Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ Essay zur Problematik: Hanna und

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Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ Essay zur Problematik: Hanna und
Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ Essay zur Problematik: Hanna und die Schuld von Isabell Baumbach Wenn ich loslasse, was ich bin, werde ich, was ich sein könnte. Wenn ich loslasse, was ich habe, bekomme ich, was ich brauche. Laotse Hanna stand im Dienst der SS. Diesen Schritt tat sie freiwillig. Sie musste ihre Schwachstelle – den Analphabetismus – verbergen. Trotzdem ließ sie zu, dass junge Mädchen und Frauen, welche sie vor dem Tod hätte bewahren können, starben. Das Buch „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink befasst sich mit der Schuldfrage der Täter des Holocaust. Unter der Problemfrage „Hanna und die Schuld“ möchte ich die Seite der Analphabetin in Hanna beleuchten und meine Sichtweise zu diesem Thema darlegen. In meinem Kopf kreisen viele Fragen auf die ich Antworten suche. War Hanna mit Überzeugung der SS beigetreten oder übte sie nur „einen Beruf“ aus? Hatte Hanna sadistische Züge, welche sie unter ihrer Machtstellung ausleben konnte oder gar genoss? Oder war sie so verzweifelt und schlug aus Angst, keinen anderen Beruf zu finden der ihr Geheimnis nicht aufdecken würde, den Weg zur SS‐Aufseherin ein? Bisher hatte sie ihr Leben mit einer Lüge gelebt, aber für sie funktionierte diese Lüge. Sie ließ niemanden zu nah an sich heran und somit erfuhr auch niemand von ihrer Schwäche. Durch die bevorstehende Beförderung bei Siemens, drohte ihre mühevoll aufgebaute Welt zu zerbrechen. Ein Ausweg musste her. Das Angebot der SS kam ihr gelegen, sie musste sich keine Gedanken machen, wie sie eine andere Arbeitsstelle finden würde. Doch wusste Hanna überhaupt worauf sie sich einließ, indem sie diese Stelle annahm? Aufklärende Prospekte oder Zeitungen von Gegnern des damaligen Systems konnte sie nicht lesen. Hanna war wie geblendet durch ihre Angst. Sie verwarf nicht nur jegliche Moralvorstellungen gegenüber Menschen, sondern verletzte auch das Gesetz. Ob sie sich ihrer Sache nun bewusst war oder nicht, bin ich der Meinung, dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt. Analphabeten, insbesondere Hanna, die sich für ihre Schwachstelle schämte, sind nicht einfältig. Wie hätte sie sonst all die Zeit ihr Geheimnis bewahren können, wenn nicht durch immer wieder neu durchdachte, zurechtgelegte Antworten, genaue Ablaufpläne ihrer Tage oder Strategien um geschickt Fragen, die sie auffallen lassen könnten, aus dem Weg zu gehen. Sie hätte sich also über ihr zukünftiges Aufgabenfeld in der SS informieren können, um noch rechtzeitig zu erkennen, dass sie einen Fehler begeht und diesen zu vermeiden. Sie hätte gleich ablehnen können und sich nach möglichen anderweitigen Arbeitsangeboten umzuschauen. Zumal viele Arbeitsstellen zum damaligen Zeitpunkt unbesetzt, durch den Einzug der Männer in den Krieg waren. Hanna hätte aber schon damals den Mut fassen können, das Lesen zu erlernen. Stattdessen geht sie sich selbst und ihrem Problem aus dem Weg. Sie versteckt sich feige hinter ihrem Analphabetismus. Sie begeht auf Befehl Verbrechen und tut Menschen absolutes Unrecht. Sie schaut ihren Opfern, unschuldigen Menschen in deren Gesichter, wie sie mit ihrem Gewissen klar gekommen ist, ist mir ein Rätsel. Mir hätten die Schuldgefühle meine Kehle abgeschnürt, mir die Luft zum Atmen genommen. Hanna hätte diesen Weg nicht nehmen müssen, sie hätte sich der Wahrheit stellen können und den zwar harten, aber meiner Meinung nach richtigen Weg gehen können ‐ bewusst gegen den Analphabetismus kämpfen. Zu Beginn habe ich den Spruch von Laotse in den Raum gestellt. Ich frage mich, ob Hanna anders gehandelt hätte, wenn sie diesen Spruch damals gelesen und verstanden hätte? Um ein ehrlicher Mensch sein zu können, sich selbst und aber vor allem den Opfern gegenüber, hätte Hanna meiner Meinung nach den Analphabetismus „loslassen“ müssen („Wenn ich loslasse, was ich bin, werde ich, was ich sein könnte.“). Sie hätte ein besseres, freieres, ein Leben ohne ständige Angst (auch wenn sie diese nicht nach außen hin zeigte) leben können. Sie hätte sich von der „alten Hanna“ trennen können und mit Mut (denn das Köpfchen hat sie meiner Meinung nach schon) einen „Neuanfang“ wagen können („Wenn ich loslasse, was ich habe, bekomme ich was ich brauche.“). Antworten auf meine gestellten Fragen, werde ich wohl nicht finden. Auch nicht auf die Frage, die ich mir seit ich zum ersten Mal mit dem Thema des Holocaust konfrontiert wurde, begleitet: Wie konnten Menschen zulassen, dass so etwas Grauenvolles passiert? In meinen Augen muss Hanna die Verantwortung für den Mord an den unschuldigen Frauen übernehmen. Sie ist schuldig.