So schreibt Jesaja (Jes.66,10ff):
gende Blick öffnet, für diese andere Wirklichkeit, die in der
„Freut euch mit Jerusalem, und jauchzt alle, die ihr traurig
tröstenden Mutter präsent ist. „Es ist alles gut.“ Mit diesem
gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch sättigen
Wort stellt die Mutter die erlebte Not in einen größeren Rah-
an den Brüsten ihres Trostes, weil ihr schlürfen dürft und
men der guter Schöpfung Gottes und nimmt mich mit hinein.
euch freuen an den Brüsten ihres Glanzes. Denn so spricht
Ich kann spüren: Solche Worte und Gesten des Menschen,
Gott: Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.“
der mich tröstet, sind angereichert von einem Glauben und
Vertrauen zu einem Gott, der immer da bleibt und für eine
Das ist hier die einzige Stelle im Alten Testament, an der im
Welt bürgt, in der alles gut ist und wird.
Zeugnis von Gott die sonst so streng eingehaltene Scheu
durchbrochen wird, Gott mit weiblicher Prädikation in Ver-
Vertrauen, Treue und Trost haben in unserer Sprache die sel-
bindung zu bringen. In diesem Bild vom mütterlichen Trost
ben Wurzeln. Trost hat es also mit Vertrauen und Festigkeit
wird --damals wie heute --jedem unmittelbar zugänglich
zu tun. Die tröstende Beziehung hält die vielen Lebensängste
-Trost leiblich-seelisch erfahrbar. Urvertrauen und Trost
aus. In ihr ist das Vertrauen in die Welt und die gute Schöp-
entstehen an der Mutterbrust und im Schoß. Trost schenkt
fung Gottes repräsentiert und immer präsent. Die leiblich-
die Mutter dem Kind, dann wenn es ihn nötig braucht. Jede
seelische Erfahrung von Trost in existentieller Not ist deshalb
und jeder von uns hat es als Kind erfahren: Wie eine Mutter
der fruchtbare Boden für die Glaubenserfahrung mit dem
tröstet. Kinder müssen die Welt erfahren und entdecken, um
Trost Gottes. Trost gibt das Vertrauen ins Leben zurück.
lebenstüchtig zu werden, sie müssen auch mutig Grenzen
überschreiten. Und so kommen sie manchmal in existentielle
„Ich will sie trösten und sie erfreuen nach ihrer Betrübnis“.
Not. Es kann sein, das Kind überschätzt seine Kräfte und ver-
Bleibt die Frage: Was ist mit den Menschen, die
letzt sich. Es kann sein: das Kind hat sich neugierig von den
frühkindlichen Trosterfahrungen nicht ausreichend machen
Eltern entfernt und findet sich scheinbar verlassen wieder,
konnten? Bleiben sie ein Leben lang argwöhnisch und
fühlt sich einsam und ausgegrenzt aus der Gemeinschaft. Es
misstrauisch, weil sie gelernt haben zu überleben nur durch
kann sein: das Kind will die Welt entdecken und die Eltern
Selbstbehauptung oder Flucht in Ersatztröster? Haben sie nur
setzen Grenzen - es empfindet diese Macht, die es schützen
Pech gehabt, fällt etwa Gottes Zusage entweder auf fruchtba-
soll, als Gewalt – und fühlt sich ohnmächtig ausgeliefert. Und
ren Boden oder – bei einigen eben auf unfruchtbaren?
diese
es kann sein: das Kind erlebt den Einbruch des Todes in der
Familie oder einen anderen schweren Verlust. Es begreift
Jeder Mensch hat irgendwann und mit irgendwem Troster-
nichts. Es hat nur noch Angst. Diesen Schmerz, diese Angst
fahrung gemacht, sonst hätte er gar nicht überleben können.
drückt das Kind aus: da ist das Schreien des Kindes, das
Aber diese Menschen brauchen im weiteren Leben Räume,
Klagen, die Tränen, das Rufen nach der Mutter. Es gibt aber
Zeiten und Beziehungen, in denen sie solche Erfahrungen
auch der Schmerz, der verstummen und erstarren lässt. Gut,
machen können. Ich glaube, mich dass das eigene Geschenk
wenn dann jemand da ist. Denn jetzt braucht es Trost. Alles
des Trostes und der daraus erwachsenen Lebenskraft und
bleibt stehen und liegen. Trösten duldet keinen Aufschub.
Freude verpflichtet und befähigt, die Welt
Das Kind in seiner Not ist jetzt das Wichtigste. Und dann
und zwar so zu gestalten, dass auch diese Menschen die
wird es aufgenommen in den Schoß und in die schützenden
Trostzusage erfahren können, durch mich, durch andere
Arme der Mutter. „Es ist alles gut“, sagt die Mutter. Das kann
Menschen , in Beziehung zu anderen Menschen.
zu gestalten,
sie so sicher sagen, weil sie davon überzeugt ist und weil
dieses Vertrauen auch ihr schon geschenkt worden ist. Und
Ich denke an Justizvollzugsanstalten, in denen Jugendliche
das Kind spürt die Kraft, die darin steckt.
einsitzen, weil sie – nie wirklich getröstet – ihre Aggressionen
gegen sich selbst und andere gewendet haben. Uni-Modell-
Die Augen des Kindes gehen langsam wieder auf. Der Blick
projekte, die soziale Kompetenz mit diesen Jugendlichen
öffnet sich. Neuer Mut weicht der Angst und dann, nach
erarbeiten wollen, brauchen viel Zeit, teure Zeit, um sie nach-
einer Zeit - springt das Kind vom Schoß, getröstet, gestärkt,
holen zu lassen, was sie so nötig gebraucht hätten: Dass da
mit neuer Freude, über die wieder gewonnene Lebenskraft.
Menschen sind, die sie als Person so wichtig erachten, dass
sie ihnen wertvolle Zeit schenken.
9
Gestalten - oder auch Kontextbedingungen schaffen, heißt
sie zu Trostliedern in Lebens- und Todesängsten geworden.
auch Räume schaffen, in denen Trost entstehen und gelebt
Das gemeinsame Singen solcher Lieder verstärkt das Kraft-
werden kann. Trost braucht Raum und Zeit. Umbaute Räume
feld des Trostes.
z.B., in denen tragfähige Beziehungen gelebt werden können. Es gibt viel trostlose Architektur und trostlos gestaltete
Trost erfahre ich auch im Gebet. Das Gebet ist eine Zeit, in
Stadtteile, Schulen, Kindergärten, die die Erfahrung von
der der Alltag unterbrochen wird. In ihm ist die Beziehung zu
Geborgenheit und Trost verhindern. Trost braucht auch Zeit
Gott lebendig. Darum können im Gebet Klage und Anklage
.Am Krankenbett, im Altenheim, bei der häuslichen Pflege,
Raum haben, aber auch die Wahrnehmung der Freude über
im Kindergarten, in der Beratung und Therapie. In einer Kin-
Gottes Antwort und das eigene Aufatmen. Die Klagepsal-
dergartengruppe ist es bei einem Personalschlüssel von 1 zu
men mit ihrer Bewegung von der Klage zur Gewissheit sind
18 nicht möglich, ein Kind in einer ängstigenden Situation zu
Zeugnisse dafür. „Ich will sie trösten und sie erfreuen nach
trösten, weil einfach die Zeit fehlt.
ihrer Trübsal.“ Trost und Freude wird im Alten Testament fast
in einem Atemzug genannt. Wobei die Freude ganz leiblich
Auch nicht in der Altenpflege, wo wir doch wissen, dass
materiell beschrieben wird, mit Tanz oder im Schenken von
wir selbst im Alter immer mehr auf Trost angewiesen sind,
Wein und Brot. Ein alter Brauch der Juden im spanischen
zuletzt so notwendig wie am Anfang des Lebens.
Toledo war es, wenn jemand um einen Toten trauert, präsent
zu sein, dazusitzen, solidarisch zu schweigen und vor allem
„ZeitRaum“- diesen Namen hat sich die Psychologische Be-
Wein, Omelett und Pfirsich mitzubringen.
ratungsstelle im Kirchenkreis Hagen gegeben. Sie will sagen,
hier ist Zeit inne zu halten, Ruhe zu finden und eine tragfä-
Aus eigenen Trauergruppen weiß ich, wie wichtig es ist , alles
hige Beziehung für eine Zeit in Anspruch zu nehmen. Hier
was sinnlich und leiblich Freude macht, mitzubringen: den
ist ein Raum, der die Tränen, die Klage und die Trostlosigkeit
warmen Kakao mit Sahne, die duftenden Blumen und den
aushält. Solche Räume und Menschen, die den Lebensängs-
Klang der Musik. Denn wenn die Trauernden erst wieder
ten Stand halten, ermöglichen die tröstende Verwandlung
Nahrung aufnehmen und sich wieder freuen können, ist der
in Lebensfreude. Diese Erfahrung wird um so tiefer und
Trost angekommen und sie sind ein Schritt weiter auf dem
besser möglich sein, wenn die Beraterinnen und der Berater
Trauerweg.
sich selbst in Beziehungsräumen gehalten wissen, die eine
größere Tragfähigkeit in sich haben, als sie oder er aus sich
„Ich will sie trösten und sie erfreuen, nach ihrer Trübsal.“
heraus, anbieten kann. Dazu braucht es die Erfahrung und
Ich wünsche mir, dass in unserer Kirche und in all ihren
die Entdeckung, was mich eigentlich selber trägt und tröstet.
Einrichtungen mehr vom Geist des Trostes weht und spürbar
Das ist die Glaubensfrage oder auch die Frage nach der
ist. Aber was sag ich Geist des Trostes. Der Heilige Geist,
Spiritualität in der Beratung. Zugespitzt formuliert wie etwa
der unsere Kirche belebt und am Leben erhält, ist der selber
im Heidelberger Katechismus als erste Frage: Was ist mein
der Trost, der Tröster, wie der Evangelist Johannes ihn nennt
einzig Trost im Leben und im Sterben? „Gott spricht: Ich will
und uns verheißt. „Gott spricht: Ich will sie trösten und sie
sie trösten und erfreuen nach ihrer Trübsal.“ Erfahrungen von
erfreuen nach ihrer Trübsal.“
Trost gibt es auch in heiligen Räumen – und darum heißen sie
so - Kirchen sind solche Räume des Trostes. Wie gut, dass
Diese Tageslosung lass ich mir gerne jeden Tag sagen. Zum
immer mehr tagsüber offen stehen. Sie lassen mich zur
eigenen Trost und für meine Arbeit, mit denen, die Trost
Ruhe kommen, sie bringen meine eigene Geschichte in dem
suchen.
Zusammenhang mit der Geschichte vieler Menschen, die
Amen
schon ihre Not vor mir dort hingetragen haben. Und vielen
ist ihre Geschichte dort verwandelt worden.
Musik kann auch zum Raum des Trostes werden. In ihr
können sich Gefühle wie Trauer und Freude besonders gut
ausdrücken. Die bedrängende Wirklichkeit verflüssigt sich
beim Eintauchen in die Musik und wird ergänzt von einer
anderen Wirklichkeit und neu zusammen gesetzt. Vom Trost
Gottes zu singen, klingt und wirkt tiefer als über ihn zu reden.
In den Liedern Paul Gerhardts kommt der Trost Gottes zum
Klingen, Trost und Freude verbinden sich. Schon vielen sind
10
Vortrag zur Einführung
Prof. Dr. Michael Klessmann, Wuppertal
Spiritualität: Eine neue Ressource für die evangelische Beratung? 1
1. Ausgangspunkt:
Die psychologische Beratungsarbeit der evangelischen Kir-
sein „und ihre Glaubensüberzeugung in der Beratung nicht
che hat sich im 20. Jahrhundert immer wieder schwer getan
verleugnen.“(1.6). Als Ziel evangelischer Beratungstätig-
mit ihrem christlich-kirchlichen Auftrag, mit ihrem evangeli-
keit wird formuliert, dass Ratsuchende von einengenden
schen Profil.
2
Zwängen freier werden und sich stärker als verantwortliche
Das hatte damit zu tun, dass bis in die 60er Jahre hinein ein
Subjekte ihres Handelns erleben sollen. „Eine so gewonnene
kerygmatischer Seelsorgebegriff auch die Beratungsarbeit
Eigenständigkeit bestärkt seine Integrations-, Beziehungs-
zu dominieren suchte, wonach Seelsorge und Beratung vom
und Bindungsfähigkeit und schließt auch den Gegenstand
Paradigma der Verkündigung her begriffen werden sollten;
und die Beziehungen des religiösen Lebens mit ein“(1.8).
es erscheint nachvollziehbar, dass sich die Beratenden um
Die Frage, ob nicht gerade in einer evangelischen Beratungs-
ihrer psychologischen Fachlichkeit willen von dieser theolo-
arbeit die religiöse Orientierung der Beratenden wie der Klien-
gischen Zielvorgabe eigentlich nur abgrenzen konnten.
ten eine besondere Wertschätzung im Prozess der Beratung
Die Spannung zwischen Beratungsarbeit und Kirche hatte
erfahren sollte oder welchen Stellenwert Lebensdeutung
weiter damit zu tun, dass die Freudsche Religionskritik auch
im Horizont der christlichen Tradition im Beratungsprozess
die vorwiegend psychoanalytisch ausgerichtete Beratung
haben könnte, wird nicht gestellt. Die religiöse Orientierung
prägte: Religion stand von dieser Perspektive her unter dem
sowohl der Ratsuchenden wie der Beratenden kommt als
Generalverdacht, regressive Kompensation ungelöster bio-
mögliche Ressource für den Beratungsprozess nicht in den
graphischer Konflikte zu sein; es gab ja auch bis in die späten
Blick.
80er Jahre viele anschauliche Beispiele einer autoritären reli-
Die religiöse Großwetterlage hat sich, wie Sie alle wissen, seit
giösen Erziehung mit tiefgreifend neurotisierenden Folgen.
den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts deutlich verändert.
Und schließlich hatte jene Spannung damit zu tun, dass im
Wir sprechen von Wiederkehr der Religion, von Respirituali-
Selbstverständnis psychologischer Fachlichkeit Therapie
sierung – bei gleichzeitig weitergehender Säkularisierung
oder Beratung einerseits und Religion andererseits klar zu
und einem um sich greifenden Gewohnheitsatheismus.
trennen sind, jeder Vermischung zu wehren ist (was ich
Beide Bewegungen schließen sich in ihrer Gegenläufigkeit
nach wie vor für grundsätzlich richtig halte, auch wenn was
offenkundig gerade nicht aus. Zur Wiederkehr von Religion
natürlich immer nur begrenzt gelingt, da Religion keinen ab-
gehört auch, dass der Zusammenhang von Religion und
gegrenzten seelischen Bereich darstellt, sondern das ganze
Gesundheit, von Spiritualität und Resilienz intensiv wissen-
Leben durchdringt).
schaftlich erforscht und popularwissenschaftlich-medial
Als Beleg für die These von der Spannung (oder mindestens
aller Orten diskutiert wird.
der ungeklärten Verhältnisbestimmung) zwischen der Kirche
Angesichts dieser veränderten Ausgangslage liegt es nahe,
als Träger und der Beratungsarbeit verweise ich auf die
in neuer Weise nach der Rolle von Religiosität oder Spiritua-
Leitlinien für die psychologische Beratung, die die EKD 1981
lität als Ressource im Beratungsprozess und im Selbstver-
3
Aus heutiger Sicht behandeln diese
ständnis der evangelischen Beratungsarbeit überhaupt zu
auf dem Höhepunkt der Seelsorgebewegung verfassten
fragen. Damit könnte evangelische Beratung einen Perspek-
Thesen das Thema des Religiösen mit einer auffallenden
tivenwechsel vollziehen, der in bestimmten Strömungen der
Zurückhaltung. Psychologische Beratung wird als Teil des di-
Theologie und in manchen Bereichen der Psychotherapie
akonischen Auftrags der Kirche beschrieben. Beratung habe
schon länger zu beobachten ist: In der Theologie zeigt sich
Anteil am Mandat Christi, Menschen zu heilen und ihnen zur
eine neue Wertschätzung religiöser Erfahrung und natürlicher
Konfliktbewältigung und zu Reifungsschritten zu verhelfen.
Theologie; in der Psychotherapie gibt es eine Abwendung
Die Beratenden sollen Mitglieder der evangelischen Kirche
von einseitiger Fokussierung auf pathogene Faktoren und
verabschiedet hat.
11
Defizite im biographischen Umfeld und eine Hinwendung
Spiritualität und psychischer wie physischer Gesundheit
zum Aufspüren von individuellen und sozialen Ressourcen,
eine viel stärkere Aufmerksamkeit zuteil wird.
Fähigkeiten und Stärken.
Ressource bezeichnet etwas Doppeltes: Es geht um die Stärken und Fähigkeiten, die jemand in sich hat, auch wenn sie
2. Zur Attraktivität des Phänomens Spiritualität
vielleicht vorübergehend verschüttet sind; und es geht um
Kräfte und Stärken, die jemandem von außen zugesprochen
Wenn man Spiritualität als Ressource in der psychologischen
und zugeeignet werden (empowerment) – z.B. durch gelin-
Beratungsarbeit wahrnehmen will, muss man zuvor verste-
gende Beziehungsgestaltung, wozu auch eine religiöse oder
hen, was dieses Phänomen für Zeitgenossen so attraktiv
spirituelle Beziehung zu rechnen ist.
macht.
Matthias Kroeger versucht sich dem Phänomen zu nähern,
Wenn man die Bedeutung von Religiosität oder Spiritualität
indem er einen lebensgeschichtlichen Prozess beschreibt:6
von ihrer Funktion als möglicher Ressource her begreift,
Irgendwann, vornehmlich natürlich in Krisenzeiten des
ändert sich die Ausgangslage für die Beratungsarbeit: Es
Lebens, oder angesichts ungewöhnlicher Begebenheiten,
sind nicht mehr die Kirchen als Träger, welche die Beratungs-
fangen Menschen an, über sich nachzudenken, über die
stellen von außen dazu drängen, ihr kirchlich-religiöses Profil
Schönheiten und Rätsel des Lebens und der Welt, über Liebe,
zu schärfen. Es ist eher der schwer greifbare Zeitgeist, die
Krankheit und Tod, über das Schöne und das Bedrohliche. Sie
gesellschaftlich-kulturelle Großwetterlage, die Berücksich-
fragen, was denn in der Vielfalt dessen, was uns begegnet,
tigung des Lebenskontextes der Klientinnen und Klienten,
wirklich wichtig ist, woran es lohnt, sein Herz zu hängen, was
die es nahe legen, spirituell-religiöse Themen nicht länger
denn dran ist an den Lebensfragen nach Gerechtigkeit und
auszuklammern, sondern ihnen mit größerer Selbstver-
Wahrheit, nach der Bedeutung des Leidens und des Bösen.
ständlichkeit zu begegnen, und gerade von den kirchlichen
Sie haben eine diffuse Empfindung, dass es etwas gibt, das
Beratungsstellen Kompetenz und Sensibilität im Umgang mit
„größer ist als unser Herz (1 Joh 3,20), Mächte, die uns be-
solchen Themen zu erwarten.
hüten und tragen, aber auch Kräfte, die uns bedrohen und
Natürlich gab es diese Quelle zur Lebensbewältigung in
schaden. Die unbestimmte Sehnsucht nach wahrem, ver-
Gestalt vieler christlich-spiritueller Traditionen schon lange;
söhnten Leben „jenseits“ der alltäglichen Oberflächlichkeiten
gleichzeitig waren und sind sie durch ihre institutionelle
bedient sich dann eklektisch und mehr oder weniger zufällig
Bindung an die Kirchen für viele kirchenferne Zeitgenossen
der Quellen der Religionen und Weltanschauungen, ihrer
gewissermaßen verstellt. Jetzt, angesichts des Megatrends
Weisheiten und Dogmen, ihrer Riten und Praktiken, macht
Spiritualität,4 wie es das Wiener pastoralsoziologische Ins-
Anleihen bei Esoterik und Psychotherapie – um das undeut-
titut formuliert hat, kann man auf spirituelle Phänomene in
lich Gefühlte in Sprache und praktizierbare Form bringen
ihrer Bedeutung für Psychotherapie und Beratung in neuer
zu können. So entsteht die unbegrenzte Vielfalt spiritueller
Weise zurückgreifen, sie zu verstehen und zu entfalten su-
Phänomene, Anschauungen und Praktiken.7 Gemeinsam ist
chen, sie aber natürlich auch in therapeutischer wie theolo-
ihnen die Suche nach Einheit, nach Verbundenheit mit dem
gischer Hinsicht kritisch reflektieren – denn dass bei diesem
Leben als Ganzen, mit anderen Menschen, mit der Natur,
Thema viele Fallstricken lauern, ist unübersehbar. Zahlreiche
„mit einem den Menschen übersteigenden, umgreifenden
Forschungsergebnisse zu den positiven Auswirkungen von
Letztgültigen, Geistigen, Heiligen...“8, die Sehnsucht, an gött-
Spiritualität auf Prozesse der Heilung, auf Krankheits- oder
lichen Energien partizipieren zu können, und der Wunsch,
Krisenbewältigung kommen aus den USA, wo die religiöse
darin die Begrenztheit des eigenen kleinen Ego transzendie-
Landschaft eine tiefgreifend andere ist als in Westeuropa,
ren zu können: Unbedingtes möge im Bedingten wenigstens
so dass die Ergebnisse dortiger Forschungen mit Sicherheit
momentan aufscheinen; dann könnten sich Prioritäten in der
nicht ohne weiteres auf unsere Verhältnisse übertragen
Flut der täglichen Anforderungen klären und Unterschiede
5
werden können.
erkennbar werden, die wirklich einen Unterschied machen.
Vieles von dem, was ich im Folgenden vorstelle, ist nicht
So gesehen stellt Spiritualität eine Dimension dar, die alles
neu. Psychotherapeuten wie Viktor Frankl oder Vertreter
menschliche Leben und Erleben durchzieht und prägt. Von
der Existenzanalyse (Ludwig Binswanger, Medard Boss
daher ist es sicher angezeigt, dass die Kirchen und ihre Be-
u.a.) oder die initiatische Therapie nach Karlfried Graf
ratungsarbeit diese Lebensdimension würdigen und, wie es
Dürckheim haben Ähnliches gedacht. Gleichwohl ist de-
Kroeger formuliert, ihr Potential ehren.9 Das erscheint um so
ren Wirksamkeit begrenzt geblieben, während es jetzt so
notwendiger, als Spiritualität längst auch in den Kirchen, un-
scheint, als ob dem Thema gerade durch die sich rapide
ter Kirchenmitgliedern Einzug gehalten hat: eine Presbyterin
ausweitenden Forschungen zum Zusammenhang von
erzählt, dass sie wichtige Lebensentscheidungen mit dem
12
Pendel trifft; Pfarrer lassen sich von Tarot-Karten beraten.
vielfältigen Differenzierungen und Funktionalisierungen
Offenbar melden sich in solchen Verhaltensweisen tiefe Be-
unseres Lebens in der Gegenwartsgesellschaft. Man
dürfnisse, die das Phänomen Spiritualität gerade durch seine
kann sogar sagen: Die Popularität des Phänomens der
Diffusität beantwortet.
Spiritualität kann als Ausdruck eines ganzheitlichen
Einige Merkmale möchte ich noch besonders hervorhe-
Protests gegen die Funktionalisierung und Ökonomisie-
ben:10
rung des Menschen, wie sie uns allenthalben in unserer
•
Spiritualität präsentiert sich überwiegend als eine nontheistische oder besser transtheistische Orientierung,
Gesellschaft begegnen, gelten.
•
die nicht an eine personale Gottesvorstellung gebunden
bens: Wir Menschen sind nicht nur die, die ihr Leben
ist (die sowieso nur noch ca. 30% der Bevölkerung
erarbeiten, sondern die das Wesentliche empfangen:
teilen). Es geht um einen „spirit“, eine dynamische
In fast allen Meditationsformen spielen Leerwerden
Wirklichkeit (man denke an die im christlichen Glauben
und Loslassen, Annahme dessen, was ist, und Hingabe
11
zentrale Metapher: Gott als Geist, als spiritus sanctus) ,
an das Leben eine große Rolle. Angesichts einer unge-
die das Leben erfüllt, die man als Macht des Heiligen,
hemmt auf Aktivität, Leistung und Erfolg ausgerichteten
als transzendente höhere Kraft oder Energie denken
Gesellschaft erscheint vielen Menschen die Entdeckung
und erfahren kann, die man sich nicht personal und
dieser pathischen Dimension als etwas, das ihr Leben
damit scheinbar begrenzt vorstellen muss. Auf diese
Weise bekommt der Begriff Spiritualität eine weit aus-
•
vertieft.
•
von Ritualen für die Lebens- und besonders die Krisen-
eher als ausgrenzend wahrgenommen werden. Viele
bewältigung beigetragen. Die Reformation hatte den
Menschen, die sich als spirituell verstehen, haben sich
durch das Wort vermittelten Glauben des Menschen als
eben deswegen von der christlichen Religion, von der
Medium der Gottesbeziehung herausgestellt und Riten
Kirche abgewandt.
und Traditionen tendenziell als Adiophora, als Nebensa-
Spiritualität stellt ein hoch individualisiertes Phänomen
chen, eingestuft. Im Gefolge der 68er Bewegung hat es
dar: Jeder Mensch kann seine subjektive Form finden
dann noch einmal eine radikale Entritualisierung gege-
und gestalten und sich damit von festgelegten dogmati-
ben: Nur Spontanität und Echtheit zählten, das Einmali-
schen Inhalten und Rahmenbedingungen der religiösen
ge und Originelle wurde wert geschätzt. Demgegenüber
Institutionen abgrenzen. So gesehen stellt Spiritualität
sind es die fernöstlichen Spiritualitäten gewesen, die
ein ausgeprägt synkretistisches Phänomen dar, in
den Stellenwert des rituellen Vollzugs, der Wiederho-
dem sich katholische, protestantische, buddhistische,
lung und regelmäßigen Übung in ihrer Bedeutung für die
hinduistische, esoterische und psychotherapeutische
Lebensbewältigung neu eingeschärft haben. So ist es
Elemente problemlos miteinander vermischen; und
kein Wunder, dass das Ritualthema im Zusammenhang
Autonomie des Menschen zum Ausdruck kommt: Man
•
Spiritualität hat zur Wiederentdeckung der Bedeutung
greifende inklusive Tendenz, während die Religionen
zugleich ein Phänomen, in dem die unhintergehbare
•
Spiritualität betont die pathische Dimension des Le-
gegenwärtiger Spiritualität hohe Popularität genießt.
•
Schließlich darf natürlich nicht unerwähnt bleiben,
kann völlig nach eigenem Gusto religiös musikalisch sein
dass der Begriff Spiritualität durch haltlose und heillose
(um eine Formulierung Schleiermachers aufzunehmen)
Versprechen auf Grund rein ökonomischer Interessen
und muss nicht nach dem Takt tanzen, den andere
im großen Stil missbraucht wird:13 Spiritualität erhöhe
vorgeben. Spiritualität gewinnt mit diesem Zug zur Indi-
die Genussfähigkeit, bringe materiellen Erfolg, Macht
vidualisierung einen deutlich antiinstitutionellen Affekt.
und Ansehen, kann man lesen. Spirituelle Praktiken
Spiritualität bezeichnet etwas, das man erfahren und
versprechen Heilung und Heil, Sicherheit, Gewissheit
erleben, durchwandern und erleiden muss, was sinnlich
und Eindeutigkeit in komplexen Lebensfragen. Was auf
spürbar wird. Im Unterschied zu den dogmatisierten Ge-
den ersten Blick attraktiv scheint, entpuppt sich bei
halten der institutionellen Religionen spricht Spiritualität
genauerem Hinsehen als gnadenloses Selbstoptimie-
die Sinne und den Leib an, hat eine antiintellektuelle und
rungsprogramm – das in den meisten Fällen scheitert.
antidogmatische Ausrichtung. Erlebnis und Erfahrung
Peter Sloterdijk hat es scharf auf den Punkt gebracht:
– Schlüsselkategorien der Moderne überhaupt – gewin-
„Es charakterisiert einen Teil der aktuellen Konsulta-
nen im Bereich der Spiritualität besonderes Gewicht.
tionsindustrie, dass sie spirituelle Traditionen in den
Spiritualität kann man insofern als Fortsetzung der
Dienst ihres Gegenteils stellt.“14 Eine sorgfältige Unter-
Erlebnisgesellschaft mit anderen Mitteln verstehen.12
scheidung der Geister ist also immer vonnöten, wenn
Spiritualität hat eine ganzheitliche Dimension: Sie um-
von Spiritualität die Rede ist.
fasst Denken, Fühlen und Verhalten und überwindet die
13
3. Inwiefern kann Spiritualität eine lebensförder-
und Gesundheit. In diesem Konzept gewinnt Spiritualität als
liche Ressource darstellen?
Bestandteil des Kohärenzsinns eine die vielfältigen Dimensionen des Lebens integrierende Funktion.
Wenn man von neueren umfassenden Gesundheits- und
Der Salutogenese vergleichbar ist das Konzept der Selbst-
Stressbewältigungskonzepten ausgeht, wird deutlich, dass
regulation, das der Heidelberger Sozialmediziner Ronald
Spiritualität oder Religiosität eine Ressource zur Lebensbe-
Grossarth-Maticek entwickelt hat.20 Alle genetisch-phy-
wältigung, zu Krankheits- bzw. Störungsverarbeitung und
siologischen Faktoren, die das Leben bestimmen und zu
Heilung darstellen kann. (Dieses „kann“ ist zu betonen, denn
Krankheit oder Gesundheit beitragen, werden in hohem Maß
dass Spiritualität möglicherweise auch destruktive Wirkun-
durch emotional-kognitive Steuerungs- und Bewertungs-
gen entfaltet, steht außer Frage). Eine spirituelle Einstellung,
mechanismen überlagert. Dahinter steht ein Menschenbild,
15
(also
demzufolge der Mensch erscheint „als ein hoch komplexes,
nicht direkt und unmittelbar wirksam wird), beantwortet
interaktives, sozio-psycho-biologisches System, das nach
Bedürfnisse nach Orientierung, Selbstwerterhöhung und
kompetenter Lust, Wohlbefinden, innerer und äußerer Sicher-
Bindung16 – Bedürfnisse, die in der Auseinandersetzung mit
heit und Sinnerfüllung strebt.“21 Die Fähigkeit zur aktiven und
Lebenskrisen entstehen; daraus erklärt sich, warum spiritu-
flexiblen Selbstregulation geht vielen Menschen verloren, sei
elle Ressourcen gerade in Krisenzeiten aktiviert werden.
es durch frühe entmutigende Sozialisationserfahrungen,
die gewissermaßen als „Stress-Moderator“ fungiert
durch Schockerlebnisse, denen man keinerlei Sinn abgewinIch erinnere als erstes an einen systemischen Gesund-
nen kann, durch bevormundende Strukturen in Ausbildung
heitsbegriff, wie ihn der Psychosomatiker Fritz Hartmann
und Arbeitswelt. Um eine konstruktive, bedürfnisorientierte
entwickelt hat:
Selbstregulationsfähigkeit wieder herzustellen, hat Grossar-
„Gesund ist ein Mensch, der mit oder ohne nachweisba-
th-Maticek ein sog. Autonomietraining entwickelt, das große
re oder für ihn wahrnehmbare Mängel seiner Leiblich-
Ähnlichkeiten mit einem therapeutischen Beratungsangebot
keit allein oder mit Hilfe anderer Gleichgewichte findet,
aufweist.
entwickelt und aufrechterhält, die ihm ein sinnvolles, auf
Bestandteil der Selbstregulation ist nach Grossarth-Maticek
die Entfaltung seiner persönlichen Anlagen und Lebens-
auch die erlebte Gott-Mensch-Beziehung. Jeder Mensch, so
entwürfe eingerichtetes Dasein und die Erreichung von
der Autor, wünscht sich eine Beziehung zu einer lebendig
Lebenszielen in Grenzen ermöglichen, so dass er sagen
machenden transzendenten Quelle der Liebe, der Kommu-
kann: mein Leben, meine Krankheit, mein Sterben.“17
nikation, der hilfreichen Ordnung.22 Manche erleben diese
Ein solcher systemischer Gesundheitsbegriff misst dem
Quelle des Leben als ihnen zugewandt, andere als gleich-
individuellen Lebens- und Zukunftsentwurf, der subjektiven
gültig oder sogar ablehnend. In jedem Fall habe die erlebte
Deutung und Sinngebung von Krankheit und Leiden eine
Gott-Mensch-Beziehung Auswirkungen auf Motivation und
wichtige Bedeutung bei – der Stellenwert von Spiritualität ist
Handeln, und damit indirekt auch auf Wohlbefinden und
hier mühelos einzuordnen.
