wenndiewirklichkeit demunwirklichenweicht

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wenndiewirklichkeit demunwirklichenweicht
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27. Mai 2016
Hintergrund
Er habe sich stets für verborgene Winkel interessiert, sagt der Schriftsteller, der im Frühling
vergangenen Jahres drei Monate am Monte Verità verbrachte
von Marianne Baltisberger
THOR KUNKEL
Paolo Tosi
Es müsste schon viel passieren
um mich heute aus der Ruhe zu
bringen.
Drei Monate hat Thor Kunkel
am Lago Maggiore verbracht.
Nicht an irgendeinem Ort – er
war am Monte Verità bei Ascona. Wo einst die Freigeister alternative Lebensformen zelebrierten, suchte er im Frühling
vergangenen Jahres nach Erlebnissen, Empfindungen und neuen Gedanken. Der Schriftsteller
liess sich von den Tageszeiten
treiben, folgte den Veränderungen des Wetters, der erwachenden Natur, dem Wechsel der
Farben. Und er forschte nach.
Das Gelingen menschlichen
Daseins hängt mit vielen kontingenten Faktoren zusammen –
was einem versehentlich “zufällt” (also vom Zufall abhängt), prägt ebenso wie das,
wonach einer sucht. Mich haben die dunklen Seitenstrassen
der Zeitgeschichte stets mehr
interessiert als die Prachtalleen, die schon abgegrast sind.
Statt des Bauhaushotels auf
dem Monte Verità suchte sich
Thor Kunkel für seinen Aufenthalt im Tessin die Casa Wülflingen aus. Eine Ferienwohnungresidenz inmitten eines grossen Naturgartens, nicht weit
vom bekannten Tagungs- und
Kulturzentrum entfernt. “Wir
sind zufällig darauf gestossen”,
erzählt er. Als er im vorangehenden Sommer mit seiner Frau
zu Fuss auf dem Wahrheitsberg
unterwegs war. “Eigentlich
dachten wir, der Garten sei
noch Teil des Monte-VeritàParks.” Er habe sich nach dem
Besitzer des Grundstücks erkundigt.
Der Monescia-Hügel, wo sich
einst die Kolonie der Lebensreformer befand, liegt nur einen
Steinwurf vom Garten der Casa
Wülflingen entfernt. Folgt man
der kaum befahrenen Strasse
ein Stückchen bergauf, steht
man bald zwischen den “Lichtlufthütten” von einst, die mich
an Holzhäuser erinnerten, die
ich vor Jahren in einem verlassenen Fischerdorf an der amerikanischen Westküste sah.
Der Schriftsteller bat um die Erlaubnis, als “Writer in Residence” einige Wochen in der
Casa Wülflingen zu verbringen.
Besitzer Henner Lappe stimmte
zu. Und so tauschte Thor Kunkel im Frühling 2015 sein Haus
in den Walliser Bergen, wohin
er sich vor rund sechs Jahren
zurückgezogen hatte, mit einer
vorübergehenden Schreibwerkstatt auf der Alpensüdseite.
Ein heisser Tag. Draussen auf
der Terrasse geschrieben. Wenn
es Menschen gibt, die die Welt
zu einem besseren Aufenthaltsort machen könnten, dann sind
es die Gärtner.
Ein “Terrarium” nennt Thor
Kunkel den Raum, in dem er
sich während den Recherchen
zum Buch vorwiegend aufgehalten hatte. “Ein bewohnbares
Terrarium.” Die Lebensräume
des modernen Menschen bröckelten immer weiter ab, würden kleiner und kleiner. Den-
Als “Writer in Residence” tauchte der Autor ein in den blühenden Garten der Casa Wüllingen
WENN DIE WIRKLICHKEIT
DEM UNWIRKLICHEN WEICHT
noch gebe es solche Oasen, die
einen unter dem Radar des Zeitgeistes leben liessen. “Mir war
sehr unwirklich zumute”, sagt
er. Obwohl er, der ehemalige
Werber, der sich seit 1999 dem
Schreiben widmet, im Grunde
nur wenig von übernatürlichen
Kräften halte, habe er die Magie
des Berges gespürt: “Es war ein
spirituelles Erlebnis.”
Der Weg ins Paradies kann dort
beginnen, wo Menschen bereit
sind, ihr Leben nach bestimmten Richtlinien zu gestalten und
die Einsicht teilen, dass es
nichts gibt, was man vor dem
Kollektiv oder CONVIVIUM –
also der Tafelrunde, an der alle
sitzen und schlemmen – verheimlichen muss.
