Einsichten und Perspektiven - Bayerisches Staatsministerium für
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Einsichten und Perspektiven - Bayerisches Staatsministerium für
Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit T H E M E N H E F T 1 | 11 Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 50 Jahre Berliner Mauer und die Teilung Deutschlands Einsichten und Perspektiven Autorin und Autoren dieses Heftes Impressum Miriam Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im For- Einsichten schungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. und Perspektiven Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den internationalen Beziehungen deutscher Außenpolitik und Außenpolitikgeschichte Verantwortlich: sowie der Geschichte des Kalten Kriegs und der deutschen Werner Karg, Teilungs- und Grenzgeschichte. Praterinsel 2, 80538 München Dr. Jochen Staadt ist Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Diverse Veröffent- Redaktion: lichungen über die westdeutsche Studentenbewegung von 1968, Monika Franz, die DDR und über deutsch-deutsche Beziehungsgeschichten. Dr. Christof Hangkofer, Christoph Huber, Dr. Matthias Uhl ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Werner Karg Deutschen Historischen Institut in Moskau. Seine Forschungsschwerpunkte bilden hauptsächlich die sowjetische Militär- und Gestaltung: Sicherheitspolitik in der zweiten Berlinkrise, die Rüstungs-, griesbeckdesign Technologie- und Reparationspolitik der UdSSR nach dem En- www.griesbeckdesign.de de des Zweiten Weltkriegs, die DDR im östlichen Militärbündnis und sowjetische Geheim- und Nachrichtendienste im Kalten Druck: Krieg. creo Druck & Medienservice GmbH, Gutenbergstraße 1, 96050 Bamberg Titelbild: Nach den ersten Straßensperrungen: Kontakte von Müttern und ihren Kindern über den Stacheldraht hinweg, August 1961 Foto: ullstein bild Die Landeszentrale konnte die Urheberrechte nicht bei allen Bildern dieser Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit, glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren. 2 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Einsichten und Perspektiven Inhalt 50 Jahre Berliner Mauer und die Teilung Deutschlands 4 6 26 48 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Grußwort des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus, Dr. Ludwig Spaenle Matthias Uhl „Warum sollten wir uns hier hinter dem Rücken von Gen. Ulbricht verstecken?“ Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Jochen Staadt Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Miriam Müller Zerrissenes Dreiländereck „Bayern – Thüringen – Sachsen“: Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wiedervereinigte Deutschland 3 Grußwort Grußwort des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus, Dr. Ludwig Spaenle Die sogenannte „Aktion Rose“ lief in Berlin in den Morgenstunden des 13. August 1961 an. Die in Moskau und Ostberlin Verantwortlichen hatten bewusst einen Sonntag ausgewählt, um Störungen der Aktion durch den anlaufenden Berufsverkehr weitgehend zu vermeiden. Gegen ein Uhr nachts wurde die Grenze zwischen West- und Ostberlin zunächst hauptsächlich mit Panzersperren und Stacheldraht verriegelt und die öffentlichen Verkehrsverbindungen gekappt. Rund um Westberlin flankierten auch sowjetische Militärverbände das Vorgehen der ostdeutschen Grenzer und Bauarbeiter, um vor allem im Falle eines Aufstands wie am 17. Juni 1953 sofort einschreiten zu können. Doch ein Aufstand blieb aus. Im Westen rechnete man – wenn auch nicht schon im Sommer 1961 – damit, dass die DDR die Grenze zum „imperialistischen“ Westen irgendwann abriegeln würde. Die vier Jahre schwelende zweite Berlin-Krise (1958–62), in der Chruschtschow mit einer aggressiv-intransigenten Ultimatenpolitik die Anerkennung der DDR durchzusetzen suchte und eine mögliche Vereinnahmung auch des Westteils der Stadt auslotete, hatte erbracht, dass die Freiheit Westberlins den Rubikon symbolisierte, dessen Überschreitung Krieg bedeutet hätte. Um seinem von Moskau gesteuerten Satellitenregime angesichts weiter ansteigender Flüchtlingszahlen – insbesondere gut ausgebildete Menschen suchten einen Neuanfang im Westen – das Überleben zu sichern, drängte nun aber der von dieser „Minimallösung“ enttäuschte SED-Chef und Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, den Kreml, ihm wenigstens grünes Licht für eine Grenzschließung in der Mitte der deutschen Hauptstadt zu geben und handelte nach dessen Erhalt sofort. Ein kommunistisches Regime mauerte damit am 13. August 1961 vor den Augen der Welt seine Bevölkerung ein. Matthias Uhl beschreibt im vorliegenden Heft die hierarchischen Strukturen zwischen Ostberlin und Moskau und schildert die politische Vorgeschichte des Mauerbaus. 28 Jahre lang sollten nun die beidenTeile Deutschlands voneinander abgeschottet sein. Die Stadt Berlin wurde zum Symbol des Kalten Krieges und blieb bis 1989 ein konfliktreicher neuralgischer Punkt. So rechneten etwa US-Militärstrategen während der Kuba-Krise 1962 mit einem atomaren Erstschlag gegen Berlin und Westdeutschland, falls auf Kuba ein direkter Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion entbrennen würde. Während die Welt im August 1961 schockiert nach Berlin blickte, waren sich die Westalliierten einig, wegen der Grenzschließung keinen Krieg in Kauf zu nehmen. Um eine Eskalation zu vermeiden, verurteilten sie die Errichtung der Mauer, reagierten aber verhalten. Kennedy schrieb an Brandt: „Weder Sie noch wir, noch irgendeiner unserer Verbündeten haben je angenommen, dass wir wegen dieses Streitpunktes einen Krieg beginnen sollten.“ Jochen Staadt zeigt in seinem Artikel die Einstellungen und Reaktionen in West und Ost zum Mauerbau auf. Nach und nach wurden die Grenzanlagen mit Perfidie perfektioniert (so durch die Schließung unterirdischer Fluchtwege und die Technisierung der Schussanlagen). Gelang in den ersten Jahren noch relativ vielen Menschen die Flucht, so mussten die Freiheitssuchenden immer größere Risiken auf sich nehmen, um der DDRDiktatur zu entkommen. Über die genaue Zahl der „Mauertoten“ wird weiterhin diskutiert; insgesamt bezahlten aber wohl allein in Berlin mindestens über zweihundert Menschen ihr Streben nach Freiheit mit dem Tod. Nimmt man die gesamte innerdeutsche Grenze von der Lübecker Bucht bis Hof hinzu, kommt man auf weit über tausend Opfer. Einer der ersten, der sein Leben auf dem Weg in die Freiheit ließ, war etwa Günter Litfin, der in Berlin am 24. August 1961 den Spandauer Schifffahrtskanal (ca. 140 Meter) durchschwimmen wollte und dabei von einem DDR-Grenzer gnadenlos mit einem Schuss in den Kopf getötet wurde. Nicht nur die deutsche Hauptstadt wurde zum Symbol von Unmenschlichkeit undTeilung. Im „vermeintlich fernen“ Bayern wurde das Dorf Mödlareuth, dessen Gebiet sich halb in Bayern, halb in Thüringen erstreckt, mittendurch geteilt. Nach