Gesundheit, weil sie, je nach Ausprägung, Liebe, Vertrauen
und Hoffnung, oder auch Angst, das Gefühl von Fremdbe-
Differenzierter
zeichnet
der
israelische
18
wissenschaftler Aaron Antonovsky
Gesundheits-
stimmtheit und gehemmter Liebesfähigkeit vermittele.23
mit dem Stichwort
Salutogenese ein Modell, in dem die Stressoren, die täglich
Aus der Sicht dieser systemischen Modelle kommt der Spi-
jeden Menschen konfrontieren, auf Widerstandsressourcen
ritualität eines Menschen eine große Bedeutung für dessen
treffen: Körperliche, psychische, materielle und psychoso-
Lebensbewältigung zu: Sie gehört zu den integrierenden
ziale Ressourcen werden zusammengehalten und aktiviert
Faktoren, die die Fülle der alltäglichen Einzelerfahrungen
von einer zentralen subjektiven Kompetenz, die Antonovsky
einem größeren Kontext und Sinnrahmen zuordnen. Sie stellt
den „Kohärenzsinn“ nennt. Kohärenz bezeichnet das Gefühl,
Wirklichkeitsdeutungen zur Verfügung, die Orientierung und
dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das
Halt versprechen. Man mag aus theologischer Sicht eine sol-
Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal ausgeliefert
che Funktionalisierung kritisieren; zunächst einmal ist jedoch
19
ist.
Bestandteil des Kohärenzsinns ist natürlich auch die
festzuhalten, dass eine Wechselwirkung besteht und dass
Weltanschauung eines Menschen, die Lebensphilosophie,
sie von daher auch in jeder Beratung und Psychotherapie
die Spiritualität, der Glaube. Je nachdem, wie eine Lebens-
wahrgenommen, reflektiert und geklärt werden sollte.
einstellung aussieht, von welchen spirituellen Elementen sie
bestimmt ist: Sie beeinflusst den Kohärenzsinn und damit
Lässt sich ein solcher Ansatz noch weiter vorantreiben, lässt
auch die Widerstandsressourcen im Blick auf die Lebensbe-
er sich gleichsam operationalisieren und konkretisieren, so
wältigung insgesamt, speziell natürlich im Blick auf Krankheit
dass man nicht bei der allgemeinen These stehen bleiben
14
muss? Ich versuche das exemplarisch an Hand von drei für
Hingabe und Loslassen und ihren spirituellen Konnotationen
das Feld der Spiritualität bedeutsamen Einstellungen zu
nicht gezielt und direkt versuchen, eine Veränderung des
zeigen. Die damit angesprochenen Themen gehören – wenn
Zustands des/der Ratsuchenden zu erreichen. Es geht hier
man sie aus der Sicht der Wirkungsforschung betrachtet –
um das Paradox der absichtslosen Absicht. Viktor Frankl
zum Bereich der nicht-spezifischen Wirkfaktoren, wie etwa
hat eine Wirksamkeit per intentionem unterschieden von
auch die Therapeut-Klient-Beziehung: Diese Faktoren sind
einer Wirksamkeit per effectum:27 Zur letzteren Kategorie
konkret schwer zu bestimmen, zeitigen aber nach aller Er-
gehört Heilung durch Loslassen, Annahme und Hingabe: Es
fahrung doch erhebliche Wirkungen.
kann sein, dass sich Heilung und Besserung einstellen, wenn
jemand lernt loszulassen, aber man kann sie sicher nicht ge-
1. In wohl allen Religionen und Spiritualitäten spielt die Er-
zielt herbeiführen. Auf jeden Fall wird eine spirituell sensible
fahrung des Loslassens eigener Wünsche und Vorstellungen,
Beratung besonders auf diese Spannung von Aktivität und
der Hingabe, der Annahme dessen, was ist, eine überragen-
Hingabe / Loslassen achten.
de Rolle. Im NT heißt es: „Wer sein Leben erhalten will, der
wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen,
2. In deutlichem Kontrast zu dem Grundelement des
der wird’s erhalten.“(Mk 8,35) Der Koran sagt: „Wer sich Gott
Loslassens steht das der Leidenschaft für das Leben, das
völlig hingibt, der hält sich an der festesten Handhabe“(Sure
Verlangen nach einem authentischen und wahren Leben,
31,22). Und das Bhagavad-Gita formuliert: „Suche Zuflucht
das mehr ist als das reine Überleben – eine Leidenschaft,
bei Ihm, gib dich total hin mit Körper, Geist und Seele und du
die wesentlich zur Spiritualität hinzugehört, aber nur selten
wirst durch seine Gnade den höchsten Frieden und ewige
thematisiert wird. In vielen spirituellen und mystischen Tra-
Wohnung finden.“24 Die meisten Formen der Meditation
ditionen steht die leidenschaftliche Liebe im Zentrum, das
zielen darauf ab, frei zu werden von weltlichen Vordergrün-
Ergriffenwerden von einer starken Sehnsucht nach einer das
digkeiten und Illusionen und sich ganz in den Grund des
Leben tragenden und durchdringenden Liebe, einer Liebe,
Seins hinein loszulassen.
in der Gott und Mensch und die Menschen untereinander
Damit widerspricht spirituelle Praxis einer westlich-gesell-
eins und die gesellschaftlichen und religiösen Differenzen
schaftlichen Haltung, die den Menschen die Notwendigkeit
gegenstandslos werden. Solche Leidenschaft ist meistens
möglichst weitgehender Kontrolle über das eigene Leben
verschüttet, überdeckt von gesellschaftlichen und religiösen
als Maxime nahe legt. Selbstkontrolle, Kontrolle der eigenen
Vorschriften und Traditionen, die Mäßigung und Zurückhal-
Emotionen und Verhaltensweisen zählt zu den für einen
tung fordern; wo sie jedoch zum Vorschein kommt, kann sie
Erwachsenen in der Leistungsgesellschaft zentralen Kompe-
eine Lebenskraft sein.
tenzen. Selbst im Coping, also den Bewältigungsstrategien,
Die Kehrseite leidenschaftlicher Sehnsucht ist die Erfahrung
die Menschen für den Umgang mit Krankheit entwickeln
des Schmerzes, der Ohnmacht und des Leidens angesichts
sollen, wird dem aktiven Handeln eine besondere Rolle
der Tatsache, dass die Sehnsucht so häufig nicht an ihr Ziel
zugeschrieben.
kommt, dass die Hindernisse für ihre Verwirklichung zu groß
Hingabe, Loslassen, Annahme dessen, was ist (die Amerika-
sind und die Vollendung natürlich immer aussteht. Passion
ner sprechen von „spiritual surrender“) ist nicht mit Passivi-
bezeichnet Leidenschaft und Leiden in einem: Sehnsucht
tät und Sich-Gehen-Lassen gleich zu setzen; vielmehr wird
nach Schönheit und Erfülltheit des Lebens, Zorn über das,
ein solcher Zustand von Zen-Lehrern beschrieben als wache
was dem im Wege steht, sowie Schmerz und Leiden ange-
Achtsamkeit, als ruhige Wachheit.25
sichts der Trivialität und Brüchigkeit des Alltags sind Elemen-
Religionspsychologen schreiben einer solchen spirituellen
te dieser Leidenschaft. Eine spirituell sensible Beratung kann
Haltung heilsame Wirkungen zu – wobei die Erklärungsan-
die Passionen des Menschen zum Thema machen und sie
sätze, warum sie so wirkt, stark variieren und vom Hinweis
als Ressourcen würdigen und zu entfalten suchen.
auf einen Placeboeffekt bis zur Annahme subtiler Energievermittlung reichen.26 Wie auch immer man die Ursachenfrage
3. In jeder Psychotherapie oder Beratung geht es darum,
beantwortet: Loslassen und Hingabe eröffnen Erfahrungen
dass Ratsuchende Hoffnung fassen oder vorhandene Hoff-
von Selbst-Transzendenz, in der sich das Individuum von hö-
nung stabilisieren. Hoffnung hat zum einen zu tun mit stabi-
heren Werten und Zielen bestimmt weiß, in der ein Empfinden
lem Selbstbewusstsein; Hoffnung entsteht darüber hinaus in
von Verbundenheit, Dankbarkeit und Sympathie entsteht.
tragfähigen Beziehungen, durch die Präsenz, Verlässlichkeit
Ein Gefühl von Geborgenheit und Getragensein kann sich
und Zugewandtheit anderer Personen; und schließlich lebt
einstellen, das bisherige angestrengte Bewältigungsversu-
Hoffnung vom Vertrauen in einen tragenden Lebenszu-
che einer Krise hinter sich lässt und heilsame Gelassenheit
sammenhang, in eine höhere Macht. Ein amerikanischer
verbreitet. Sicher wird man in der Beratung mit dem Thema
Therapeut zitiert den Satz eines Mädchens, die große Widrig-
15
keiten gut überstanden hatte: „Es gehört mehr zu mir als ich
Abgrenzungen sind mir wichtig:
dachte“, sagt sie.28 Einen solchen Satz kann man durchaus
1.
Eine Funktionalisierung von Religion bzw. Spiritualität
als einen spirituellen Satz lesen, weil er anspricht, dass we-
widerspricht der originäre Intention dieser Phänomene:
sentliche Dimensionen des Lebens nicht von uns selbst ge-
Eine spirituelle Haltung ist zweckfrei! Sie ist dazu da,
macht, sondern uns geschenkt werden. Eine Patientin sagt
sich mit der Quelle des Lebens in Beziehung zu setzen,
zu ihrem Therapeuten am Ende einer längeren Behandlung:
der Sehnsucht nach authentischem Leben Ausdruck zu
„Danke, dass Sie an mich geglaubt haben, bis ich wieder an
geben, aber nicht, um bestimmte Effekte zu erzielen.
mich selber glauben konnte.“29 Was hilft dem Therapeuten
Eine Funktionalisierung religiöser Erfahrung hat diese
an das Potential der Patientin zu glauben? Vielleicht seine
schon zerstört! D.h. eine Berücksichtigung spiritueller
berufliche Erfahrung, vielleicht aber auch sein eigenes
Prozesse in der Beratung kann bestenfalls indirekt und
Eingebettetsein in einen größeren Lebenszusammenhang,
sozusagen absichtslos erfolgen. Die grundsätzliche
der ihm Vertrauen in einen umgreifenden Möglichkeitsraum
Unterscheidung von Psychotherapie und Spiritualität ist
auch für seine Patienten eröffnet. Spiritualität lebt von der
festzuhalten – was eben nicht ausschließt, dass man die
durch Menschen vermittelten Erfahrung, dass wir uns einem
spirituelle Orientierung eines Menschen resssourcenori-
Größeren verdanken. Zu der Hoffnung, die daraus erwächst,
entiert thematisiert so wie man mit anderen Fähigkeiten
kann spirituell sensible Beratung entschieden beitragen.
aus dessen Leben auch arbeitet.
2.
Als Extremform der Funktionalisierung hat die Vermark-
Ich habe jetzt mehrfach von spirituell sensibler Beratung
tung oder Ökonomisierung von Spiritualität zu gelten.
gesprochen. Ich meine damit eine Beratungsarbeit, die
Dass dies eine Form des Missbrauchs ist – Missbrauch
aufmerksam, achtsam und respektvoll mit der Spiritualität
sowohl der beteiligten Personen wie auch Missbrauch
von Ratsuchenden umgeht und ihr Potential, ihre Qualität
des Phänomens Spiritualität als solches – ist offen-
als seelische Ressource würdigt und zu stärken sucht. Ich
kundig. Da sie jedoch so weit verbreitet ist (und auch
unterscheide eine solche spirituell sensible Beratung von di-
spirituelle Angebote der Kirche davor nicht gefeit sind),
rekten spirituellen Interventionen, wie es z.B. das Gebet oder
kann man kaum genug auf diesen Aspekt hinweisen.
die Durchführung bestimmter spiritueller Rituale darstellen.
3.
Vergleichbar der Ökonomisierung ist die Psychologisie-
Es gibt in wachsender Zahl Therapeuten und Beratende,
rung von Spiritualität:32 Spirituelle Therapeuten neigen
die auch solche spirituellen Interventionen in ihre Therapie
dazu, als erleuchtete Therapeuten aufzutreten, die im
integrieren.30 Hier sehe ich die Gefahr einer Vermischung
therapeutischen Prozess übersinnliche Energien und
von methodisch reflektierter Therapie oder Beratung ei-
eindeutiges, nicht hinterfragbares Wissen vermitteln.
nerseits und Religion bzw. Weltanschauung andererseits.
Spiritualität wird benutzt, um sich der Anstrengung
Beide Bereiche sind, so weit das möglich ist, um der Ent-
des Durcharbeitens zu entziehen, um sich die Mühe,
scheidungsfreiheit der Klienten willen zu unterscheiden und
Ambivalenzen zu explorieren und Unsicherheit auszu-
auseinander zu halten.
halten, zu ersparen. Die Autonomie von Klientinnen und
Klienten ist hier tendenziell in Gefahr.
4.
4. Unterscheidung der Geister
Spiritualität oder Religiosität ist nie ein ausschließlich
positives oder konstruktives Phänomen, sondern immer Chance und Risiko (wie es ein Buchtitel formuliert)
Weil Spiritualität ein so unabgegrenzter Begriff ist bzw. eine
zugleich33 – das hat die religionspsychologische For-
kaum einzugrenzende Vielfalt von Phänomenen bezeichnet,
schung hinreichend erwiesen. Es war einseitig, im Ge-
erscheint es unumgänglich, wenigstens einige wenige Ab-
folge der psychoanalytischen Religionskritik Religiosität
grenzungen vorzunehmen. Zwar hat Paul Zulehner zu Recht
vorrangig als neurotisierendes Phänomen einzustufen;
von der Notwendigkeit gesprochen, zunächst gegenüber
es wäre genauso einseitig, wenn man nun in das andere
gegenwärtiger Spiritualität eine „Haltung wertschätzender
Extrem verfiele, und nur die konstruktiven Ressourcen
Wahrnehmung“ einzunehmen.31 D.h. es geht um eine
von Spiritualität im Blick hätte. 34 Schon die alte Unter-
Haltung, die spirituelle Prozesse von innen heraus und von
scheidung von Gordon Allport ist hier hilfreich: Handelt
ihrer Intention und ihren Stärken her zu verstehen sucht.
es sich um intrinsisch motivierte Spiritualität – kommt
Wertschätzende Wahrnehmung muss jedoch gepaart sein
sie wirklich von innen, entspricht einem tiefen Bedürfnis
mit kritischer Reflexion, sonst segnet sie nur noch ab, was
– oder ist sie eher extrinsisch motiviert, also von außen
sowieso schon der Fall ist.
angestoßen, als Modetrend, weil „man“ das eben macht
Folgende Andeutungen (mehr kann es in diesem Rahmen
oder die Teilnahme „Erfolg“ verspricht?
nicht sein) im Blick auf notwendige Unterscheidungen und
16
5.
Das Menschenbild mancher spiritueller Phänomene
– eine Unterscheidung von Religion 1 und Religion 2
erscheint mir aus christlicher Sicht problematisch. In
vorgeschlagen40:
einigen Ansätzen taucht eine Wohlfühl-Spiritualität auf,
und Identitätsvergewisserung, bindet den Menschen
die eine Auseinandersetzung mit der Entfremdung des
zurück (re-ligio) an Erfahrungen der Vergangenheit,
Menschen, mit seiner Fragmenthaftigkeit und Fehlbar-
macht Nichtverfügbares handhabbar, transformiert
keit zu scheuen scheint. So schreibt Luise Reddemann,
unbestimmbare in bestimmbare Kontingenz (Luhmann).
deren Buch „Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit
Menschen brauchen solche Ursprungsvergewisserung,
dem ersten Schritt. Seelische Kräfte entwickeln und
auch mit Hilfe von Spiritualität – allerdings um den Preis,
fördern“ in nur drei Jahren bereits die 10. Auflage erlebt:
dass sie darüber eher passiv und apathisch zu werden
„Schließlich fühle ich mich besonders von einer Sicht-
drohen. Deswegen ist Religion 2 unverzichtbar: Religion
weise inspiriert, dass wir eigentlich vollkommen sind
2 enthält die messianischen Kräfte, die Wahrnehmung
und dass es die Momente der Freude und der Inspira-
dessen, was noch fehlt: die ausstehende Versöhnung
tion sind, in denen wir unserer Vollkommenheit begeg-
des Menschen mit sich selber, mit der Natur, mit der
nen können.“35 Zustimmend zitiert sie ein belgisches
Quelle des Lebens, mit Gott. Ohne diese emanzipato-
Sprichwort: „Die hilfreichste Hand hängt an deinem
rische Spitze wird Spiritualität, Bestandteil bürgerlicher
eigenen Arm.“ Es entspricht diesem Ansatz, wenn die
Behäbigkeit und verliert damit ihre eigentliche Zielrich-
Autorin anregt, dass Menschen sich selber segnen soll-
tung: Die Sehnsucht und Unruhe im Blick auf das, was
ten, ihre Freuden und Leiden, ihren Mut und ihre Angst.
sein könnte, aber noch nicht ist.
Religion 1 bezeichnet Ursprungs-
Nur am Rand erinnert die Autorin doch noch daran, dass
der Segen ursprünglich eine göttliche Lebenszusage be-
Wenn solche kritischen Perspektiven im Blick sind, ist es m.E.
zeichnet: „Vielleicht möchten Sie lieber Gott/die Göttin/
gut zu verantworten, die Spiritualität einer ratsuchenden
das Göttliche um das Segnen bitten.“36
Person als Ressource für deren Lebensbewältigung ins Spiel
Welch ein Kontrast z.B. zu dem als spirituell zu be-
zu bringen.
zeichnenden Programm der Anonymen Alkoholiker,
in dessen ersten drei Schritten es darum geht, die
eigenen Grenzen zu akzeptieren und sich einer
5. Auseinandersetzung mit Spiritualität als Be-
höheren und größeren Macht zu öffnen.
standteil professioneller Kompetenz der Beraten-
Aus christlicher Sicht ist die Wahrnehmung und Annahme
den 41
des Fragmentarischen ein zentraler Bestandteil der Anthropologie, der nicht in Richtung auf einen spirituellen Nar-
Seit S. Freud gehört es zu den unbestrittenen Einsichten,
zissmus und entsprechende Machbarkeitsvorstellungen hin
dass man in Psychotherapie oder Beratung mit Klienten nur
übersprungen werden sollte.37
so weit kommt, wie man die anstehenden Themen selber
6.
Eine weitere notwendige Frage: Bleiben Menschen mit
bearbeitet und halbwegs bewältigt hat.42 Für unser Thema
ihrer spirituellen Haltung und dem Wohlgefühl, das sie
heißt das: Wenn Spiritualität als Ressource in der Beratung
ihnen möglicherweise beschert, bei sich, auf sich selbst
genutzt werden soll, müssen auch die Beratenden dieses
fokussiert, oder stiftet sie an zu Solidarität und ethisch
Thema in ihrer Bedeutung für sie selbst angeeignet haben.
verantworteter Lebensgestaltung? Hat die „Option für
Eine spirituelle Haltung für sich allein genommen kann per-
die Armen“, eine zentrale Dimension des Evangeliums,
sönliche Kraftquelle und Inspiration für Alltag und Beruf sein,
Platz im Rahmen spiritueller Vollzüge? Dorothee Sölle
als solche stellt sie aber noch keinen Bestandteil professio-
hat vor einigen Jahren provokant formuliert: „Mystik ist
neller Kompetenz dar. Dazu wird sie erst, wenn sie kritisch
Widerstand“.
7.
38
Im Anschluss an die südamerikanische
reflektiert und bearbeitet worden ist, wenn ihre spezifische,
Befreiungstheologie beschreibt sie eine „Mystik der
biographisch verankerte Gestalt mit ihren Chancen und
‚offenen Augen’“: „Es ist eine Einübung in die Sichtweise
Schwierigkeiten so weit bewusst geworden ist, dass man
Gottes, es ist die Wahrnehmung des Kleinen, des Uner-
vor unbewusstem Agieren (z.B. vorschneller Identifikation
heblichen, das Hören auf das Geschrei der Kinder Gottes,
oder brüsker Ablehnung) einigermaßen geschützt ist und
die in Ägypten in Sklaverei sind.“39 Eine reife spirituelle
methodisch angemessenes Umgehen mit religiösen Themen
Haltung zeichnet sich durch eine solche sensibilisierte
ermöglicht wird.
Wahrnehmung aus – andernfalls bleibt sie schal und in
Kirchliche Beratungsarbeit hat hier etwas Besonderes anzu-
sich selbst verkrümmt.
bieten, weil sie in der Lage ist (oder sein sollte), spirituelle Ele-
Vor dreißig Jahren hat Hans-Eckehard Bahr – in Aufnah-
mente, die in der Beratungssituation begegnen, aufzugreifen
me von Gedanken Erich Fromms und Theodor Adornos
17
und mit der christlichen Tradition in ein offenes Gespräch zu
dabei prägend? Wie hat sich Ihr persönliches Gottesbild in
bringen (es darf hier keine inhaltlichen Zielvorgaben geben!),
den Zeiten der Kindheit, Jugend und des Erwachsenseins
um auf diese Weise zu ihrer Versprachlichung, Formgebung
verändert? Was bedeutet ein bestimmtes Gottes- oder
und Vertiefung beizutragen. Spiritualität ist manchmal einer
Glaubensbild für das gegenwärtige Lebensgefühl bzw. für die
natürlichen Religiosität ähnlich: Sie gleicht eher einem vagen,
Lebensgestaltung? Welche religiösen/spirituellen Praktiken
undeutlichen Gefühl, das schwer in Sprache und Form zu
sind Ihnen wichtig? usw.
bringen ist. Eben das ist aber nötig, wenn es zu einer hilfreichen Integration der Spiritualität ins Leben kommen soll.
3. Eine spirituelle Einstellung von Beratenden gegenüber ihren Klienten prägt eine Grundhaltung, die der beraterischen
Was bedeutet nun die These, Spiritualität müsse Bestandteil
Methodenkompetenz und Fachlichkeit eine bestimmte
professioneller Kompetenz sein? Ich nenne einige Punkte:
Qualität verleiht. Ich denke dabei exemplarisch an folgende
Punkte:
1. Ein professioneller Umgang mit spirituellen Einstellungen
•
Ahnung vom Geheimnis des Menschen, von seiner
von Klienten schließt eine religiöse oder theologische Deu-
Unverfügbarkeit oder Gottesebenbildlichkeit; daraus
tungskompetenz ein, mit deren Hilfe es möglich ist, gezielt
erwächst ein unbedingter Respekt vor der Würde des/
„das religiöse oder spirituelle Thema“ im Leben eines Klien-
der Anderen;
43
ten zu bearbeiten.
Das bedeutet konkret: Die Beraterin,
•
der Berater muss in der Lage sein,
•
•
•
durch die Einzigartigkeit des Lebens, des Fühlens, Den-
Lebensthemen der Klienten auch auf ihre religiöse Rele-
kens und Glaubens des anderen Menschen;
vanz hin zu erkennen und zu bearbeiten;
•
Eine Haltung der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit;
Die emotionale Bedeutung von religiösen Themen
•
Wissen um die Geschöpflichkeit und Fragmenthaftigkeit
wahrzunehmen;
menschlichen Lebens, damit auch um die Begrenztheit
An der hilfreichen Unterscheidung von Wahrheit und
und Vorläufigkeit beraterischer Kompetenz und Verant-
Unwahrheit, von dem, was für jemanden wirklich gültig
wortung;
ist und was Surrogat und Verführung darstellt, mitzuwir-
•
ken;
•
Bereitschaft zu staunen und sich überraschen zu lassen
Vertrauen darauf, dass das Entscheidende, das eigentlich Heilsame im Leben, in Beziehungen, geschenkt wird
Den Zusammenhang und die Wechselwirkung von
Beziehungen zu signifikanten Bezugspersonen und
zu Gott zu erkennen (Es gehört zu den interessanten
und nur bedingt herstellbar und machbar ist;
•
Festhalten an einer Vision von Gerechtigkeit und der
Fülle des Lebens.
pastoralpsychologischen Einsichten, dass sich zwischenmenschliche und religiöse Beziehungsstrukturen
4. Die Auseinandersetzung mit und die Integration der eige-
oft strukturell ähneln);44
nen religiösen oder spirituellen Quellen muss ein regulärer
An der Verknüpfung von Lebens- und Glaubensge-
Bestandteil der Aus- und Fortbildung in Beratung und Seel-
schichte zu arbeiten;
sorge sein. Diese Forderung ist nicht schwer zu erfüllen, weil
•
Religiöse Übertragungen wahrzunehmen;
die „Lernstrukturen“ in Modellen der Psychotherapie und
•
Auch die Gefahren einer Identifikation im Zusammen-
der Spiritualität nahe verwandt sind: Es geht beide Male um
hang mit spirituellen Themen zu erkennen.
Lernen aus Erfahrung, um Wissen, das sich aus Selbst- und
•
Fremderfahrung, aus der Interaktion in Beziehungen bildet
Eine
Deutungskompetenz
– mit dem einen wesentlichen Unterschied, dass man im
basiert auf entsprechender Wahrnehmungs- und Sprachfä-
solche
religiös-theologische
Bereich der Spiritualität damit rechnet, dass man jeder Zeit
higkeit, die wiederum in Vollzügen und der Reflexion persön-
mitten in aller Weltlichkeit auf das unverrechenbare Geheim-
licher Spiritualität fundiert ist.
nis des Lebens, auf Gott, stoßen kann.
2. Die Anamnese könnte um Fragen nach der religiösen oder
spirituellen Einstellung von Klienten erweitert werden – in
6. Schluss
den USA spricht man diesbezüglich von „spiritual assessment“: Was sind in Ihrem Leben die Quellen der Hoffnung
Von dem Psychoanalytiker Erik Erikson stammt ein Satz, der
und des Vertrauens? Was hat Ihnen in Lebenskrisen in der
mich immer wieder mal beschäftigt hat: Eltern müssen im-
Vergangenheit geholfen? Wie hat sich Ihre persönliche spiri-
stande sein, in ihrem Kind „eine tiefe, fast körperliche Über-
tuelle Einstellung im Lauf der Biographie entwickelt? Welche
zeugung zu wecken, dass das, was sie tun, sinnvoll ist.“45
Personen, welche Ereignisse, welche Traditionen waren
Ähnliches gilt, glaube ich, für Psychotherapie, Beratung
18
und Seelsorge: Wir müssen in der Lage sein, bei unserem
tun und lassen, mehr geschieht als durch unsere Kompetenz
Gegenüber die Überzeugung zu wecken, dass unser Handeln
veranlasst ist, mehr geschieht als wir wissen können.
sinnvoll ist, hoffnungsvoll und hilfreich. Kann das gelingen?
Ihnen, Herr Wentzek, wünsche ich für Ihre Leitung des EZI,
Liegt darin nicht eine Überforderung?
dass Sie in der Lage sind, mit dem Team zusammen etwas
Ich glaube, man kann den Satz im Grunde nur sagen, wenn
von dieser Haltung zu verkörpern und es denen, die bei Ihnen
dahinter eine spirituelle Haltung steht: Die Überzeugung,
Aus- und Fortbildung suchen, weiter zu geben.
dass durch das hindurch, was wir beraterisch-methodisch
1.
Vortrag aus Anlass der Einführung von Pfr. Dieter Wentzek als Leiter
des EZI am 9.5.2007 in Berlin.
22.
23.
Vgl. ebd. 283 ff.
2.
Vgl. dazu Hartwig von Schubert u.a. (Hg.), Von der Seele reden. Eine
empirisch-qualitative Studie über psychotherapeutische Beratung in
kirchlichem Auftrag. Neukirchen 1998.
24.
3.
Psychologische Beratung in der Kirche. Leitlinien für die Psychologische
Beratung in evangelischen Erziehungs-, Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen. Hg. vom Kirchenamt der EKD. EKD-Texte Nr. 5, Hannover
1981, 4.
Zitiert und aus dem Englischen übertragen aus: Brenda S. Cole und
Kenneth I. Pargament, Spiritual Surrender: A Paradoxical Path to
Control. In: William R. Miller (Ed.), Integrating Spirituality into Treatment.
Resources for Practitioners. Washington 1999, 179 – 198, 184.
25.
Vgl. ausführlicher Ludwig Frambach, Identität und Befreiung in Gestalttherapie, Zen und christlicher Spiritualität. Petersberg 1993, 136ff.
26.
Vgl. Bucher 2007 (Anm. 8), 109ff.; Cole / Pargament 1999 (Anm. 24),
185ff.
27.
Victor Frankl. Der Mensch auf der Suche nach Sinn. Freiburg ³1973,
73f.
28.
Zitiert bei Carolina E. Yahne / William R. Miller, Evoking Hope. In: William
R. Miller, Integrating Spirituality into Treatment. Washington 1999, 217
– 233, 226.
29.
Ebd. 226.
30.
Vgl. dazu Michael Utsch, Religiöse Fragen in der Psychotherapie.
Psychologische Zugänge zu Religion und Spiritualität. Stuttgart / Berlin
2005, 236ff.
31.
Zitiert bei Kurt Remele, Die Reise ins Innere: Spiritualität als Heilung. In:
Paul M. Zulehner (Hg.), Spiritualität – mehr als ein Megatrend. Ostfildern
2004, 44 – 56, 49f.
32.
Vgl. Eva Jaeggi, Heidi Möller, Erleuchtete Psychotherapeuten. Psychologie heute compact 8/2003, 85 – 89.
33.
Gunther Klosinski (Hg.), Religion als Chance oder Risiko. Bern 1994.
34.
Vgl. Bucher 2007 (Anm. 8), 137ff.
35.
Luise Reddemann, Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten
Schritt. Seelische Kräfte entwickeln und fördern. Freiburg 10/ 2007, 12.
36.
Ebd. 28.
37.
In dem vom Kirchenamt der EKD herausgegebenem Text „Evangelische
Spiritualität. Gütersloh 1979“ heißt es: “Man muß dabei zwischen
Machbarem und nicht Machbarem sehr sorgfältig unterscheiden. Das
Erziehen und Einüben kann immer nur bis in die Nähe des Möglichen,
bis an die Schwelle führen. Die lebendige Erfahrung, der persönliche
Glaube ist nicht machbar.“(33)
38.
Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand. Hamburg ²1997, 239.
39.
Ebd. 364f.
40.
Hans-Eckehard Bahr, Ohne Gewalt, ohne Tränen? Religion 1, Religion
2. In: Dorothee Sölle (Hg), Religionsgespräche. Zur gesellschaftlichen
Rolle der Religion. ...1975, 31 – 64.
41.
Zum Folgenden vgl. meinen Aufsatz: Persönliche Spiritualität als Teil
professioneller Kompetenz in Seelsorge und Beratung. Fokus Beratung
Mai 2004, 17 – 25.
42.
Vgl. S. Freud, Die zukünftigen Chancen der Psychotherapie (1910). St.A.
Erg.bd. 1975, 126: “...dass jeder Psychoanalytiker nur so weit kommt,
als seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten...“
43.
Beispiele für eine solche Arbeit finden sich Gina Schibler / Christoph
Morgenthaler, Religiös-existentielle Beratung. Stuttgart/Berlin 2002; zu
meinem Verständnis von Pastoralpsychologische vgl. Michael Klessmann, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch. Neukirchern ³2006.
44.
Vgl. dazu Schibler/ Morgenthaler 2002 (Anm. 43).
45.
Erik Erikson, Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart 4 1971, 243.
4.
Paul M. Zulehner (Hg.), Spiritualität – mehr als ein Megatrend. Ostfildern
2004.
5.
Vgl. Len Sperry, Spirituality in Clinical Practice. Incorporation of the Spiritual Dimension in Psycho-therapy and Counseling. Ann Arbor 2001.
Sperry stellt zu Beginn seines Buches fest, dass 94% der Amerikaner an
Gott glauben, 97% glauben, dass Gebete erhört werden und 2/5 geben
an, lebensverändernde spirituelle Erfahrungen gehabt zu haben (S.3).
6.
Matthias Kroeger, Im religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in
den Köpfen der Kirche. Stuttgart ²2005, 35ff.
7.
Eine Systematisierung spiritueller Phänomene versucht Ariane Martin,
Sehnsucht – der Anfang von allem. Dimensionen zeitgenössischer Spiritualität. Ostfildern 2005. Zum Begriff der Frömmigkeit in Abgrenzung
und Annäherung an den Begriff der Spiritualität vgl. Lucian Hölscher,
Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005.
8.
Anton Bucher, Psychologie der Spiritualität. Weinheim/Basel 2007, 56.
9.
Kroeger 2005 (Anm. 6), 52.
10.
Vgl. zum Folgenden auch Hubert Knoblauch, Soziologie der Spiritualität. In: Karl Baier (Hg.), Handbuch Spiritualität. Zugänge, Traditionen,
interreligiöse Prozesse. Darmstadt 2006, 91 – 111.
11.
Biblische und moderne Konnotationen zum Begriff finden sich bei Kees
Waaijman, Handbuch der Spiritualität. Bd. 2: Grundlagen. Mainz 2005,
65ff.
12.
Michael Ebertz, Die Wüste lebt. Spiritualität statt Frömmigkeit? In: Maria Jepsen (Hg.), Evangelische Spiritualität heute. Mehr als ein Gefühl.
Stuttgart 2004, 13 – 31, 26.
13.
Genauer dazu Ariane Martin 2005 (Anm. 7), 42ff.
14.
Zitiert bei Jörn Halbe, Was Sinn macht. Kompetenz kirchlicher Seelsorge
und Beratung in gesellschaftlichen Spannungsfeldern. WzM 59 (2007),
152 – 163, 153.
15.
Anette Dörr, Religiöses Coping als Ressource. In: Christian Zwingmann,
Helfried Mosbrugger (Hg.), Religiosität: Messverfahren und Studien zu
Gesundheit und Lebensbewältigung. Münster 2004, 261 – 275, 263.
