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SPIEGEL ONLINE - Druckversion - Debatte um Reformpädagogik: "Sc... 1 von 2 http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,druck-719220,00.html 24. September 2010, 12:16 Uhr Debatte um Reformpädagogik "Schönen Dank für die Anregung, Frau Behler" Es ist ein Frontalangriff auf die Reformpädagogik: Sie habe versagt, ihre Anhänger müssten nach dem Missbrauchsskandal umdenken, schreibt die Ex-Kultusministerin Gabriele Behler in der "Zeit". Der Tübinger Pädagoge Ulrich Herrmann hat dafür kein Verständnis . In seiner Erwiderung erklärt er, warum. Eine ehemalige NRW-Kultusministerin, vormalige Studienrätin und Schulleiterin, die ehemalige SPD-Genossin Gabriele Behler sieht sich in der "Zeit" bemüßigt, der deutschen Reformpädagogik den Garaus zu machen. Die "Zeit" druckt ihren Artikel unter der Überschrift "Lehrer müssen nicht geliebt werden". Was soll das? Von Müssen kann sowieso keine Rede sein, das Dürfen kann niemand durchsetzen, und dass Lehrer nicht selten tatsächlich geliebt werden, kann niemand unterbinden. Worum geht es in diesem Artikel, der in der Tonlage einem verbalen Amoklauf gleichkommt? Ex-Ministerin Behler benutzt den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule, um die Reformpädagogik zu diskreditieren. Hier wird ein Straftatbestand mit einem Erziehungs- und Schulkonzept verwechselt. Und zwar mit dem gewaltigen Gedröhne einer Vuvuzela, als müssten die Mauern Jerichos zum Einsturz gebracht werden. "Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein" Bei diesem Geräuschpegel bemerkt die Verfasserin offenbar gar nicht, dass die Behauptungen, Unterstellungen und Zuschreibungen, was denn "die" Reformpädagogik sei, ganz abwegig sind: Behler schreibt, Schule müsse Schule bleiben und der reformpädagogische Ansatz auf ganzheitliche Erziehung sei illusionär. Reformpädagogen erlägen einer Realitätsverweigerung hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Wirkung. Und weiter: Der Lehrer solle Fachmann für Unterricht bleiben, die Rolle als Entwicklungshelfer sei eine Anmaßung ins Private. Jeder Besucher einer Reformschule kann sich von der Tauglichkeit und dem Erfolg der reformpädagogischen Praxis überzeugen. Reformpädagogen halten ihre Lehrerkollegen nicht für "empathielose Vollstrecker unmenschlicher Fachvorgaben und Handlanger staatlicher Repression" und beweihräuchern sich nicht selbst als pädagogische Missionare. Regeln und Grenzen werden gerade aus der Reformpädagogik angemahnt, siehe Bernhard Buebs Buch "Lob der Disziplin". Frau Behler giftet gegen eine Chimäre: Die Reformpädagogen erlägen einer permanenten Selbstsuggestion und wollten eine Mogelpackung verkaufen. Was wir heute über die Zusammenhänge von förderlichen Beziehungen und Leistungsfähigkeit wissen, scheint ihr entgangen zu sein, und im Schopenhauer-Gedenkjahr sei dessen Sentenz in Erinnerung gerufen "Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein": Sie hält reformpädagogische Ansätze für einen "Rückfall in Sozialromantik", für "Bildungskitsch". Was soll das pädagogische Handeln leiten? Eines vermeiden Reformpädagogen ganz gewiss, worauf laut Behler "wir Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker" setzen: Lernstandards. Lernen und seine Ergebnisse standardisieren zu wollen ist nicht nur der untaugliche Versuch geistigen Klonens, sondern erzeugt an Standards gemessene Gewinner und Verlierer und ist eine Absage an das pädagogische Gebot, jedem Kind gerecht zu werden. Genau das aber scheint Frau Behler ganz recht zu sein: Wo kämen wir denn hin, wenn in der Schule "Wärme, Zuwendung und Liebe" statt "kalte Sachorientierung" im Vordergrund steht? Ihrer Meinung nach soll "Wissenschaftsorientierung" das pädagogische Handeln leiten. Wenn wir nur wüssten, was Frau Behler damit meint. Behler kritisiert den Deutschen Schulpreis, der "sogenannte" Reformschulen prämiert. Die von ihr hofierten Kultusminister hingegen setzten auf "Qualitätsentwicklung" - aber welche Qualität bitte wenn nicht auch die der prämierten Schulen? Die drei zentralen Anliegen der Reformpädagogik 24.10.2010 12:19 SPIEGEL ONLINE - Druckversion - Debatte um Reformpädagogik: "Sc... 2 von 2 http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,druck-719220,00.html Ich möchte Frau Behler mit einigen Hinweisen erklären, was Reformpädagogik war und ist: Erstens war und ist sie die Antwort auf die frontal belehrende Lernschule, in der Lehrer immerzu und bis zum Burnout Unterricht erteilen. Die Reformpädagogik leitet und unterstützt deren Lernarbeit. Die Lernschule verwandelt sich in die Arbeitsschule. Zweitens wird der Einsicht Rechnung getragen, dass nur Neugier Lern- und Arbeitsmotivation bewirken kann und dass nur Lernerfolge Leistungswilligkeit hervorrufen. Aus der erfolgreichen Selbsttätigkeit entsteht die Überzeugung von der eigenen Wirksamkeit. Neugier muss geweckt werden: "Was willst du lernen?" Sie erlahmt unter dem üblichen "das musst du lernen". Drittens also ersetzt die reformpädagogische Praxis Angebot (Unterricht als Abarbeiten des "Stoffs" im Lehrplan) durch Nachfrage: Kurse führen zu Kernen (und nicht umgekehrt), aus Neigung erwächst Leistung (wie auch sonst?). "Der Lehrer ist die Schule" Zu Angebot und Nachfrage in vielen staatlichen und privaten Reformschulen gehört übrigens neben dem akademischen das praktische Lernen: in Labors und Ateliers, mit Holz und Metall, Instrumenten und Chemikalien, mit PCs und in Druckerei und Töpferei, möglichst bis zu einem ersten beruflichen Abschluss. Reformpädagogisch orientiertes Lernen geht mit Hirn, Herz und Hand. Und wenn unsere staatlichen Pflichtschulen dies anbieten würden, sähen unsere Integrationsbilanzen anders aus. In der reformpädagogischen Praxis gilt ganz selbstverständlich: "Der Lehrer ist die Schule." Das stammt vom alten Pädagogen Adolph Diesterweg aus dem 19. Jahrhundert und meint: Der Lehrer bietet und regt an, er inspiriert und individualisiert. Da hätte Ex-Ministerin Behler im Amt doch alle Möglichkeiten für ein segensreiches Wirken in der Schulentwicklung und Lehrerfortbildung gehabt, und die Lehrkräfte hätten sich gegenseitig besucht, um voneinander zu lernen. Hat sie ihnen damals etwa Zeit und Geld dafür gegeben? Die Landerziehungsheime und die Schulen des reformpädagogischen Verbunds "Blick über den Zaun" praktizieren dies seit vielen Jahren. Diese Schulen können "nicht so weitermachen wie bisher"? Das tun sie längst nicht mehr. Schönen Dank für die Anregung, Frau Behler, Sie hätten für Ihre Schulen ein bisschen früher und mit einem Etatansatz kommen dürfen! Der Schwulst reformpädagogischer Texte ist heute schwer erträglich "Unterricht ist als Kern der Schule zu akzeptieren", schreibt sie. Hat das jemand je bestritten? Eine erstaunliche Empfehlung. Die reformpädagogische Praxis der Ganztagsschule und des Landerziehungsheims weist aber bis heute darauf hin, dass der Kern verkümmert, wenn ihn nicht eine nährende Hülle umgibt: das Schulleben in seinen vielfältigen Dimensionen mit Entspannung und Sport, Spielen und Feiern, gemeinsamen Mahlzeiten, mit Exkursionen und musischen Aktivitäten. Das bedeutet keinen "Totalanspruch" und keine zeit- und energiefressende "Krake", wie Behler meint - das erleiden die Gymnasiasten durch die Einführung des Turbo-Abiturs. Die Reformpädagogik hat Texte - auch anstößige - hervorgebracht, deren manchmal pathetisch-erhabener Schwulst heute schwer erträglich ist. Und Hermann Lietz, der Gründer des ersten deutschen Landerziehungsheims, wollte keine Kinder von jüdischen Eltern, sondern nur "deutsche Jünglinge". Historiker wissen das - "Lektüre schützt vor Neuentdeckung", pflegte der Göttinger Historiker Hermann Heimpel in solchen Fällen zu sagen. "Wo ist die Auseinandersetzung mit Lietz' antisemitischem Gedankengut an den nach ihm benannten Schulen?", fragt Behler. Doch einen aktuellen Grund, sich damit auseinandersezusetzen, gibt es für die Lietzschulen nicht, weil niemand behauptet, ihr Leitbild und ihre Praxis heute sei die ihres Gründers vor 110 Jahren. Programmatik und Praxis, Anspruch und Alltag dürfen nicht verwechselt werden. Frau Behler tut dies wie alle anderen prominenten Kritiker der Reformpädagogik. URL: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,719220,00.html © SPIEGEL ONLINE 2010 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH 24.10.2010 12:19