fünf Jahren Stacheldrahtgrenze wurde in diesem „little Berlin“ 1966 eine 3,30 Meter hohe 4 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Grußwort Betonsperrmauer errichtet. Im Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth sind die ehemaligen Sperranlagen noch heute zu besichtigen und es werden viele Geschichten von geglückten und verhinderten Fluchten, Zwangsaussiedlungen wie dem Alltag an dieser Mauer erzählt. Seit dem Fall der Berliner Mauer sind 22 Jahre vergangen; mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die die Mauer und dieTeilung nur noch aus Erzählungen, Geschichtsbüchern und elektronischen Medien kennt, die wohl vielfach die Abstrusität dieser Teilungsgeschichte nur mit Unglauben zur Kenntnis nehmen kann. Mit den Jahren hat es überdies diverse Versuche gegeben, das damalige Geschehen zu relativieren, die DDR als vergleichsweise „harmlose Diktatur“ darzustellen. Ob dies aus politischer Berechnung, als Verdrängungsstrategie oder aus purer Unwissenheit geschehen mag – es ist ein Kernauftrag der politischen Bildung, aus der Perspektive einer freiheitlich-demokratischen Ordnung ganz klar herauszustellen, dass die DDR eine menschenverachtende Diktatur war, in der etwa bis in die achtziger Jahre die Todesstrafe praktiziert wurde. Wenn man es etwa „cool“ findet, sich ein Bild von Erich Honecker aufs T-Shirt zu drucken: Tausende Biographien sind durch diese kommunistische Diktatur zerstört oder deformiert worden; noch heute leiden Menschen, die etwa unschuldig in den Haftanstalten Bautzen oder Hohenschönhausen einsaßen und dort gequält wurden, an den Spätfolgen dieser Erfahrungen. Miriam Müller zeigt in ihrem Beitrag in diesem Heft auf, welche langfristigen politischen und mentalen Folgen und Verwerfungen dieser Politik bis heute bestehen. Zum anderen ist vielfach die Behauptung zu vernehmen, die außenpolitische Welt des Kalten Krieges sei zwar gefährlich, aber im Vergleich mit der heutigen unübersichtlichen, von asymmetrischen und immer noch potentiell atomaren Konflikten bedrohten Welt des 21. Jahrhunderts berechenbar gewesen. Dabei wird zum einen verdrängt, wie knapp die Welt bis 1990 zu mehreren Zeitpunkten von einem „heißen“ Kriegsgeschehen entfernt war und welchen Vernichtungsgrad dieses Kriegsszenario bedeutet hätte; zum anderen waren die Entscheidungsträger, die im Fall des Falles den Einsatz atomarer Waffen angeordnet hätten, auch emotional handelnde Menschen, denen Fehler unterlaufen konnten. Gerade in Blick auf den Kremlchef Nikita Chruschtschow diskutieren Wissenschaftler noch heute über dessen bisweilen irrationale, von Provokationen wie Rückziehern geprägte Außenpolitik. Ganz in diesem Sinne sind die Bilder der geteilten Städte, der meterhohen Betonmauern, der Stacheldrahtmeilen und Geisterbahnhöfe Mahnung und Auftrag. Es ist entscheidend, nachfolgende Generationen, die die Welt des Kalten Krieges nicht mehr erlebt haben, über das Zerstörungspotential unmenschlicher Ideologien aufzuklären. Ich empfehle daher insbesondere Schülerinnen und Schülern die Lektüre des vorliegenden Heftes. München, im Mai 2011 Dr. Ludwig Spaenle Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 5 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext „Warum sollten wir uns hier hinter dem Rücken von Gen. Ulbricht verstecken?“ Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Von Matthias Uhl Nikita Chruschtschow (re.) mit Walter Ulbricht (3. v. li.) in Berlin zum SED-Parteitag am 1. Januar 1958 Bild: ullstein bild 6 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Viele Jahre versuchte die DDR-Propaganda die Welt glauben zu machen, der Bau der Mauer in Berlin sei auf Anweisung von SED-Chef Walter Ulbricht erfolgt. Tatsache ist jedoch, dass ohne die Zustimmung und Unterstützung der Sowjetunion, die der wichtigste Bündnispartner des ostdeutschen Staates war, eine derartige Aktion, die Millionen Menschen für mehr als 28 Jahre die Freiheit kostete, nicht möglich gewesen wäre. Dies machte der sowjetische Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow bereits am 9. November 1961 in einem Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter in Moskau, Hans Kroll, deutlich: „Natürlich, ohne uns hätte die DDR die Grenze nicht geschlossen. Warum sollten wir uns hier hinter dem Rücken von Gen. Ulbricht verstecken? Sein Rücken ist in diesem Fall sowieso nicht so breit.“1 Dieser Beitrag untersucht, wie die Sowjetunion den Bau der Mauer plante und realisierte, und zeigt, dass sie mit ihrer Politik nicht nur das Schicksal von Millionen Menschen fremdbestimmte, sondern auch international eine so gefährliche Situation heraufbeschwor, dass die Welt im Sommer 1961 nur knapp einem Krieg entging. Dass es nicht zum „Krieg um Berlin“ kam, war vor allem der eindeutigen Position der Westmächte und insbesondere der USA geschuldet, Berlin auf keinen Fall preiszugeben, selbst wenn hierfür der Einsatz von Nuklearwaffen erforderlich sein würde. Erst diese Drohung zwang den sowjetischen Staatschef zum Einlenken und zur Aufgabe seines politischen Hauptzieles, West-Berlin als „Freie Stadt“ unter die Kontrolle des sowjetischen Machtbereichs zu zwingen. Gleichzeitig mussten jedoch 17 Millionen Menschen als Preis hierfür bezahlen, in ihrem eigenen Land eingesperrt zu sein. Zur Vorgeschichte des Mauerbaus Mit seinem Ultimatum vom 27. November 1958 brach Nikita S. Chruschtschow die zweite Berlin-Krise vom Zaun. Er forderte von den Westmächten binnen sechs Monaten nichts weniger als ein Ende der alliierten Besetzung der ehemaligen deutschen Hauptstadt und deren Umwandlung in eine entmilitarisierte und selbständige politische Einheit – eine Freie Stadt. Sollte der Westen diese Forderung nicht erfüllen, würde die Sowjetunion nach Ablauf des Ultimatums einen einseitigen Friedensvertrag mit der DDR unterzeichnen. Dieser schloss nach dem Wortlaut des Ultimatums die Übertragung der alliierten Kontrollrechte an die Behörden in Ost-Berlin – besonders in Bezug auf die westlichen Militärtransporte von und nach Berlin – ein. Jeden Versuch, die DDR an der Wahrnehmung der ihr durch den Separatfrieden übertragenen souveränen Rechte zu hindern, müsse die Sowjetunion als militärische Aggression gegen einen verbündeten Staat betrachten. Für den Fall, dass die Westmächte versuchen würden, einen gewaltsamen Zugang nach West-Berlin zu erzwingen, drohte Chruschtschow mit dem bewaffneten Widerstand der DDR und UdSSR, was Krieg bedeuten würde. Erneut wollte also nach Josef W. Stalin und dessen Berlin-Blockade ein sowjetischer Regierungschef der amerikanischen Supermacht und dem westlichen Bündnis ihre Verwundbarkeit im Brennpunkt des Kalten Krieges demonstrieren. Der sowjetische Staats- und Parteichef ging offensichtlich davon aus, dass die Westmächte seinen Vorschlag akzeptieren, wegen Berlin keinen Krieg riskieren und letztendlich nachgeben würden. Trotz der von ihm erkannten militärstrategischen Unterlegenheit glaubte der Kremlchef bei Auslösung der Krise an seine politische Stärke. Den Einsatz militärpolitischer Macht zur Durchsetzung seiner Berlinforderungen sah er als zweitrangiges Problem. Bestärkt durch seinen 1955 in Genf gewonnenen Eindruck, dass die USA die Sowjetunion mehr fürchte als die UdSSR die Vereinigten Staaten, und sein Fehlurteil während der Suez-Krise, die Drohung eines Kernwaffeneinsatzes habe nicht nur den militärischen Rückzug Großbritanniens und Frankreichs, sondern auch eine US-Intervention verhindert, ging er davon aus, seine 1 Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte, Moskau (RGANI), 52/1/586, Bl. 143, Protokoll des Gespräches zwischen Kroll und Chruščev, 9.11.1961. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 7 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Berlin-Blockade 1948/49 – Berliner beobachten vom S-Bahnhof Tempelhof aus ein Luftbrückenflugzeug beim Landeanflug. Bild: ullstein bild politischen Ziele hinsichtlich Berlins allein mit Drohungen und Bluff durchsetzen zu können.2 Westliche Diplomaten hatten aus persönlichen Gesprächen mit dem sowjetischen Partei- und Staatschef allerdings den Eindruck „that Khrushchev dangerously misjudges real situation“, wenn er glaube „that it was unthinkable [...] the West would fight over Berlin“.3 Chruschtschow blieb jedoch bei seiner Position, allein durch die Androhung eines Nuklearkrieges die Westalliierten zum Abzug aus Berlin zwingen zu können. Unbeirrt von Einwänden aus dem sowjetischen Außenministerium, aber auch von engen Freunden und Beratern setzte der sowjetische Partei- und Staatschef auf den unbedingten Erfolg seines Vabanquespiels.4 Das Ultimatum aus Moskau bot der DDR gleichzeitig die Chance, West-Berlin für eine internationale Aufwertung des ostdeutschen Staates zu instrumentalisieren.5 Ein Friedensvertrag mit der UdSSR hätte der DDR die Kontrolle des Zugangs zum Westteil der Stadt übertragen. Die Autorität des Ulbricht-Regimes wäre innenpolitisch gestiegen, und außenpolitisch wäre dieser Schritt ein erster Hebel zur Neutralisierung der Hallstein-Doktrin gewesen. Da die SED-Führung aber international nicht über eigene Mittel zur Erreichung ihrer Ziele verfügte, versuchte sie entsprechend ihren Möglichkeiten, das Handeln ihrer Blockführungsmacht zu beeinflussen.6 Bei genauerem und unvoreingenommenem Studium der Lage hätte Chruschtschow indessen erkennen müs- 2 Vgl. Gerhard Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963: Drohpolitik und Mauerbau, München 2006, S. 27; William Taubman: Khrushchev: the Man and his Era, New York/London 2003, S. 352–360. 3 The Berlin Crisis, Doc. 00516, Telegram from Ambassador Thompson to Secretary of State, 15.12.1958. Thompson bezog sich dabei auf Informationen des norwegischen Botschafters, der zwei Wochen zuvor ein entsprechendes Gespräch mit Chruščev hatte. 4 Vgl. Wladislaw Subok, Konstantin Pleschakow: Der Kreml im Kalten Krieg: Von 1945 bis zur Kubakrise, Hildesheim 1997, S. 281. 5 Vgl. Michael Lemke: Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949–1961, Köln u.a. 2001, S. 449. 6 Vgl. derselbe: Die Berlinkrise 1958 bis 1963: Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995, S. 108–112. 8 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Berlin – Mauer am Potsdamer Platz. Auf DDR-Seite ist eine Proganda-Aufschrift zur Hallstein-Doktrin zu sehen, um 1965. Bild: ullstein bild sen, dass ein separater Friedensvertrag eher geeignet war, die sowjetische Position zu schwächen als zu stärken. Schließlich konnte die UdSSR aufgrund ihrer Rechte als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges und des fehlenden Friedenschlusses nach 1945 auf die Politik in Mitteleuropa unmittelbar einwirken und war durch ihre Militärmissionen in ganz Deutschland präsent.7 Es machte in ihren Augen außerdem keinen Sinn, die DDR durch einen diplomatischen Akt stärken zu wollen, der vom Westen abgelehnt wurde – was der UdSSR ihr vorrangiges Ziel verbaut hätte, den Status quo in Europa und Deutschland vertraglich zu sanktionieren. Ulbricht hingegen hatte andere Interessen. Sein Maximalziel blieb ein separater Friedensvertrag; hätte doch ein gesamtdeutscher Vertrag zu viele Kompromisse und zu wenig Unabhängigkeit von Bonner Mitsprache bedeutet. Weil dieses Ziel dem Kreml trotz der voreiligen Versprechungen des KPdSU-Chefs letztlich nicht abzuringen war, schwenkte Ulbricht 1961 auf sein Minimalziel um, die Schließung des Schlupflochs West-Berlin.8 Die sowjetische Entscheidung zur Grenzschließung Wann die UdSSR mit ersten detaillierten Planungen zur Lösung der Berlin-Frage durch die strikte Abriegelung des Westteils der Stadt begann, ist immer noch unklar. Feststehen dürfte jedoch, dass – im Gegensatz zur DDR – im Herbst 1960 in Moskau hierfür noch keine näheren Überlegungen existierten. Dies legt ein Brief nahe, den Chruschtschow am 24. Oktober des Jahres an Ulbricht sandte. Der sowjetische Staats- und Parteichef vertröstete seinen auf eine Regelung der Berlin-Frage drängenden ostdeutschen Kollegen auf dessen nächste, im November bevorstehende Visite an der Moskwa. Er verlangte zugleich, dass bis dahin „keine Maßnahmen durchgeführt werden sollen, die die Lage an der Grenze zu West-Berlin verändern“.9 7 Vgl. Karl-Heinz Schmidt: Dialog über Deutschland. Studien zur Deutschlandpolitik von KPdSU und SED (1960–1979), Baden-Baden 1998, S. 85f. 8 Vgl. Lemke (wie Anm. 5), S. 462f.: „Unter dem Druck insbesondere der Republikflucht koppelte das Politbüro jedoch das strategische Ziel des separaten Friedensvertrages von der aktuellen Hauptaufgabe, der Schließung der Fluchtpforte Westberlin, ab“. 9 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO-DDR), DY 30/3682, Bl. 39, Schreiben von Chruščev an Ulbricht, 24.10.1960. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 9 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Demonstration militärischer Stärke: Parade am Roten Platz in Moskau am 1. Mai 1966. Gleichwohl lässt sich vermuten, dass sich Chruschtschow für eine wie auch immer geartete militärische Lösung des Berlin-Problems wappnen wollte. Zumindest beendete er Mitte 1960 intern die offiziell immer noch propagierte Abrüstungspolitik der UdSSR und verfügte eine mehr als dreißigprozentige Erhöhung der Rüstungsausgaben für 1961.10 Chruschtschow ging es mit dieser Vorgehensweise augenscheinlich darum, seine bisherige Berlin-Politik endlich auch mit tatsächlich verfügbaren militärstrategischen Machtmitteln zu untermauern, um sie zum gegebenen Zeitpunkt modifizieren zu können. Er hatte erkennen müssen, dass seine Propaganda, die von einer immer wieder behaupteten strategischen Überlegenheit der UdSSR auf dem Gebiet der Raketenwaffen ausging, bislang weitgehend erfolglos war. Schlimmer noch, die Vereinigten Staaten forcierten unter Bild: ullstein bild dem Eindruck der ständigen sowjetischen Drohungen ihre eigenen Rüstungsbemühungen, sodass sich das militärische Kräfteverhältnis in raschem Tempo weiter zugunsten der USA entwickelte. Chruschtschows Versuche, die Erfolge der sowjetischen Raumfahrt als Beweis der militärischen Stärke der Sowjetunion erscheinen zu lassen, waren Ende 1960 endgültig gescheitert und damit auch seine Politik, durch bloße Androhung von Gewalt die Westmächte zur Teilnahme am Abschluss eines Friedensvertrags zu bewegen. Denn der Westen zeigte sich immer weniger beeindruckt von der sowjetischen Drohpolitik und machte dem Kremlchef klar, dass so die von ihm gewünschte Verständigung nicht möglich sei. Dies belegt auch ein Gespräch zwischen Chruschtschow und dem neuseeländischen 10 Vgl. Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft, Moskau (RGAE), 4372/79/659, Bl. 2–15, Schreiben von Kosygin, Kozlov, Brežnev, Malinovskij u.a. an das ZK der KPdSU, 23.12.1960. 10 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Premierminister Walter Nash. Als der Kremlchef wiederholt damit drohte, „dass England einfach zerstört wird“, bemerkte der Neuseeländer nüchtern: „Die Möglichkeit einer solchen Perspektive sollte nicht unsere Diskussionen leiten. Man kann die Partner nicht vor die Wahl stellen – entweder bist Du mit meinen Vorschlägen einverstanden oder Du wirst vernichtet.“11 Infolgedessen war Chruschtschow bestrebt, die militärische Stärke der UdSSR wesentlich zu erhöhen und so das Bedrohungspotential gegenüber dem Westen zu verstärken, um diesen zu einer Lösung des Berlin-Problems im sowjetischen Sinne zu zwingen. Doch noch hielt der sowjetische Partei- und Staatschef die eigenen Kräfte für zu schwach und den Zeitpunkt für eine mögliche militärische Konfrontation um Berlin für verfrüht. Während des erwähnten Treffens im November 1960 in Moskau sperrte sich Chruschtschow deshalb weiterhin gegen die von Ulbricht erwogene Abriegelung West-Berlins. Der Kremlchef wollte zunächst noch die bevorstehenden Gespräche mit dem neuen US-Präsidenten John F. Kennedy abwarten, um die Streitfragen über Berlin beizulegen bzw. um Zeit zu gewinnen. Trotz des weiter bestehenden Neins aus Moskau setzte Walter Ulbricht jedoch seine Überlegungen zur Abriegelung West-Berlins fort. Ihm war vollkommen klar, dass eine Abriegelung des Westteils der Stadt ohne den Einsatz militärischer Mittel nicht möglich sein würde. Da die eigenen Kräfte hierfür nicht ausreichen würden, war er zwingend auf die Hilfe des sowjetischen „Waffenbruders“ und seiner Streitkräfte angewiesen. Am 29. März 1961 präsentierte Walter Ulbricht auf der Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes seine Vorstellungen zur Lösung des Berlin-Problems.12 Mit seiner Rede und in sich daran anschließenden Vier-Augen-Gesprächen gelang es Ulbricht vermutlich, Chruschtschow erstmals von der Unvermeidbarkeit der Schließung der Grenzen in Berlin zu überzeugen. Ende April/Anfang Mai 1961 begannen die sowjetischen Streitkräfte nach jetzt zugänglichen Informationen des Bundesnachrichtendienstes mit ersten konkreten Planungen für eine mögliche militärische Eskalation der Berlin-Krise.13 Die endgültige Entscheidung für den Einsatz militärischer Maßnahmen zur Sicherstellung seiner Berlin-Politik traf Chruschtschow zusammen mit dem Präsidium des ZK der KPdSU am 26. Mai 1961. Der sowjetische Partei- und Staatschef betonte in seiner Rede auf der Präsidiumssitzung, dass die UdSSR seit November 1958 Geduld in der BerlinFrage gezeigt habe. Jetzt aber sei es an der Zeit, endlich den Knoten West-Berlin zu zerschlagen und den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Dass die NATO deshalb mit Krieg drohen werde, war dem sowjetischen Partei- und Staatschef bewusst. Doch aufgrund der ihm vorliegenden Geheimdienstinformationen hielt Chruschtschow ein bewaffnetes Eingreifen der Engländer und Franzosen für unwahrscheinlich. Auch die Bundesrepublik bereite ihm keine Probleme, behauptete Chruschtschow und stellte sich damit im Gegensatz zu seiner andauernden Propaganda gegen die deutsche Wiederbewaffnung. Die gefährlichste Macht sei Amerika, denn die USA „könnten einen Krieg“ beginnen. Insgesamt hielt der sowjetische Partei- und Staatschef diese Möglichkeit aber für gering, ja, er sei sich zu 95 Prozent sicher, dass die Unterzeichnung des Friedensvertrages nicht zum Krieg führen werde. Einen Abzug der westalliierten Truppen aus der Stadt werde er nicht fordern, betonte der Parteichef, die Lieferung von Lebensmitteln sowie die anderen Versorgungsadern nicht abschneiden. Bei dieser Vorgehensweise, so war sich Chruschtschow gewiss, werde es keinen Krieg geben.14 Dann wies er darauf hin, dass US-Botschafter Llewellyn E. Thompson bei ihrem letzten Treffen Verständnis für die Sorge geäußert habe, dass viele Leute aus der DDR fliehen, und vorgeschlagen habe, „lassen sie uns irgendwelche Maßnahmen dagegen unternehmen“. Vor diesem Hintergrund erklärte Chruschtschow, dass SED-Chef Ulbricht vor allem der Flugverkehr zwischen der Bundesrepublik und WestBerlin stark beunruhige. Deshalb müsse hier gehandelt werden: „Unsere Position ist sehr stark, allerdings müssen wir – falls nötig – auch real einschüchtern. Zum Beispiel, falls es Flüge gibt, müssen wir diese Flugzeuge abschießen. Können Sie zu Provokationen übergehen? Sie können. Wenn wir das Flugzeug nicht abschießen, heißt das, wir kapitulieren. [...] 11 RGANI, 52/17575, Bl. 89, Protokoll des Gespräches zwischen Chruščev und Nash, 20.4.1960. 12 SAPMO DDR, DY 30/3386, Bl. 166, Wortlaut der Rede Ulbrichts auf der Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes, 29.3.1961. 13 Vgl. Bundesarchiv, Koblenz (BA Koblenz), B 206/114, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Panzertruppenschule Wünsdorf (Stab GSSD), Information S-Nr. 932237, 26.4.1961. 14 Vgl. Protokoll der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU zur Frage des Meinungsaustausches mit Kennedy in Wien, 26.5.1961, in: Prezidium CK KPSS 1954–1964. Černovye protokol'nye zapisi zasedanij. Stenogrammy. Postanovlenija, Tom 1: Černovye protokol'nye zapisi zasedanij. Stenogrammy, hrsg. von A.A. Fursenko, Moskva 2003, S. 500 503. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Mit einem Wort, Politik ist Politik. Falls wir unsere Politik durchsetzen wollen und wir möchten, dass man unsere Politik anerkennt, verehrt und fürchtet, so müssen wir hart sein.“ Dass dies bedeutete, im Notfall auch militärische Macht zu demonstrieren und für diesen Zweck die sowjetischen Streitkräfte in der DDR zu verstärken, machte Chruschtschow seinen Parteigenossen wenig später klar: „Ich möchte, dass die Gen. Malinowskij, Zacharow und Gretschko gut überprüfen, wie für uns das Kräfteverhältnis in Deutschland ist und was notwendig wäre. Es kann sein, dass wir Bewaffnung schicken müssen, mit einem Wort für den Fall, dass dort Verstärkungen notwendig sind. Das muss man überlegen, um da nichts zu hastig zu machen. Zunächst müssen wir Artillerie- und Schützenwaffen senden und dann Soldaten schicken, damit wir dort für den Fall einer Provokation starke Positionen haben. Dafür geben wir euch einen Zeitraum von einem halben Jahr. Das ist keine eilige Sache, aber jetzt denken sie nach und dann in zwei Wochen tragen sie ihre Überlegungen vor. Falls eine ergänzende Mobilmachung nötig ist, kann man die durchführen, ohne öffentliche Ankündigung. Hier muss man verstärken, damit man Worte mit realen Maßnahmen unterstützen kann.