16.
Karl Grawe nennt vier menschliche Grundbedürfnisse: Orientierung
und Kontrolle; Lustgewinn und Unlustvermeidung; Bindungsbedürfnis;
Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz. In: Ders.,
Ressourcenaktivierung. Ein primäres Wirkprinzip der Psychotherapie.
Psychotherapeut 44 (1999), 63 – 73, 67.
17.
Fritz Hartmann, Krank oder bedingt gesund? MMG 11 (1986), 170 – 179,
172.
18.
Dazu H. Waller, Gesundheitswissenschaft, Stuttgart/Berlin² 1996, 17 ff.
19.
A. Antonovsky, Health, Stress and Coping, San Francisco 1979, 123 ff.
20.
R. Grossarth-Maticek, Selbstregulation, Autonomie und Gesundheit,
Berlin/New York 2003.
21.
Ebd. 30.
Ebd. 22.
19
31. Deutscher Evangelischer Kirchentag
6. bis 10. Juni 2007
Unter der Standüberschrift „Beratung und Supervision in der
Evangelischen Kirche und Diakonie“ präsentierten sich der
Fachverband EKFuL und das EZI mit einem gemeinsamen
Stand auf dem Evangelischen Kirchentag in Köln.
Eingeladen zu einem Interview auf unserem roten Talk-Sofa
kamen Bischof Dr. Huber, Präses Schneider und die MdB Rene
Röspel und Kerstin Griese, Vorsitzendes des Familienausschusses und beantworteten unsere Fragen zur Bedeutung
und Entwicklung Evangelischer Beratungsarbeit aus bundesund landeskirchlicher Perspektive und aus staatlicher Sicht.
Thematisch ging es vor allem um Schwangerschaftskonfliktberatung und um Fragen des Lebens im Zusammenhang von
Pränataldiagnostik und Stammzellenforschung.
Beratung in einer seelsorglichen Kirche
Interview am EKFuL/EZI-Stand, 31. Deutscher Ev. Kirchentag, Köln
Dr. Wolfgang Huber, Bischof der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz,
Ratsvorsitzender der EKD
Frage: 50 Jahre war Beratungsarbeit eine
besondere Ausformung der Seelsorge als
Kerngeschäft der evangelischen Kirche. Ist
der Abbau an Beratungsstellen eine Orientierung an anderen Kerngeschäften?
Bischof Huber: In der kirchlichen Situation war es eine ungewöhnliche Chance,
ein solches spezialisiertes Angebot der
Seelsorge aufbauen und so lange aufrecht erhalten zu können. Ich bedaure
den Abbau dieses Angebots, aber mit
Umstrukturierungen muss die Kirche sich
auf zukünftige, zu erwartende Entwicklungen einstellen. Ich warne aber davor,
dass immer, wenn von Umstrukturierung geredet wird,
werden. Die Menschen werden nicht wegen jedem Weh-
gleich unterstellt wird, es solle eine kirchliche Kernaufgabe
wehchen Therapeuten aufsuchen; sie wünschen sich, ganz-
preisgegeben werden. Man muss vielmehr kreativ sein, um
heitlich gesehen zu werden. Das muss dazu führen, dass
die Probleme zu antizipieren, man muss alle Anstrengungen
die seelsorgerliche Ausbildung der Pfarrer gestärkt wird.
dazu verwenden, Kompetenzen aufrecht zu erhalten.
Besonders bei der Ausbildung der Vikare wird begonnen, das
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Erwartungen der
umzusetzen. Dazu sollte es Kompetenzzentren für Seelsorge
Menschen an die Kirche als seelsorgerliche Kirche bleiben
geben.
20
Frage: Pränataldiagnostik: Was denken Sie, wofür Beratung
(DFG) forderte inzwischen erneut eine Aufhebung dieser
wichtig ist?
Regelung, weil die Grundlagenforschung nicht ausreichend
gefördert wird. Ich bin ausdrücklich gegen eine solche gene-
Bischof Huber: Für die evangelische Kirche gibt es hierbei
relle Zulassung der Forschung mit embryonalen Stammzellen
zwei Grundsätze. Schwangerschaft ist ein Lebensverhältnis,
und für eine Aufrechterhaltung des Kompromisses von 2002.
in das Männer und Frauen gleichermaßen einzubeziehen
Die beste Lösung wäre der vollständige Verzicht auf die For-
sind. Männer sind in die Pflicht zu nehmen, der bei ihnen
schung an embryonalen Stammzellen. Wenn das nicht mög-
verbreiteten Distanzierung muss auch die Beratung entge-
lich ist, haben die Wissenschaftler den Beweis zu erbringen,
genwirken.
dass die derzeit zur Verfügung stehenden Stammzelllinien
Man muss akzeptieren, dass es Situationen gibt, in denen
für die Grundlagenforschung nicht ausreichen; dann müsste
eine Schwangerschaft nicht aufrechterhalten werden kann.
man über eine Verschiebung des Stichtags – aber keines-
Aber Beratung und Begleitung von Männern und Frauen
wegs über seine Aufhebung – diskutieren. Die Beweislast
stehen immer im Dienst des Lebens. Ein Schwangerschafts-
liegt hier eindeutig bei der DFG und nicht bei der Politik. Die
abbruch muss, wo immer das möglich ist, verhindert werden
Wissenschaft verspielt ihren Kredit in der politischen Diskus-
und kann nur dann bejaht werden, wenn die Schwangere
sion, wenn sie den ganzen Arm nehmen will, sobald man ihr
sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht dazu imstande
den kleinen Finger gereicht hat.
sieht, die Schwangerschaft fortzusetzen. Die kirchlichen
Beraterinnen und Berater werden das Leben grundsätzlich
Frage: Was wünschen Sie sich für die Schwangerschaftskon-
bejahen.
fliktberatungen?
Schwangerschaftskonfliktberatung ist auf jeden Fall der
Frage: Wie sieht es aus mit Ihrer Position in der Diskussion
bessere Begriff als Schwangerenberatung, weil nicht die
um die Stammzellenforschung?
Schwangere konflikthaft ist, sondern eventuell durch eine
Schwangerschaft in einen Konflikt gerät. Den Beraterinnen
Kein Sinneswandel! 2001 war meine Position, die vorrangige
und Beratern wünsche ich, dass sie, so wie die Kolleginnen
Forschung mit adulten Stammzellen zu fördern. Nur wenn
vom Stand gegenüber (Ev. Schwangerschaftsberaterinnen
die Wissenschaft plausibel nachweist, dass damit nicht
im Rheinland, Anm. d. Redaktion), ihre Fröhlichkeit behalten
ausreichend Grundlagenforschung durchzuführen ist, dann
trotz der Lasten, die diese Aufgabe mit sich bringt. Ich fand
wäre über Stichtagsregelungen nachzudenken. So ist es dann
es so wohltuend, dies bei Ihnen zu spüren: ich wünsche allen
2002 geschehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft
Beraterinnen und Beratern Gottes Segen für Ihre Arbeit.
Beratung muss es weiter geben
Interview auf dem EKFuL/EZI-Stand, 31. Deutscher Ev. Kirchentag, Köln
Kerstin Griese (MdB), Vorsitzende des Bundesausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Frage: Beratungsstellen sind seit 50 Jahren aktiv und helfen
Menschen in Krisen. Nun sind sie aufgrund von Finanzierungen selbst in der Krise. Sind Beratungsstellen überflüssig?
Beratungsstellen muss es weiter geben. Aus meinem
eigenen Wahlkreis weiß ich, dass der Bedarf höher ist als
das Angebot. In den Beratungsstellen gibt es Wartelisten.
Beratungsangebote sollten sich mehr einbinden in vernetzte
Angebote, um beispielsweise auch Familien aus bildungsfernen Schichten erreichen zu können.
Frage: Bestimmte Gruppen oder Bereiche erhalten keine
finanzierten Angebote wie Studierende, alte Menschen,
Erkrankte. Denken Sie da über mögliche Lösungen nach?
21
Es kommt darauf an, wo eine Kommune ihre Priorität setzt.
Frage: Wertekrisen in der Gesellschaft führten immer zu
Ob ein neuer Kreisverkehr finanziert werden soll oder eine
Beratungsangeboten der Politik. In den 20er Jahren entstand
Kita oder eine Beratungsstelle. Investitionen in den sozialen
so die Sexualberatung, nach dem Krieg die Paarberatung,
Zusammenhalt einer Kommune sind ein Standortvorteil.
dann die Erziehungsberatung und schließlich die Schwangerschaftskonfliktberatung. Die neue Krise ist die Machbarkeit
Frage: Schwerpunkt Ihrer Arbeit sind auch Frauen und Män-
von medizinischer Diagnostik, die Frage nach dem Anfang
ner. Männer fühlen sich derzeit sehr benachteiligt. Die Rol-
und dem Ende des Lebens. Wollen Sie als Politikerin da Ein-
lenzuweisung passt nicht zu ihrer Sozialisation. Auch Hartz
fluss nehmen und diese brisanten Themen transportieren?
IV trägt dazu bei, dass Männer aus der Versorgerfunktion
Als Kirchenbeauftragte der SPD-Fraktion diskutiere ich diese
gedrängt werden.
schwierigen ethischen Fragen regelmäßig mit den Kirchen.
Auf der Tagesordnung des Bundestages stehen zurzeit
In erster Linie hat sich die Rolle der Frau verändert. Sie will
die Patientenverfügungen. Da es sich hier um eine echte
und muss immer häufiger Beruf, Karriere, Kinder und Haus-
Gewissensfrage handelt, muss jede und jeder Abgeordnete
halt unter einen Hut bringen – mit allen Schwierigkeiten, die
zu einer eigenen Entscheidung kommen. Noch sind viele
diese vielfachen Anforderungen mit sich bringen. Die meis-
Kolleginnen und Kollegen unentschieden.
ten Männer sind längst noch nicht so weit. Selbst wenn sich
durch die Elterngeldeinführung die Zahl der Väter verdoppelt,
Frage: Was motiviert Sie, in diesem Bereich tätig zu sein?
die Elternzeit in Anspruch nehmen: 90 Prozent der Männer
sind von einer wirklich partnerschaftlichen Erziehung der ge-
Alle Menschen sollten gleiche Chancen haben. Seit ich in der
meinsamen Kinder noch weit entfernt. Nicht Hartz IV drängt
evangelischen Jugend aktiv war, war dies für mich immer ein
die Männer aus einer veralteten Versorgerfunktion. Sondern
ganz wichtiges Ziel. In Deutschland sind die Bildungschancen
es sind die selbstbewussten jungen Frauen, für die Erfolg im
mehr als anderswo vom Geldbeutel der Eltern abhängig. Das
Beruf eine Selbstverständlichkeit ist.
ist nicht hinnehmbar. Dagegen kämpfe ich und das verbindet
mein Engagement in der Evangelischen Kirche und in der
sozialdemokratischen Politik.
Kirche ist Freundin des Lebens
Interview auf dem EKFuL/EZI-Stand, 31. Deutscher Ev. Kirchentag, Köln
Nikolaus Schneider, Präses der Ev. Kirche im Rheinland
Frage: Denken Sie, dass Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen in der evangelischen Kirche wichtig sind?
Die Kirche braucht die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen unbedingt, da ungewollte Schwangerschaften eine
Katastrophe sind. Die Kirche ist Freund des Lebens, und es
ist wichtig, dass Leben bewahrt wird: das Leben der Mutter,
des Vaters und das entstehende Leben. Und dies sollte nicht
gegeneinander ausgespielt werden. Die Schwangerschaftskonfliktberatung kann nur sein an der Seite der Betroffenen
mit den Betroffenen. Wir müssen die Bereitschaft aufbringen,
lange Wege zu gehen, auch schwierige Wege zu gehen.
22
Frage: Der Druck auf die Paare, mithilfe von Pränataldiag-
Gesellschaftsbereiche daran ein Interesse haben. Ich kann
nostik und Präimplantationsdiagnostik das perfekte Kind zu
mir keine Kirche vorstellen ohne Beratung und Seelsorge,
produzieren, wächst. In dieser normativ-biografischen Krise
denn die Kirchen und Gemeinden besitzen Kompetenz, die
der betroffenen Menschen bekommen sie bei uns Beratung.
grundsätzliche Menschenliebe Gottes weiter zu tragen und
Die Menschen haben Angst davor, ein behindertes Kind auf
die Perspektive zu bezeugen, dass das Leben stärker ist als
die Welt zu bringen. Was denken Sie dazu?
der Tod. Dies ist das Kerngeschäft der Kirche, und das ist
auch besonders wichtig, gerade, wenn andere Möglichkeiten
Die Frage, ein behindertes Kind auszutragen oder nicht, ist
versagen.
eine schwierige Frage. Ich habe Verständnis für Paare, die z.
B. aufgrund erheblicher Vorbelastung oder des Alters wissen
Frage: Die Beratungsstellen wandern zur Diakonie und
wollen, ob eine Behinderung der Kinder vorliegt und Präna-
müssen 100 Prozent refinanziert werden. Werden Sie sich
tal- bzw. Präimplantationsdiagnostik in Anspruch nehmen.
einsetzen für kirchliche Beratungsstellen?
Wir selber haben zusammen vier Schwangerschaften erlebt
und drei Kinder bekommen. Und haben uns nie darüber
Wir wollen Kirche und Diakonie nicht gegeneinander aus-
Gedanken gemacht. Wir haben uns gedacht, wir nehmen es,
spielen. Beide haben einen Verkündigungsauftrag. Und 100
wie es kommt. Man muss genau abwägen, wo man Gott ins
Prozent Refinanzierung einer Beratungsstelle kann es nicht
Handwerk pfuscht – auch, wenn man vorher helfen kann,
geben.
wenn Pränataldiagnostik sinnvoll ist.
Ich bin jedoch erschrocken, dass bei bestimmten Diagnosen,
z. B. Down-Syndrom, das medizinische System, der Arzt mit
der Diagnose gleich auch die Abtreibung empfiehlt. Hier gibt
es gesetzlichen Nachsteuerungsbedarf. Da sollte Beratung
zwischengeschaltet werden. Wie z. B. im Bonner Modellversuch. Beratungsinhalte sollten sein, was ein Leben mit einem
behinderten Kind bedeutet. Auch fehlen einer Gesellschaft
mit Designer-Babys, in der Krankheit nur als medizinisches
Problem gesehen wird, wichtige Grunddimensionen des
Lebens. Wenn eine Gesellschaft wichtige Grundsätze des
Zusammenlebens preisgibt, ist das furchtbar.
Frage: Sie sind hier auch am Stand des EZI. Was müssen die
Berater/innen in der Ausbildung lernen?
Die Berater/innen müssen großes Einfühlungsvermögen,
Menschenliebe und gute Kenntnisse des Sozialrechtssystems besitzen. Es sollten Menschen sein, die gerne leben,
Persönlichkeiten, die Lebensermutigung ausstrahlen.
Frage: Vielleicht eine unangenehmere Frage: Die Kirche hatte
immer als Kerngeschäft die Begleitung von Menschen in biografischen Krisen. Inzwischen ist das Thema Tod und Trauer
von Bestattungsunternehmen und Heimen gemanagt. Ältere
Menschen gehen zum Arzt oder Psychotherapeuten oder
buchen ein Wellness-Paket. Hat sich die Kirche von ihrem
Kerngeschäft verabschiedet, denn Beratungsstellen sind
seit 50 Jahren eine besondere Ausprägung der kirchlichen
Seelsorge?
Ich sehe es nicht nur negativ, dass es säkuläre Formen dieses kirchlichen Kerngeschäfts gibt. Das zeigt, dass andere
23
Das PND-Beratungsnetz wächst.
Erfahrungsberichte über die Zusammenarbeit
bei der psychosozialen Beratung in Verbindung
mit Pränataler Diagnostik.
Das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und
netzung mit den anderen, mit PND befassten Professionen
Jugend beauftragte das EZI 2002 damit, ein Curriculum zur
entwickelt hat.
Weiterbildung in „Psychosozialer Beratung bei pränataler
Wir stellen in diesem Heft die Beiträge von fünf Teilnehmerin-
Diagnostik“ zu entwickeln und durchzuführen. Es sollte mög-
nen des Curriculums vor, die bei unterschiedlichen Trägern
lichst von einem interdisziplinären DozentInnenteam geleitet
arbeiten (Diakonie, Donum Vitae, DRK, Gesundheitsamt) und
werden und auch für TeilnehmerInnen aus unterschiedlichen
in unterschiedlichen Regionen von Deutschland tätig sind.
Disziplinen offen sein.
Sabine Hufendiek
Ziel des Curriculums sollte - neben dem Erwerb von Beratungskompetenz in diesem speziellen Fachgebiet - sein, die
Erfahrungen
verschiedenen, mit PND befassten Professionen zu einer
Ich arbeite in Paderborn und in Lippstadt als Beraterin.
besseren Zusammenarbeit anzuregen.
Paderborn ist eine von der Katholischen Kirche geprägte,
Seit 1995, als der Gesetzgeber das Schwangeren- und Fami-
ländliche Stadt mit ca. 135.000 Einwohnern, Lippstadt hat ca.
lienhilfeänderungsgesetz verabschiedete, sollen Schwange-
73.000 Einwohner.
ren- und Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen Schwan-
Voller Elan und positivem Tatendrang begann ich 2003 mit
gere und ihre Familienangehörige in allen Fragen rund um
der Vernetzungsarbeit einzelner mit PND befassten Berufs-
Schwangerschaft und Geburt beraten. Das bedeutet auch,
gruppen. Zunächst stellte ich das PND-Beratungsangebot
dass Beratungsstellen die geeignete Anlaufstelle sind, wenn
bei den niedergelassenen Gynäkologen mit Hinweis auf
Frauen sich informieren wollen zu allen Fragen rund um das
die Teilnahme an der zweijährigen Fortbildung PND am EZI
Thema pränatale Diagnostik.
schriftlich vor. Ich hatte einen Fragebogen zum Abfragen des
In der Realität sieht es allerdings oft so aus, dass Frauen/
Interesses am Thema und zur Klärung einer Zusammenarbeit
Paare dieses Beratungsangebot nicht kennen.
dem Brief beigefügt. Die Rückmeldung und das Interesse
AnsprechpartnerInnen für schwangere Frauen sind bei uns
der Ärzte war sehr unterschiedlich. Einige antworteten gar
zuallererst GynäkologInnen. Dass es darüberhinaus ein Ange-
nicht, andere meldeten Interesse an, wieder andere waren
bot für psychosoziale Beratung gibt, ist nicht bekannt. Selbst
skeptisch.
ÄrztInnen haben wenig Kenntnis davon oder verstehen das
Da ich mich auch persönlich vorstellen wollte, besuchte ich
Angebot als eine Konkurrenz zur ärztlichen Beratung.
alle Frauenärzte. Die meisten Gynäkologen zeigten Interesse
Im Juni 2003 startete das erste Curriculum „Psychosoziale
am psychosozialen Beratungsangebot bei PND. Aber es
Beratung bei pränataler Diagnostik“mit 25 Teilnehmenden.
folgte zunächst so gut wie keine Überweisung einer ratsu-
Es endete 2005.
chenden Frau.
(siehe Abschlußbericht des Curriculums; einzusehen auf der
Internetseite des EZI unter Berichte).
Nicht nur das Bekanntmachen des Beratungsangebots war
Zwei Jahre nach Beendigung des ersten Durchgangs des Cur-
mir wichtig, ganz entscheidend für mein Verständnis von PND
riculums „Psychosoziale Beratung im Kontext von pränataler
waren Hospitationen in den unterschiedlichen Bereichen.
Diagnostik“, erbaten wir von einigen Teilnehmerinnen des
Curriculums eine Rückmeldung über den Stand ihrer Arbeit.
So habe ich als erstes in der PND-Abteilung im Lippstädter
Vor allem waren wir interessiert zu hören, wie sich die Ver-
Krankenhaus mehrmals hospitiert. Ultraschalluntersuchun-
24
gen, Nackenfaltenmessung etc. habe ich mit verfolgen
Einen Arbeitskreis, bestehend aus allen mit PND befassten
können. Das Vertrauen des Chefarztes in mich als Beraterin
Berufsgruppen habe ich 2006 in Lippstadt gemeinsam mit
wuchs langsam, aber stetig. Er schickte mir zunächst zöger-
den Kolleginnen des SKF und der AWO gegründet. Es kamen
lich Patientinnen zur Beratung. Seit etwa 2006 ist es für ihn
Vertreter der Lebenshilfe, Gynäkologinnen, PND-Chefarzt,
zum Standard geworden bei positivem Befund und medizini-
Hebamme, Nerven- und Kinderarzt, Vertreterin der Lebens-
scher Indikation Frauen/Paare in die Beratung zu schicken.
hilfe. In 2007 ist ein weiterer Arbeitskreis geplant. Es ist
schon viel erreicht, es gibt noch viel zu tun, um Frauen ein
Durch den Kontakt zur PND-Abteilung des Krankenhauses
plurales Angebot psychosozialer Beratung vor, während und
hospitierte ich bei dem kooperierenden Humangenetiker in
nach PND zu offerieren. Mein Tatendrang wird immer wieder
Hannover. Ich konnte ein Beratungsgespräch verfolgen mit
aktiviert. Die Thematik PND liegt mir sehr am Herzen. „
einem Paar, das ein Kind mit Down-Syndrom erwartetet.
Ich fand immer mehr zu meiner eigenen Einstellung gegen-
Birgit Kriedner
Donum Vitae Beratungsstelle, Lippstadt u. Paderborn
über den ethischen Fragen bei PND; durch die Anregungen
im Kurs in Berlin und durch Hospitationen in Behinderteneinrichtungen. Ich war in der Frühförderstelle der Caritas (Ar-
Ich möchte rückmelden, dass die Einbindung der psychoso-
beitskreis Selbsthilfekreis Mütter mit Down-Kindern), bei der
zialen Beratung bei PND in der Vernetzung mit den einschlä-
Lebenshilfe (Besuch und Gespräch zuhause bei einer Mutter
gigen ÄrztInnen und anderem Fachpersonal in Köln gute
mit einem Spina-bifida-Kind. Sie hatte sich bewusst für das
Fortschritte macht.
Kind entschieden), in der Blindenschule (dreimal) in Pader-
Ein Arbeitskreis „PND“ existiert seit ca. 6 Jahren, aber wir
born, wo schwerst mehrfach behinderte Kinder beschult
psychosoziale Beraterinnen der Schwangerenberatungs-
werden. Das waren meine eindrucksvollsten Hospitationen.
stellen blieben gemeinsam mit einer Humangenetikerin
lange unter uns. Ein weiterer Humangenetiker kam vor ca.
Hospitationen halte ich für außerordentlich wichtig, wenn
1 1/2 Jahren hinzu, selten kommt eine niedergelassene
man im PND-Bereich arbeiten möchte. Denn dadurch wird
Gynäkologin in den Kreis. Gemeinsam haben wir uns über
man sensibilisiert und gerät in eine stärkere eigene Aus-
eine offizielle Gründung eines Qualitätszirkels informiert
einandersetzung mit der Thematik. Ich habe mich durch
(wegen des Anreizes der Fortbildungspunkte) und auch über
Hospitationen mit der ethischen Frage und der Schuldfrage
die Inhalte nach Vorbild des Heidelberger Modells. Das war
beschäftigt. Hospitationen haben daneben noch einen
aber zu hoch angesetzt und passte nicht zu unserer Grup-
ganz anderen pragmatischen Zweck: Man macht sich als
penzusammenarbeit. Vor ca. 1 Jahr hat sich der PND-Arzt
Beraterin bekannt und knüpft Kontakte zu den einzelnen
der Uni-Klinik im Arbeitskreis PND vorgestellt und seinen
Einrichtungen.
Wunsch nach Zusammenarbeit erklärt.
Die Aufbauarbeit in Paderborn habe ich gerade erst begon-
Vor einigen Monaten konnten wir eine niedergelassene
nen. Hier ist für mich erschwerend, dass die Kollegin des
Hebamme, mit der ich bei einer dramatischen Betreuung
SKF den Schwerpunkt PND-Beratung seit einigen Jahre inne
zusammengearbeitet hatte, zur Mitarbeit im Arbeitskreis
hat. Die Kollegin möchte diesen Schwerpunkt als einzige
gewinnen.
Beraterin in Paderborn inne haben. Aber ich habe mich jetzt
Sie ist Stellvertreterin für das Kölner Hebammennetzwerk,
entschlossen, auch in Paderborn Beratung anzubieten. Ein
wodurch wir uns eine vertiefte Zusammenarbeit mit ihren
erster Besuch bei einem Pränataldiagnostiker mit Degum
Hebammen-Kolleginnen erhoffen.
II-Qualifikation war erfolgreich: er überwies eine junge Frau
Zum nächsten Treffen kommen die katholischen und evange-
an mich mit Diagnose Down-Syndrom.
lischen Uni-Klinik- Seelsorgerinnen in den Arbeitskreis PND.
Am schwierigsten war es, einen Psychiater/Psychologen zu
Ich möchte abschließend sagen, dass es eine mühselige,
finden, der auch bereit ist, Gutachten zu schreiben. Aber
nicht selten frustrierende Arbeit ist, Ärzten klarzumachen,
auch das ist letztlich gelungen.
wie wichtig die psychosoziale Beratung bei PND ist. Als Be-
Neueste Entwicklung: im PND Bereich hat sich einer „unse-
raterin habe ich das Gefühl, durch „gute“ Beratung den Arzt
rer“ Humangenetiker im Arbeitskreis mit einem Laborarzt
von meiner Arbeit überzeugen zu müssen. Um Beratung zu
und der Uni-Klinik als sogenanntes Kompetenznetz „gestylt“
leisten, ist eine immer wiederkehrende Auseinandersetzung
zusammen getan. Sie werben mit einer Rundumversorgung
mit dem Thema PND unerlässlich.
inklusive der Einbindung der psychosozialen Beratung als
Qualitätsmerkmal bei den niedergelassenen GynäkologIn-
Fachtagungen, Workshops, Fortbildungen besuchte ich.
nen.
25
Die Verabredung mit dem Kompetenznetz beinhaltet, dass
sichere Wertschätzung der Professionen, sowie eine selbst-
die beteiligten ÄrztInnen direkt bei einer psychosozialen Be-
verständlichere Zusammenarbeit nach sich ziehen.
raterin einen Termin für die Patientinnen/Paare ausmachen.
Weitere Themen sind schon seit der Fortbildung im EZI für
Ich merke, dass unser Selbstbewußtsein als psychosozialen
mich die Arbeitsbedingungen für Sozialpädagoginnen, die
BeraterInnen wächst und das wirkt zurück auf die ÄrztIn-
diese Beratung anbieten. Hier muss noch viel getan werden
nen.
von Seiten der staatlichen Geldgeber, um Rahmenbedingun-
Hilde Jürgens,
gen zu schaffen.
Gesundheitsamt der Stadt Köln
Die Zeit für Vernetzungsarbeit, Zeit für PND-Beratungsarbeit
und Zeit für Dokumentation und beständige Weiterbildung
sind nötig.
Unterstützend und förderlich für den Aufbau einer Vernetzung oder für die Verbesserung der Kooperation mit Gynä-
Erfreulicher Weise gibt es viel zu tun im Zusammenhang
kologen und Pränataldiagnostikern waren auch die Projekte
mit PND; sowohl Beratungen als auch konzeptionelle Über-
der letzten Jahre. Vor allem wenn Bundesorganisationen
legungen und Veranstaltungen in der Öffentlichkeit, um
wie die BzGA dahinter stehen, lassen sich unterschiedliche
auf diesen Schwerpunktbereich der Schwangerenberatung
Disziplinen leichter zu einer Vernetzung, einem interprofes-
hinzuweisen.
sionellen Qualitätszirkel bewegen.
Meine Erfahrungen in Bezug auf interdisziplinäre/interpro-
Spannend wird die Implementierung nach der Modellphase.
fessionelle Vernetzung habe ich nach Abschluss der EZI-
Im Projekt in Bayern haben wir alle Supervision und doch gibt
Fortbildung erweitert durch das Modellprojekt IQZ als Mode-
es für mich als Projektleitung immer wieder Situationen, die
ratorin sowie als Projektleiterin des DONUM VITAE Projektes
mich sehr herausfordern.
in Bayern „Unter anderen Umständen schwanger“.
Gerne möchte ich den Kontakt zum EZI behalten, da dort
Aus meiner Sicht als psychosozialer Beraterin geht es vor-
meine PND-Wurzeln gewachsen sind.
wärts, sowohl vor Ort als auch im Bundesgebiet; aber überall
in sehr kleinen Schritten.
Sozialpädagoginnen, Beraterinnen leisten intensive Aufklä-
Rita Klügel,
Donum Vitae Beratungsstelle in Augsburg
rungs- und Informationsarbeit bei den MedizinerInnen über
die Aufgabenbereiche einer staatlich anerkannten Beratungsstelle für Schwangerschaftsfragen (im Bundesgebiet
Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen oder integrierte
Beratungsstellen). Sie informieren über die psychosoziale
Zwei Jahre sind nun seit Abschluß der Fortbildung zur psy-
Beratung im Kontext von PND, damit überhaupt ein interpro-
chosozialen Beratung im Kontext von PND vergangen.
fessioneller Kontakt entstehen kann. Diese zeitaufwendige
Das Netzwerk, dass während der Fortbildung geknüpft
Arbeit kann nicht überall geleistet werden, ohne das andere
wurde, besteht. Willkommen geheißen wird mein Beratungs-
wichtige Inhalte zu kurz kommen.
angebot bei allen, die mit behinderten Menschen arbeiten:
Bei MedizinerInnen ist trotz der inzwischen weit verbreiteten
die offenen Hilfen, die Frühförderstelle, der Leiter der
Diskussion zum Thema Beratung im Kontext von PND immer
Behinderteneinrichtungen „Sonnenhof“, sie unterstützen
noch wenig Interesse an Zusammenarbeit vorhanden.
und wertschätzen meine Arbeit. Mehrfach haben wir bei
Hospitationen der Beraterinnen in der Medizin tragen viel
der Durchführung öffentlicher Veranstaltungen zur PND ko-
zum gegenseitigen Kennen lernen bei, ziehen aber nicht
operiert: Filmvorführungen mit Diskussion, Vortrag zur Ethik
immer dauerhafte Kooperation der Professionen nach sich.
mit Christiane Kohler-Weiss, Podiumsdiskussionen unter
Bei den SozialpädgogInnen in Bayern bemerke ich, dass die
verschiedenen Berufsgruppen.
Bereitschaft sich durch Fortbildungen für die PND-Beratung
Auch bei den Hebammen wird stets die Wichtigkeit einer
zu qualifizieren, zunimmt.
psychosozialen Beratung betont. Immer wieder bekomme
Ohne die EZI-Fortbildung - sicher spielt auch meine Grund-
ich Beratungsanfragen aufgrund der Vermittlung einer Heb-
motivation eine große Rolle - wären viele meiner Aktivitäten
amme.
nicht möglich gewesen, wäre auch das Bayernprojekt nicht
Bei den „Hebammentagen“ im Juni dieses Jahres vertrat ich
in dieser Weise auf den Weg gebracht worden.
die Stimme der psychosozialen Beratung auf dem Podium
Eine „zertifizierte“, auch von der Ärztekammer anerkannte
zum Thema „hoffentlich gesund - und wenn nicht?“. Vernet-
Weiterbildung für SozialpädagogInnen und BeraterInnen
zung wurde dort gefordert, zahlreiche Stimmen aus dem
rund um die PND, könnte eine Grundlage für verstärkte und
Publikum berichteten, daß sie eine psychosoziale Beratung
26
vermisst hätten und eine Frau berichtete mit Baby auf dem
Leider werden bisher noch zu wenig Frauen bei negativem
Arm, daß Beratung (bei mir) für sie hilfreich gewesen sei.
Befund ermutigt, zu einem Gespräch in die Beratungsstelle
Im Diakoniekrankenhaus konnte ich beim Ultraschall (DEGUM-
zu gehen, um für sich Hilfe bei der
Stufe 3) hospitieren, der Professor fand mein Interesse an
Entscheidungsfindung in Anspruch zu nehmen.
der Thematik bemerkenswert. Von dort kamen bisher keine
Dass psychosoziale Beratung den Frauen/Paaren helfen
betroffenen Eltern in meine Beratung. Er handelt im Auftrag
kann, eine für sich tragfähige Entscheidung zu treffen, wird
der niedergelassenen Kollegen, antwortete er auf meine
von ärztlicher Seite noch nicht gesehen.
Frage nach Überweisungen. Diese wissen von meinem Bera-
Es ist noch ein langer Weg, bis eine befriedigende interdiszi-
tungsangebot. Im Herbst 2006 konnte ich es noch einmal im
plinäre Arbeit zu Stande kommt.
Qualitätszirkel der Gynäkologen vorstellen, die Rückmeldung
Frauen in Notsituationen fanden zu mir den Weg durch die
war, es ist dort bekannt, Diskussionsbedarf bestand nicht.
Sozialarbeiterin des Krankenhauses oder durch Veröffentli-
Warum kommen die Beratungskontakte so selten zustande?
chungen in der Presse.
Diese Frage kann ich noch immer nicht loslassen. In der
Es sind zum Beispiel Frauen, die ihr Kind tot geboren oder
Fortbildung habe ich erfahren, wie wichtig es ist, sich mit
früh verloren haben.
