"Für die Nachtschicht kriegen Sie keinen Deutschen"

Transcription

"Für die Nachtschicht kriegen Sie keinen Deutschen"
7. Jan. 2016, 10:54
Diesen Artikel finden Sie online unter
http://www.welt.de/150709684
05:04
Flüchtlinge
"Für die Nachtschicht kriegen Sie keinen Deutschen"
Logistiker spüren den Personalmangel derzeit besonders stark. Nun
greifen Mittelständler aus der Branche vermehrt auf Flüchtlinge als
Arbeitskräfte zurück. Doch die anfängliche Euphorie ist verflogen. Von Birger
Nicolai
Foto: picture alliance / dpa
In nur zwei Tagen können Flüchtlinge das Fahren von Gabelstaplern erlernen
Hartmut Noerpel-Schneider sucht dringend Gabelstaplerfahrer und Lagerarbeiter. Doch der
Seniorchef und Aufsichtsrat der gleichnamigen mittelständischen Logistikfirma aus
Süddeutschland findet einfach keine geeigneten Kandidaten für die freien Stellen. So sieht
derzeit oft die Lage im Transportgewerbe aus. Deswegen stellt Noerpel, Jahrgang 1936, nun
Mitarbeiter aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea ein.
Das Unternehmen beschäftigt derzeit etwa 20 Flüchtlinge, selbst wenn deren
Aufnahmestatus noch nicht abschließend geklärt ist. Doch auch mit einer befristeten
Arbeitsgenehmigung kommt die Firma mit Sitz in Ulm klar.
"Wir müssen eben das Risiko eingehen, dass die Menschen am Ende doch noch
abgeschoben werden", sagt Noerpel-Schneider. Anders gehe es derzeit eben nicht. Die
Noerpel-Gruppe ist dabei ein typischer deutscher Vertreter der Branche. In fünfter
Generation beschäftigt der mittelständische Logistikbetrieb rund 1700 Mitarbeiter an 14
Standorten.
Stapler-Ausbildung dauert nur zwei Tage
Senior Noerpel-Schneider ist seit vielen Jahren Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats Ulm.
Schon in Zeiten des Balkankriegs hat er sich für Flüchtlinge engagiert, in seiner Region ist er
ein bekannter Mäzen und Spender.
Und ein Mann der Praxis: Einen Gabelstaplerkurs organisiert seine Firma an zwei Tagen.
Danach könne ein neuer Beschäftigter mit dem Fahrzeug umgehen, sagt er.
Deutschkenntnisse seien natürlich Voraussetzung, aber zur Not würden die Ausbilder mit
ihren Sprachkenntnissen aushelfen. In der Werkstatt beschäftigt Noerpel Flüchtlinge als
"Handlanger", wie der Seniorchef sagt.
Der Bedarf sei derart groß, dass er "aus der Not heraus" neue Wege gehen müsse. Vor
allem im Lager sei die Arbeitsbelastung drückend. "Für die Nachtschicht kriegen Sie keinen
Deutschen", sagt Noerpel-Schneider. Den Lkw abladen, Ware scannen und ins Lager
einsortieren – die Schicht ab 22 Uhr bis 6 Uhr früh sei für viele seiner Landsleute nicht mehr
attraktiv. Der Seniorchef setzt auch deshalb auf Flüchtlinge als Arbeitskräfte.
Allein 15.000 offene Stellen für Fahrer gesucht
In der deutschen Logistikbranche hoffen viele Manager auf ein Jobwunder. Dringend
gebraucht werden beispielsweise Lkw-Fahrer oder Lagerarbeiter. Offiziell sind laut dem
Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) derzeit 15.000 offene Stellen allein für Fahrer
gemeldet.
Der tatsächliche Bedarf soll wesentlich höher liegen. Hinter der Automobilindustrie und dem
Handel und noch vor der Elektronikindustrie und dem Maschinenbau ist die Logistik die
drittgrößte Branche des Landes mit gut 2,9 Millionen Beschäftigten.
Dass Flüchtlinge diese Lücke schließen können, scheint mittlerweile ungewiss. Anstelle der
anfänglichen Euphorie aus dem Spätsommer tritt jetzt Ernüchterung. Denn die Realität hält
dem Wunschdenken nicht stand.
Die meisten Flüchtlinge haben keine ausreichenden Sprachkenntnisse, keinen LkwFührerschein und auch keine Berufserfahrung. Zudem gibt es Altershöchstgrenzen für eine
reguläre Ausbildung. Auch verhindert der Rückstau bei den Asylanträgen in der Bürokratie
einen schnellen Berufseinstieg.
Drittgrößte Branche des Landes ächzt unter Personalmangel
Schon kommt der Ruf nach dem Staat auf, wenn es um die Bezahlung der Flüchtlinge
(Link: http://www.welt.de/150541701)
geht. So hält Mathias Krage, der Präsident des mächtigen
Deutschen Speditions- und Logistikverbandes, es zwar für falsch, den Mindestlohn infrage zu
stellen.
Stattdessen solle der Bund den Firmen direkt helfen: "Es ist eine staatliche Aufgabe, die
Unternehmen zielgerichtet zu unterstützen, wenn sie Flüchtlinge einstellen", sagt Krage. Die
Branche arbeite am Limit, was die Suche nach Arbeitskräften und den Konkurrenzkampf mit
europäischen Unternehmen betreffe.