“15 Es zeigt sich, dass Chruschtschow den Fehler des ersten Berlin-Ultimatums nicht wiederholen wollte. Diesmal strebte er danach, über genügend militärische Kräfte zu verfügen, um im Notfall seine politischen Forderungen auch mit Gewalt durchsetzen zu können. Er wollte jetzt aus einer Position der Stärke heraus agieren. Zugleich war der Kremlchef damit von seinem bisherigen Konzept für die Berlin-Frage abgewichen, indem er sich ausdrücklich das Recht auf den Erstgebrauch von militärischen Mitteln vorbehielt und damit selber die Verantwortung zum Schritt für einen möglichen Krieg mit dem Westen übernahm.16 Selbst im Präsidium des ZK der KPdSU war man sich jetzt nicht mehr so sicher, dass bei dieser Vorgehensweise kein bewaffneter Konflikt ausbrechen könnte. Als dann in der Runde die Frage aufkam, ob man denn für alle Fälle Geschenke für das Treffen mit Kennedy in Wien vorbereiten müsse, antwortete Chruschtschow: „Augenscheinlich ja, sogar vor dem Krieg wird geschenkt.“17 Wilhelm Pieck (re.), erster und einziger Präsident der DDR (1949–1960), begrüßt den neuen sowjetischen Botschafter in der DDR, Michail Perwuchin, 14. März 1958. Bild: ullstein bild Nach Julij A. Kwizinskij, späterer Botschafter der UdSSR in Bonn und damals junger Diplomat an der sowjetischen Vertretung in Ost-Berlin, erreichte Ulbricht bei Chruschtschow mit seinem beharrlichen Drängen nicht erst in der zweiten Juli-Hälfte, sondern bereits Anfang des Monats die Erlaubnis, die technischen Vorbereitungsmaßnahmen für eine Schließung der Sektorengrenze und der innerdeutschen Demarkationslinie in Gang zu setzen. In Wirklichkeit waren diese auf ostdeutscher Seite schon deutlich länger angelaufen. Zu diesem Zeitpunkt, Ende Juni oder Anfang Juli, lud Ulbricht Botschafter Michail G. Perwuchin zusammen mit dem damaligen Attaché Kwizinskij in sein Haus am Döllnsee ein, um dort nochmals nachdrücklich die Schließung der Grenze einzufordern, weil ansonsten der Zusammenbruch der DDR unvermeidlich sei und er nicht garantieren könne, die Lage weiter unter Kontrolle zu behalten.18 Perwuchin übermittelte daraufhin am 4. Juli dem sowjetischen Außenminister Andrej A. Gromyko erneut seine Einschätzung der Situation. Der Botschafter hielt die Schließung der Grenze für technisch schwierig und politisch nicht besonders klug, aber möglicherweise nicht mehr zu vermeiden.19 Nach der weiteren Schilderung Kwizinskijs20 fiel deshalb der Entschluss Chruschtschows zeitlich mit deutlichem Abstand vor der Konferenz des Warschauer Paktes. Kwizinskij glaubt sich zu erinnern, dass das end- 15 Ebd., S. 505. 16 Vgl. Wettig (wie Anm. 2), S. 146. 17 Vgl. Protokoll der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU zur Frage des Meinungsaustausches mit Kennedy in Wien, 26.5.1961, in: Prezidium CK KPSS (wie Anm. 14), S. 507. 18 Vgl. Julij A. Kvizinskij: Vremja i slučaj. Zametki professionala, Moskva 1999, S. 215ff. 19 Vgl. Hope M. Harrison: Driving the Soviets up the Wall: Soviet-East German Relations, 1953–1961, Princeton/Oxford 2003, S. 182ff. 20 Vgl. Kvizinskij (wie Anm. 18), S. 215ff. 12 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Flüchtlinge aus der DDR stauen sich im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, 1960. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Bild: ullstein bild 13 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Sowjetisch-amerikanisches Gipfeltreffen in Wien. John F. Kennedy (re.) und Nikita Chruschtschow, 3. Juni 1961. Bild: ullstein bild gültige „Ja“ aus Moskau am 6. Juli 1961 in der Botschaft Unter den Linden eintraf und von Perwuchin und ihm sofort Ulbricht überbracht wurde, der sich gerade in der Volkskammer aufhielt.21 Mitte Juli 1961 standen die Entscheidung zur Grenzabriegelung und die dafür konkret notwendigen Maßnahmen fest; das belegt auch der sonstige Schriftwechsel Ost-Berlins mit Moskau. All dies spricht dafür, dass intern, zwischen Chruschtschow und Ulbricht, die definitive Entscheidung für die Grenzschließung schon einige Zeit vor der Moskauer Tagung gefallen war. Zu einer ähnlichen Ansicht war auch der Bundesnachrichtendienst gelangt. Der routinemäßig an die Bundesregierung gehende militärische BND-Lagebericht vom Juli 1961 zeigte der politischen Führung in Bonn sehr präzise die sowjetischen Zielsetzungen, falls es zu einem separaten Friedensschluss mit Ost-Berlin kommen sollte: die politische und wirtschaftliche Isolierung WestBerlins, die Absperrung des Flüchtlingsstroms dorthin und die Unterbindung der Ausfliegepraxis von Flüchtlingen in die Bundesrepublik, und damit einhergehend die „Konsolidierung des SBZ-Regimes“ und „de-factoAnerkennung des Pankower Regimes“; in der Folge die Beseitigung der Ausstrahlungskraft des freien WestBerlin „in den Raum der SBZ“ und die Herauslösung 21 22 23 24 25 14 Ost-Berlins aus dem Viermächte-Statut mit anschließender endgültiger Integrierung „in die SBZ“.22 Aus der Sicht Pullachs schienen sich Moskau und die SED-Führung darauf vorzubereiten, „seit langem systematisch“ geschaffene Voraussetzungen „zur Abriegelung bzw. Überwachung der Zugänge aus Ost-BERLIN und der SBZ nach West-BERLIN“23 in die Tat umzusetzen, entweder mit Abschluss eines Separatfriedensvertrages mit der DDR oder bei weiter ansteigenden Flüchtlingszahlen bereits vorher: „Bei einer weiteren Steigerung des Flüchtlingsstromes nach West-BERLIN kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass sich das sowjetische Regime bereits vor diesem Termin zu Sperrmaßnahmen entschließt.“24 Wie auch immer das geschehen sollte, die isolierte Lage der Stadt hatte zur Folge, so urteilte der BND-Bericht, dass Moskau und Berlin „eine fast unerschöpfliche Fülle von Handhaben, Schikanen und Pressionen zur Verfügung steht“. Für den Bundesnachrichtendienst lag zweifelsfrei auf der Hand, dass wegen der unbedingt notwendigen Verhinderung weiterer Fluchtbewegungen binnen kürzester Zeit mit einer „wirksamen Blockierung“ der Fluchtwege gerechnet werden musste.25 Vgl. Klaus Wiegrefe: Die Schandmauer, in: Der Spiegel, Nr. 32, 2001, S. 71. BA Koblenz, B 206/181, Militärischer Lagebericht Juli 1961, o. Datum, Bl. 22. Ebd., Bl. 25. Ebd. Ebd., Bl. 28; 25. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Frühsommer 1961 – Die militärischen Maßnahmen der Sowjetunion zur Absicherung des Mauerbaus Während Ulbricht in Berlin noch an den Vorschlägen und Varianten zur Abriegelung West-Berlins arbeitete, setzte auch die Sowjetunion ihre Planungen zur Vorbereitung der Aktion konsequent fort. Beschleunigt wurden diese durch das Scheitern des sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffens in Wien.26 Ende Juni 1961 erhielt der Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in der DDR, Generaloberst Iwan I. Jakubowskij, aus Moskau die persönliche Anweisung Chruschtschows zu prüfen, ob es möglich sei, die Grenze in Berlin komplett zu schließen. Zur Realisierung der Grenzabriegelung wurde dann ein konkreter Maßnahmeplan erarbeitet.27 Dieser Plan sah hinsichtlich der militärischen Fragen vor, dass die unmittelbare Abriegelung der Grenze durch die Truppen der NVA erfolgen sollte. Die sowjetischen Truppen erhielten die Aufgabe, sich in voller Kampfbereitschaft in der zweiten Reihe zu halten. Dadurch sollte den Westmächten klar gemacht werden, dass jeder Versuch, den Status an der Grenze zu ändern, unweigerlich zur militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion führen würde.28 Denn auch der Mauerbau, aus sowjetischer Sicht zunächst eine zweitrangige Option, bedurfte der militärischen Absicherung. Folgerichtig ging man daran, das für die Schließung der Grenzen in Berlin erforderliche Drohpotential der UdSSR zu verstärken. Im Frühsommer 1961 begannen Verlegungen sowjetischer Truppen in die DDR.29 Obwohl bis heute entsprechende Akten des Moskauer Verteidigungsministeriums und der Kremlführung gesperrt sind, ist es auf Grundlage von freigegebenem Material des Bundesnachrichtendienstes und des Führungsstabes der Bundeswehr möglich, den Umfang dieser Truppenverstärkungen wenigstens ungefähr zu bestimmen. Die Ende Mai 1961 vom ZK der KPdSU festgelegten Waffen- und Truppentransporte in die DDR begannen bereits im Juni 1961. Auch den ganzen Juli über hielten die Truppenverlegungen aus der UdSSR in die DDR sowie an die polnische Westgrenze an. Insgesamt erhöhte sich im Vorfeld des Mauerbaus die Mannschaftsstärke der sowjetischen Truppen in Mitteleuropa um etwa 25 Prozent auf mehr als 545.000 Mann. Die Sowjetunion hatte damit fast ein Drittel ihrer gesamten Landstreitkräfte für die militärische Absicherung der Grenzschließung in Berlin in der DDR, Polen und Ungarn konzentriert.30 Nachdem Moskau der von Ulbricht immer wieder geforderten Grenzschließung im Juli 1961 endgültig zugestimmt hatte, unterstützte die UdSSR die einmal getroffene Entscheidung in ihrer Durchführung nachhaltig und übernahm auch die strategische Führung des Mauerbaus. Am 25. Juli 1961 fand schließlich zur unmittelbaren Abstimmung der Grenzschließung ein Treffen zwischen dem Chef des Stabes der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), Generalleutnant Grigorij I. Ariko, und dem Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA), Generalmajor Riedel, statt. Dort wurde die Sicherung der Sektorengrenzen in Berlin, am „Ring um Berlin“ sowie an der „Staatsgrenze West“ besprochen. Hinsichtlich der Sicherung der Berliner Sektorengrenzen legten die beiden Militärs fest, „daß die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Zusammenarbeit mit dem Ministerium des Inneren der DDR einen Plan zur Sicherung der Sektorengrenze erarbeitet. Hierbei ist vorgesehen, daß keine sowjetischen Truppen oder Truppenteile der Nationalen Volksarmee zur unmittelbaren Sicherung der Grenze herangezogen werden. Diese Aufgabe wird ausschließlich durch die Kräfte des Ministeriums des Inneren gelöst. Außerdem wird durch die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte ein Plan erarbeitet, der Aufgaben zur Sicherung Berlins von außen durch Kräfte der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte und der Nationalen Volksarmee enthält, falls die 26 27 28 29 Vgl. Aleksandr Semenovi Orlov: Tajnaja bitva sverchdažav, Moskva 2000, S. 417f. Vgl. Sergej N. Chruščev: Nikita Chruščev: Krizisy i rakety, Tom 2, Moskva 1994, S. 128. Vgl. derselbe, Roždenie sverchderžavy: Kniga ob otce, Moskva 2000, S. 401 f. Vgl. National Security Archive, Washington, D.C. (NSA), Berlin Crisis, box 29, Headquarters United States Army Europe (USAREUR) – Intelligence Estimate 1962 (U), 1.1.1962, S. 14; BA Koblenz, B 206/107, Standortkartei des BND – Transporte Biesdorf/Kaulsdorf, Information 89870 US, Juli 1961; ebenda, B 206/109, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Dresden, Querschnitt Dieter Thomas, 14.7.1961; ebenda, B 206/13, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Rathenow, Nachricht E 46094, 12.6.1961. Die Quelle des BND meldete u.a.: „Im Stadtbild viele neue Soldaten. Fallen durch Einkauf von Süßigkeiten, längeres Stehenbleiben vor Schaufenstern usw. auf.“ 30 Vgl. BA Koblenz, B 206/118, Militärischer BND-Lagebericht Dezember, zugleich Jahresabschlussbericht 1961, 15.12.1961, Bl. 2ff.; ebenda, B 206/181, Militärischer Monatsbericht August, 4.9.1961, Bl. 9 15; ebenda, Militärischer Monatsbericht September, 5.10.1961, Bl. 21 23; Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg (BA-MA), BW 2/2226, Berlin-Krise 1961/62 – Handakte General Gerhard Wessel – Ergänzung Lagebeitrag Heer, 10.9.1961, o. Bl. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 15 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Kräfte des Ministeriums des Inneren hierfür nicht ausreichen. [...] Die unmittelbare Sicherung an der Grenze erfolgt durch die Deutsche Grenzpolizei. Für die eingeteilten Verbände der sowjetischen Streitkräfte und der Nationalen Volksarmee werden Abschnitte entlang der Grenze in einer Tiefe von 1 bis 2 Kilometern vorgesehen.“31 Damit zeigt sich, dass die immer wieder zitierte KennedyRede vom 25. Juli 1961 offenbar keinen Einfluss auf die sowjetische Entscheidungsfindung zum Mauerbau hatte. Als der US-Präsident seine in die Geschichte eingegangene Fernsehansprache hielt, war die Grenzschließung bereits beschlossene Sache. Die Rede des US-Präsidenten dürfte allenfalls dazu beigetragen haben, den ursprünglich geplanten Termin nach vorne zu verschieben. Dem US-Präsidenten war dabei klar, dass er wohl die Freiheit der West-Berliner verteidigen konnte, aber nicht die Freizügigkeit der OstBerliner: „Ich kann das Bündnis zum Handeln bewegen, falls Chruschtschow etwas gegen West-Berlin unternimmt, aber nicht, wenn er etwas in Ost-Berlin macht.“32 Gleichwohl zeigte sich Chruschtschow von dem Ultimatum Kennedys sehr getroffen und ließ dem Abrüstungsberater des US-Präsidenten seine ganze Verbitterung über die Bereitschaft der USA spüren, West-Berlin und seine Bewohner mit allen Mitteln zu verteidigen: „Kennedy erklärt, daß, wenn wir den Friedensvertrag unterschreiben, dies zum Krieg führen wird. Wir nehmen diesen Ruf an und bereiten eine Antwort darauf vor. Sie sollten sich auch vorbereiten. Soll doch die Geschichte darüber urteilen, wer von uns Recht hat und wer diesen Krieg überlebt.