Widerständen auseinanderzusetzen, Widerständen, die
Durch diese Frauen wurde ich angeregt, ein offenes Grup-
unlösbaren Entscheidungskonflikte, die unerträglichen Emo-
penangebot für Frauen, die ihr Kind tot geboren oder früh
tionen, zu spüren und auszuhalten. Das ist für Beraterinnen
verloren haben, zu gründen.
ebenso schwer wie für andere Berufsgruppen, am schwers-
Diese Gruppe trifft sich monatlich in der Schwangerschafts-
ten für die betroffenen Paare. Ich erlebe auch dieses, dass
beratungsstelle. Am
Eltern sich dem nicht stellen können, daß sie das Angebot
19. Mai 2005 war das erste Treffen.
zum Gespräch nicht annehmen.
Zur Gruppe gehören 7 Frauen. Die Frauen haben hier einen
Manche ermutigende Erfahrungen konnte ich machen, aber
Ort gefunden über ihre Gefühle, Sorgen und Nöte zu reden.
ebensoviele, die mich zur Bescheidenheit in meinen Erwar-
Aber auch über das, was ihnen gut gelingt, sie bestärkt
tungen führen. Den langen Atem für diese Arbeit werde ich
und glücklich macht. Es gibt kein festes Programm in dieser
aber nicht aufgeben.
Gruppe.
Ursula Falcke
Diakonieverband Schwäbisch Hall
Meinen theoretisch praktischen Hintergrund bildet meine
Ausbildung in psychosozialer Beratung bei pränataler Diagnostik am EZI.
Als Moderatorin der Gruppe ist meine Aufgabe, jeweils aufzunehmen, was die Frauen zu den Treffen mitbringen. Sie
Die Beratung zur Pränatalen Diagnostik hat ihren festen Platz
haben eine Menge Belastendes im Gepäck.
in der Beratungsarbeit der Schwangerschaftsberatungsstelle
Unser soziales und gesellschaftliches Umfeld in dem häufig
in Weißensee.
nicht getrauert wird und wesentliche Dinge des Lebens selten
Schwangere fragen nach. Sie möchten etwas wissen über
zum Thema gemacht werden, verursacht, dass die Frauen
die Untersuchungen, deren Notwendigkeit, den Aussage-
einen speziellen, geschützten Ort brauchen. Es ist gut, dass
wert und die Kosten.
die Beratungsstelle ihnen so einen Ort anbieten kann.
Sehr hilfreich bei diesen Gesprächen lässt sich die Broschüre
Pränataldiagnostik von der BZgA nutzen.
Bei diesen Gesprächen wird deutlich, das die Frauen/Paare
schon vor der Geburt viel über ihr Kind wissen wollen.
Der legitime Wunsch nach einem gesunden Kind und die
Hoffnung dies durch die Untersuchungen bestätigt zu bekommen, steht dabei an erster Stelle.
Gedanken was wäre wenn die Hoffnungen nicht erfüllt würden? kommen den Frauen meist erst durch Nachfragen von
Seiten der BeraterIn.
Zu den Praxen, die den feindiagnostischen Ultraschall durchführen, bestehen telefonische und persönliche Kontakte.
Diese sind von großer Wichtigkeit.
Auch zu den Kliniken, die die Frauen weiter betreuen, gibt
es Kontakte.
Erika Laue
DRK Beratungsstelle, Weißensee, Thüringen
27
Dr. Ruth Gnirss-Bormet
Keine Zeit zu Zweit, keine Lust auf Lust - Sexualität und
Partnerschaft nach der Geburt
„Jedes Geschenk war
ein
großes
Wunder,
dass man etwas bekam, bedeutete, dass
einer da war, der einen
mochte.“
Astrid Lindgren: Rasmus
und der Landstreicher
Foto: Nora von der Decken www.nora-von-der-decken.de
In einer Untersuchung der Universitätsklinik Bonn1 wurden Frauen nach ihrer Sexualität sechs Monate nach der
Geburt befragt. Die Ergebnisse sind so beeindruckend, dass sie hier vorgestellt werden sollen.
•
Jede zweite Frau berichtete von einer Verschlechterung
geht oft mit Trockenheit und vermehrter Verletzbarkeit der
ihrer Sexualität.
Scheide einher, dies kann Ursache sein für die Schmerzen
•
40% der Frauen berichteten über sexuelle Lustlosigkeit.
beim Verkehr.
•
Jede dritte Frau hatte Schmerzen beim Verkehr und
Erstmals wurde untersucht, ob die Frauen schon vor der
klagte über mangelnde sexuelle Befriedigung.
Schwangerschaft sexuelle Probleme hatten. Erstaunlicher-
Stillende Frauen waren am häufigsten betroffen: sie
weise gaben nur 5% der Frauen an, diese Probleme schon
klagten u.a. über Lustlosigkeit und Schmerzen beim
vor der Geburt gekannt zu haben.
Verkehr.
Ein weiteres Ergebnis: Die Frauen mit der Verschlechterung
•
ihrer Sexualität erlebten sich auch psychisch stärker belastet,
Als Gründe für diese Veränderung der Sexualität werden
sie fühlten sich sozial unsicherer, depressiver und gereizter.
u.a. der hohe lustmindernde Prolaktin-Spiegel sowie der
geringere Östrogen-Spiegel und die größere Müdigkeit wäh-
Sexuelle Probleme nach der Geburt sind somit keine
rend des Stillens vermutet. Ein niedriger Östrogen-Spiegel
Seltenheit, sondern finden sich bei jeder zweiten Frau -
28
und verdienen deshalb Beachtung - zumal sie sonst schnell
es schlafe nie durch. Sie komme kaum mal in Ruhe zum
chronisch werden können.
Arbeiten. Immer habe sie das Kind im Schlepptau. Sie be-
Aus der Sexualberatung ist auch der folgende Zusammen-
neidet ihren Mann um seine Autonomie, um sein Studium.
hang bekannt: Einerseits wirkt sich psychische Belastung
Sie sei immer daheim. Sie fühle sich oft wie eingesperrt. Ihr
bei Frauen häufig sexuell dämpfend aus, andererseits wirkt
Mann habe mehr Freiheit und verstehe nicht, was sie so
sich die gestörte Sexualität als Stressor für die Frauen aus,
unglücklich mache.
vor allem, wenn der Partner dafür kein Verständnis zeigt und
Sexualität einfordert.
Nach meinen Erfahrungen besteht hier ein großer Bedarf an
Aus meiner Sicht ist die Patientin in einer Situation, in der sie
kompetenter Beratung, damit die Sexualität vorübergehend
sich überlastet und überfordert fühlt und die der Situation
für die Frau in den Hintergrund treten kann, ohne dass sich
ihrer Mutter bei ihrer Geburt viel ähnlicher ist, als sie es je
daraus ein schwerwiegendes sexuelles Problem und eine
erwartet hätte. Sie hatte vor der jetzigen Geburt zwei Fehl-
ernste Krise in der Beziehung entwickelt.
geburten, was die Sexualität in den letzten Jahren ohnehin
Hier ist Beratung, Information und Prävention nötig und
schon belastete. Sie muss das für sie schwierige Geburtser-
sinnvoll.
lebnis körperlich und seelisch noch verarbeiten. Außerdem
hat sie eine große Angst vor Trennungen. Sie möchte ihrem
Ein Beispiel aus meiner Praxis, an dem sich typische
Kind die eigene Erfahrung von Verlassenheit und Alleinsein
Konflikte verdeutlichen lassen:
ersparen und es vor allem besser betreuen, als sie selbst be-
Eine 28 Jahre alte Frau hat nach zwei Fehlgeburten vor
sechs Monaten eine gesunde Tochter geboren. Die Geburt
sei relativ schnell gegangen, allerdings habe sie große
Angst vor einer nächsten Geburt. Sie habe die Trennung
von ihrem Kind ganz schwierig erlebt. Sie habe einen großen Schrecken empfunden, dass ihr Baby plötzlich draußen
war und nicht mehr in ihr drinnen. Dieser Schock stecke ihr
immer noch in den Gliedern.
Sie sucht die Gynäkologin auf, weil seit der Geburt Schmerzen aufgetreten sind, die den Geschlechtsverkehr unmöglich machen. Etwa sechs Wochen nach der Geburt hatten
sie und ihr Mann wieder probiert, miteinander zu schlafen.
Sie habe ihren Mann nicht so lange warten lassen wollen.
Seither habe sie es noch ab und zu probiert, doch unverändert bestehen Schmerzen und das Gefühl, „zu eng“ zu sein.
Zu ihrem körperlichen Befinden befragt, erzählt sie, dass sie
entsetzlich müde ist und vom Herumtragen ihres Kindes oft
Rückenschmerzen hat. Sie stillt ihre Tochter noch voll, um
sie so möglichst gut vor dem Auftreten allergischer Erkrankungen zu schützen, die in der Familie bekannt sind. Seit
der Geburt haben sie und ihr Mann nie durchgeschlafen.
Zu ihrer Lebensgeschichte erzählt die Patientin, dass ihre
Mutter schon früh wieder habe arbeiten gehen müssen und
dass sie bereits im Alter von drei Monaten fremdbetreut
wurde, denn die Mutter habe für sie nie viel Zeit gehabt.
Ihre jetzige Lebenssituation beschreibt sie so: Ihr Mann und
sie sind finanziell sehr unter Druck, da ihr Mann noch studiert. Insgesamt findet sie die Situation viel anstrengender,
als sie es erwartet hatte. Zwar sei ihr Kind gesund, aber
treut wurde und ihm mehr geben, als sie selbst bekommen
hat. An ihrem Wohnort hat sie kein soziales Netzwerk. Sie
muss recht schnell wieder Geld verdienen - als selbständige
Schneiderin kann sie allerdings zu Hause arbeiten.
Sie erwartet jegliche Unterstützung durch den Vater ihres
Kindes, der vermutlich ebenfalls sehr belastet ist. Offenbar
erfährt sie kaum Hilfe durch ihre Mutter. Sie hat auch keine
Unterstützung durch Freundinnen, die ihr das Kind zumindest gelegentlich einmal abnehmen würden. Sie fühlt ihre
Bedürftigkeit deutlich: Sie bräuchte dringend Zuwendung,
Unterstützung, Anerkennung und Geborgenheit und ist
enorm irritiert, wenn ihr Mann sie gelegentlich allein lässt,
um Studienkollegen zu besuchen. Sie empfindet dann ihre
Isolation noch deutlicher.
Sie spürt, dass sie manchmal Zeit für sich bräuchte, weiß aber
nicht, wie das zu organisieren sein könnte, wenn nicht ihr
Mann das Baby nimmt, und mag ihn oft nicht danach fragen.
Sie hat vielleicht Angst, dass ihr Mann sie ebenso verlässt
wie ihr Vater die Mutter. Vielleicht teilt sie die Ansicht ihrer
Mutter, dass Männer gehen, wenn man sich nicht genug um
sie kümmert. Sie möchte sexuell schnell wieder „gut funktionieren“, eine gute Geliebte sein, um die befürchtete Entfremdung und das Verlassenwerden abzuwenden. Gleichzeitig
sind ihre Bedürfnisse nach Unterstützung und Erholung nicht
ausreichend befriedigt, was sie mit Groll erfüllt. Ihr fehlt das,
was der bekannte Säuglingsforscher Daniel Stern2 als
eine absolute psychologische Notwendigkeit für jede
Mutter beschreibt: Eine bestätigende, Halt, Unterstützung
und Anerkennung gebende Umwelt. Er nennt dies die unterstützende Matrix.
29
Traditionelle Gesellschaften geben im Wissen um die Wich-
In unserer Gesellschaft sind viele junge Eltern nach den
tigkeit von Kindern und Kindererziehung einem Elternpaar
Antrittsbesuchen der Familie im Krankenhaus völlig auf sich
bereits während der Schwangerschaft, aber erst recht nach
alleine gestellt. Im Folgenden werde ich die Situation von
der Geburt, viel direkte persönliche Unterstützung und
Paaren beschreiben, die Eltern geworden sind und zusam-
Anerkennung. So werden häufig Speisen und Leckereien
menleben. Die Situation alleinerziehender junger Mütter ist
zum Besuch mitgebracht, der Vater muss für einige Wochen
in psychologischer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht oft
nicht mit auf die Jagd oder zur Feldarbeit gehen, die Frau
noch viel schwieriger.
wird von der Hebamme regelmäßig massiert und vor allem
Die Leistung der jungen Eltern für die Gesellschaft wird nicht
weibliche Familienangehörige unterstützen bei der Pflege
direkt beantwortet, belohnt und unterstützt.
und Betreuung des Säuglings.
Die Situation junger Mütter
Viele Frauen vermissen in ihrem direkten Umfeld jemanden,
Viele Mütter sind unsicher, ob sie gut genug für ihr Kind sor-
der sich mit ihnen am Gedeihen ihres Babys freut, sie ver-
gen können, weil ihnen, wie Stern schreibt, diese erfahrenen
missen, ihr Baby stolz zeigen zu können - bei Festen in der
Mütter in der Umgebung fehlen, weil ihnen die bestätigende
Familie, beim Marktbesuch - wie es in traditionelleren Kul-
mütterliche Matrix, fehlt. Außerdem sind Eltern heute viel
turen durchaus noch üblich ist. Der Besuch im Supermarkt
weniger auf das Elternsein vorbereitet als jede Generation
- wo schreiende Babys kaum gerne gesehen werden - kann
vor ihnen - sie hatten weniger Möglichkeiten im persönlichen
diese öffentliche Anteilnahme nicht ersetzen.
Umfeld, bei jüngeren Geschwistern, Nichten und Neffen den
Sie vermissen in ihrem Umfeld eine erfahrene, ihnen zuge-
praktischen Umgang mit Säuglingen zu beobachten und un-
wandte Mutter, die auch einen aufmerksamen und liebevol-
ter Anleitung zu üben - weil es weniger Kinder in den Familien
len Blick auf das Baby wirft. Und die mit ihrer mütterlichen
gibt, weil man oft weit voneinander entfernt wohnt und weil
Kompetenz Sicherheit und Bestätigung geben kann, dass
man vor der Geburt durch die Berufstätigkeit zu sehr be-
sie als junge Mutter ausreichend gut sind - wie Winnicott es
schäftigt war. Viele junge Frauen und Männer hatten vor der
ausdrückte - eine „good enough mother“ sind.
Geburt ihres eigenen Kindes noch nie ein Baby auf dem Arm
- eine Tatsache, die vielleicht mitverantwortlich
dafür ist, dass so große
Bedenken bestehen, das
Wagnis der Elternschaft
einzugehen.
Dies verstärkt die Angst,
den Zustand des eigenen
Kindes nicht gut genug
beurteilen zu können,
außerdem
fehlt
auch
Erfahrung und Wissen,
was man bei kleineren
Störungen der Befindlichkeit des Kindes tun
kann - wie es früher oft
durch Miterleben und
Mittun in der Familie erworben wurde. Häufige
Besuche beim Kinderarzt
können die Folge sein.
Dort aber wird aufgrund
von Zeitmangel und VerFoto: Nora von der Decken www.nora-von-der-decken.de
ständnisschwierigkeiten
30
auf diese Ängste oft nur unzureichend eingegangen.
Bezugsrahmen heraus. Es ist selten üblich, mit dem Baby am
Die Hochkonjunktur der Ratgeberliteratur lässt das Ausmaß
bisherigen Arbeitsort eingeladen zu werden, um die Geburt
der Verunsicherung deutlich werden.
gemeinsam zu feiern - wenn es passiert, ist dies oft ein freudiges Ereignis, an das sich Mütter ein Leben lang erinnern.
Viele Frauen verlieren mit dem Mutterwerden den Kontakt
Viele Frauen bedrückt bereits jetzt die Frage, ob sie den
zu ihrem bisherigen Bekanntenkreis und zu ihren Arbeitskol-
Wiedereinstieg nach der Elternzeit bewältigen werden und
legen, sie fallen mit der Geburt aus dem bisherigen sozialen
ob es ihnen ausreichend gut gelingt, Beruf und Muttersein
zu vereinbaren.
Die Situation junger Väter - auch Väter brauchen eine Lobby!
Die Leistungen des Vaters für die Familie werden eben-
können, weil ihre berufliche und wirtschaftliche Situation
falls noch nicht genügend gewürdigt.
ihnen kaum Freiheiten lässt, z.B. Teilzeit zu arbeiten. Viele
Auch junge Väter brauchen Anerkennung, Rat, Unterstützung
junge Väter würden gerne mehr mit ihrem Baby machen.
und Trost - auch von erfahrenen Vätern, die für ihre neue
Situation Verständnis haben. Mit der Geburt fühlen sie sich
Zitat aus einer Beratung:
stärker verantwortlich, für die Familie zu sorgen. Sie machen
„Ich hab das Gefühl, wir haben mit dem Umzug hierher eine
sich - zu recht - mehr Sorgen als bisher, ob das Geld reicht,
völlig falsche Entscheidung getroffen. Einvernehmlich haben
ob sie eine Arbeit haben, ob die Stelle sicher ist.
wir entschieden, dass ich eine anspruchsvolle Stelle hier an
Viele Männer arbeiten deshalb nach der Geburt länger als
der Universität annehme, weil wir uns langfristig bessere
vorher - haben zu Hause aber weniger Zeit sich zu erholen.
Perspektiven davon versprachen. Nun hat meine Frau hier
Sie beneiden manchmal ihre Partnerin um die Möglichkeit,
keine Freundinnen, findet keinen Job, ihre Eltern sind weit
mehr zu Hause und mit dem Baby zusammen zu sein. Au-
weg, sie hat Heimweh. Ich komm abends total erledigt nach
ßerdem spüren sie vielleicht, wie schwierig die Situation für
Hause, vermisse meine früheren Kollegen, kämpfe am neuen
ihre Partnerin ist, spüren vielleicht auch, wie sie selbst um
Arbeitsplatz um Anerkennung, habe viel Ärger. Abends sind
das Privileg beneidet werden, arbeiten gehen zu können und
wir oft nur noch kaputt, gereizt. Keiner hat noch die Kraft,
Karriere zu machen - ohne daran wirklich etwas ändern zu
dem andern zuzuhören. Und dann schreit mit Sicherheit
noch unser Sohn los - den
mir meine Frau dann auf
den Arm drückt - weil sie
ihn ja schon den ganzen Tag
um sich hatte. Auch Väter
brauchen eine Lobby!“
Häufig geht es gar nicht um
Sexualität, wenn Männer
nach der Geburt auf eine sexuelle Zurückweisung heftig
reagieren. In der ungewohnten Dreiersituation können
Gefühle von Zurückgesetzt
sein aus der eigenen Kindheit aktiviert werden. Väter
vermissen die Anerkennung
für all das, was sie für die
Familie tun. Manche Männer fürchten um ihren Platz
in der neuen Familie, sie
Foto: Nora von der Decken www.nora-von-der-decken.de
fühlen sich draußen, den-
31
ken, ihre Bedürfnisse seien vielleicht nur noch lästig und
sie hätten die Liebe der Frau an das Kind verloren. Wenn
der Vater das Baby als Konkurrenz sieht und mit ihm
um die Aufmerksamkeit der Frau zu kämpfen beginnt,
erfährt er von ihr keineswegs die ersehnten Reaktionen
wie Zuwendung und Bestätigung, sondern sieht sich mit
einer wütenden, grollenden und in aller Regel erst recht
lustlosen Frau konfrontiert. Und wenn es in dieser Zeit
zu gegenseitigen Enttäuschungen kommt, bestimmt dies
oft den ganzen weiteren Verlauf der Partnerschaft.
Das ganze System Vater, Mutter und Kind, die isolierte
Kleinfamilie, ist ohne Unterstützung von außen häufig
strukturell und emotional überlastet.
Dies zeigt sich auch in den häufigen sexuellen Problemen,
die viele Frauen, im geringeren Umfang auch Männer,
nach der Geburt ihres Kindes erleben.
Ein vorübergehendes sexuelles Desinteresse ist vielleicht
- wie Stern in seinem Buch bemerkt - im Sinne des Babys
und seiner Betreuung durchaus sinnvoll. Vor der Empfängnisverhütung mit der Pille wurde zur Vermeidung
einer frühen erneuten Schwangerschaft häufig längere
Zeit Abstinenz praktiziert. In einigen traditionellen Gesellschaften gab es dazu klare Regeln: es wurde so lange
auf sexuellen Verkehr verzichtet, bis das Kind sich beim
Nachbarn eine Mahlzeit organisieren konnte - also von der
dauernden Pflege der Eltern unabhängig war. Das Kind ist
Foto: Nora von der Decken www.nora-von-der-decken.de
dazu vielleicht im Alter von zwei Jahren in der Lage.
Die Aufgaben in der Beratung liegen auf der Hand, denn
Für uns heute ist das eine schwierige Vorstellung. Die
die Notwendigkeit einer unterstützenden mütterlichen
Angst vor Trennungen ist so präsent, dass man sich solche
Matrix für junge Eltern ist evident.
sexuellen Durststrecken in der Beziehung kaum vorstellen
Information ist wichtig:
kann. Die Verfügbarkeit der Pille lässt Karenzzeiten bezüglich
Vielen jungen Eltern hilft es, wenn sie verstehen, dass ihnen
Sexualität weniger notwendig erscheinen. Und in unserer
diese direkte „warme“ Unterstützung durch die Gemein-
modernen Gesellschaft leben wir kaum noch mit den Prin-
schaft mehr fehlt als den Generationen vor ihnen.
zipien der Vorratswirtschaft. Ein Vater und Paartherapeut
Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild unterscheidet
wünschte jungen Paaren, dass sie eine Speckschwarte zur
in diesem Zusammenhang zwischen „warmer“ und „kal-
Verfügung hätten, eine Speckschwarte an Liebe, aus den
ter“ Betreuung. Sie weist darauf hin, dass in einer „kalten“
guten Zeiten vor der Geburt des ersten Kindes, von der sie
Betreuung der Versuch unternommen wird, gesellschaft-
dann im ersten Jahr erst mal zehren könnten. Ein für uns
liche Bedürfnisse nach Unterstützung, z.B. bei der Kinder-
ungewohntes Bild - es gibt kaum mehr Kammern im Haus,
betreuung und bei der Fürsorge für Kranke und Alte, durch
wo Vorräte aufbewahrt werden können.
die Bereitstellung finanzieller Mittel sowie durch perfekte,
institutionelle, professionelle Organisationsstrukturen zu
Durch die unrealistische Erwartung, dass Sexualität bereits
beantworten. Eine „warme“ Betreuung - z. B. innerhalb der
kurz nach der Geburt wieder möglich ist wie zuvor, und den
Familie bzw. innerhalb des sozialen Netzwerks, hat darüber
Druck, sie deshalb auch gefälligst zu praktizieren, durch die
hinaus andere Qualitäten: In der Kinderbetreuung gilt es, das
fehlende unterstützende Matrix, die mangelhafte direkte per-
Recht der Kinder nach spontaner Reaktion, Zuwendung und
sönliche Unterstützung des Paares entwickeln sich aus der
Aufmerksamkeit durch einzelne bedeutsame Erwachsene
seelischen Not und Überforderung der jungen Eltern heute oft
auf Dauer zu beachten, was in Institutionen nur in seltenen
ernstere Störungen, die Gefahr laufen, chronisch zu werden.
Fällen möglich ist.
32
Es macht einen Unterschied, Hilfe, Zuwendung und Unter-
abzustimmen und das nicht immer nur in die Verantwortung
stützung durch einen Menschen zu bekommen, der uns
der einzelnen Mütter und Väter zu geben.
kennt und liebt und der spontan handelt, weil er ein Bedürfnis
Wir können den Müttern und Vätern Anerkennung zeigen
von uns erkennt und beantwortet. Eine von einem solchen
und aussprechen für alles, was trotz widriger Umstände gut
Menschen gekochte Suppe hat einen anderen Geschmack
gelingt: die Kinderbetreuung, das Stillen, das Arbeiten trotz
und macht uns anders satt als eine Suppe, die von „Essen
Schlafmangel.
auf Rädern“ vorbei gebracht wird.
Wenn wir mit dem Paar Verständnis entwickeln für die
Astrid Lindgren gebraucht für solche mit Liebe gekochten
schwierigen Rahmenbedingungen, unter denen ihre Part-
Speisen die Metapher vom Brot, das den Hunger stillt
nerschaft und ihre Sexualität in dieser Zeit oft leiden - dann
(im Roman: Mio, mein Mio).
kann das Paar diese Krise in der Partnerschaft und Sexualität
häufig konstruktiv angehen und lösen. Es macht einen großen Unterschied, ob man um die Veränderungen in dieser
Zeit weiß, ob man in der Lage ist, objektive Schwierigkeiten
Herausforderung für die Paarbeziehung
und subjektive Befindlichkeiten zu verstehen und zu benennen oder ob man diese Schwierigkeiten als persönliches
Das Paar mit einem kleinen Kind muss weitere Veränderun-
Versagen erlebt und Angst hat, nicht zu genügen.
gen bewältigen, die unter Umständen Anlass zu Streit bieten
können:
Auch wenn die persönliche Unterstützung durch die Familien möglich ist, muss die Abgrenzung und Einbeziehung der
Empfehlungen für die Praxis
Ursprungsfamilien neu verhandelt werden. Ist die Mutter/
Schwiegermutter zu oft da oder zu selten? Ist sie hilfreich
Für viele junge Mütter und Väter bedeutet es eine Erleich-
oder verunsichernd? Und sind sich beide in der Einschätzung
terung, in einer Beratung über sexuelle Probleme nach der
dieser Frage einig?
Geburt sprechen zu können und zu erfahren, dass diese
Weiter: Das Geld wird knapper und muss für drei reichen.
Probleme häufig auftreten. Manchmal kann auch Literatur
Mobilität und Wohnraum werden oft eingeschränkt.
zu diesem Thema eine Hilfe bedeuten.
Zeit zu zweit und für Sexualität wird knapp. Wenn der eine
Konkrete Hinweise zum Umgang mit Sexualität, mit den ver-
ausgeht, bleibt der andere zuhause. Die Aufgabenteilung des
änderten Wünschen und Bedeutungen können wichtig und
Paares steht neu zur Debatte. Hilfreich in dieser Phase sind
notwendig sein. Manchmal erholt sich die Sexualität alleine
das Gespräch mit anderen „Betroffenen“, Freiräume durch
dadurch, dass das Kind endlich durchschläft, dass die Eltern
Unterstützung von außen und wenn möglich auch das Teilen
wieder mehr Zeit füreinander haben und ausgeschlafen
der Verantwortung einerseits für das Kind und andererseits
sind. Manchmal müssen sie lernen, Zeiten für ein zärtliches
für die Erwerbstätigkeit, weil dadurch das gegenseitige Ver-
Zusammensein zu planen.
ständnis wachsen kann.
Viele Frauen brauchen nach der Geburt viel Zeit und Ruhe,
um sich auf sexuelle Kontakte mit dem Partner einzustellen.
Durch die Geburt des Kindes orientieren Eltern sich um, sie
Ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe ist durch den intensi-
freuen sich an anderen Dingen als bisher, sie definieren Wer-
ven Kontakt mit ihrem Baby befriedigt bis übersättigt. Sie
te und ihre Rolle in der Familie und Gesellschaft neu.
möchten zuerst einmal Zeit für sich alleine - möchten einmal
Diese Umorientierung kann viel persönliches Wachstum und
gemütlich baden, einmal richtig ausschlafen, träumen von
Glück bedeuten, geht aber auch mit Konflikten und Reibun-
einer Massage. Manchmal wirkt es Wunder, wenn diese
gen einher. Eine Beratung kann helfen, notwendige Verände-
Wünsche erfüllt werden. Viele Klientinnen erzählen, wie gut
rungen zu ermöglichen und erfolgreich zu bewältigen.
es ihnen tut, wenn sie wieder Zeit haben für regelmäßige
sportliche Betätigung, weil sich ihr Körpergefühl dadurch
Wir können beim Aufbau einer unterstützenden elter-
spürbar verbessert. Oft können in der Beratung gemeinsam
lichen Matrix mitwirken, indem wir helfen, Familienzen-
die notwendigen Schritte entwickelt werden, wie Sexualität
tren als Orte der Begegnung für Eltern und ihre Kinder zu
wieder lustvoll erlebt werden kann. In dieser Zeit wünschen
schaffen. Wir können in der öffentlichen Diskussion darauf
sich viele Frauen zärtliches körperliches Zusammensein, bei
hinweisen, wie es gelingen kann, die unterschiedlichen Zeit-
dem etwas entstehen kann, aber nicht muss. Das entspannte
strukturen der Arbeitswelt der Eltern, der Betreuungszeiten
Zusammenliegen und Sich-Streicheln, das Sich-Anschauen
der Kinder und der Organisation des Haushalts aufeinander
und Miteinander-Reden kennen viele Paare aus dem Anfang
33
ihrer Beziehung. Sich wieder miteinander vertraut machen
Vielleicht braucht es auch ein ganzes Dorf, damit Eltern gute
ohne Druck lässt die verloren geglaubte Sexualität oft wie-
und glückliche Eltern werden können. Oder Menschen, die
der erwachen. Nicht wenige Frauen spüren eigene sexuelle
dieses Dorf ersetzen.
Wünsche erst dann wieder, wenn sie die seelische und körperliche Veränderung bewältigt haben und spüren, dass sie
sich in Freiheit entscheiden können, selber auf den Partner
zuzugehen und aktiv zu werden.
1.
Andrea Wendt, Michael Berner, Levente Kriston u. Anke Rohde:
„Erleben der Sexualität nach Schwangerschaft und Entbindung“, in:
Y. Stöbel-Richter, A. Ludwig, P. Franke, M. Neises, A. Lehmann (Hg.):
Anspruch und Wirklichkeit in der psychosomatischen Gynäkologie und
Geburtshilfe, Psychosozial-Verlag, 2006
2.
Daniel Stern: Die Geburt einer Mutter, Piper-Verlag, 2002
3.
Florence Weiss: „Elternschaft bei den Iatmul in Papua-Neuguinea“,
in: Dieter Bürgin (Hg.): Triangulierung - der Übergang zur Elternschaft,
Schattauer-Verlag, 1998
4.
Arlie Russell Hochschild: “Ideals of Care: Traditional, Postmodern, Coldmodern, Warm-modern”, in: Karen Hansen and Anita Garey: Families in
the U.S. Kinship and Domestic Politics. Philadelphia Temple University
Press, 1998, 527-537
Die Sexualberatung muss die Rahmenbedingungen und die
Lebensphase der Klienten und Klientinnen - und damit auch
die gerade zu bewältigenden Lebensaufgaben des einzelnen
und des Paares einbeziehen und anerkennen, denn: Sexualität ist selten besser als der Alltag, in dem sie gelebt
wird.
Zum Abschluss sei an ein afrikanisches Sprichwort erinnert,
das sagt, dass es ein ganzes Dorf braucht, damit ein
Kind gut groß werden kann.
Dr. Ruth Gnirss-Bormet
Sexualberatung am EZI
Sexuelle Funktionsstörungen kommen häufig vor, ja gehören
In unserem Kurs „Sexualberatung“ möchten wir ein Basis-
zu den häufigsten psychosomatischen Störungen über-
wissen vermitteln, um mit diesen Problemen im Beratungs-
haupt. Dennoch wird in Beratungen, in Psychotherapien und
kontext umzugehen. Erklärtes Ziel ist es, anschaulich werden
bei Arztbesuchen weiterhin nur selten über diese Probleme
zu lassen, wie in einer achtsamen, respektvollen und doch
gesprochen.
genauen und konkreten Weise über die sexuellen Probleme
gesprochen werden kann.
In der Werbung und in den Medien ist Sexualität Dauerthema
– dieses Gerede über Sexualität verschleiert die Tatsache,
Auch geht es darum, zu verstehen, wie Sexualität gelernt
dass es den meisten Klienten, aber auch vielen Beratern,
wird und im Zusammenhang steht mit frühen und frühesten
Ärzten und Psychotherapeuten noch immer schwer fällt,
Erfahrungen:
über sexuelle Probleme zu sprechen.
Wie wurde man als Kind gehalten und liebkost? Durfte man
Viele unserer Kursteilnehmer berichten, dass im Studium
mit und am eigenen Körper Erfahrungen sammeln? Durfte
und in der Weiterbildung das Thema Sexualität kaum oder
man den Kontakt zu Mutter und Vater abbrechen, wenn man
gar nicht behandelt wurde. Entsprechend existieren auch
Ruhe brauchte? Glückte die körperliche Interaktion mit den
auf Seite der Fachpersonen häufig Unsicherheit, Hilflosigkeit,
Eltern im täglichen Umgang, beim Stillen, Füttern und Spielen
und befangenes Schweigen, wenn Klienten andeuten, dass
– wie Winnicott sagte – oft genug?
sie sexuelle Probleme haben.
34
Und es geht um die Frage, wie Sexualität neu gelernt und
umgelernt werden kann, wenn sie für unbefriedigend gewor-
Sexualität ist Kommunikation mit dem Körper
und durch den Körper
den ist oder schon immer unbefriedigend war.