"Ein staatlicher Zuschuss für die erste Beschäftigung eines Flüchtlings wäre eine sinnvolle
Maßnahme", sagt Krage. Der mittelständische Transportunternehmer hält dabei eine Dauer
von einem halben Jahr für "einen vernünftigen Zeitraum".
Nach der Anstellung sei es längst nicht sicher, ob der Neubeschäftigte zur Firma passe und
bleiben werde. "Das Risiko kann nicht allein bei dem potenziellen Arbeitgeber liegen", sagte
Krage. Es müsse von staatlicher Seite gefördert werden.
Mindestlohn spielt in der Branche keine Rolle
Laut einer Umfrage der Bundesvereinigung Logistik (BVL) aus dem vergangenen Dezember
wollen rund drei Viertel der Logistikfirmen Flüchtlinge beschäftigen. Sie sehen die
Zuwanderung als Kompensation für den demografischen Wandel im deutschen Arbeitsmarkt.
Noch etwas ist interessant: Weder bei denjenigen, die Bereitschaft zur Beschäftigung
signalisieren, noch bei denen, die keine Flüchtlinge einstellen wollen, spielt der Mindestlohn
von aktuell 8,50 Euro eine Rolle.
Als besondere Herausforderungen werden laut der Umfrage Sprachkenntnisse,
Nachholbedarf bei der beruflichen Qualifikation und Unsicherheiten wegen des Bleiberechts
genannt.
Die Logistik erwirtschaftete vergangenes Jahr etwa 235 Milliarden Euro Umsatz. Wegen der
geografischen Lage mitten in Europa hat Deutschland mit rund 20 Prozent den größten Anteil
am gesamten europäischen Logistikmarkt.
Unerfüllbare Voraussetzungen
In der Realität ist die Einstellung von Flüchtlingen aber oft eine bürokratische
Herausforderung. So will die Geis-Gruppe aus Franken viele Flüchtlinge einstellen, scheitert
jedoch an den zuständigen Ämtern.
Das mittelständische Transportunternehmen aus Bad Neustadt beschäftigt etwa 6000
Mitarbeiter an 140 eigenen Logistikstandorten in Deutschland, Tschechien, Polen und der
Slowakei. Konkret arbeiten seit Mitte Dezember erst einmal fünf Flüchtlinge in der Nähe von
Nürnberg, die dort ein sechswöchiges Praktikum absolvieren. Dabei ist es laut der Aussage
von Personalchef Volker Kindler an jedem der Geis-Standorte möglich, Kriegsflüchtlinge
einzustellen.
Auch vor Ort ergeben sich viele Probleme: Flüchtlinge
(Link: http://www.welt.de/150568950)
können
manche gesetzliche Vorgabe im Logistikgewerbe kaum erfüllen. So dürfen zum Beispiel in
der Luftfracht, in der hohe Sicherheitsstandards gelten, ausschließlich Personen beschäftigt
werden, deren Lebenslauf mindestens die letzten fünf Jahre lückenlos dokumentiert ist. "Das
ist bei den Flüchtlingen in vielen Fällen kaum machbar", sagt Kindler.
Der Manager hat sich auf den Weg gemacht zu Arbeitsagenturen, Lobbyisten
(Link: http://www.welt.de/themen/lobbyismus/)
der Industrie- und Handelskammer (IHK) oder auch zu
Hochschullehrern, um über die formalen Beschäftigungsbedingungen zu sprechen. Sein
Fazit: Derzeit seien die bürokratischen und praktischen Hürden noch zu hoch. So werde zum
Beispiel die IHK Würzburg erst Anfang 2016 überhaupt Mitarbeiter haben, die in Vollzeit die
Integration von Flüchtlingen unterstützen.
Flüchtlinge können Sicherheitsbestimmung nicht einhalten
Selbst bei dem Angebot von Praktika gebe es Hindernisse: "Viele Flüchtlinge können den
Betrieb nur schwer erreichen. Sie finden den Bus nicht, sie benötigen im Betrieb besondere
Betreuung oder werden ohne Ankündigung von heute auf morgen weiterverlegt", sagt
Kindler.
Nach seiner Einschätzung verfügten maximal 20 Prozent der Flüchtlinge über eine
Ausbildung oder Grundvoraussetzungen für einen direkten Einstieg in die Arbeitswelt. Alles
benötige mehr Zeit, als weithin erwartet werde.
"Ein Jahr wird man wohl als zeitliches Minimum ansehen müssen, um in einem Betrieb erst
einmal an die Arbeitswelt herangeführt zu werden", sagt Kindler. Zudem müsse den
Flüchtlingen viel stärker erklärt werden, dass nur über eine Ausbildung attraktive Jobs zu
erreichen seien.
Eine Berufsausbildung etwa zum Fahrer im Speditionsgewerbe soll laut Branchenverbänden
auch noch später möglich sein: So fordert der Landesverband Bayerischer Spediteure den
Bund dazu auf, die geltende Altersgrenze für die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung von
derzeit 21 auf 25 Jahre heraufzusetzen. Das betrifft Flüchtlinge, die noch keinen anerkannten
Flüchtlingsstatus haben.
© WeltN24 GmbH 2016. Alle Rechte vorbehalten