“33 Nur zwei Tage nach dem Treffen der beiden Stabschefs und der Kennedy-Rede, am 27. Juli 1961, kamen Vertreter des Innenministeriums der DDR (MdI) und der GSSD zusammen, um den geforderten Plan „zur Sicherung der Sektorengrenze“ auszuarbeiten. Am Ende des Treffens lag schließlich eine genaue Karte der in und um Berlin durchzuführenden Sperrmaßnahmen vor.34 Nachdem damit die entsprechenden Absprachen zwischen dem MdI und der GSSD erfolgt waren, befahl am 31. Juli 1961 Innenminister Karl Maron der Deutschen Grenzpolizei, „unter Wahrung strengster Geheimhaltung in kürzester Zeit den verstärkten pioniermäßigen Ausbau der Staatsgrenze der DDR zu West-Berlin zu planen und vorzubereiten“.35 Am 1. August wurde dann an der Westgrenze der DDR damit begonnen, 18.200 Betonsäulen, 150 Tonnen Stacheldraht, 5 Tonnen Bindedraht und 2 Tonnen Krampen zum Transport nach Berlin vorzubereiten. Zwischen dem 7. und dem 12. August transportierten 400 LKW das Sperrmaterial in die Nähe Berlins.36 Die Moskauer Konferenz der Partei- und Staatschefs des Warschauer Paktes Für alle unmittelbar an der Abriegelung der Grenzen zu West-Berlin Beteiligten in Moskau und Ost-Berlin stand Ende Juli/Anfang August 1961 fest, dass der Mauerbau kurz bevorstand. Lediglich die konkreten Einsatzbefehle für die vorgesehenen Einheiten mussten noch präzisiert werden. Die endgültige Zustimmung zur Grenzschließung während der Moskauer Konferenz war deshalb nur noch ein Nachtrag, der auf die formelle Einwilligung der übrigen osteuropäischen Hauptstädte – nicht Moskaus – zielte. Der Kreml drängte anschließend auf ein schnelles Handeln, bevor der Entschluss vorzeitig bekannt würde. „Wir vertrauten damals nicht sehr darauf, dass unsere Freunde, insbesondere diejenigen in Polen und Ungarn, ‚wasserdicht‘ waren.“37 Hatte Chruschtschow der ihm von Ulbricht aufgedrängten Abriegelung zunächst zögerlich gegenübergestanden und ihr dann vornehmlich aus einer Nützlichkeitserwägung als geringstem Übel zugestimmt, sicherten die Sowjets die einmal getroffene Entscheidung in ihrer Durchführung gleichermaßen mit praktischen wie mit demonstrativen Schritten ab. Offen blieb vorerst noch, an welchem Tag die von beiden Seiten perfekt vorbereitete Aktion durchgeführt werden sollte. Die Entscheidung über den genauen Termin des Einsatzes der Streitkräfte der DDR und UdSSR zur Grenzschließung in Berlin fiel kurz vor der Sitzung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes in Moskau. Am 1. August 1961 erörterten Chruschtschow und Ulbricht im vertraulichen Gespräch die Details der bevorstehenden Grenzschließung. Das jetzt zugängliche Protokoll dieses 31 Ebd., DVW 1/18771, Bl. 13 f., Notiz über die Absprache zwischen dem Chef des Stabes der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, Generalleutnant Ariko, und dem Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef des NVA-Hauptstabes, Generalmajor Riedel, ohne Datum. 32 Arthur M. Schlesinger: A Thousand Days: John F. Kennedy in the White House, Boston, S. 394. 33 RGANI, 52/1/581, Bl. 144 f., Protokoll des Gespräches zwischen McCloy und Chruščev, 27.6.1961. 34 Vgl. BA-MA, DVW 1/6284–5, Bl. 832, Karte des Plans der Sicherung Berlins, ausgearbeitet vom MdI und der GSSD, 27.7.1961. 35 BA-MA, DVW 1/14835, Bl. 34, Studie des Instituts für Deutsche Militärgeschichte „Die Nationale Volksarmee in der Aktion vom 13. August 1961“, 20.2.1964. 36 Vgl. ebd., Bl. 35. 37 Julij A. Kwizinskij: Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 182. 16 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Absperrung des Brandenburger Tores am 14. August 1961 durch Betriebskampfgruppen der DDR und Soldaten der NVA Bild: ullstein bild Treffens belegt, dass der sowjetische Partei- und Regierungschef in der Endphase der Vorbereitung des Mauerbaus die treibende Kraft war und dem SED-Chef klar und unmissverständlich seine Vorstellungen zur Schließung der Grenzen in und um Berlin diktierte: „Ich habe meinen Botschafter gebeten, Ihnen meine Überlegungen darüber darzulegen, dass die gegenwärtige Spannungssituation mit dem Westen genutzt werden sollte, um Berlin mit einem eisernen Ring zu umgeben. […] Ich glaube, dass unsere Streitkräfte einen solchen Ring bilden sollten, aber kontrollieren werden ihn Ihre Truppen. Erstens, das muss bis zum Abschluss des Friedensvertrages gemacht werden. Das wird unser Druckmittel, es zeigt, dass wir diese Frage ernsthaft angehen und daß wenn man uns einen Krieg aufdrängt, Krieg sein wird.“38 Lagers, legte Chruschtschow dann während einer Vorbesprechung mit Ulbricht fest, die Grenze zu WestBerlin am 13. August 1961 abzuriegeln.39 Handschriftlich hielt Walter Ulbricht fest, wie er und der sowjetische Staats- und Parteichef sich die Abriegelung WestBerlins vorstellten: Am 3. August 1961, unmittelbar vor der Eröffnung des Treffens der Staats- und Parteichefs des sozialistischen Am Schluss des Zusammentreffens versicherte Chruschtschow Ulbricht nochmals, dass die Sowjetunion alles Not- 1. „Äußeren Grenzring schließen. Einreise Bürger der DDR nur auf spezielle Passierscheine. 2. Einwohnern der DDR verbieten, ohne Genehmigung West-Berlin aufzusuchen. Alle Fußgänger, alle Passagen, alle Bahnen am Übergangskontrollpunkt kontrollieren. S-Bahn an Grenzstationen Kontrolle aller Reisenden. Alle müssen aus dem Zug nach Westberlin aussteigen, außer den Westberlinern.“40 38 RGANI, 52/1/557, Bl. 130–146, Protokoll des Gespräches zwischen Ulbricht und Chruščev, 1.8.1961. 39 Vgl. SAPMO-DDR, DY 30/3682, Bl. 150, handschriftliche Notizen von Ulbricht über Unterredung mit Chruščev, 3.8.1961. 40 Ebd., Bl. 148f. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 17 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Stacheldraht vor dem Brandenburger Tor, 14. August 1961 Bild: ullstein bild wendige tun werde, damit die DDR mit dem Flüchtlingsproblem fertig werden könne.41 Diese Notizen und Anmerkungen belegen nochmals, dass die Tagung des Warschauer Paktes vom 3. bis 5. August 1961 in Moskau nicht, wie bisher oft vermutet, über die Möglichkeit der Schließung der Sektorengrenze in Berlin diskutierte. Auf der Sitzung wurden lediglich die von der UdSSR und der DDR vorgelegten Pläne zur Kenntnis genommen. Akten aus dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte zeigen, dass alle von der Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses verabschiedeten Beschlüsse und Dokumente bereits am Vormittag des 3. August 1961 vom Präsidium des ZK der KPdSU bestätigt wurden. Dies betrifft sowohl die Erklärung der Warschauer Vertrags-Staaten42 als auch die Mittei- lung für die Ersten Sekretäre der Kommunistischen und Arbeiterparteien über die Sitzung der Vertrags-Staaten.43 Aufgrund der jetzt konkretisierten Zeitpläne begann noch während der Moskauer Tagung die Verlegung starker sowjetischer Truppenverbände nach Berlin. Allein zwischen dem 4. und 5. August 1961 trafen hier mehr als 4.600 sowjetische Soldaten ein.44 Am äußeren Ring der Stadt gingen zum Zweck der vollständigen Abriegelung West-Berlins neben der 1. Motorisierten Schützendivision der NVA aus Potsdam drei weitere Divisionen der 20. sowjetischen Gardearmee in Stellung.45 Gleichzeitig brachte das Kommando der sowjetischen Streitkräfte in der DDR entlang der Autobahnstrecke Helmstedt–Berlin umfangreiche sowjetische Truppenverbände in Gefechtsposition. Ihr Auftrag: Die 41 Vgl. Aleksandr A. Fursenko, Rossija i meždunarodnye krizisy: seredina XX veka, Moskva 2006, S. 237–242. 