Wir Menschen sind soziale Wesen; wir sind auf KommuniEs geht um die Vermittlung fachlicher Kompetenz, um Wissen
kation angewiesen – auch auf Kommunikation mit unserem
über sexualmedizinische Themen:
Körper. Sexualität ist eine wichtige Form der Kommunikation
mit und über den Körper. Über Sexualität werden menschli-
Welche Ursachen kann Lustlosigkeit haben? Welche se-
che Grundbedürfnisse nach Nähe, Kontakt, aufeinander zu
xuellen Probleme sind häufig bei Jugendlichen und jungen
gehen, nach Berühren und Berührt werden, aber auch nach
Erwachsenen? Welchen Einfluss haben moderne Medien
Auseinandersetzung und Abgrenzung erfüllt – oder auch
auf die individuell und partnerschaftlich gelebte Sexualität?
nicht. Themen wie Beziehung, Akzeptanz, Anziehung und
Was ist bekannt über die sexuellen Probleme nach der Ge-
Geborgenheit bestimmen mit darüber, wie wohl es uns ist
burt? Welche Ursachen können Erektionsstörungen haben?
und wie glücklich oder unglücklich wir sind. Sexualität hat
Welche Auswirkungen haben psychische und körperliche
neben der Funktion der Fortpflanzung und neben der Funk-
Krankheiten auf sexueller Funktion und sexuelles Erleben?
tion, Lust zu bereiten, eine zutiefst soziale Funktion – und
manchmal ist ein persönlich empfundenes Ungleichgewicht
Es werden niederschwellige Interventionsstrategien darge-
zwischen diesen drei Funktionen die Ursache sexueller
stellt, die Möglichkeiten der Beratung dargestellt, anderer-
Probleme.
seits aber auch deutlich gemacht, wann zur Sexualtherapie
oder zur medizinischen Abklärung überwiesen werden
Sexualberatung und das dafür notwendige Wissen wird
sollte.
am EZI seit langem vermittelt – zuerst durch Frau Dr. Vreni
Middendorp und Dr. P. Gehring, seit einigen Jahren von mir.
Ziel unseres Kurses ist es, über den Zugewinn an fachlicher
Kompetenz mehr Mut für die Auseinandersetzung mit den
Wir freuen uns, dass es 2004 gelungen ist, den Kurs durch die
sexuellen Problemen der Klienten/Patienten zu machen.
DGfS – die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung – zertifizieren zu lassen. Teilnehmer, die Grund- und Vertiefungskurs besucht haben, können nun ein Zertifikat erhalten, dass
ihnen Sexuologisches Basiswissen für die Sexualberatung
bescheinigt. An dieser Stelle möchten wir uns beim Fortund Weiterbildungsausschuss der DGfS, besonders bei Frau
M. Hauch, Hamburg, herzlich für die gute Zusammenarbeit
bedanken.
35
Britta Vollenbroich
Auswirkungen und Nutzen der Fortbildung „Sexualberatung mit Einzelnen und Paaren“ für den beruflichen Alltag
Ich habe im Jahr 2006 die Fortbildung „Sexualberatung mit
•
Kompetenzsteigerung bezüglich des Themas „jugend-
Einzelnen und Paaren“ im EZI in Berlin bei Frau Dr. Ruth
liche Sexualität“; dadurch verbesserte Weitergabe von
Gnirss-Bormet mit der Zertifizierung durch die „Deutsche
Informationen sowie professionellere Herangehenswei-
Gesellschaft für Sexualforschung“ absolviert. Der (durchaus
se hinsichtlich der Beratung von Jugendlichen
enorme) Gewinn durch diese Fortbildung für meine berufliche Tätigkeit in der Beratungsstelle für Schwangerschafts-
•
rungsgeschichte“
konflikte und Familienplanung des Pari Sozial in Ahaus lässt
sich folgendermaßen umschreiben:
Sensibilisierung durch Reflektion der eigenen „Aufklä-
•
Bereicherung der Schwangerenberatung durch das Thema „Lustlosigkeit nach Schwangerschaft und Geburt“
Klärung und Abgrenzung der Bereiche „Sexualberatung“ und
•
„Sexualtherapie“
Erhöhte Aufmerksamkeit in der Beratung hinsichtlich
möglicher Traumatisierungen durch vergangene Operationen, Geburtserlebnisse, Schwangerschaftsabbrüche,
•
•
für Menschen mit sexuellen Problemen
•
Input durch Empfehlung wichtiger Literatur
Besserer Zugang zum Thema „Sexualität“ durch Ausein-
•
Vernetzung mit anderen BeraterInnen
•
Entstandene persönliche Kontakte mit anderen Kursteil-
andersetzung mit Idealen und Mythen
•
•
Vermehrte Sicherheit und Kompetenz in der Paarbera-
nehmerinnen, die einen Austausch sowohl beruflich als
tung
auch privat ermöglichen
Strukturiertere Erstgespräche durch konkrete Fragen,
die sich an das „Hamburger Modell“ anlehnen
•
•
etc.
Steigerung der eigenen Identitätsfindung als Beraterin
Abschließend kann ich die Fortbildung nur als absolute Kom-
Durch Steigerung der Professionalität: verstärkte Akqui-
petenzerweiterung betrachten, die mir in meinem berufli-
se für die Paar- und Sexualberatung der Beratungsstelle
chen Alltag immer wieder sehr hilft. Neben einer Vielzahl an
bei GynäkologInnen
Sachinformationen habe ich vor allem von der Art und Weise
Zunahme der Themen „männliche Lust“, „weibliche
des Vortrages von Frau Gnirss als auch von ihrer menschli-
Lust“ und „Leistungsanspruch an Sexualität“ in der
Sexualpädagogik
chen Haltung gegenüber ihren KlientInnen profitiert.
36
Dr. med. Karl-Heinz Brisch
SAFE ®- Sichere Ausbildung Für Eltern - Ein Erfolgsmodell
Prävention gewinnt in den letzten Jahren zunehmend an
großen Nachfrage erfreut und sind froh, diesen Erfolg auch
Bedeutung. Beratungsstellen sind aufgefordert, im Vorfeld
2008 und 2009 durch weitere Kurswochen mit Dr. Brisch
potentieller Störungen tätig zu werden. Mit dem im Oktober
fortsetzen zu können.
®
2007 erstmalig durchgeführten Safe -Mentorentraining
konnten wir nun ein Elterntraining in unser Jahresprogramm
Dr. Ingeborg Volger
aufnehmen, das die Lücke zu den bereits praktizierten
Programmen der Elternbildung schließt, die in der Regel mit
zweijährigen oder älteren Kindern und deren Eltern arbeiten.
Den vom 15. bis 19. Oktober 2007 mit 25 Teilnehmerinnen
und Teilnehmern stattgefundene SAFE® -Kurs wurde von der
Stiftung „Bündnis für Kinder - gegen Gewalt“
gefördert.
Das SAFE® -Programm zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus, denen allen gemeinsam die konsequente
Anwendung der Erkenntnisse der Bindungsforschung ist:
Karl-Heinz Brisch
Unterbrechung der transgenerationalen
Weitergabe von Gewalt: Primäre Prävention durch „SAFE® – Sichere Ausbildung
für Eltern“
Zusammenfassung
Es wird das präventive Modellprogramm „SAFE® – Sichere
Ausbildung für Eltern“ dargestellt, das eine sichere Bindung
1.
Der Beginn des Programms bereits während der
Schwangerschaft. In dieser Zeit beschäftigen sich die
Eltern noch mit dem phantasierten Kind und müssen
ein reales Kind noch nicht beantworten.
2.
Die Auseinandersetzung mit und Aneignung von bindungstheoretischen Kompetenzen. Die Verschränkung
von Wissenserwerb, Feinfühligkeitstraining und der
persönlichen Selbsterfahrung bietet Eltern eine fundierte Basis zur Entwicklung einer bindungsorientierten
Haltung, ihrem Kind gegüber.
3.
Einzeltherapeutische Angebote für traumatisierte Eltern
zwischen Eltern und Kind zum Ziel hat. Dieses Programm zeigt
Möglichkeiten auf, wie bereits während der Schwangerschaft
sowie bis zum Ende des ersten Lebensjahres langfristig die
sichere Bindung gefördert und negative Auswirkungen auf
die Bindungsentwicklung des Säuglings zu seinen Eltern
verhindert werden können. Insbesondere wird durch eine
präventive traumazentrierte Psychotherapie angestrebt, die
Teufelskreise der Weitergabe von Gewalterfahrungen und
Deprivation über Generationen zu brechen und auf diese
Weise eine primäre Prävention der Traumatisierung von
Kindern durch ihre Bindungspersonen zu verhindern.
ermöglichen eine frühzeitige Unterstützung. Auf diese
Weise kann die Kontaktgestaltung zum Baby positiv
beeinflusst und Gefährdungen des Kindes abgewendet
werden. Die therapeutische Bearbeitung elterlicher
Beeinträchtigungen kann helfen, Chronifizierungen
vorzubeugen.
4.
Das Angebot einer Hotline, die es Eltern in Not ermöglicht, jederzeit Kontakt zu ihrem SAFE® -Mentor aufzunehmen. So können befürchtete Kindeswohlgefährdungen abgewendet werden.
Der folgende Beitrag von Dr. Brisch gibt einen umfassenden
Einblick in den theoretischen Hintergrund, in Ziele und Inhalte
des SAFE® - Programms.
Wir freuen uns, dass das SAFE® - Programm sich einer so
Ziele der primären Prävention
Eine primäre Prävention im psychischen Bereich sollte die
Förderung der psychischen Gesundheit von Eltern und Kind
zum Ziel haben. Die Entwicklung eines sicheren Bindungsverhaltens ist hierbei eine grundlegende Zielsetzung, die mit
erheblichen Vorteilen für die Entwicklung von Kindern verbunden ist. Kinder mit einer sicheren Bindungsentwicklung
sind in der Lage, sich in Notsituationen Hilfe zu holen, sie
haben mehr freundschaftliche Beziehungen, ein ausgeprägtes und differenziertes Bewältigungsverhalten, sie können
auf verschiedenste Bewältigungsstrategien zurückgreifen,
können partnerschaftliche Beziehungen eingehen, die eine
37
gewisse emotionale Verfügbarkeit für den Partner beinhalten
entsteht auf diese Weise ein Teufelskreis von traumatischen
und für beide Seiten befriedigend sind. In ihren kognitiven
Erfahrungen, die von der Eltern- auf die Kindergeneration
Funktionen sind Kinder mit einer sicheren Bindung kreativer,
übertragen werden, so dass wir aufgrund der Traumatisie-
ausdauernder und differenzierter. Ihre Gedächtnisleistun-
rung Bindungsstörungen über Generationen diagnostizieren
gen und ihr Lernverhalten sind besser. Sie lösen Konflikte
können. Man könnte annehmen, dass solche Weitergaben
konstruktiver und sozialer und zeigen in Konfliktsituationen
von Entwicklungsstörungen genetisch bedingt wären; eine
weniger aggressives Verhalten. Auch die Sprachentwicklung
Familienanamnese zeigt aber, dass die „Familiengeschich-
von Kleinkindern ist besser und weist weniger Störungen auf
ten“ von Gewalt seit Generationen durch unfeinfühlige bis
(Dieter et al. 2005; Klann-Delius 2002). Alle diese positiven
gewalttätige Verhaltensweisen der Eltern gegenüber ihren
Effekte sind bei Kindern mit unsicherer Bindungsentwicklung
Kindern weitergegeben werden (Brisch 2003b, 2004a).
verlangsamt oder weniger ausgeprägt; Kinder mit Bindungsstörungen dagegen zeigen in all diesen Entwicklungsbereichen sogar erhebliche Irritationen und psychopathologische
Zielgruppe für eine Prävention
Auffälligkeiten (Brisch 1999, im Druck a, 2003a; Zeanah &
Emde 1994).
Die Zielgruppe für eine primäre Prävention zur Förderung
einer sicheren Bindungsentwicklung sind insbesondere
Das Ziel einer primären Prävention sollte daher darin be-
werdende Eltern – sowohl Erst- wie auch Mehrgebärende –,
stehen, die Eltern möglichst bereits vor der Geburt für die
damit diese schon mit Beginn der Schwangerschaft in ihren
emotionalen Bedürfnisse und Signale ihrer Kinder zu sensibi-
Kompetenzen und Fähigkeiten geschult und für die Bedürf-
lisieren. Feinfühlige Eltern, die emotional für die Signale ihrer
nisse ihres Kindes emotional und auch kognitiv sensibilisiert
Kinder verfügbar sind, fördern eine sichere Bindungsent-
werden. Grundsätzlich sollten die Eltern die Motivation
wicklung ihrer Kinder. Wenn die Eltern dagegen traumatisie-
mitbringen, sich auf die emotionale Entwicklung ihres Kindes
rend auf ihre Kinder einwirken, indem sie ihnen gegenüber
einzulassen und hierfür als unterstützende Maßnahme ein
körperliche, emotionale oder sexuelle Gewalt ausüben,
Präventionsprogramm in Anspruch zu nehmen. Die klinische
können bei den Kindern aus diesen Erfahrungskontexten
Erfahrung zeigt, dass Eltern gerade während der Schwan-
Bindungsstörungen mit verschiedensten Mustern entstehen
gerschaft sehr mit ihren eigenen traumatischen Erfahrungen
(Brisch 1999). In der Prävention sollten die Eltern daher für
aus ihrer Kindheit beschäftigt sind. Gerade die Beziehung zu
die Signale ihrer Kinder mit Videofeedback sensibilisiert und
den eigenen Eltern – sowohl mit den positiven Bindungser-
sollte feinfühliges Interaktionsverhalten der Eltern mit ihrem
fahrungen wie auch mit traumatischen Erfahrungen – wird
Säugling eingeübt werden. Gerade die Videodemonstration
wieder aus der Erinnerung wachgerufen und ist den Eltern
von Interaktionsverhaltensweisen zwischen Eltern und Kind
während der Schwangerschaft, mit allen affektiven Erinne-
erweist sich als hervorragendes Instrument und Hilfsmittel,
rungen von Freude, Angst, Wut und Enttäuschung, oftmals
um die Eltern für die Signale ihrer Säuglinge zu sensibilisieren
sehr nahe. Die Eltern überlegen sich, ob sie im Entwurf einer
und ihnen eine angemessene Interpretation der Signale zu
eigenen Mutterschaft oder Vaterschaft so werden möchten
ermöglichen (Bakermans-Kranenburg et al. 1998; Downing &
wie ihre Eltern oder ob sie auf gar keinen Fall die eigenen Er-
Ziegenhain 2001; Thiel-Bonney 2002; Bodeewes 2002; Beebe
fahrungen mit ihren Eltern in der neuen eigenen Elternschaft
2003; Downing 2003; Papoušek 2000; Grossmann et al. 1985;
wiederholen möchten.
Kindler & Grossmann 1997).
Gerade während der Schwangerschaft sind die Eltern aufAus der klinischen Arbeit ist bekannt, dass Eltern mit eigenen
grund der eigendynamischen Prozesse bei der Beschäftigung
unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen dazu neigen,
mit ihrer Kindheit und Vergangenheit sehr motiviert und
diese Erfahrungen mit den Kindern zu inszenieren, und sie
bereit, sich mit den selbst erlebten Erfahrungen nochmals
so zu Mitakteuren in einem alten Theaterstück machen.
auseinanderzusetzen. Ist ein Baby erst einmal geboren, sind
Genau dies sind die klassischen Situationen, in denen die
die Eltern mit vielen dynamischen Prozessen beschäftigt, die
Eltern durch Reaktivierung alter Traumata vielfältige heftige
aus den täglichen Anforderungen – wie Füttern, Wickeln und
Affekte wie Wut, Scham und Angst wiedererleben und – un-
Schlaf des Babys – entstehen. Daher treten nach der Geburt
bewusst, ungewollt und mit eingeschränkter Fähigkeit zur
Erfahrungen und Gefühle aus der eigenen Kindheit – positive
Handlungssteuerung – ihre Kinder zu Opfern von körper-
wie schmerzliche – wieder in den Hintergrund.
lichen, emotionalen oder sexuellen Gewalttaten machen.
Genau diese Verhaltensweisen der Eltern aber führen zur
In dieser Phase nach der Geburt benötigen die Eltern während
Entwicklung von Bindungsstörungen bei ihren Kindern. Es
des ersten Lebensjahres zusätzliche Hilfestellungen, da viele
38
Fragen erst in dem Moment auftauchen, wenn sie konkret
die Eltern in Elterngruppen. Die Gruppe mit den Eltern, die
durch das Baby damit konfrontiert sind. Oft sehen wir Eltern
gleichzeitig in ähnlichen Schwangerschaftsphasen sind,
in der psychosomatischen Ambulanz erst dann, wenn viele
stellt dabei für das gesamte Programm einen wesentlichen
interaktionelle Schwierigkeiten mit Füttern, Schlafen, Bezie-
haltenden Rahmen dar. Es entsteht über die Kursdauer, von
hungsaufbau sich bereits chronifiziert haben, ein Baby also
der 20. Schwangerschaftswoche bis zum Ende des ersten
etwa bereits über mehrere Wochen täglich für viele Stunden
Lebensjahres, eine große Gruppenkohäsion. Die individuelle
weint und sich nicht beruhigen läßt. Die Eltern suchen un-
Traumapsychotherapie sowie die Benutzung einer Hotline
sere Ambulanz oftmals erst zu einem Zeitpunkt auf, wenn
werden von den Eltern individuell in Anspruch genommen.
sie bereits im Stadium der psychischen Dekompensation
Somit kombiniert SAFE® gruppentherapeutische Effekte wie
sind. Um solche Zustände möglichst frühzeitig abzufangen
auch individualtherapeutische Möglichkeiten in einem einzi-
und den Eltern unmittelbar bei den ersten Irritationen und
gen Präventionsprogramm.
Schwierigkeiten eine Hilfestellung anzubieten, sollte ein
Präventionsprogramm Eltern mit einem Säugling möglichst
während des ersten Lebensjahres in der Adaptationsphase
SAFE® – pränatales Modul
nach der Geburt unterstützen.
Im pränatalen Modul treffen sich die Elterngruppen an vier
Sonntagen während der Schwangerschaft, beginnend ab ca.
Inhalte des Programms SAFE®
der 20. Schwangerschaftswoche (SSW) und dann folgend in
der 24., 28. und der 32. SSW. Das Programm beginnt bereits
Auf diesem Hintergrund wurde ein primäres Präventions-
sehr frühzeitig zu einem Zeitpunkt, an dem in der Regel die
programm mit dem Namen „SAFE – Sichere Ausbildung für
Ultraschall-Fehlbildungsdiagnostik abgeschlossen ist und es
Eltern“ entwickelt, das spezifisch eine sichere Bindungsent-
somit an der Existenz und der Fortführung der Schwanger-
wicklung zwischen Eltern und Kind fördern, die Entwicklung
schaft keinen großen Zweifel mehr geben sollte. Der Sonntag
von Bindungsstörungen verhindern und ganz besonders die
hat sich als exzellenter Kurstag bewährt, da die Elternpaare
Weitergabe von traumatischen Erfahrungen über Genera-
an diesen Tagen in der Regel sehr entspannt teilnehmen kön-
tionen verhindern soll. Aus diesem Grund wurde auch der
nen und besonders auch die Väter stärker motiviert sind.
®
Name SAFE gewählt, der symbolisch impliziert, dass die
®
Entwicklung sowohl für die Eltern als auch für das Kind sicher
Die Inhalte des pränatalen Moduls beinhalten umfassende
sein soll.
Informationen und den Austausch in der Gruppe, etwa über
Kompetenzen des Säuglings und der Eltern, Erwartungen der
Die Eltern werden über die Auslage von Informationsmaterial
Eltern – z. B. an das ideale Baby, die ideale Mutter, den idealen
in Apotheken, Arztpraxen (Gynäkologen, Kinderärzte), Fa-
Vater –, über Phantasien und Ängste der Eltern, die pränata-
milienbildungsstätten,
Schwangerschaftsberatungsstellen
le Bindungsentwicklung und Eltern-Säuglings-Interaktionen.
sowie durch Presseberichte über das Präventionsprogramm
Diese Interaktionen werden mit Videobeispielen veranschau-
informiert und für neue SAFE -Gruppen geworben. Es gibt
licht, und die Eltern werden dabei gezielt geschult, die Signale
unterschiedliche Finanzierungsmodelle, die jeweils davon
eines Babys genau wahrzunehmen und richtig zu interpre-
®
abhängen, wo die SAFE -Gruppen stattfinden und wer der
tieren. Das Video-Interaktionstraining ermöglicht den Eltern,
Organisator ist. Teilweise werden SAFE®-Gruppen über
ganz spezifisch an konkreten Videoaufnahmen etwa zum
Familienbildungsstätten oder Schwangerschaftsberatungs-
Füttern, Stillen, Wickeln sowie zum Spiel und Zwiegespräch
stellen organisiert und angeboten und auch über Zuschüs-
zwischen Eltern und Kind erste Erfahrungen zu sammeln
se finanziert, so dass die Eltern selbst nur einen kleinen
und sich auf die Signale des Säuglings feinfühlig einzustellen.
Teilnehmerbeitrag zahlen müssen; manchmal werden die
Hierbei werden auf diese intensive Weise anhand von kurzen
Gruppen aber auch etwa von niedergelassenen Hebammen
Videosequenzen auch elterliche Kompetenzen und die Reak-
und Psychotherapeuten organisiert, die direkt von den Eltern
tionsbereitschaft des Säuglings geschult.
®
eine verabredete Honorarvergütung erhalten, die sie zuvor
mit diesen vereinbart haben. In der Regel werden die Grup-
Weiterhin erlernen die Eltern bereits von Kursbeginn Stabili-
pen gemeinsam von einem Leiter (einer Leiterin) und einer
sierungs- und Entspannungsverfahren, um mit stressvollen
Co-Leitung über den gesamten Zeitraum von der Schwan-
Situationen während der Schwangerschaft und nach der
gerschaft bis zum Ende des ersten Lebensjahres geführt.
Geburt besser umgehen zu können. Es ist aus der Forschung
Das SAFE®-Programm besteht insgesamt aus vier Modulen.
bekannt, dass sich Ängste und Stresserleben während der
Im pränatalen sowie im postnatalen Modul treffen sich
Schwangerschaft sowohl auf die emotionale Bereitschaft
39
der werdenden Mutter, sich im Sinne der vorgeburtlichen
Schlafen sowie der Aufbau der emotionalen Beziehung im
Bindung auf den Säugling einzulassen, als auch auf den Säug-
Mittelpunkt. Die Eltern bringen die Babys zu den Terminen
ling selbst und seine Reizbarkeit und Stresstoleranz negativ
mit, so dass das Bindungsverhalten der Eltern und das des
auswirken können. Weiterhin können die Eltern die pränatal
Kindes sowie das Explorationsverhalten des Babys in der
gelernten Stabilisierungs- und Entspannungstechniken sehr
Gruppe direkt beobachtet und daraus gelernt werden kann.
gezielt nach der Geburt einsetzen, wenn stressvolle Phasen
Während dieser Zeit werden von den Eltern und ihrem Baby
mit dem Säugling entstehen, und in der Regel entwickeln
auch individuelle Videoaufnahmen angefertigt, mit Interakti-
sich solche Phasen bei allen Eltern-Kind-Paaren früher oder
onen beim Wickeln, Füttern, Stillen, Spielen. Diese Videosze-
später. Solange das Baby aber noch im Bauch versorgt ist,
nen werden sowohl mit der Mutter als auch mit dem Vater in
haben die Eltern mehr Zeit und innere Bereitschaft, solche
einem individuellen Feedbacktraining besprochen. Ziel ist es,
Entspannungsverfahren zu erlernen. Ist das Baby erst ein-
dass die Eltern nun mit den realen aktuellen Erfahrungen mit
mal da, und fordert es die Eltern Tag und Nacht, finden sie
ihrem Baby lernen sollen, dessen individuelle Signale besser
weniger bis oft keine Ruhe mehr, sich auf das Erlernen neuer
zu erkennen, richtig zu interpretieren und angemessen und
Entspannungsverfahren einzulassen.
prompt hierauf zu reagieren. Irritationen und emotionale
Schwierigkeiten der Eltern sowie Fehlinterpretationen und
Projektionen aus der eigenen Kindheitsgeschichte können
SAFE
®
– postnatales Modul
bereits in diesem Stadium, also frühzeitig, erkannt und
besprochen sowie korrigiert werden. Wenn die Eltern einver-
Nach der Geburt werden die Elterngruppen bei sechs
standen sind, können ihre individuellen Videoaufnahmen mit
ganztägigen Sonntagsseminaren im 1., 2., 3., 6., 9. und 12.
ihrem Baby auch in der Gruppe als Feedbacktraining für alle
Monat fortgeführt. Die Eltern werden somit während der
Teilnehmer verwendet werden. Die Eltern sind meist sehr
schwierigsten Zeit der Kindesentwicklung und Adaptation
motiviert, die Aufnahmen mit ihren Interaktionsverhaltens-
nach der Geburt des Säuglings sowie auch in der Phase der
weisen auch der Gruppe zur Verfügung zu stellen, damit zum
Umstellung in der Partnerschaft und der Neuentwicklung
einen alle aus den positiven Interaktionen lernen können,
einer Beziehung zu dritt mit dem Säugling unterstützt.
zum anderen andere aus Feinabstimmungsschwierigkeiten
oder „Mißverständnissen“ in der Interaktion Hinweise darauf
Auch postnatal zeigt sich die Kohäsion in der Gruppe als
bekommen, was sie bei ihrem Baby vielleicht anders sehen
hilfreicher Faktor, da alle Eltern in einem vergleichbaren Ent-
oder besser interpretieren könnten. Wegen der Vertrau-
wicklungsprozess stecken. Einzelne Eltern mit ihren Säuglin-
ensbeziehungen, die sich bis dahin innerhalb der Gruppe
gen treffen sich auch außerhalb der Gruppensonntage, um
entwickelt haben, bestehen in der Regel keine größeren
sich auszutauschen und gemeinsame Aktivitäten zu unter-
Schwierigkeiten, sehr offen über Ängste, Befürchtungen und
nehmen. Es entwickelt sich somit eine Eltern-Peer-Gruppe,
auch interaktionelle Schwierigkeiten zu sprechen.
die sich bereits vor der Geburt stabilisierend auf die Eltern
ausgewirkt hat. Dieser positive Effekt intensiviert sich noch
nach der Geburt. Die postnatalen Inhalte beziehen sich auf
Individuelle Traumapsychotherapie
die Verarbeitung des Geburtserlebnisses, das nicht immer
mit positiven Erfahrungen verbunden ist. Manchmal erfolgt
Mit allen Eltern wird ein Erwachsenen-Bindungs-Interview
die Geburt als „Notfall“ durch Kaiserschnitt oder auch zu früh
(Adult Attachment Interview – AAI) durchgeführt. Der
(Frühgeburt), so dass in der Gruppe und auch individuell eine
spezifische Zweck dieses Interviews ist es, jeweils bei der
intensivere psychotherapeutische Hilfestellung notwendig
werdenden Mutter und dem werdenden Vater festzustellen,
ist, damit sich die Eltern-Kind-Beziehung nicht mit Angst und
welche Bindungsressourcen und welche traumatischen
Schrecken entwickelt. Unverarbeitete Erlebnisse von der
Erfahrungen, die eventuell noch ungelöst sind, von ihnen mit
Geburt können sich negativ auf den Aufbau der Eltern-Kind-
in die Beziehung zu ihren Kindern hineingebracht werden.
Interaktion und -Bindung auswirken. Auch die postpartale
Nach den bisherigen Erfahrungen gibt es bei ca. 30% der
Depression, an der 12–15% aller Mütter laut Längsschnittstu-
Eltern solche ungelösten traumatischen Erfahrungen, die
dien erkranken, könnte durch eine frühzeitige psychothera-
eine individuelle Traumapsychotherapie benötigen.
peutische Gruppenbegleitung vielleicht verhindert werden.
Besonders diese ungelösten traumatischen Erfahrungen sind
von großer Bedeutung, weil die klinische Erfahrung zeigt,
Als weitere Inhalte nach der Geburt stehen die elterlichen
dass Kinder durch ihre Verhaltensweisen ganz ungewollt bei
Kompetenzen, die Triangulierung zwischen Mutter, Vater
ihren Eltern traumatische Erfahrungen und die dazugehöri-
und Kind, interaktionelle Schwierigkeiten mit Füttern, Stillen,
gen Affekte wieder wachrufen können. Diese sind wie „Geis-
40
ter im Kinderzimmer“ (Fraiberg et al. 1975), die ungerufen
Hotline
kommen. So kann etwa das Weinen eines Kindes, die Suche
nach Zärtlichkeit, können Wutanfälle oder auch Forderungen
Ein weiteres Interventionsmodul besteht in einer Hotline.
des Kindes nach Nähe und Kontakt ungelöste traumatische
Gerade nach der Geburt sind Schwierigkeiten mit Adaptati-
Erfahrungen bei der Mutter oder dem Vater in Erinnerung
onsprozessen – etwa beim Einschlafen – relativ typisch, so
bringen. Wenn dies unkontrolliert und unbewußt geschieht,
dass Eltern hier in der Regel zum ersten Mal in Not geraten,
können sich die Eltern plötzlich auf einer imaginären Bühne
wenn ihr Baby sich nicht ablegen läßt und stundenlang
„im Kampf“ befinden. Ihr Kind wird im schlimmsten Fall
weint, ohne dass sie das Baby beruhigen können oder ohne
gleichzeitig Akteur und Opfer in einem alten traumatischen
dass sie für das unstillbare Schreien einen Grund ausmachen
Theaterstück, in dem ihm eine Rolle zugeschrieben wird,
können (Brisch, im Druck b). Aus der klinischen Erfahrung ist
die es sich selbst nicht ausgesucht hat. Es kann etwa von
bekannt, dass die Eltern in diesen sehr stressvollen Situati-
selbst zur Zielscheibe und Projektionsfläche für gewalttätige
onen oft erst viel zu spät Hilfe suchen. Im schlimmsten Fall
Phantasien werden, und im schlimmsten Fall kann es zu ei-
kommen sie erst in die Kinderklinik, wenn es bereits zu einer
ner realen Wiederholung von Gewalterfahrungen kommen,
Gewalthandlung gegenüber dem schreienden Baby gekom-
indem das Kind unbeabsichtigt von der Mutter oder dem Va-
men ist.
ter geschüttelt wird. Solche oft zeitlich kurzen traumatischen
Reinszenierungen können fatale Folgen haben, da das Kind
Die Hotline bietet den Eltern die Möglichkeit, die SAFE®-
etwa durch eine Hirnblutung oder eine Augenblutung nach
Gruppenleiter(innen) anzurufen und sich unmittelbar Rat und
einem Schütteltrauma zeitlebens behindert oder geschädigt
Unterstützung zu holen. Hierbei ist es von großem Vorteil,
sein kann.
dass die- oder derjenige, die/der an der Hotline erreichbar ist,
den Eltern bereits aus den Gruppensitzungen vor der Geburt
Wenn sich in dem Bindungsinterview zeigt, dass die Eltern
bekannt ist und hier ein Vertrauensverhältnis entstanden
solche unverarbeiteten eigenen traumatischen Erfahrungen
ist (Brisch 2000b). Die Häufigkeit der Inanspruchnahme der
mitbringen, werden sie von uns darauf hingewiesen, dass
Hotline ist sehr unterschiedlich und schwankt sowohl beim
diese Erfahrungen wegen der bisherigen Nichtverarbeitung
einzelnen Elternpaar als auch zwischen den Elternpaaren,
einen gewissen Risikofaktor für die Entwicklung des Kindes
je nach individuellen Krisen- und Belastungssituationen, die
und die Eltern-Kind-Beziehung darstellen. Es könnte sich
sich nur schwer voraussagen lassen. Die möglichen Interven-
eine Möglichkeit ergeben, in der die Eltern solche eigenen
tionen sind jetzt sehr gezielt einsetzbar, weil die individuelle
traumatischen Erfahrungen mit ihrem Kind zu irgendeinem
Geschichte der Eltern und ihre Ressourcen sowie ihre beson-
Zeitpunkt wiederholen und sich dadurch der Teufelskreis von
deren Risiken und Schwierigkeiten dem/der Gruppenleiter/in
etwaiger selbsterlebter Gewalt und der Weitergabe dieser
durch die vorausgegangenen Seminartage sowie auch durch
Gewalt in der nächsten Generation wiederholt.
das Erwachsenen-Bindungsinterview sehr gut bekannt sind.
In der Regel konnten die Fähigkeiten der Eltern, Signale eines
Es ist ein spezielles Ziel von SAFE®, diese Teufelskreise zu
Babys wahrzunehmen und zu interpretieren, auch schon vor
durchbrechen. Wenn die Eltern sich motivieren lassen
der Geburt anhand des Videotrainings erkannt und gefördert
und bereit sind, können wir mit ihnen bereits während
werden. Aufgrund der individuellen Videoaufnahmen, die
der Schwangerschaft beginnen, ihre psychische Situation
mit den Eltern selbst und ihrem Baby etwa beim Wickeln und
durch gezielte Stabilisierungstechniken aus der Traumapsy-
Füttern gemacht wurden, sind die elterlichen Kompetenzen
chotherapie zu verbessern. Nach der Geburt besteht die
und Ressourcen sehr gut bekannt, so dass bei einem Anruf
Möglichkeit, den Eltern in individuellen traumazentrierten
über die Hotline eine rasche und gezielte Intervention und
psychotherapeutischen Sitzungen durch eine Verarbeitung
Beratung ermöglicht werden kann. Falls die Eltern eigene
der traumatischen Erlebnisse mit modernen Methoden der
unbewußte Ängste und Erwartungen auf ihr Baby projizieren
Traumatherapie (z. B. mit der Methode des Eye Movement
und diese die Ursache der Interaktionsstörung sind, können
Desensitization Reprocessing – EMDR [Hofmann 1999]) zu
solche Probleme im Rahmen einer Eltern-Säuglings-Therapie
helfen. Gerade dieser Anteil von SAFE zielt auf Prävention
frühzeitig erkannt und behandelt werden (Brisch 1995a;
durch Vermeidung einer Wiederholung des erlebten Traumas
Bakermans-Kranenburg et al. 1998; Beebe 2000; Bodeewes
mit den eigenen Kindern.