In Berlin habe er jeweils einen
Zengarten besucht, wenn er eine Auszeit brauchte, erzählt der
Autor. Die Casa Wülflingen,
der Monte Verità, wurde für ihn
so etwas wie ein Zengarten. Ein
Ort, an dem die Wirklichkeit
dem Unwirklichen zu weichen
scheint. Er machte ausgedehnte
Spaziergänge, schloss Freundschaft mit Henner Lappe, dem
Urenkel der Freifrau von Wülflingen, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Grundstein zu diesem herrschaftlichen Anwesen
mit “beseeltem” Garten nur unweit der Piazza von Ascona legte, besuchte Lorenzo Sonognini, den Direktor der Stiftung
Monte Verità, der ihm die Geschichte des Bergs der Wahrheit
näherbrachte.
Doch ob Frau von Wülflingen
auch einer Lesung Gräsers aus
seinen Gedichten über das Neuland der Menschheit beigewohnt hätte?
Es sei doch üblich, dass sich
Immigranten, die dieselbe
Sprache sprechen, zumindest
grüssten, wenn sie sich auf der
Strasse träfen. Gerne hätte der
Schriftsteller, der sich mit der
Vergangenheit des Monte Verità
beschäftigte, mehr gewusst
über diese Begegnungen. Es sei
nur wenig überliefert, über die
Beziehungen der Bewohner der
Kommune mit ihren ebenfalls
zugezogenen, direkten Nachbarn, sagt er etwas enttäuscht.
Während die Kolonie zuletzt einer Ur-Kommune glich, deren
Zulauf selbst Henri Oedenkoven unheimlich wurde, bot die
Casa Wülflingen bereits in den
1920ern “Zimmer für Kurgäste” an.
Er sei zu einem “Gartenschreiber” geworden, sagt Thor Kunkel und lacht. Die Querelen, die
die Veröffentlichung seines
dritten Romans “Endstufe”
2004 in Deutschland auslöste,
liegen in Ascona, angesichts
des glitzernden Lago Maggiore,
weit zurück. Nur über blühende
Pflanzen zu schreiben, liegt jedoch nicht im Naturell des Autors. In seinen Aufzeichnungen,
gespickt mit philosophischen
Einschüben, kritisiert er auch
die Entwicklung des Monte Verità, der sich vom Zufluchtsort
für revolutionäre Andersdenker
zur bevorzugten Wohnlage gut
betuchter Gelegenheitsaufenthalter gewandelt hat.
Ich komme noch immer nicht
über den Eindruck hinweg, dass
es sich bei den vielen leerstehenden Klotzbauten, die sich
wie quadratische Seepocken am
Berg der Wahrheit festgesetzt
haben, in Wirklichkeit um Mau-
soleen oder “Katakomben von
Zukünftigen” handelt.
Seite um Seite mit handschriftlichen Notizen füllte Thor Kunkel während seiner Zeit in Ascona. Mit dem Alter habe er jedoch gelernt, dass weniger oft
mehr sei, erzählt er. Er überarbeitete seine Texte, kürzte. Entstanden ist daraus der Band
“Mir blüht ein stiller Garten”.
Eine Hommage an die Natur, an
die Geschichte und die Menschen des Monte Verità, eine
Sammlung von Gedanken über
das Leben, die Irrwege und
Überraschungen, durch welche
der Alltag – oder in diesem Fall
“ein bewohnbares Terrarium”
wie der Garten der Casa Wülflingen – führt.
Letzter Spaziergang am Abend.
Wenn man ganz ehrlich ist, gibt
es keinen besseren Ort um alt zu
werden, als einen weitläufigen
Garten. Man muss diesen Garten in all seinen Erscheinungsformen als Traum eines grösseren Träumers verstehen und
aufhören, wie ein Krämer zu
träumen, der nur von dem ausgeht, was ihm gehört.
“Mir blüht ein
stiller Garten”
Thor Kunkel ist 1963 in Frankfurt
am Main geboren. Er studierte Bildende Kunst und Kommunikationswissenschaften u.a. in San Francisco und arbeitete danach als kreativer Kopf für britische und holländische Werbeagenturen. Mit seinem
ersten Roman “Das SchwarzlichtTerrarium” gewann er 1999 beim
Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb
den Ernst-Willner-Preis. Sein 2004
erschienener und in mehrere Sprachen übersetzter Bestseller “Endstufe” wurde weltweit intensiv und
kontrovers diskutiert. Der Autor lebt
heute in der Schweiz.
Am Sonntag, den 5. Juni, liest
Thor Kunkel im Hotel Monte Verità
aus seinem im vergangenen Frühjahr in Ascona entstandenen Band
“Mir blüht ein stiller Garten”. Für
den musikalischen Rahmen der
Veranstaltung sorgt Cellistin Silvia
Longauerová (Sala Balint, Beginn
17 Uhr). Eine Anmeldung ist nicht
erforderlich. Eintritt frei.