2002; Papoušek 2000; Zelenko & Benham 2000; Brisch et al.
®
2005a).
Ziel des gesamten SAFE®-Programms ist es, dass nach dem
Ablauf des ersten Lebensjahres möglichst viele Kinder von
41
Eltern, die an der SAFE®-Gruppe teilgenommen haben, si-
Schwangerschafts-, Geburts- und Nachgeburtsbegleitung
chere Bindungsmuster aufweisen und sich die Erfahrungen
– untersucht werden können. Zur Kontrollgruppe gehören
der elterlichen Traumata nicht mit dem Säugling wiederholt
ebenfalls Eltern, die sich im gleichen Zeitfenster – bis zum
haben.
Ende des ersten Lebensjahres ihres Säuglings – an Sonntagen zu ganztägigen Seminartagen treffen. In der SAFE®- und
in der Kontrollgruppe werden jeweils zu den gleichen Zeitpunkten mit verschiedenen Videoaufnahmen die Mutter-
SAFE® -Mentorenausbildung
Kind- und Vater-Kind-Interaktion beim Wickeln, Füttern
sowie beim Spielen evaluiert, außerdem wird am Ende des
Zur Verbreitung des Programms besteht die Möglichkeit, sich
ersten Lebensjahres die Entwicklung der Bindungsqualitäten
als SAFE -Mentor am Dr. von Haunerschen Kinderspital in
der Säuglinge untersucht und ausgewertet.
München ausbilden zu lassen (Info unter http://hauner.klini-
Zusätzlich werden mit Hilfe von Fragebogen prä- und
kum.uni-muenchen.de/dt_psy.htm). In Zukunft sollen auch
postnatale Daten erhoben, und bei allen Eltern werden
regionale Ausbildungsgruppen entstehen. Hierzu können
Erwachsenen-Bindungsinterviews durchgeführt. Sowohl bei
sich grundsätzlich alle Berufsgruppen, die mit Schwangeren,
den Müttern als auch bei den Vätern werden vor und nach
Eltern und ihren Säuglingen arbeiten, als potentielle SAFE®-
solchen Interviews – sowie auch bei den Kindern vor und
Mentoren melden, wie etwa Schwangerschaftsberaterin-
nach der Untersuchung der Bindungsqualität – physiolo-
nen, Hebammen und Stillberaterinnen, Krankenschwestern,
gische Stressparameter anhand von Untersuchungen der
Geburtshelfer, Psychologen, Kinderärzte, Kinder- und Ju-
Werte des Stresshormons Cortisol im Speichel erhoben.
®
gendlichenpsychotherapeuten. Entscheidend für die Arbeit
in SAFE®-Gruppen ist die Fähigkeit, sich auf Schwangere und
Eltern mit Säuglingen einzulassen und aus der alltäglichen
Zusammenfassung und Ausblick
beruflichen Praxis bereits konkrete praktische Erfahrungen
in der Arbeit mit dieser Zielgruppe mitzubringen.
Die Bindungsentwicklung während der Schwangerschaft,
Die Ausbildung zum SAFE -Mentor umfasst drei ganztägige
der Geburt und während der ersten Lebensmonate ist sehr
Seminartage und zusätzliche Praxistage, die je nach prak-
verletzlich und durch viele Stressoren leicht zu irritieren.
tischer Vorerfahrung unterschiedlich lang und intensiv sein
Jegliche Form von äußerer und innerer emotionaler Sicher-
können. Die Mentoren organisieren dann jeweils vor Ort un-
heit für die (werdenden) Eltern während Schwangerschaft,
ter ihren spezifischen Arbeitsbedingungen SAFE -Gruppen.
Geburt und in der postnatalen Zeit fördert die sichere Bin-
Vorzugsweise wird mit Mentorenpaaren, d. h. mit Gruppen-
dungsentwicklung. Durch vielfältige Komplikationen während
leitung und Co-Leitung, gearbeitet. Dieses Leitungsmodell
der Schwangerschaft, der Geburt und danach kann Angst
eröffnet die Möglichkeit, dass ein Mentor jeweils Inhalte ver-
das vorherrschende Gefühl der Mutter bzw. des Vaters sein.
mitteln kann, während der andere die gruppendynamischen
Wenn aber die Eltern große Angst erleben, wird ihr eigenes
Prozesse im Auge behält und die Gruppe leitet.
Bindungsbedürfnis aktiviert. Ängstliche Eltern können in der
Seit 2007 werden von dem Autor auch am Evangelischen
Bindungsentwicklung zu ihrem Kind überängstlich, gehemmt
Zentralinstitut für Familienberatung in Berlin SAFE®- Men-
oder hilflos reagieren. Oft können sie nur eingeschränkt die
toren/Mentorinnen ausgebildet. Diese Ausbildung umfasst
Signale ihres Kindes wahrnehmen, richtig interpretieren und
fünf ganztätige Seminartage, die die Theorie- und Praxistage
angemessen und prompt reagieren. Es besteht die Gefahr,
integrieren.
dass eigene ungelöste Affekte, besonders wenn sie durch
®
®
traumatische ungelöste Situationen wieder wachgerufen
Evaluation und Forschung zum Programm SAFE
®
werden, von den Eltern auf die Kinder projiziert werden.
Es gibt verschiedene Formen der präventiven Psychothe-
In der Pilotphase konnten das SAFE -Programm und seine
rapie, die pränatal, perinatal oder postnatal beginnen und
Inhalte sehr gut realisiert werden. Inzwischen wird eine
erfolgreich eingesetzt werden können. In den hochtechni-
prospektive randomisierte Längsschnittstudie durchgeführt,
sierten Bereichen einer prä-, peri- und postnatalen Medizin
die die SAFE®-Gruppenintervention im Vergleich zu einer
ist die psychologische Betreuung von betroffenen Eltern
herkömmlichen Schwangerschafts- und Geburtsvorberei-
sowie des Personals eine dringende Notwendigkeit. Eine
tung und Stillbegleitung evaluiert. Die Kontrollgruppe trifft
präventive Psychotherapie in diesem Zeitraum könnte sehr
sich für die gleiche Seminardauer und -häufigkeit wie die
zum Abbau der Angst der Eltern beitragen und die emoti-
SAFE®-Gruppe, so dass die Effekte der unterschiedlichen
onalen, kognitiven und somatischen Entwicklungsprozesse
Interventionen – SAFE -Gruppe versus konventionelle
von Kindern fördern. Eine regelmäßige Supervision für das
®
®
42
gesamte Team der Mediziner und des Pflegepersonals könn-
könnten bei Bedarf Intervallbehandlungen zu späteren
te sehr zur emotionalen Entlastung und zum Verständnis von
Zeitpunkten im Laufe des ersten und zweiten Lebensjahres
Teamprozessen beitragen, so dass diese Erkenntnisse sich
folgen.
erleichternd auf die Arbeitsatmosphäre und die Förderung
einer positiven Entwicklung der Patienten auswirken könn-
Es wäre ein wünschenswertes Ziel, dass solche präventi-
ten.
ven psychotherapeutischen Interventionen dazu führten,
dass kompetente Eltern für die Bedürfnisse und Signale
Zukünftige Ansätze einer präventiven Psychotherapie in die-
ihrer Kinder emotional verfügbar sind: Eltern, die über
sem Zeitraum könnten mit einer Konzeptionssprechstunde
ihre eigenen inneren Befindlichkeiten sowie Affekte und
beginnen und sich mit Fragen der künstlichen Befruchtung,
Spannungen selbstreflexiv nachdenken können und die
der pränatalen Diagnostik, der pränatalen Behandlung bei
möglichst eigene traumatische Erfahrungen aus der Zeit vor
vorzeitiger Wehentätigkeit sowie den förderlichen Bonding-
der Schwangerschaft gut verarbeitet haben. Falls dieses Ziel
prozessen im Kreißsaal und der Wochenstation beschäfti-
nicht erreicht wird, könnten die Eltern begleitet und könnte
gen. Hier könnten neben den allgemeinen auch spezifische
durch Beratung sowie Psychotherapie ihre Angst abgebaut
SAFE -Gruppen angeboten werden, die sich besonders an
werden – mit dem großen Ziel, möglichst viele Kinder trotz
solche Frauen richten, die frühere Tot- und Fehlgeburten
Anfangsschwierigkeiten in der prä- und postnatalen Zeit auf
durchgemacht haben, oder auch an solche, die bereits in
den Weg einer sicheren Bindungsentwicklung mit ihren El-
der Vorschwangerschaft unter depressiven Erkrankungen
tern zu führen. Der größte Gewinn einer solchen Entwicklung
gelitten haben. Auf diese Weise könnten alte Teufelskreise
bestünde darin, dass sich sicher gebundene Kinder auch
der Weitergabe von Ängsten und traumatischen Erfahrungen
empathie- und beziehungsfähiger entwickeln und damit
von einer Generation auf die nächste durchbrochen werden,
einen großen Vorteil für die befriedigende Gestaltung von
so dass langfristig Sicherheit für die werdenden Eltern be-
späteren Beziehungen haben.
®
stünde. Einer Beratung und Begleitung in der Anfangszeit
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Angaben zum Autor
Korrespondenzanschrift des Autors:
OA PD Dr. med. Karl Heinz Brisch
Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie
Kinderklinik und Kinderpoliklinik
im Dr. von Haunerschen Kinderspital
Ludwig-Maximilians-Universität München
Pettenkoferstr. 8 a
80336 München / Germany
Tel. +49-(0)89-5160-3954
Fax +49-(0)89-5160-4730
email: [email protected]
Informationen zur SAFE®-Mentoren Ausbildung:
In München:
[email protected];
http://hauner.klinikum.uni-muenchen.de/dt_psy.htm
In Berlin:
[email protected]
Brisch, Karl Heinz
Dr. med. habil., Privatdozent, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotherapeutische
Medizin, Nervenheilkunde, Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Gruppen.
Er leitet die Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie
an der Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der
Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Dozent sowie Lehr- und
Kontrollanalytiker am Psychoanalytischen Institut Stuttgart.
Sein Forschungsschwerpunkt umfasst den Bereich der frühkindlichen Entwicklung zu Fragestellungen der Entstehung von Bindungsprozessen und
ihren Störungen sowie der Prävention.
Er publizierte zur Bindungsentwicklung von Risikokindern sowie zur klinischen Bindungsforschung und verfasste eine Monographie zur Anwendung
der Bindungstheorie in der psychotherapeutischen Behandlung von Bindungsstörungen.
Der Autor ist Gastprofessor am Psychology Department, University of
Auckland, Neuseeland, und deutscher Vorsitzender der Gesellschaft für
seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH e. V. – German-Speaking
Association for Infant Mental Health).
Bundesweite Tagung am 13.-14. Februar 2008 im Kirchenamt der EKD, Hannover.
Bei dieser Tagung soll die Zukunft der Familienpolitik in den Blick genommen
werden, Entwicklungen von Organisationen, Institutionen und Netzwerken
systematisiert, analysiert und die ersten Ergebnisse der Wirkungsforschung
des bundesweiten Netzwerkes „Mehrgenerationenhäuser“ vorgestellt werden.
Programm und Anmeldung http://www.eaf-bund.de/fileadmin/pdf/PDF/eafNetzwerktagung.pdf
Die Einladung zu dieser Tagung geht an: Mitarbeitende und Vertretende der
Trägereinrichtungen aus den Bereichen der Kindertagesstätten, der Familienbildung, der Schule, der Erwachsenenbildung, der Beratung, der Mehrgenerationenarbeit, der Familienpolitik.
Besonders eingeladen sind auch MultiplikatorInnen und Entscheidungsträger aus Kommunen und Kirchengemeinden/
Kirchenkreisen, sowie Hauptamtliche und Ehrenamtliche aus Projekten schon
bestehender Netzwerke.
44
Juliane Meyer-Clason
Die Eltern-AG
Das Präventionsprogramm für mehr Elternkompetenz
in Problem- und Risikofamilien
Von der Ich-AG zur Eltern-AG
“Eltern-AG. Das Empowerment-Programm für mehr El1
wachsenenpädagogische Übungen enthält. Ein „Drehbuch
ternkompetenz in Problemfamilien“ , so heißt ein neuer
mit Hauptdarstellern“, eine „Gebrauchsanleitung zum Lesen“
Elternkurs, der ab 2004 an der Magdeburger Akademie
und die „Eltern-AG für eilige Leser“ rahmen das Buch.
für Praxisorientierte Psychologie (MAPP e.V.)
3
2
von Prof.
und seinen Mitarbeitern entwickelt
Die Eltern-AG liest sich als ein begeisterter Appell mitzuma-
und erprobt wurde. Die Formel „Eltern-AG“ erinnert an die
chen und zu helfen, die Gesellschaft zu verändern. Dieses
Ich-AG, ein Instrument der Sozialpolitik, das arbeitslos Ge-
Anliegen vertrat und verkörperte der Philanthrop Armbruster
meldeten eine Existenzgründung ermöglichen soll. In der
auch als Organisator des breit angelegten Empowerment-
Eltern-AG sollen sozial schwache, bildungsferne Eltern von
Kongresses, der im September dieses Jahres an der Hoch-
der Schwangerschaft bis zum Schuleintritt ihrer Kinder mit
schule Magdeburg-Stendal stattgefunden hat. Hier trafen
Meinrad Armbruster
4
zu erzieherischer Kompetenz und
sich Vertreter aus Wissenschaft, Politik, Unternehmerschaft,
mehr Selbstwirksamkeit, also zu einer nachhaltig gesicher-
Therapie und sozialen Organisationen, um Ideen zur Ent-
ten, konstruktiven Eltern-Existenz befähigt werden. „Com-
wicklung einer Bürgergesellschaft auszutauschen, in der alle
Hilfe von Empowerment
5
mander M. Power“ , wie der Autor sich selbstironisch nennt,
eine Tätigkeit und Grundsicherung erhalten und auch die
geht davon aus, dass die Ursachen für psychische Störungen
Schwächsten und Fernsten sich der Solidarität der Gesell-
und soziale Probleme in einer ungünstigen sozialen Lebens-
schaft sicher sein können.7
welt und in Erziehungsfehlern in der frühen Kindheit liegen,
und hier setzt das Präventionsprogramm an. Aber nicht nur
das. Die „Risiko-Eltern“6, in Folge von Globalisierung und
diskriminierender Bildungspolitik marginalisiert, sollen wie-
Das Umfeld: 134 Präventionsprogramme für
Familienbildung und Familienberatung?
der zu Partizipanten der Gesellschaft werden. Armbrusters
Anliegen ist nicht nur ein pädagogisches sondern auch ein
An Elternkursen herrscht derzeit kein Mangel in Deutschland
emanzipatorisches.
– Triple P, Kess erziehen, Starke Eltern – Starke Kinder, Rendsburger Elterntraining, Step, STEEP™, Erziehungsführerschein,
Entsprechend beinhaltet das 265 Seiten dicke Buch zur
Kompetenztraining für Eltern sozial auffälliger Kinder (KES)
Eltern-AG keineswegs nur Aufbau, Ablauf und Methodik
sind nur einige davon. Sie alle, auch die Eltern-AG, propa-
(Teil I) eines Elternkurses. Armbruster analysiert im zweiten
gieren den „autoritativen“8 Erziehungsstil. Dieser vertritt die
Teil aus einem systemisch-ganzheitlichen Blickwinkel die
Auffassung einer aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen
gesellschaftlichen Randbedingungen der Zielgruppe mit
und Wissenstände asymmetrischen Eltern-Kind-Beziehung
ihren wirtschaftlichen, psychologischen, neurobiologischen
bei Gleichwertigkeit der Personen. Er „zeichnet sich durch
und gesundheitlichen Auswirkungen und beschreibt den
… emotionale Wertschätzung und flexible Kontrolle aus
philosophischen, psychologischen und pädagogischen Hin-
und wird den Bedürfnissen der Kinder nach Zuwendung …
tergrund der Eltern-AG und seines Empowerment-Konzepts.
Freiheit innerhalb klarer Grenzen und stabiler Strukturen
Im dritten Teil folgen Theorie, Empirie und Forschung. Es
sowie Autonomie und Schutz am meisten gerecht“9. Und sie
wird über die Ausbildung der Mentoren Auskunft gegeben,
alle zielen auf die Steigerung der elterlichen Erziehungskom-
ein „Praxisbuch“ berichtet über die Erfahrungen von drei
petenz und die Verbesserung der Bedingungen kindlicher
Teilnehmerinnen, gefolgt von der „Werkzeugkiste“, die er-
Entwicklung. Was die Eltern-AG von den anderen Program-
45
men unterscheidet, ist ihr emanzipatorisches Anliegen,
Eltern, die unter Risikobedingungen leben, haben meist
die systemisch-ganzheitliche Herangehensweise und die
eine psychologische Grundverfassung, die von ungünstigen
Tatsache, dass die Zielgruppe nicht nur über das Alter der
Partner- und familiären Beziehungen und einem Mangel an
Kinder, sondern bildungsspezifisch definiert ist. Während die
sozialen Stützsystemen und Netzwerken gekennzeichnet ist.
anderen Programme sich ganz allgemein an Eltern richten,
Ihre beeinträchtigten Lernbedingungen verhindern das Ein-
sind hier nur Teilnehmer und Teilnehmerinnen zugelassen,
üben von Problemlösestrategien. Ihre Stresstoleranz und die
die die Auswahlkriterien soziale Benachteiligung, Bildungs-
Erwartung an die eigene Selbstwirksamkeit sind gering und
ferne und Migrationshintergrund erfüllen.
werden mit übermäßiger Verdrängung und Vermeidungsverhalten kompensiert. Daraus entstehen stabile Muster,
Für die pädagogische Elternarbeit mit bildungsfernen
die den Umgang mit Familie und Institutionen prägen und
Menschen ist die Frage nach der Relevanz dieses großen
die die Befriedigung der eigentlichen Bedürfnisse – stabile
gesellschaftskritischen Entwurfs ebenso nahe liegend wie
Beziehungen zu Partner und Kindern – verhindern.
das Interesse daran, welche neuen, Erfolg versprechenden
Methoden und Abläufe im Elternkurs selbst angewandt wer-
„Wie die PISA-Studie nachdrücklich aufzeigt“14 ‚sind Risikoel-
den. Deshalb werden im Folgenden die gesellschaftlichen
tern’ in Deutschland bildungsfern, weil sie – im Vergleich zu
Rahmenbedingungen, wie Armbruster sie sieht, dargestellt,
anderen Ländern – einen unterdurchschnittlichen Zugang zu
dann sein Empowerment-Konzept und schließlich Aufbau,
Bildung haben, was sie daran hindert, am Erwerbs- und Kul-
Ablauf und Methodik des Elternkurses.
turleben teilzunehmen. In dem Maße, in dem Bildung Grundlage jeglicher beruflichen und ökonomischen Lebenssituation
ist, ermöglicht diese nicht nur einen sozialen Status über Be-
Die Ausgangssituation: „Die gesellschaftlichen Randbedingungen“10
rufspositionen, sondern auch über gesellschaftlich wichtige
Handlungsweisen und Kompetenzen. Bildungsferne zieht
insofern nicht nur schlechte sozioökonomische Lebenslagen
Eltern-AG-Eltern „kommen aus dem unteren Drittel der
nach sich, sondern auch einen schlechteren Gesundheitszu-
Gesellschaft, zum Teil schon in der zweiten oder dritten
stand. Da kognitive Kompetenzen und Motivationen primär
Generation, haben vielfach unvollständige Bildungsbiogra-
durch den Bildungshintergrund des Elternhauses gestützt
phien, sind massiv von gesellschaftlichem Abstieg bedroht
werden, haben auch die Kinder von Risikoeltern geringe
oder schon arbeitslos, häufig Empfänger öffentlicher
Chancen, die Bildungsarmut ihrer Eltern zu überwinden. Re-
11
Hilfen“ , ein Teil von ihnen sind Migranten. Es sind Eltern,
sultat der erlittenen Ausgrenzung sind Gefühle von Versagen
die unter Risikobedingungen leben und im Wesentlichen drei
und eigener Schuld, denn ein Bewusstsein für die globalen
Hauptmerkmale aufweisen: Deprivation, Bildungsferne und
wirtschaftlichen Zusammenhänge und ihre Auswirkungen
Migrationshintergrund.
ist nicht vorhanden.
‚Risikoeltern’ sind in sensorischer, emotionaler, sozialer und
In einer ähnlichen Situation finden sich Eltern und Kinder
materieller Hinsicht depriviert im Vergleich zu Eltern, die an-
mit Migrationshintergrund. Soziale und kognitive Kompe-
deren Schichten angehören. Die meisten dieser Eltern haben
tenzen sind Grundvoraussetzung für Bildung, Spracherwerb
in ihrer eigenen Kindheit emotionale Mangelerfahrungen ge-
und Integration. Einwanderer haben meist nur wenige Mög-
macht. Ihre fundamentalen psychischen Grundbedürfnisse
lichkeiten, diese Kompetenzen zu erwerben. Entsprechend
12
sind bereits
können sich auch die Kinder von Migranten meist nicht in die
in ihrer frühen Kindheit verletzt worden oder sie sind durch
Mehrheitsgesellschaft integrieren, ihre Bildungsabschlüsse
Langzeitarbeitslosigkeit, Armut und sozialen Ausschluss
sind in den Bereichen Real- und Fachschulabschluss sowie
zermürbt. Dabei empfinden sie denselben Anspruch auf
Abitur deutlich unterrepräsentiert15. Ein Ausschluss von
stabile Verhältnisse, ausreichendes Einkommen und gesell-
Chancengleichheit und Partizipation, der sich über Generati-
schaftliche Teilhabe, erleben aber täglich die Kluft zwischen
onen fortsetzt, ist die Folge.
nach Bindung, Kontrolle, Selbstwert und Lust
Anspruch und Realität. Diese Erfahrung führt zu Demotivation, Resignation und Vermeidungsverhalten, eine Haltung,
Diese sich auf allen Ebenen abspielende soziale Benachtei-
die ihnen von der Mehrheitsgesellschaft „wie zum Hohn …
ligung von Risikoeltern wirkt sich besonders gravierend auf
als Beweis für Passivität, Faulheit und Gleichgültigkeit“13
Säuglinge und Kleinkinder aus, die die Folgen dieser Benach-
ausgelegt wird.
teiligung ungefiltert zu spüren bekommen. Dysfunktionale
Interaktionsmuster kennzeichnen die Eltern-Kind-Beziehung:
chaotische Zeitstruktur, inkonsistentes Erziehungsverhalten
46
mit einem Wechsel von Nachlässigkeit, Gewähren lassen und
‚Risikoeltern’
Überverwöhnung und andererseits unvorhersehbare, strenge Disziplinierungsmaßnahmen, häufig wechselnde Bezugs-
‚Risikoeltern’ sind den Herausforderungen der modernen
personen, Vaterabwesenheit und generell ein ausgeprägter
Gesellschaft, die Individualisierung auf der einen und Globa-
Mangel an männlichen Rollenvorbildern. Daraus resultiert ein
lisierung auf der anderen Seite mit sich bringt, in besonderer
erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Bindungsstörungen,
Weise ausgeliefert. Wenn als Folge von Individualisierung
impulsivem und provokativem Verhalten oder depressivem
neue Lebensweisen und Familienformen – z. B. Ein-Eltern-
Rückzug bei den Kindern. (siehe Abb.1)
oder Patchworkfamilien – entstehen, so stellen die damit
einhergehenden Freiheiten für Familien mit sozialer Benachteiligung eine besonders hohe Anforderung wenn nicht gar
Überforderung dar. In dem Maße, wie es keine allgemeingültigen Rollenmodelle mehr gibt, müssen alle Regeln des
Zusammenlebens selber erdacht und ausgehandelt werden,
was hohe kommunikative und Problemlösefähigkeiten voraussetzt. Zusätzlich verlangt die Struktur des Arbeitsmarktes
Mobilität und Flexibilität, Eigenschaften, die zwar euphemisiert und als Vorteile dargestellt werden, die aber im Grunde
eine „Umverteilung von Risiken vom Staat und der Wirtschaft
auf die Individuen“17 bedeuten. Sozial schwache Familien
werden von der Globalisierung mehr als alle anderen benachteiligt, da es in der Regel ihre Arbeitsplätze sind, die in
billigere Produktionsländer verlagert werden und ihnen auf
die Weise verloren gehen. Die Globalisierung eröffnet ihnen
jedoch keine Aufstiegsmöglichkeiten. Im Gegenteil, Kinder
aus armen Elternhäusern haben kaum je die Chance, sich
aus eigener Kraft durch Bildung zu emanzipieren.
Die gesellschaftliche Realität bildungsferner Menschen steht
Abb. 1. Bildungsabschlüsse im Vergleich (nach Diefenbach
et al. 2002)
Armbruster zufolge dem Grundgesetz verankerten Recht
auf Erziehung ihrer Kinder entgegen: „Pflege und Erziehung
der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die
Jugendliche, die aus sozial schwachen, bildungsfernen
zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung
Familien stammen, geraten heute in erschreckend hoher
wacht die staatliche Gemeinschaft. … Sie sind also weder
Anzahl ins gesellschaftliche Abseits und erleben sich als
Beauftragte noch Treuhänder des Staates bei der Erziehung
16
gesellschaftlich „überflüssig“ . Bei ca. einem Viertel der
ihrer Kinder.“18 Es wird vorausgesetzt, dass alle Eltern über
Hauptschulabgänger sind die Kenntnisse der zentralen
irgendwelche intuitiven Fertigkeiten zur Erziehung verfügen.
Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen mangelhaft
Grundsätzlich befähigen diese sie zur Erziehung, unabhängig
und ihre Frustrationstoleranz ist gering, so dass sie den
von Erziehungsstil und -zielen, und alle Eltern, ganz gleich,
an sie gestellten Anforderungen weder leistungsmäßig
welcher Schicht sie angehören, übernehmen zunächst unre-
noch im Sozialverhalten gewachsen sind. Ihre Erwerbs-
flektiert die Muster, die sie selber als Kinder erfahren haben.
biographien sind in der Regel von Abbrüchen, Phasen mit
Alle Eltern – so wird unterstellt – besitzen Kompetenzen,
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und/oder Arbeitslosigkeit
die für eine positive Entwicklung ihrer Kinder erforderlich
gekennzeichnet. Entsprechend gering sind ihre Sozialversi-
sind und alle sind motiviert, ihr Möglichstes für solch eine
cherungsbeiträge, Rücklagen für das Alter können sie nicht
Entwicklung tun. Alle Eltern haben den Wunsch, stolz auf ihr
bilden. Wie ihren Eltern prägt sich auch ihnen ein, dass sie
Kind zu sein, zu wissen, was ihr Kind gut kann, ihrem Kind
zwar in der Gesellschaft leben, aber dennoch nicht dazu
gute Ausbildungschancen zu geben, ihnen eine bessere
gehören. Darüber hinaus sind eine gravierende soziale Be-
Zukunft ermöglichen und eine gute Beziehung zu ihrem
nachteiligung der Familie, schlechte Zukunftschancen des
Kind zu haben. Aus dieser Diskrepanz zwischen der Realität,
Jugendlichen aufgrund eines niedrigen Bildungsniveaus so-
dass bildungsfernen Eltern aufgrund ihrer gesellschaftlichen
wie Migrationshintergrund bekanntlich diejenigen Faktoren,
Randlage Erziehungskompetenzen verloren gegangen sind
die auch die Jugendkriminalität besonders begünstigen.
und dem Recht auf Erziehung, entsteht ein gesamtgesell-
47
schaftlicher Handlungsbedarf, der von Familienpolitik und
Freire geprägt. Die Eltern-AG zielt nicht nur auf die Erhöhung
Familienbildung zurzeit nicht adäquat aufgegriffen wird.
der Erziehungskompetenz der Eltern ab, sondern auch auf
Armbruster antwortet mit seinem Empowermentkonzept
eine Veränderung der aktuellen, gesellschaftlichen wie
auf diesen gesellschaftlichen Widerspruch und Missstand.
individuellen Rahmenbedingungen in der Erziehung. „Die
(siehe Abb.2)
Erziehungsfähigkeit der Eltern ist der zentrale Schutzfaktor
der frühen kindlichen Entwicklung. Die
Eltern-AG möchte erreichen, dass sich die
von Deprivation betroffenen Eltern mit ihrer
Liebe, … ihren Fähigkeiten und Begabungen
in die Erziehung einzubringen lernen,“20 dass
sie den Kindern Zeit für ihre Entwicklung
lassen und ihnen dabei eine positive Bindungsbeziehung, emotionale Sicherheit und
Zuwendung und angemessene Stimulation
anbieten. Wenn deprivierte Eltern lernen,
dass sie selbst liebenswert und kompetente
Erzieher sind, zeichnet sich ein Weg aus der
sich über Generationen weitergegebenen
Marginalisierung ab. Erhalten sie Zuspruch
und positive Verstärkung, so können sich
gewichtige Veränderungen ergeben, die
einen günstigen Kreislauf initiieren können:
Abb. 2: Risikokonstellation für die Entstehung psychischer Störungen bei
elterlicher Deprivation
Eltern trauen sich mehr zu und werden
aktiver. Dadurch werden in ihrer Umwelt
positive Zuschreibungen ausgelöst, was
Dem Konzept der Eltern-AG liegen die Ideen der systemi-
wiederum bei ihnen zu einem positiveren Lebensgefühl führt.
schen Theorie und Praxis zugrunde, weil „sich die komplexen
„Sie werden wacher, aktiver, energischer, konzentrierter und
Probleme der Eltern-Kind-Interaktion unter den gesellschaft-
zielgerichteter in einer Weise, die durch die Überzeugung der
lichen Bedingungen der sozialen Benachteiligung auf den
eigenen Wirksamkeit gekennzeichnet ist. Eine solche Haltung
verschiedenen Systemebenen nicht lösen lassen, solange
wirkt ihrerseits anregend auf die situativen Gegebenheiten
man keine ganzheitliche Betrachtungsweise zu Grunde
zurück. Das positive Echo der Umwelt wiederum stärkt die
legt“19. Systemtheorie, Konstruktivismus, Humanistische
Überzeugung bei den Betroffenen, dass die Welt es gut mit
Psychologie, Existentialismus und Spiritualität sind der
ihnen meint.“21
philosophisch-psychologische Nährboden, aus dem das
Menschenbild der Eltern-AG sich speist. Die Menschen
Empowerment hat ganz allgemein zum Ziel, die Möglichkei-
stehen in einer unaufhebbaren wechselseitigen Abhängig-
ten von marginalisierten Menschen zu erweitern, ihr Leben
keit voneinander und von ihrer Umwelt, sie streben nach
zu bestimmen, sich ihrer Lebenskräfte selbst zu bemäch-
Selbstverwirklichung und Ganzheit. Ihre Lebensentwürfe
tigen, Experten in eigener Sache zu werden und ihnen die
sind subjektiv und müssen respektiert werden, der Einzelne
Macht über ihre gesellschaftlich bedingt so gewordenen
trägt jedoch Verantwortung für sich und seine Umwelt. Alle
Lebensverhältnisse zurückzugeben. Empowerment beinhal-
menschlichen Entwicklungen streben nach Transzendenz.
tet grundsätzlich zwei Richtungen, die Einwirkung auf sich
Für Armbruster ist ‚Risiko’-Elternschaft eine Systemstörung
selbst sowie die Einwirkung auf andere. Beide sind miteinan-
in den gesellschaftlichen Beziehungen, für die es nur eine
der verknüpft, denn die Emanzipation der Adressaten dient
gesellschaftliche, aber keine individuelle Verantwortung
immer auch der eigenen.
geben kann. Gleichzeitig ist ‚Risiko’-Elternschaft eine Zuschreibung der mächtigeren Mehrheit über eine Minorität,
Empowerment setzt eine bestimmte Haltung und Form
sie ist keine objektive Tatsache sondern eine Konstruktion,
der Kommunikation voraus, die auf der Idee der gleichen
die dem Machterhalt dient.
Augenhöhe basieren. Enthierarchisierung ist angesagt, der
Experten-Klienten-Habitus ist out. Empowerment meint
Der pädagogische Hintergrund der Eltern-AG ist von der
Selbstbemächtigung auf Seiten der Schwachen bei gleich-
Reformpädagogik nach Freinet, Korcak, Montessori und
zeitigem Disempowerment der professionellen Helfer. Werte
48
und Normen aller Beteiligten stehen gleichberechtigt neben-
Feldforschung. Im ersten Schritt nehmen sie Kontakt zu allen
einander. Die Eltern-AG-Mentoren sind Teil der Gruppe, sie
relevanten Institutionen einer bestimmten Region oder eines
sind allerdings verantwortlich für eine gleiche Verteilung von
Stadtteils auf und werben für eine Kooperation. Im zweiten
Autorität, Macht, Zuständigkeiten und Kontrolle. Hilfsstrate-
Schritt werden die Eltern ‚aquiriert’. Sie werden an Orten,
gien werden gemeinsam geplant und durchgeführt, denn die
an denen sie sich gewohnheitsgemäß aufhalten, wie zum
Mentoren widersetzen sich der „gesellschaftlich inszenierten
Beispiel Spielplätze, durch Werbemaßnahmen wie Stehgreif-
22
Hilfsbedürftigkeit“ .
theater oder Grillen zum Mitmachen eingeladen und über die
Eltern-AG informiert. Dieses Vorgehen ist eine Konsequenz
23
Das „kompensatorische Modell“
des Empowerment-Kon-
aus der allgemeinen Erfahrung, dass ‚Risiko-Eltern’ von der
zepts der Eltern-AG schreibt den ‚Risiko-Eltern’ nur in gerin-
Vielzahl der Unterstützungsangebote in Form von Elternkur-
gem Maß Verantwortung für ihre Situation zu, fordert sie aber
sen, Elterninformationsabenden etc. nicht erreicht werden,
zugleich auf, Verantwortung für die Lösung der Probleme zu
weil diese zu hochschwellig sind bzw. sie zahlreiche negative
übernehmen. Statt vorhandene Schwächen zu analysieren,
Erfahrungen mit Jugendämtern, Schulen oder Sozialarbeitern
statt Psychopathologisierung und Therapeutisierung werden
gemacht haben und deshalb Institutionen meiden. Daher
die eigenen Einstellungen hinsichtlich Selbstwirksamkeit,
nutzen die Mentoren bei der ‚Aquise’ eine Streetworkvor-
Kontrolle und Belastbarkeit in den Mittelpunkt gestellt und
gehensweise, um Zugangsbarrieren zu verringern. Sind 10
positiv konnotiert. Die Erfahrung von zunehmender Selbst-
Eltern gefunden und ein Ort ermittelt, kann sich die Gruppe
wirksamkeit im familiären Alltag führt zu einer generalisiert
konstituieren.
positiveren Ergebniserwartung und fördert das allgemeine
Vertrauen in die eigenen personalen Kompetenzen. Die
In der Initialphase finden die ersten 10 Sitzungen statt. Im
Grundpfeiler dieses Ansatzes von Empowerment sind
Fokus liegt hier die Herausbildung von geregelten Abläufen,
Ressourcenorientierung und Positive Psychologie mit ihrer
die Bearbeitung der Gruppen- und Erziehungsregeln und die
zentralen Technik des Refraiming sowie Klientenorientierung
Förderung einer Gruppenidentität. Dabei geben die Mentoren
und Lebensweltorientierung.
Rahmen und Struktur des Ablaufs vor. Die Sitzungen 11-20
bilden die Konsolidierungsphase. Während die Struktur stets
die gleiche bleibt, übernehmen nun zunehmend die Eltern die
Der Elternkurs für Kinder von 0-6 Jahren
Gestaltung der Kurstreffen und damit die Mitverantwortung
für das Gruppengeschehen. Auf Wunsch der Eltern können
Die Eltern-AG ist ein Präventionsprogramm zur Steigerung
auch zusätzliche Aktivitäten wie Spiel- und Bastelnachmit-
der Erziehungskompetenz bei ‚Risiko’-Eltern von Kindern
tage oder Ausflüge stattfinden. Nach Ablauf der beiden
zwischen 0 und 6 Jahren und für Schwangere. Das Programm
Phasen mündet die Eltern-AG in eine Selbsthilfegruppe, die
ist kostenlos und gewährleistet Vertrauensschutz sowie
dann von den Eltern selbständig weitergeführt wird.
eine Kinderbetreuung. Es können pro Gruppe zehn Eltern
teilnehmen, sofern sie die Auswahlkriterien Bildungsferne,
Jede Eltern-AG-Sitzung besteht aus drei Kernelementen á 30
soziale Benachteiligung oder Migrationshintergrund erfüllen.
min: a. „Kognition: Schlaue Eltern“, b. „Stressmanagement:
Interessenten, die diese Kriterien nicht erfüllen, werden an
Relax“, c. „Soziales Lernen in der Gruppe: Mein aufregender
andere Angebote weitervermittelt und gegebenenfalls zu ei-
Familienalltag“.24
nem Schnuppertermin begleitet. Der Ort, an dem die ElternAG stattfindet, sollte nah und erreichbar für alle Teilnehmer
Im ersten Teil ‚Schlaue Eltern’ halten die Mentoren nach
und Teilnehmerinnen sein. Jede Eltern-AG-Gruppe wird in
einer kurzen Begrüßung einen leicht verständlichen Kurzvor-
ihrer Leitung möglichst paritätisch mit einem Mann und ei-
trag von ca. 10 min zu einem der Inhalte, die sich die Eltern
ner Frau besetzt, um den Teilnehmern und Teilnehmerinnen
gewünscht haben und die für sie aktuell von Bedeutung sind.
eine Vater- bzw. Mutteridentifikation zu ermöglichen. Jede
Anschließend folgt eine Diskussion von ca. 20 min, in der die
Eltern-AG-Sitzung wird von den Mentoren standardisiert
Eltern als Experten für ihre Kinder ihre Erfahrungen zum The-
dokumentiert und evaluiert.
ma einbringen und sich austauschen können. Die Arbeit mit
den motivational hoch besetzten, persönlichen Anliegen der
Die Aktivitäten der Eltern-AG sind in zwei Phasen gegliedert,
Eltern garantiert eine hohe Aufmerksamkeit der Teilnehmer
erstens die ca. sechswöchige Vorlaufphase zur ‚Aquise’
und Teilnehmerinnen. Gleichzeitig erhöht das gesteigerte
der Eltern und zweitens die Gruppentreffen mit Initial- und
persönliche Engagement ihre Aufnahmebereitschaft und
Konsolidierungsphase mit 20 Treffen á 1,5 Stunden. In der
damit auch ihr Selbstbewusstsein.
Vorlaufphase betreiben die Mentoren eine Art zweischrittige
49
Bei ‚Risiko-Eltern’ führt der Alltag zu Dauerstress und zu
verschiedenen Ansätzen der autoritativen Erziehung ent-
einem Erregungsniveau, das permanent überhöht ist, Vor-
nommen und sollen den Eltern eine Orientierung für ihren
bilder für einen konstruktiven Umgang mit Stress haben sie
Alltag geben. Mit autoritativ ist hier gemeint, dass Kinder
nicht. Sie empfinden, ohne es zu wollen, ihre Kinder als große
nicht gleichrangig aber gleichwertig sind, dass die Beziehung
Belastung bzw. als Ursache für ihren Stress, dabei werden
zwischen Eltern und Kindern aufgrund unterschiedlicher
diese zu Empfängern der negativen Emotionen. In den
Erfahrungs- und Wissensstände asymmetrisch ist und sein
ersten 15 min des ‚Relax’-Teils erzählen sich die Eltern ge-
soll. (siehe Abb.3)
genseitig, wie sie mit Stress umgehen, welche Lösungen sie
versucht und zu welchen Ergebnissen diese geführt haben.
Die Mentoren lenken dabei die Aufmerksamkeit der Eltern
auf ihre Körperwahrnehmung und unterstützen sie dabei,
ihre Selbstwahrnehmung zu sensibilisieren. In den zweiten
15 min greifen die Mentoren die Erfahrungen der Eltern auf,
laden zum Ausprobieren ein oder sie bringen Übungen als
Anregung mit, die die Eltern für sich oder gemeinsam mit
ihren Kindern zuhause als Inseln der Entspannung in ihren
ELTERN-AG
Randgruppen
-Eltern
Tag einbauen können.
Das dritte Kernelement ‚Mein aufregender Familienalltag’
bietet den Eltern 30 min, die sie zur freien Diskussion über
Themen ihrer Wahl, zum Vertiefen bestimmter Erziehungsthemen oder für Berichte aus ihrem Alltag nutzen können.
Die Mentoren achten darauf, die Versuche der Eltern zu würdigen und sie in der Überzeugung, ihre Kinder zu lieben und
sich um eine positive Erziehung zu bemühen, zu bestärken.
Die Mentoren versäumen keine Gelegenheit, die Versuche
Abb. 3: Das Strukturmodell der ELTERN-AG
der Eltern positiv zu konnotieren, sie zu loben und sie anzuerkennen. Eltern werden in dem Prozess, ein stärkeres
In der Eltern-AG wird vor allem auf implizite Lernvorgänge
Selbstvertrauen im Hinblick auf ihre Erziehungskompetenz
gesetzt, also auf die unbewusste Aneignung von Fertigkei-
zu gewinnen, unterstützt und darin bestärkt, dieses Selbst-
ten und Erfahrungen. Armbruster geht davon aus, dass sich
vertrauen auch auf Situationen im Alltag, etwa Gespräche
psychische Grundbedürfnisse in Vermeidungs- und Annähe-
mit Erziehern oder Lehrern, zu transferieren.
rungsschemata manifestieren.27 Menschen mit bruchstückhaften Bildungskarrieren können bei der Konfrontation mit
Inhaltlich unterfüttert werden die drei Kernelemente von den
25
expliziten Lernvorgängen erhebliche Widerstände mobilisie-
Mentoren mit den „Sechs goldenen Erziehungsregeln“ :
ren. In impliziten, unbewussten Lernsituationen ist es für sie
Respekt vor dem Kind, Förderung und Ansprechbarkeit,
leichter neues Verhalten einzuüben, Vermeidungsverhalten
Grenzen-Setzen und Konsequenz, Verstärkung des er-
ablegen und zu einer „Haltung des Annäherns“28 gelangen.
wünschten Verhaltens und Ignorieren des unerwünschten
Der Teil ‚Kognition’, in dem es um explizite, bewusste Wis-
Verhaltens, Konstruktives Austragen von Konflikten und
sensaufnahme geht, wird deshalb gezielt kurz gehalten.
Gewaltfreie Erziehung. Die Regeln werden nicht wie bei den
anderen Elternkursen nacheinander und aufeinander auf-
Die Mentoren haben die Funktion von Begleitern und Ermög-
bauend behandelt, sondern sie werden von den Mentoren in
lichern, die sich auf gleicher Augenhöhe mit den Teilnehmern
die Kurzvorträge und Gespräche mit den Eltern eingebracht,
und Teilnehmerinnen befinden. Sie zeichnen sich aus durch
sozusagen en passant. Ziel ist, dass daraus für die Eltern ein
„empathisches Moderieren, vollständiges und bedingungs-
gemeinsames Arbeitsmodell wird, „das sich im Laufe der
freies Akzeptieren und Echtheit, … und eine Haltung des
Entwicklung zu einer Art von allgemeinem Weltverständnis
Nichtwissens“29. Sie tragen die Verantwortung für eine posi-
verfestigt“26 und sich ihnen eher implizit als explizit einprägt.
tive Gruppenatmosphäre und für eine Kultur des Lobes und
Die Eltern-AG geht davon aus, dass es bestimmte, basale
der Wertschätzung. Sie bereiten den fruchtbaren Boden, auf
Erziehungspraktiken gibt, die ein gutes Klima in einer Familie
dem positives Erfahrungslernen stattfinden kann und zielen
erzeugen und risikoreiche Lebensbedingungen weitgehend
mit ihren Interventionen stets auf die Befriedigung ungestill-
neutralisieren können. Die sechs Regeln wurden aus den
ter Grundbedürfnisse der Eltern nach Selbstwirksamkeit,
50
Akzeptanz und Bestätigung, nach Selbstwerterhöhung und
eigene unbewusste innere Haltung zum Kind zu verändern.
Steigerung des Wohlbefindens.
Körperübungen als Bestandteil eines Elternkurses sind ein
guter Weg zu besserer Selbstwahrnehmung und Entspan-
In die Eltern-AG-Treffen werden erwachsenenpädagogische
nung, können Lernvorgänge allgemein und eine positive
Methoden eingebaut, die das implizite Lernen spielerisch un-
Eltern-Kind-Beziehung im Besonderen unterstützen helfen.
terstützen und den Eltern ermöglichen, neues Wissen leicht
und nachhaltig aufzunehmen. Dabei sollen möglichst alle
Ob dieses Programm geeigneter ist für bildungsferne Eltern,
Sinne der Teilnehmer und Teilnehmerinnen angesprochen,
ob sie mit diesem zufriedener sind als sie es mit anderen
abstrakte Konzepte konkret gemacht, bereits bekannte
wären, ob sie sich in einer bildungsspezifisch homogenen
Informationen genutzt, Emotionen ausgelöst, Interesse ge-
Gruppe eher akzeptiert, unterstützt und zugehörig fühlen
weckt, Lust und Spaß bereitet, vereinfacht und ohne Zwang
und besser lernen können als in einer bildungsheterogenen,
wiederholt werden. Die seit den Anfängen der Eltern-AG ge-
ob sich die sechs goldenen Regeln nachhaltig zu einem
sammelten Methoden tragen der spezifischen Struktur der
‚allgemeinen Weltverständnis’ verfestigen, ob ihnen der
Teilnehmer und Teilnehmerinnen Rechnung. Es sollte kein
Transfer von der Eltern-AG-Erfahrung zum Umgang mit den
Schreiben erforderlich sein, eine Exponierung Einzelner wird
Institutionen gelingt und ob sich schließlich alle Eltern-AG-
ausgeschlossen, Übungen, die engen Körperkontakt erfor-
Teilnehmer und -Teilnehmerinnen empowern (lassen) wollen,
dern, werden gemieden. Am Ende der Eltern-AG erhalten alle
muss anhand von Evaluations- und Forschungsergebnissen
Eltern das Zertifikat ‚Elternführerschein der Eltern-AG’ sowie
überprüft werden.31 Wenn aber ein Weg von der Ich-AG zur
ein Schatzbuch, das alle Tipps und Tricks, Bilder, Spielanlei-
Eltern-AG, von der Vereinzelung zur Gemeinschaft, wenn
tungen, Pläne zur Vorbereitung von Festen und dergleichen
Reintegration in Richtung Mitte der Gesellschaft im Sinne von
enthält und die in der so genannten ‚Schatzkiste’ gesammelt
mehr Partizipation glücken soll, dann ist eine Gruppe Gleich-
wurden.
gesinnter nötig, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, sich empowern lassen und sich selber empowern.
Empowerment als eine „Option für die Armen
und die Anderen“?
Der besonders niedrigschwellige Zugang zur Eltern-AG ist
sicher ein entscheidender Vorteil, wenn es darum geht,
bildungsferne Eltern zu erreichen und zu gewinnen. Diesen
Prof. Armbruster alias ‚Commander M. Power’ ist ein „Sozial-
Eltern auf Augenhöhe zu begegnen, heißt nichts anderes,
romantiker, der keine Ungerechtigkeit erträgt und unerschüt-
als ihre Menschenwürde zu achten und sie als gleichwer-
terlich an das Gute im Menschen glaubt“30, und von diesem
tig anzusehen. Das ist für jede Form von sozialer Arbeit
Glauben ist jedes Kapitel des Buches durchdrungen. Allein
Voraussetzung, wenn sie erfolgreich sein will. Es ist ein Teil
sein Enthusiasmus und seine evidenzbasierte Überzeugung,
des Expertentums der Mentoren, dass sie ihre möglichen,
dass die Eltern-AG einen relevanten Beitrag zur Änderung
schichtspezifischen Vorurteile reflektieren und nicht agieren.
der schier aussichtslosen Lage von marginalisierten Eltern
Wenn Fachleute und Bildungsferne also einander auf Augen-
liefern kann, macht dieses Buch lesenswert.
höhe begegnen, kann auf beiden Seiten eine „Haltung der
Annäherung“32 stattfinden.
Unmittelbar einleuchtend ist, dass die Situation der Sozial
Schwachen eine gesamtgesellschaftliche Lösung verlangt,
Dass die Emanzipation der Anderen immer auch der eigenen
die sich gegen Marginalisierung richtet und für Partizipation
dient, ist der Kerngedanke des Empowermentkonzepts, wie
sorgt und nicht auf dem Rücken von Pädagogen, Thera-
Prof. Armbruster es versteht. Dieses Konzept findet seine
peuten und Jugendämtern ausgetragen werden kann. Das
Entsprechung in einem von der Befreiungstheologie abge-
Empowerment-Konzept, das in der amerikanischen Gemein-
leiteten christlichen Menschenbild, welches beinhaltet, dass
wesenarbeit entstanden ist und einen emanzipatorischen
„ich meine Freiheit nur behaupten und beanspruchen kann,
Anspruch birgt – in Deutschland bekannt gemacht und
wenn ich sie gleichzeitig für alle Menschen behaupte“33.
verbreitet durch Heiner Keupp, Professor für Sozial- und Ge-
Insofern kann Empowerment auch als eine Form von Nächs-
meindepsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität
tenliebe, nämlich als „Option für die Armen und die Anderen
München –, ist als Fundament und übergeordnetes Ziel
(Fremden)“34 gesehen werden. Empowerment wäre dann
eines Elternprogramms sicher geeignet. Implizites Lernen ist
das weltliche Gegenstück der christlichen Praxis, die auch
ein wichtiger Lernvorgang, wenn es, wie in der Kindererzie-
„nur dann richtig [ist], wenn sie … sich nicht nur um die Op-
hung, nicht nur um Wissenszuwachs geht sondern vor allem
fer auf der ‚Strasse nach Jericho’ kümmert sondern bei der
darum, neue, ermutigende Erfahrungen zu machen und die
Bekämpfung der Räuberei mitwirkt.“35
51
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
Carl Auer Verlag, Heidelberg 2006; www.eltern-ag.de
Der MAPP e.V. ist der gemeinnützige Mitgliederverein der Magdeburger
Akademie für Praxisorientierte Psychologie und arbeitet als An-Institut
eng mit der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH) zusammen: mapp-ev.
org
Prof. Meinrad Armbruster, Lehrtherapeut und Supervisor in systemischer Beratung und Therapie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Psychologischer Psychotherapeut, seit 2000 Professor für
Pädagogische Psychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal
Sich und andere dazu befähigen, das eigene Leben selbstverantwortlich zu gestalten.
Eltern-AG, S. 12
Ebd., S. 6
Thesenpapier zum Magdeburger Memorandum, EmpowermentKongress, Magdeburg 2007, S. 1
Eltern-AG, S. 42
Ebd.
Ebd., S. 142ff
Ebd., S. 18f
Ebd., S. 191
Ebd., S. 33
Ebd., S. 23
Ebd., S. 36
Ebd., S. 146
Ebd., S. 150
Ebd., S. 151
Ebd., S. 157
Ebd., S. 164
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
Ebd., S. 171
Ebd., S. 173
Ebd., S. 174
Ebd., S. 39ff
Ebd., S. 42
Ebd., S. 44
Ebd., S. 190f
Ebd., S. 45
Ebd., S. 27
Ebd., S. 12
Hier wäre es lohnenswert, einen Vergleich der Lernmethoden und
-erfolge verschiedener Elternprogramme im Hinblick auf ihre Bildungsund Schichtspezifik anzustellen.
Vgl. Anm. 26
Hermann Steinkamp in: „Qualitätsentwicklung – Eine Option für die
Güte“, hrsg. von Maria Dietzfelbinger u. Achim Haid-Loh, Untersuchungen aus dem Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung, Berlin,
Nr. 19, Berlin 1998, S. 308
Ebd., S. 308
Ebd., S. 307
Angaben zur Autorin
Juliane Meyer-Clason ist Erwachsenenpädagogin und Psychologische
Ehe-, Lebens- und Familienberaterin (EZI). Sie arbeitet freiberuflich in Berlin
und Potsdam als Beraterin und Leiterin von Elterngruppen.
Martin Koschorke
Paarberatung am Rande der Taiga
Khabarovsk. Hauptstadt des „Fernen Ostens“, einer der sie-
die Grenze gekommen, suchen sie der russischen Polizei zu
ben Regionen Russlands, 8.500 Km hinter Moskau. Zwischen
entgehen, die sie gerne aufgreift und abschiebt.
Holzhäusern und sozialistischen Wohnblocks schießen
Glaspaläste, modernste Wohnanlagen und orthodoxe Kir-
Der Sommer bringt mit bis zu 40° fast unerträgliche Hitze,
chen mit vergoldeten Kuppeln aus dem Boden. Zwei grüne,
Stechmückenschwärme und Waldbrände, die die Sicht ver-
blumenreiche Alleen durchziehen die Stadt bis zu den Ufern
hüllen und das Atmen erschweren. Die Winter bescheren
des Amur, einem der mächtigsten Ströme der Erde, 2.800
Temperaturen bis zu –40° und die Eisskulpturen lokaler
Km lang, auf Hunderten von Kilometern Grenze zwischen
Künstler. Die schönste Jahreszeit ist der September, er taucht
Russland und China. Auf der Ulica Muravjeva Amurskogo,
die Landschaft in goldenes Licht. Unweit der Stadt beginnt
dem Nobelboulevard, bieten Läden in geschmackvoll res-
die Taiga, wo sibirische Tiger – kräftiger und schwerer als ihre
taurierten Gebäuden der Gründerzeit bis spät in den Abend
indischen Vettern – und Bären in Wildnis leben.
alles, was westlicher und neuerdings auch russischer Luxus
zu bieten hat. Der nahegelegene Markt beeindruckt durch
Die Ureinwohner, die Nanai, haben sich an den Rand der
das Völkergemisch dieses Riesenlandes, Russen mit hellen
Zivilisation zurückgezogen. Dort suchen sie ihre Sprache
blauen Augen, Kasachen, Tartaren, Burjaten, Koreaner – sie
und Kultur zu wahren. Stolz zeigen sie Steinskulpturen aus
sind die Nachkommen jener Gefangenen, die die Japaner
prähistorischer Zeit und Handarbeiten mit Farben und For-
im russisch-japanischen Krieg missbrauchten und die Korea
men unglaublicher Schönheit, die an die Kunstwerke aust-
nicht wieder aufnehmen will – Chinesen, Mongolen. Letztere
ralischer Aborigines erinnern und direkt zum Unbewussten
verstecken sich eher. Auf der Suche nach Arbeit illegal über
sprechen.
52
Angst vor dem großen Nachbarn
Die sozialen Unterschiede sind enorm und haben sich den
Jahren der Herrschaft Putins noch verschärft. Eine junge
Der ferne Osten Russlands ist ein Land grenzenloser Weite.
dynamische Mittelschicht treibt Handel mit der ganzen Welt
Auf einer Fläche, die fast der Größe Westeuropas entspricht,
und fährt flotte japanische oder westeuropäische Autos,
leben 4 Millionen Menschen. Auf der anderen Seite der
vielen Alten geht es schlecht, bei rund 100 € Monatsrente.
russisch-chinesischen Grenze, in der Mandschurei, sind es
260 Millionen. Von den eleganten Terrassen Khabarovsks
am Ufer des Amur geht der Blick bei klarem Wetter über
Die abgebrannte Datsche
den drei Kilometer breiten Strom hinüber zu den Hügeln
Chinas. China ist allgegenwärtig. Nach China fährt man in 40
Kaum zu Stillen ist der Durst nach allem Wissen, das mit
Minuten mit einem Flussdampfer, um billig einzukaufen oder
Psychologie zu tun hat. Bis 1990 gab es in Russland östlich
sich massieren zu lassen. Aus China kommen Gemüse und
des Urals keinen einzigen Doktor in Psychologie. Das heißt,
Orangen. Nach Südchina fliegt man, um günstig Urlaub zu
Psychologie existierte nicht als Lehrfach an Hochschulen
machen. Aber China beunruhigt. „Es sind so viele!“ hörte ich
und Universitäten. Klarissa Vorobjeva war die erste ost-
immer wieder. Ansiedlungen unter einer Million gelten dort
russische Psychologin, die in Psychologie promovierte, in
noch nicht einmal als Stadt.
St. Petersburg, mit einer Arbeit über die therapeutische
Wirkung des Buches. Dort lernte sie auch Psychoanalyse.
Freitag im September ist ein beliebter Hochzeitstag. Ohne
Nach Khabarovsk zurückgekehrt gründete sie den fernöst-
Probleme kann man da drei Tage lang bei schönem Wetter
lichen Psychologenverband um zu verhindern, dass sich
feiern. Eine kirchliche Trauung gehört dazu. Die orthodoxe
eine Reihe rivalisierender Fachverbände entwickelt. Sie und
Kirche hat ihre einstige soziale Funktion wiedergefunden: An
ihre Freundin Galina Puchkova verkauften ihre Wohnungen
Stelle der Partei, die abgedankt hat, verkörpert sie russische
und gründeten das Fernöstliche Institut für Psychologie und
Identität und Tradition, unter wohlwollender Billigung durch
Psychoanalyse, das beide heute leiten.
Regierung und Geheimdienst. Fast alle Gotteshäuser sind,
dank privater Spenden, aufwendig renoviert. Reiche Paare
Das Institut ist privat, lebt ohne staatliche Unterstützung und
lassen sich in der vor zwei Jahren neu errichteten Kathedrale
hat drei Fakultäten: je eine für Psychologie, für Psychoanaly-
einsegnen, deren goldener Zwiebelturm weithin zu sehen
se und für Psychologie im Management. Die Kurse sind voll,
ist, ärmere Paare in einfachen Gotteshäusern. Oftmals
obwohl die Abschlüsse den Absolventen meist keine klare
heiraten mehrere Paare zusammen. Danach geht es zum
berufliche Perspektive bieten. Das Lehrpersonal – überwie-
ausführlichen Fototermin, entweder vor den Wasserspielen
gend Frauen, davon inzwischen fünf Personen mit Promotion
des Leninplatzes oder auf den Uferterrassen des Amur.
und psychoanalytischer Zusatzausbildung. Die Teilnehmer
Mischehen sind nicht selten, und sie sind kein Problem.
an der Fortbildung in Paarberatung, zu der ich eingeladen
Aber kein russischer Junge heiratet ein chinesisches Mädchen.
war – nur Frauen. Überall begegnete ich dem gleichen Inter-
Dagegen kommen zunehmend chinesische Männer ins Land,
esse, einer fast unstillbaren Sehnsucht, sich selbst kennen zu
um Russinnen zu heiraten. Mir wurde ein Fall berichtet, wo
lernen, Prozesse zu verstehen, zu wissen, zu lernen. Ob es
der chinesische Ehemann des Landes verwiesen wurde, weil
die Studierenden des Instituts waren oder die 300 Studenten
er nachweislich zum chinesischen Geheimdienst gehört. Die
der psychologischen Fakultät der Universität, stundenlang
russische Mutter besucht ihren Mann nun mit ihrer Tochter alle
saßen sie mucksmäuschenstill und sogen die Informationen
drei Wochen in Harbin in der Mandschurei. Die Russen befürch-
auf wie trockene Schwämme: über Trennungsberatung und
ten, dass solchen Heiraten politische Absicht zugrunde liegt.
Mediation, Schwangerschaftskonflikt und Pränataldiagnostik. Nachher kamen sie mit ihren Fragen nach Paardynamik,
Mädchen müssen schön sein und Jungen stark, so wurde
Abbruchsregelung und Homosexualität.
mir erklärt. Und die jungen Frauen in Khabarovsk sind schön,
hoch gewachsen, mit leicht distanziert-kokettem Blick, gut
Im lokalen Fernsehsender, beim Warten auf ein Interview,
gekleidet, häufig im Minirock und auf extrem hohen Stöckel-
fragte mich der Chef der familientherapeutischen Abteilung
schuhen. Die Männer kleiden sich eher dunkel, traditionell
des städtischen Krankenhauses, was ich von Bert Hellinger
im Anzug. Die Küche scheint Domäne der Frauen zu sein,
halte. „Faszinierend und gefährlich,“ antwortete ich. Sein
das Schaschlik am Wochenende Sache der Männer. Um die
Team nahm sich zwei Stunden Zeit, um mit mir meine fünf
Kinder kümmern sich beide. Lehrer, Arzt und Richter sind
Vorbehalte gegenüber Person und Methode Hellingers zu
weitgehend Frauenberufe, die Männer streben ins Business.
diskutieren. In Russland besteht eine große Nachfrage nach
Zum Leben reicht ein Beruf oft nicht aus.
zeitgemäßer Psychologie. Dieser Markt wird derzeit von den
53
verschiedensten westlichen Therapieverfahren geradezu
die Brandstifter hatten sich in der Etage geirrt. Wieder einen
überschwemmt – wie in der ehemaligen DDR Anfang der
Tag später erhielt sie einen anonymen Anruf: Hältst Du Deine
neunziger Jahre.
Kandidatur immer noch aufrecht? Anzeigen bei der Polizei
blieben ergebnislos. Im Gegenteil, die Polizei wollte ihr noch
Um die Interessen von Psychologie und Beratung auch poli-
eine Strafe verpassen – der Brand ihres Landhauses habe die
tisch zu vertreten wurde Klarisa Vorobeva von der Hochschu-
anderen Häuser des Dorfes gefährdet. Sie konnte jedoch an
le, an der sie Vorlesungen hält, gebeten, bei den im Februar
Hand von Rechnungen beweisen, dass alle Bauarbeiten von
2007 anstehenden Wahlen als unabhängige Abgeordnete für
öffentlichen Firmen unter Beachtung der entsprechenden
das von der Regierungspartei dominierte Regionalparlament
Vorschriften ausgeführt worden waren.
zu kandidieren. Daraufhin brannte ihre Datsche ab, in die sie
mich im Herbst des vergangenen Jahres noch eingeladen
Klarissa Vorobeva ist inzwischen Duma-Abgeordnete. Dort
hatte. Kriminelle Brandstiftung, meinten die Feuerwehrleu-
setzt sie sich für die Belange der Familien, der Frauen, Kinder
te. Tags darauf brannte es in der Wohnung, die unter ihrer
und Jugendlichen ein.
Stadtwohnung im zehnten Stock eines Hochhauses liegt –
Rezensionen
Margret Hauch (Hrsg.)
Paartherapie bei sexuellen Störungen
Das Hamburger Modell: Konzept und Technik
Unter Mitarbeit von S. Cassel-Bähr, G. Galendary, R.A. Kleber, C. Lange, P. Linzer, W. F. Preuss und A. Rethemeier
Stuttgart: Thieme 2006, 204 S., ISBN 3-13-139451-X, € 39,95
Sexuelle Funktionsstö-
Im Jahr 1970 wurde das Buch „Human Sexual Inadequacy“
rungen kommen in der
von Masters und Johnson veröffentlicht. Die beiden amerika-
Durchschnittsbevöl-
nischen Sexualforscher stellten in diesem Buch erstmals
kerung häufig vor. In
ihren paartherapeutischen Ansatz zur Behandlung sexueller
der Beratungssituation
Funktionsstörungen dar, der in den USA, in Canada und
werden sie dennoch
Europa die Sexualtherapie revolutionierte. Dieser Ansatz
verhältnismäßig selten
wurde in der Folge u.a. von der Abteilung für Sexualfor-
thematisiert.
Berater
schung am Universitätskrankenhaus Eppendorf in Hamburg
berichten in diesem
übernommen und in den folgenden Jahren weiterentwickelt,
Zusammenhang, sich
modifiziert und im Rahmen eines Forschungsprojekts der
für diese Fragen nicht
DFG evaluiert. Psychodynamisches und paardynamisches
genügend ausgebildet
Verständnis der sexuellen Symptomatik ergänzte die eher
zu fühlen und nicht
verhaltenstherapeutische Herangehensweise von Masters
zu wissen, wie eine
und Johnson und wurde ein wichtiges Kennzeichen des
wirksame Beratung und Behandlung sexueller Störungen
Hamburger Modells. 1980 wurde das „Hamburger Modell
aussehen könnte.
der Paartherapie sexueller Störungen“ erstmalig in Form eines Behandlungsmanuals von Gerd Arentewicz und Gunter
Das o.g. Manual, geschrieben von M. Hauch und dem Team
Schmidt vorgestellt. Dieses Buch war für Ausbildung und Pra-
Hamburger Paartherapeuten der Zweiten Generation, bietet
xis der Sexualtherapeuten im deutschsprachigen Raum von
eine hervorragende Möglichkeit, sich über die Paartherapie,
großer Bedeutung und erlebte drei Auflagen. Nach nunmehr
aber auch die Einzeltherapie bei sexuellen Störungen genau-
25 Jahren wurde dieses Buch grundlegend überarbeitet.
er zu informieren.
Damit werden die Weiterentwicklungen dieses erfolgreichen
54
Behandlungsmodells einem größeren Publikum zugänglich
Mit dem Einbeziehen des Körpers und seiner Lerngeschichte
gemacht. M. Hauch und ihre KollegInnen sind alle sowohl in
eröffnet diese Therapiemethode Zugang auch zu vorsprach-
der Ausbildung angehender Sexualtherapeuten in Hamburg
lichen Erfahrungen und erlaubt, im Rahmen der Therapie mit
wie auch in der praktischen Arbeit als Therapeuten sexueller
der verändernden Potenz neuer Berührungs- und Begeg-
Störungen tätig.
nungserfahrungen zu experimentieren. Auch für Patienten
mit Störungen der Sexualität im Rahmen körperlicher Erkrankungen oder Behinderungen oder bei physisch oder sexuell
traumatisierten Patienten ist durch diese Methode ein neuer
Was ist das Besondere am Hamburger Modell?
Zugang zur Sexualität möglich. Hier gibt es einen konkreten
Handlungs- und Erfahrungsraum neben der Sprache. Bei
Es weist drei wesentliche Elemente auf:
dieser erfahrungsorientierten Therapie sind die Klienten von
1.
Das Paar wird behandelt, wenn die sexuelle Störung im
Anfang an mitgestaltend, handelnd und reflektierend in den
Kontext partnerschaftlicher Sexualität auftritt und beide
therapeutischen Prozess einbezogen. Durch die durchge-
Partner zu einer Therapie motiviert werden können.
hende Betonung und Stärkung der Selbstverantwortlichkeit
Die therapeutische Arbeit orientiert sich am Fokus
und Selbstwirksamkeit im Therapieprozess und durch die
körperlicher Erfahrungen und Interaktionen (zwi-
konkrete Erfahrung, dass Veränderung, Lernen und Ausein-
schen den therapeutischen Sitzungen macht das Paar in
andersetzung möglich sind, wird Autonomie entwickelt. Das
Einzelübungen und Paarübungen neue körperliche Erfah-
Wahrnehmen und Vertreten eigener Grenzen wird ebenso
rungen, dies anhand klar strukturierter Verhaltensvorga-
gefördert wie die Bereitschaft, diese Grenzen handelnd aus-
ben, die aus den von Masters und Johnson entwickelten
zuloten und den eigenen und partnerschaftlichen Spielraum
Übungen entwickelt wurden. Auf diese Weise wird im
zu erweitern. Das von Schnarch in den USA - und in der Folge
Rahmen der Therapie - um mit Winnicott zu sprechen
von Clement in Deutschland - als Differentiation bezeichnete
- durch die klar strukturierten Handlungsvorgaben ein
Modell von Individuation im Rahmen einer Partnerschaft ist
sicherer Ort für neue Lernerfahrungen geschaffen, ein
somit nicht neu, sondern seit jeher ein wichtiges Anliegen
„optional space“. Es wird ein Erfahrungs- und Spielraum
des Hamburger Therapiemodells. Bei den Übungen und im
eröffnet, in dem ein neues Kennenlernen des eigenen
therapeutischen Gespräch kann praktiziert werden, was
Körpers, der eigenen sexuellen und partnerbezogenen
Stierlin als „bezogene Individuation“ bezeichnet hat.
Wünsche wie auch ein genaueres Kennenlernen des
Im Manual wird deutlich, wie mit der Entwicklung von Selbst-
Partners - mit dessen sexuellem Erleben, Wünschen
verantwortung, eigenverantwortlichem Handeln und neuen
und Ängsten - möglich wird.
körperlichen und seelischen Erfahrungen im Rahmen der
Ausgehend von diesen Erfahrungen ist Sexualität
„Übungen“ Auseinandersetzung, Versöhnung, Wachstum,
explizit Thema und Vehikel und steht im Fokus der
echte Begegnung und Intimität möglich wird. Diese Erfah-
psychotherapeutischen Arbeit. Zum einen sind es die
rungen sind in einen therapeutischen Rahmen eingebettet,
neuen Körper-und Beziehungserfahrungen selbst, die
der seitens der Therapeuten von einer Haltung der Transpa-
einen veränderten Umgang mit sich selbst und dem
renz, des Respekts und Achtung gegenüber den Patienten
Partner ermöglichen. Außerdem werden aufgrund der
ausgeht, aber Konfrontation im Dienste der Entwicklung
individuellen Erfahrungen bei den Übungen intra- und
möglicher Potentiale zwingend beinhaltet und somit Modell
interpersonelle Klärungen und Auseinandersetzungen
ist für den Umgang des Paares miteinander.
2.
3.
möglich - z. B. mit den Vorbildern und Aufträgen der
eigenen Herkunftsfamilie bezüglich Sexualität - die im
Prozess der Therapie bearbeitet werden können.
Zum Aufbau des Manuals:
Das empathische Verstehen sexueller Erlebensweisen und
sexueller Symptome im Kontext der jeweiligen Biografie,
Im einleitenden Theorieteil wird das praxisnahe Vorgehen
aber auch der jeweiligen Paargeschichte und -dynamik, ist
besonders deutlich.
Grundlage dieser Therapie und wird anhand vieler klinischer
Die drei Kapitel „Wer wird behandelt?“, „Was wird behan-
Beispiele verdeutlicht.
delt?“ und „Wie wird behandelt?“ stellen die Indikationen,
die Vorraussetzungen seitens der Patienten und die behan-
Die Bedeutung von Lerndefiziten und Selbstverstärkungs-
delbaren Störungen vor und machen mit den Grundlagen
mechanismen und die Möglichkeit, diese durch eigenes Ver-
des therapeutischen Vorgehens vertraut.
stehen und Handeln aufzulösen, kann eindrucksvoll gezeigt
werden.
55
Der 2. Teil des Buches ist der genauen Darstellung des
Das Manual ist so konzipiert, dass der Text auch für Sexu-
konkreten Ablaufs einer Paartherapie bei sexuellen Störun-
alberater sowohl für die Arbeit mit Einzelnen wie auch mit
gen gewidmet.
Paaren Anregungen bietet.
Ein detaillierter Leitfaden zur Sexualanamnese sowie Dar-
Nach den Beschreibungen der Ziele der jeweiligen Therapie-
stellungen einzelner Übungselemente sind hilfreich für die
phase wird das konkrete therapeutische Vorgehen erläutert
Praxis.
und mit vielen Fallbeispielen veranschaulicht.
In einem Unterabschnitt werden die für die jeweilige Thera-
Zu empfehlen ist dieses Buch allen, die bereits im Bereich
piephase wichtigen Themen diskutiert.
von Sexualberatung oder Sexualtherapie tätig sind - aber
auch allen BeraterInnen, ÄrztInnen und PsychotherapeutIn-
Trotz der Beteiligung vieler Autorinnen und Autoren ist
nen, die ihre Kompetenz in der Beratung und Behandlung
die Darstellung kohärent und gut lesbar. Die Ebene der
sexueller Störungen verbessern wollen.
körperlichen Erfahrungen in den Einzel- und Paarübungen,
der Prozess der Therapie, die verhaltenstherapeutische,
Dr. Ruth Gnirrs-Bormet
psychodynamische und systemische Elemente beinhaltet,
kann vermittelt werden.
Dr. Roland Weber (Hrsg.)
„Paare in Therapie – Erlebnisintensive Methoden und Übungen“
2006, 1. Aufl. 240 S. Pbm, Klett-Cotta, ISBN-13: 9783608890280
Was machen Sie in Ihren
zu einer erlebnisorientierten Paarberatung, der von einem
Paarberatungen,
wenn
sehr erfahrenen Meister des Fachs zusammengestellt wurde
diese festgefahren sind,
und sehr universell, d.h. meinem Erachten nach auch thera-
wenn
pieschulenübergreifend einsetzbar ist.
die
Erkenntnisse
der Supervision nicht so
richtig greifen, wenn Sie
Der Einstieg in das Buch, sozusagen der oberste Schub
sehr gut den Konflikt oder
dieses Handwerkskastens, ist sehr kurz, fast schon zu kurz.
die Dynamik des Paares
In zwei knappen Kapiteln wird der theoretische Hintergrund,
erkannt haben, aber das
von dem der Autor ausgeht, sowie die Bedeutung und das
Paar sich weigert, sich
Verständnis erlebnisintensiver Methoden in der Paarbera-
auf Sie und die Beratung
tung skizziert. Beim ersten Lesen des Buches war ich an
einzulassen. Kurz gesagt,
dieser Stelle etwas unzufrieden und wollte ausführlicher
was machen Sie, wenn Sie
über Roland Webers theoretische Konzeption von Paarthe-
mit Ihrem Latein am Ende
rapie informiert werden. Doch wie würde das Buch wirken,
sind. Vielleicht beginnen Sie in der Literatur nach neuen
wenn an dieser Stelle mehr stände und es mit einem Mal 400
Methoden zu suchen, wie man das Paar und die Therapie
Seiten hätte. Das Buch wäre dicker, schwerer, würde nicht
aus dieser Erstarrung befreien kann. Mit Roland Webers
mehr in die Manteltasche passen und wäre schon ein Werk-
Buch „Paare in Therapie – Erlebnisintensive Methoden und
zeugschrank. Es wäre kurzum ein anderes Buch. Außerdem
Übungen“ wird Ihnen nun diese Suche erleichtert. Auf ca.
verweist Roland Weber ja auf weiterführende Literatur und
270 Seiten sind sehr anschaulich Interventionen in ihrem
löst dieses vermutlich auch für ihn bestehendes Problem der
praktischen Ablauf dargestellt und mit unzähligen Fallbe-
Kürze. Und jetzt nach einem weiteren Lesen denke ich, dass
spielen illustriert. Sie erhalten also einen Handwerkskasten
er gut daran tat.
56
Kapitel 3 schildert 18 Werkzeuge, so genannte Kurzinterven-
Teile-Arbeit beispielsweise werden zuerst die theoretischen
tion in der Paarberatung. Damit sind Übungen gemeint, die
Ansätze von Parts Party nach Virginia Satir, der Inneren
in jeder Phase der Paarberatung ohne große Vorbereitung
Familie von Richard Schwartz, der Konferenz mit der inne-
einsetzbar sind. Das heißt aber nicht, dass diese Interven-
ren Familie von Gunther Schmidt sowie der Metapher vom
tionen nicht gut eingebettet sein sollten, wie Roland Weber
inneren Team nach Friedrich Schultz von Thun vorgestellt.
richtigerweise andeutet. Diesen Gedanken wünschte ich
Danach schließt sich die Darstellung des methodischen Vor-
mir noch ein wenig ausgearbeiteter, beobachte ich doch
gehens an, dass in einem ersten Schritt die „Teile-Sprache“
teilweise einen sehr intuitiven Umgang mit Methoden in der
eingeführt werden muss, um danach das Innere Team zu er-
Paarberatung.
heben, dann aufzustellen und schließlich nach bestimmten
Gesichtspunkten auszuwerten. In einem weiteren Unterka-
Um Sie ein wenig auf diese Kurzinterventionen neugierig zu
pitel wird dann diese Methode anhand von Fallbeispielen zu
machen, möchte ich sie ohne weitere Erklärungen nennen:
Kinderwunsch, Fremdgehen, Auslandsaufenthalt nochmals
Ressourcenübung, Zeichen erkennen, Bild der Beziehung,
veranschaulicht.
Partner-Landkartencheck, Inselspiel, 3-Felder-Beziehungsanalyse, Stressmanhattan, Faustübung, Aufeinander zuge-
Wenn Sie mit diesem Buch arbeiten erhalten Sie viele neue
hen, Was uns verbindet, Sich Durchsetzen, Umschuldung,
Anregungen und/oder nochmals eine sehr gute Auffrischung
Stellenwert der Beziehung, Kompromisse eingehen, Dissozi-
Ihrer Kenntnisse über erlebnisorientierter Methoden in der
ieren, Ja-Nein-Übung, Führen und führen lassen, Teufelskreis
Paarberatung. Obwohl zwar für jedes der Werkzeuge Anwen-
Übung.
dungsgebiete hervorgehoben werden, kommen mögliche
Schwierigkeiten in der Anwendung der Methoden zu kurz.
In Kapitel 4 sind schließlich drei grundlegende weiterfüh-
Herr Weber verschweigt seine negativen Erfahrungen mit
rende Interventionen beschrieben: Skulpturarbeit, Time-
den Interventionen, was ich persönlich auch hilfreich fände.
Line-Arbeit und Teile-Arbeit. Dieses Kapitel nimmt den
Trotzdem finde ich das Buch, wie Sie sicherlich bereits
größten Teil des Buches ein, da sehr gut nachvollziehbar
bemerkt haben, sehr lesens- und empfehlenswert als ein
diese größeren Interventionen an längeren Fallbeispielen
gutes Nachschlagewerk, ein Impulsgeber und eine Nacht-
beschrieben werden. Sie als Leser erhalten hier eine sehr
tischlektüre – und vielleicht ein Muss für Paarberater – aber
konkrete Einführung in diese Handwerkzeuge der Paarbera-
das sollten Sie selbst entscheiden.
tung, die besser als der Besuch mancher Fortbildungsveranstaltung ist. Alle Unterkapitel sind ähnlich strukturiert. Nach
einer kurzen theoretischen Einführung mit der Vorstellung
bestimmter theoretischer Konzepte zu dieser Intervention
wird das methodische Vorgehen genau beschrieben und
anschließend an verschiedenen Fällen illustriert. Bei der
Dr. Martin Merbach
P.S. Und Sie können Dr. Weber und die „Erlebnisintensiven
Übungen und Methoden“ auch live am EZI erfahren (26. bis
28. Juni 2008)
57
Martin Koschorke (Hrsg.)
Jesus war nie in Bethlehem
2007. 140 S. 23 cm, Gebunden, Verlag: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
ISBN: 3534204883
zeitge-
Neues wird man hinter diesem Buchtitel mit dem Namen
nössischer Jesusliteratur
Bethlehem, mit einem traditionellen Bild und einem schwer
überschwemmt
den
erkennbaren und lesbaren Autorennamen nicht erwarten.
schrieb
Darum muß für die Verbreitung dieses aus dem Rahmen der
ein Rezensent zu Joseph
sonstigen Jesusliteratur fallenden Buches eine besondere
Ratzingers Buch „Jesus
Werbetrommel geschlagen werden.
„Eine
Flut
von
Büchermarkt“,
von Nazareth“. Dennoch
würde ich das Buch von
Das Verwirrspiel mit dem Buchtitel ist beim Lesen rasch be-
Martin
als
endet. Auf Seite 34 ist der programmatische Satz zu lesen:
wichtige Leselektüre emp-
„Die Fakten der Weihnachtsgeschichte kann man getrost
fehlen.
einer kritischen Überprüfung unterziehen. Nachweisbar fal-
Es ist spannend und leicht
sche Fakten für richtig zu halten, hat mit Glauben nichts zu
lesbar. Es ist exegetisch solid gearbeitet und auf ein breites,
tun. Dass die Weihnachtslegenden Mitteilungen enthalten,
auch soziologisches Forschungsfundament gestellt. Man
die wahr sind, die uns innerlich guttun und seelisch Nahrung
prüfe die Anmerkungen und das Literaturverzeichnis.
geben, kann man nicht beweisen. Man kann es nur spüren
Koschorke
und erfahren. Daher ist es letztendlich völlig gleichgültig, ob
Koschorke schreibt sehr allgemeinverständlich und kann
Jesus in Bethlehem oder Nazareth geboren ist.“
Nichttheologen getrost empfohlen werden. Auf jeder Seite
erkenne ich den geschickten Lehrer, den begabten Schrift-
Wie eine gute Touristenführung erscheint der Anfang. Die Le-
steller, der komplexe Sachverhalte genial zu vereinfachen
serIn wird in das Bethlehem von heute geführt. Sie empfängt
versteht.
knappe historische Informationen, auch grauenhafte, wie die
über Kreuzzüge. Warum das z.T. scheußliche Theater, fragen
Beim Lesen oder gar beim Vorlesen passiert es: längst
aufgeklärte Christen, wenn Jesus gar nicht in Bethlehem,
Vertrautes und viele Male Gelesenes und Gehörtes er-
sondern in Nazareth geboren wurde. Die weltweit blühende
scheint einem in einem neuen Licht. Bert Brecht, dessen
Weihnachtskultur, die kurz ins Bild gesetzt wird, folgt der
Weihnachtsgedicht, „Die gute Nacht“ am Anfang zitiert wird,
Legende, nicht den Fakten.
könnte nach der Lektüre den Autor grüßen und sagen: Ja,
hundert Mal habe ich alles gehört, aber dieses Mal vieles wie
Diese wird im zweiten Teil des Buches unter dem Titel: „Vom
zum ersten Mal vernommen.
Kind in der Krippe und was es uns sagen will“, mit großer
Auslegungskunst interpretiert. Hier erleben die Lesenden
Ich dachte beim Lesen an Lehrer, die Religionsunterricht
eine sehr eindrucksvolle Dolmetscherarbeit an der Weih-
erteilen. Viele Stücke des Buches sind sehr geeignet, um sie
nachtslegende.
Schülern in die Hand zu geben, damit sie Referate daraus
machen. Eine Vertretungsstunde ex tempore gehalten wäre
Koschorke ist das Gegenbeispiel zum Göttinger Theologie-
mit der Lektüre des Buches gut bedient.
professor G. Lüdemann, der mit dem Ausweis der Nichthistorizität biblischer Erzählungen („Das Abendmahl ist nicht
Das Titelbild des 19. Jahrhunderts mit dem ausgeschnittenen
von Jesus eingesetzt worden“ vgl. Frankfurter Rundschau
Jesuskind hätte ich nicht gewählt. Emil Noldes 1918 gemaltes
vom 18.10.07, S.36) seinen Unglauben bekennen will.
Bild „Familie“ hätte mir besser gefallen. Mancher Käufer vermutet hinter dem Buchdeckel trotz des provokativen Titels
Der Autor von „Jesus war nie in Bethlehem“ führt den Lesen-
längst bekannte Weihnachtsgeschichten. Weihnachten ist
den gute exegetische Werkstattarbeit vor. Die Weihnachts-
„verpredigt und verkrippt“, las ich bei einem Kritiker.
texte der Bibel werden sorgfältig verglichen, detektivisch
58
geprüft, wie beim Puzzle auseinander genommen und neu
Zeit“, verknüpft. Als gutes Beispiel in diesem Zusammenhang
zusammen gesetzt. Wer war Jesus von Nazareth, wer waren
empfinde ich die Erzählung, die berichtet, wie Jesus mit dem
seine Eltern und Geschwister? Wie war die Baufirma Joseph
für den jüdischen Glauben zentralen Sabbatgebot umgeht.
und Co.? Wie kommt es zum Auszug aus der Herkunftsfa-
Die Befreiung des Menschen, auch die von falschem Nor-
milie? Das Altbekannte kommt neu und unkonventionell zur
menverständnis ist ein Kernstück der Frohbotschaft. Was
Sprache, versehen mit den Erkenntnissen der Fachexegese.
dient den Menschen, was kommt ihm wahrhaft zugute, ist
ein Prüfstein für alle Ethik. Dass die Kirche im Laufe ihrer Ge-
Auf allen Seiten wird spürbar, dass das Buch leichter, spie-
schichte die Gehalte der Botschaft Jesu auf den Kopf gestellt,
lerischer, auch kunstvoller geschrieben ist, als viele andere
ja verraten hat, macht dieses Buch unmissverständlich klar.
Jesusbücher. Gelegentlich dachte ich beim Lesen an einen
Bänkelsänger, der eine Moritat vorträgt, wenn es heißt: Der
Teil II mit der Überschrift „Vom Kind in der Krippe – und was
Zimmermannssohn „schwingt große Reden“, „spielt den
es uns sagen will“ ist für mich wie ein Stück Theologie des
Wunderheiler“, „treibt Verrückten, die Geister sehen die
Neuen Testaments. Er ist sprachlich und inhaltlich so schön,
Geister aus“. Ich empfand die Erzählung Jesu vom reichen
dass überlastete Prediger und Lehrer zur Weihnachtszeit gut
Kornbauern als kleines Kabinettstück einer modernen
daran tun, sich in diesem Buch umzusehen, daraus Anlei-
Bibelauslegung. Der reiche Kornbauer mutiert zum reichen
he machen oder gar vorlesen können. Das Geheimnis der
Unternehmer der Computerbranche, der über Nacht an
Geburt soll aufleuchten. Bethlehem, das kleine Provinznest
einem Herzinfarkt stirbt. Diese Kunst der sprachlichen Ver-
überwindet das mächtige Rom, stellt es in den Schatten.
gegenwärtigung gewohnter Texte in die heutige Lebenswelt
Krieg, Gewalt, die teuflische Droge Macht kommen als The-
finde ich in diesem Buch beispielhaft und in grosser Fülle.
men so zur Sprache, dass ich sie trotz meiner dauerhaften
Dabei spüre ich keinen Hauch von stilistischer Anbiederei.
Beschäftigung mit diesen Lebensthemen neu höre.
Die älteste Erwähnung von Weihnachten kommt zur Sprache.
Gut zu lesen ist das Thema „Fest der Frauen“, ein Thema
Sie ist ein übernommener Hymnus beim Apostel Paulus.
des Weihnachtsevangeliums und der Bibel, in einer von
Jesu Davidsohnschaft, die als biblische Langweiler bekann-
Männern dominierten, patriarchalischen Welt; hier nun
ten Stammbäume, die prophetischen Verheissungen, die
ein Exempel wunderbarer Befreiung. An dieser Stelle des
Messianität Jesu, die Hoheitstitel, all das bringt Koschorke
Koschorkebuches wird der Abstand zum Jesusbuch des
so zur Sprache, dass man ihm gerne folgt. Jungfrauengeburt
Papstes besonders deutlich, der sein Werk aus der Sicht
und das Thema der Gottesmutterschaft Mariens mit all den
des Johannesevangeliums bestimmt sein läßt, aber von der
Streitigkeiten in der Kirchengeschichte habe ich selten in so
wichtigen Rolle der Frau in der Kirche des Johannes wenig
gut verständlicher Weise vorgeführt bekommen. Der Leser
zu sagen weiß.
erlebt „Wendezeit“, ein Stück Zeitgeschichte, die politische
Omipräsenz und Macht Roms. Die biblische Sequenz „Als die
Wie dann Rom wieder zur Herrschaft kommt, Nachfolge der
Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“ empfängt Kontur,
Cäsaren statt des Nazareners erfolgt, die Kirchenstrukturen der
wird lebendig.
Macht eine dauerhafte Gegenpredigt zur Bethlehemswelt halten, all dies findet sich in diesem Buch einducksvoll dargestellt.
Alttestamentliches Erzählgut kommt in diesem Buch angemessen zur Geltung. Die allen vertrauten Bilder der Weih-
Käme dies in einem Weihnachtsgottesdienst zur Sprache,
nachtsgeschichte von Joseph, dem schweigenden Zeugen
müßte man, folgt man der Darstellungsweise Koschorkes,
des rechten Tuns, dem rauen Hirtenvolk auf Bethlehems
nicht Dom oder Kirche fluchtartig verlassen.
Fluren, von den Weisen aus der Ferne und den Engeln, von
Übermalung befreit, erstehen neu und bedeutsam vor den
Mit Ochs und Esel endet dieses wichtige Weihnachtsbuch.
Augen der Lesenden.
Der Autor hat Humor, aber vergisst nicht die Dunkelseite der
Christentumsgeschichte. Die beiden Tiere waren auch Ge-
Der Autor kann als Theologe und Soziologe die Bindekraft von
genstand antisemitischer Ausdeutungen und Anspielungen.
Traditionen und Institutionen plausibel machen. Will man die
Wer das Buch kauft, wird weihnachtlich reich beschenkt.
Inkarnation, die Fleischwerdung des Wortes als Befreiungs-
Er hat Freude an der Wahrheit, die Verborgenes aufdeckt,
geschichte verstehen, muss
manchmal schmerzlich sein kann, aber im Evangelium der
dieser Hintergrund bedacht
werden. In Koschorkes Buch wird die Weihnachtsgeschichte
Menschenfreundlichkeit Gottes vor allem schön ist.
mit der Praxis und der Predigt des Mannes aus Nazareth,
mit den zwei Jahren der im Evangelium erzählten, „erfüllten
Dr. Friedrich Hufendiek
59
Wie kam Jesus in die Krippe?
Jahr für Jahr feiert die Christenheit die Geburt ihres
Erlösers. Jahr für Jahr zieht es Tausende von Pilger nach
Bethlehem. Nur: Jesus ist nicht in Bethlehem geboren.
Doch wie kam die Krippe nach Bethlehem? War Jesus
wirklich ein Nachfahre des legendären Königs David?
Hielt er selbst sich für Gottes Sohn?
Historisch war manches anders, als die Weihnachtsgeschichte es berichtet. Daran kann man Anstoß nehmen –
oder dadurch Anstöße bekommen.
Martin Koschorke stellt lebendig und für jeden verständlich dar, warum die Geschehnisse so und nicht anders
erzählt werden. Damit führt er den Leser ins Innere der
Weihnachtsgeschichte.
Martin Koschorke
Jesus war nie in Bethlehem
2007. 140 S., geb.
E 19,90 [D]/ sFr 33,90
ISBN 978-3-534-20488-5
Impressum
Herausgeber
Evangelisches Zentralinstitut für Familienberatung gem. GmbH , Auguststraße 80 10117 Berlin - Mitte
Tel.: 030 / 283 95 200, Fax: 030 / 283 95 222, Email [email protected], www.ezi-berlin.de
ISSN 0724-3995
Redaktion
Dieter Wentzek, Christine Korth
Bilder
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Gestaltung
Reiner Kolodziej, graphic und design, Tel. 030 773 93 288
Druck
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Die EZI-Korrespondenz wird Freunden und Förderern des Instituts zugesandt. Sie ist Im Handel nicht erhältlich.
Konto-Nummern des Fördervereins des Evangelischen Zentralinstituts für Familienbertung:
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Die Arbeit des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung gem. GmbH wird aus Mitteln des BMFSFJ gefördert.
60
Evangelisches Zentralinstitut für Familienberatung
Veranstaltungskalender 2008
07.01. - 10.01.
SAFE ® - Sichere Ausbildung Für Eltern / Trainingsprogramm zur frühen Förderung einer sicheren Bindung
23.06. - 27.06.
Spaß bei Paarberatung - auch mit schwierigen Paaren
26.06. - 28.06.
Paartherapie mit allen Sinnen - Erlebnisintensive Übungen
und Methoden
11.01. - 13.01.
Weiterbildung in Supervision / Workshop 9/6
14.01. - 18.01.
Schwangerschaftskonfliktberatung / Einführungskurs 16/1 A
27.06. - 29.06.
18.01. - 20.01.
Untreue als Thema in der Paarberatung - Zwischen Schock,
Scheitern und Neubeginn
Psychosoziale Beratung im Kontext pränataler Diagnostik /
Workshop III
04.07. - 06.07.
Weiterbildung in Supervision / Workshop 9/8
21.01. - 23.01.
Einmalige Beratung - Chance oder Scheitern?
07.07. - 10.07.
23.01. - 25.01.
Gewalt zwischen den Generationen
Paarcoaching - Konfliktkultur & Kommunikationskompetenz
in Familien
28.01. - 01.02.
Paarberatung / Aufbaukurs 21/2
11.07. - 14.07.
Weiterbildung in Supervision / Workshop 10/1
11.02. - 15.02.
Fortbildung für Sekretärinnen, Verwaltungsangestellte in
Beratungsstellen für Ehe-, Lebens- und Erziehungsberatung
und Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung
15.07. - 17.07.
Techniken und Grundlagen einer ressourcenorientierten
Traumaberatung, -behandlung und Traumatherapie /
Aufbaukurs
11.02. - 15.02.
Psychosoziale Beratung im Kontext pränataler Diagnostik /
Kurs 2
17.07. - 19.07
Erstkontakte mit Kindern - Winnicotts Squiggle-Technik in
der Praxis
15.02. - 17.02.
Psychosoziale Beratung älterer Menschen
29.08. - 31.08.
18.02. - 20.02.
Sprachfähig werden für spirituelle Themen in Beratung und
Supervision
01.09. - 12.09.
19.02. - 22.02.
Rolle und Verantwortungsprofil der „Erfahrenen Fachkraft
nach § 8a“
„Hinter den Kulissen von Institutionen“ - Zugänge zu unbewussten Inhalten und verdeckten Prozessen
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung® /
Intensivkurs 49/1
15.09. - 19.09.
Schwangerschaftskonfliktberatung / Einführungskurs 16/1 B
22.02. - 23.02.
Bindung, Bindungsstörung und Trauma
15.09. - 19.09.
Sexualberatung mit Einzelnen und Paaren / Vertiefungskurs
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung® /
Intensivkurs 48/2
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung® /
Zulassungstagung für den Kurs 49
19.09. - 21.09.
Im Spiegel des Anderen. Narzissmus und Paarbeziehung
19.09. - 21.09.
„Fremd(e) in der Beratung - Interkulturelle Aspekte in der
Beratungsarbeit“
22.09. - 26.09.
Weiterbildung in Supervision / Intensivkurs 9/5
10.03. - 14.03.
Weiterbildung in Supervision / Intensivkurs 9/4
26.09. - 27.09.
Beratung und Therapie von Bindungsstörungen
31.03. - 02.04.
Trauerbegleitung bei Ab- und Umbauprozessen in kirchlichen Organisationen
29.09. - 01.10.
Projektive Testverfahren in der Beratung
03.10. - 05.10.
31.03. - 04.04.
Führen und Leiten - Instrumente für Leitungskräfte
06.10. - 17.10.
03.04. - 05.04.
Eltern-Kind-Beratung bei frühen Interaktionsstörungen
Weiterbildung in Supervision / Workshop 10/2
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung®/
Intensivkurs 48/3
07.04. - 11.04.
Sexualpädagogische Arbeit und Familienplanung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen / Grundlagenkurs
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung® /
Intensivkurs 47/4
20.10. - 24.10.
Sexualpädagogische Arbeit und Familienplanung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen / Vertiefungskurs
23.10. - 25.10.
28.04. - 02.05.
Sexualberatung mit Einzelnen und Paaren / Grundkurs
25.10. - 28.10.
Liebesfreud - Liebesleid: Die Liebe, eine vernachlässigte
Dimension in der Paartherapie
SAFE ® - Sichere Ausbildung Für Eltern / Trainingspro-
05.05. - 07.05.
Werkstatt Leitungssupervision - kirchliche Personalführung
in Krisenzeiten
28.10. - 29.10.
Fachtagung für Mentorinnen und Mentoren
29.10. - 31.10.
Zentrale Arbeitstagung der Mentorinnen und Mentoren
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung® /
Intensivkurs 47/5
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung® /
Zulassungstagung für den Kurs 50
25.02. - 07.03.
07.03. - 08.03.
14.04. - 25.04.
07.05. - 09.05.
Sexualität als Thema in der Schwangerschaftskonfliktberatung, Möglichkeiten und Grenzen einer Beratung zu
sexuellen Themen im Kontext einer Schwangerschaftskonfliktberatung
gramm zur frühen Förderung einer sicheren Bindung
03.11. - 14.11.
14.11. - 15.11.
08.05. - 10.05.
Workshop „Borderline-Persönlichkeitsstörung“
14.05. - 16.05.
FGG - Reform und die Herausforderungen an die Praxis
Strukturierte Angebote für hochstrittige Familien
17.11. - 21.11.
Schwangerschaftskonfliktberatung / Aufbaukurs 15/4
16.05. - 17.05.
Suizidgefährdung und Krisenintervention bei gefährdeten
Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
17.11. - 21.11.
Sexualberatung mit Einzelnen und Paaren / Grundkurs
21.11. - 24.11.
Weiterbildung in Supervision / Workshop 9/9
19.05. - 23.05.
Paarberatung / Aufbaukurs 20/5
24.11. - 25.11.
21.05. - 22.05.
Traumata - Vom Zwang der Sprachlosigkeit, des Vergessens
und der Wiederholung zum heilsamen Erinnern / Grundlagenkurs
„Was wollen Sie eigentlich von mir?“ - Beratungsprozesse
bei Jugendlichen mit und ohne schwere Störungen
24.11. - 26.11.
23.05. - 26.05.
Weiterbildung in Supervision / Workshop 9/7
30.05. - 01.06.
Lern- und Leistungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen
„Sündenbock, Schwarzes Schaf, Prügelknabe“ - Ausgrenzung am Arbeitsplatz, Umgang mit Mobbing in Beratung und
Supervision
Kinder im Blick - KIB®
30.05. - 01.06.
Paarbeziehung und Sucht
02.06. - 06.06.
Schwangerschaftskonfliktberatung / Aufbaukurs 15/3
02.06. - 06.06.
Paarberatung / Aufbaukurs 22/1
09.06. - 13.06.
13.06. -14.06.
16.06. - 18.06.
26.11. - 28.11.
28.11. - 30.11.
Psychosoziale Beratung im Kontext pränataler Diagnostik /
Workshop IV
28.11. - 30.11.
Weiterbildung in Supervision / Intensivkurs 10/1
IFB - Integrierte Familienorientierte Beratung® /
Zulassungstagung für den Kurs 49
„Quatsch nicht rum - spiel jetzt weiter!“
Tiefenpsychologisch orientierte Beratung mit Kindern und
Jugendlichen
01.12. - 03.12.
„Familien aufbauen“ - Erlebnisintensivierende Methoden der
Familientherapie und Familienberatung
Notfallpsychologische Akutinterventionen (NoPAI) / Grundkurs
01.12. - 05.12.
Schwangerschaftskonfliktberatung / Aufbaukurs 16/2
16.06. - 20.06.
Paarberatung / Aufbaukurs 21/3
04.12. - 06.12.
19.06. - 21.06.
Fokusbildung in Beratung und Psychotherapie
Die „unerhörten“ Botschaften der „ADHS“-Kinder“ - Beziehungsdynamisches Verstehen und Handeln
23.06. - 25.06.
Supervision für „Erfahrene Fachkräfte im Kinderschutz“ Chancen und Risiken der Aufgabenwahrnehmung nach § 8a
08.12. - 12.12.
Weiterbildung in Supervision / Intensivkurs 10/2
Auguststraße 80 10117 Berlin - Mitte Tel. 030 / 283 95 200
www.ezi-berlin.de