42 Vgl. RGANI, 3/14/494, Bl. 79, Beschluss P 340/58 des Präsidiums des ZK der KPdSU, 3.8.1961; ebd., 3/14/469, Bl. 6–8, Anlage zum Punkt Nr. 58: Entwurf der Erklärung der Warschauer Vertragsstaaten, ohne Datum. 43 Vgl. ebenda, 3/14/494, Beschluss P 340/59 des Präsidiums des ZK der KPdSU, 3.8.1961, Bl. 80; ebd., Bl. 9–11.3/14/469, Anlage zum Punkt Nr. 59: Entwurf der Mitteilung an die Ersten Sekretäre der Kommunistischen und Arbeiterparteien über die Sitzung der Warschauer Vertragsstaaten, ohne Datum. 44 Vgl. BA Koblenz, B 206/107, Standortkartei des BND – Lage Berlin, 64/61 – Transporte und Kolonnen nach Berlin, Information CCFFA (Befehlshaber der in Deutschland stationierten französischen Streitkräfte), 4./5.8.1961. 45 Vgl. BA-MA, DVW 1/6284, Bl. 32–35, Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung Nr. 01/61, 12.8.1961 (ausgearbeitet am 11.8.1961 durch Oberstleutnant Skerra); NSA, Berlin Crisis, box 29, United States Army Europe (USAREUR) – Intelligence Estimate 1962 (U), 1.1.1962, S. 13; BA Koblenz, B 206/181, Militärischer Monatsbericht August, 4.9.1961, Bl. 14. 18 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Britische Alliierte beobachten auf der Straße des 17. Juni das Geschehen am Brandenburger Tor, 13. August 1961. Abwehr von eventuellen Versuchen der Amerikaner, mit Waffengewalt vom Territorium der Bundesrepublik aus nach West-Berlin durchzubrechen.46 Die Grenzabriegelung In der Nacht vom 12. auf den 13. August begann die Absperrung der Sektorengrenzen in Berlin.47 An exponierten Stellen in und um Berlin gingen Teile der 1. und 8. Motorisierten Schützendivision der NVA in Stellung, die eine zweite Sicherungsstaffel in der Tiefe zu bilden hatten. Sie stellten sofort Verbindung zu den ebenfalls in und um Berlin eingesetzten sowjetischen Divisionen und zum Stab der GSSD her.48 Bild: ullstein bild An der Grenze selber wurden zunächst entsprechend den mit der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland ausgearbeiteten Plänen Grenz- und Bereitschaftspolizisten sowie Kampfgruppen aufgestellt. Innerhalb kürzester Zeit wurden in Berlin die meisten innerstädtischen Grenzkontrollpunkte geschlossen und mittels Pioniermaßnahmen versperrt. Zugleich unterbrachen Grenzpolizisten den S- und U-Bahn-Verkehr von und nach West-Berlin.49 Mit einem Personalaufwand von etwa 5.000 Grenz- und ebenso vielen Volkspolizisten sowie 4.500 Mitgliedern der Kampfgruppen und über 7.300 NVA-Soldaten gelang bis 6.00 Uhr am Morgen des 13. August die Abriegelung West-Berlins. 46 Vgl. BA Koblenz, B 206/107, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Dessau, Auszug Wochenbericht Narzisse (Deckname des BND für den französischen Geheimdienst) 33/61, 17.–24.8.1961; NSA, Berlin Crisis, box 35, USAREUR – Unilateral Planning for the Use of Tripartite Forces with Respect to Berlin, 21.9.1961. 47 Die dafür erlassenen Befehle sind abgedruckt in: Im Schatten der Mauer. Dokumente. 12. August bis 29. September 1961, hg. v. Hartmut Mehls, Berlin 1990, S. 12–23; Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Eine Dokumentation, hrsg. von Matthias Uhl und Armin Wagner, München 2003, S. 106–116. 48 Vgl. BA-MA, DVW 1/6284, Bd. 3, Bl. 444, Lagebericht 1. MSD, 14.8.1961; ebd., DVH 17/8216, Bl. 510, Verbindungsübersicht 8. MSD, 17.8.1961. 49 Vgl. Befehl von Innenminister Maron zur Veränderung des Verkehrsnetzes in Berlin, 12.8.1961, abgedruckt in: Im Schatten der Mauer (wie Anm. 48), S. 16–19. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 19 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Panzer der amerikanischen Alliierten an der Sektorengrenze in Berlin Kreuzberg, 13. August 1961. Die gesamte Operation wurde von einem Zentralen Stab unter der Leitung von Erich Honecker überwacht. Ulbricht, der im Vorfeld detaillierte Vorstellungen zum Charakter der Operation entwickelt hatte, hielt sich aus der Durchführung überwiegend heraus. Er zeigte sich stattdessen vor Ort an der Grenze und übernahm die politische Rechtfertigung der Teilung Berlins. Gleich am Anfang der Grenzschließung zeigte sich, dass die Sowjetunion das neu eingeführte Grenzregime wesentlich mitbestimmte. Ende September 1961 konnte der Oberkommandierende der GSSD seine Forderung durchsetzen, in der 100-Meter-Sperrzone „ein strenges militärisches Regim[e] einzuführen“ und „gegen Verräter und Grenzverletzer [...] die Schußwaffe anzuwenden“.50 Die Forderung machte zum einen klar, dass die Sowjetunion den Anspruch erhob, die Gestaltung des Grenzregimes wesentlich mitzubestimmen oder gar das letzte Wort zu behalten. Zum anderen verdeutlicht die sowjetische Einmischung, dass das Grenzsystem aus Sicht Moskaus – und in klarer Bild: ullstein bild Übereinstimmung mit Ulbrichts Intentionen – keine militärisch präventiv ausgelegte Funktion innehatte, sondern vielmehr eine „binnenorientiert-repressive“ Funktion besaß.51 Da Stacheldraht und Mauer nicht sofort die von der SED gewünschte Wirkung, nämlich die Unterbindung der zahlreichen Republikfluchten, zeigten, wurde an der neuen Grenze der Waffengebrauch zum normalen, bedarfsweise alltäglichen Zwangsmittel. Gegen „Verräter und Grenzverletzer“ bestand in den Augen der politischen Führung der DDR Feuererlaubnis.52 Das Kommando der GSSD und Botschafter Perwuchin wirkten allerdings trotz der selbst geforderten Härte zwischen August und Oktober 1961 mehrmals auf Ulbricht und Honecker ein, an der Berliner Grenze nicht vorschnell auf Flüchtige zu schießen. Der sowjetische Generalstab war allerdings nicht darum bemüht, Menschenleben zu retten, sondern wollte die brisante Situation nach der 50 BA-MA, DVW 1/39573, Bl. 97, Lagebesprechung des Zentralen Stabes, 20.9.1961. 51 Vgl. Armin Wagner: Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED: Der Nationale Verteidigungsrat der DDR und seine Vorgeschichte (1953–1971), Berlin 2002, S. 461f. 52 Vgl. Torsten Diedrich: Die Grenzpolizei der SBZ/DDR (1946–1961), in: Im Dienste der Partei: Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, hrsg. von Torsten Diedrich, Hans Ehlert und Rüdiger Wenzke, Berlin 2 1998, S. 219. 20 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext DDR-Volkspolizisten suchen nach einem von ihnen erschossenen Flüchtling, der im Teltowkanal untergegangen war. Sowjetische Soldaten beobachten den Vorfall, 1961. Bild: ullstein bild Grenzschließung nicht durch zusätzliche Provokationen in der Stadt aufschaukeln.53 Es war Auftrag der sowjetischen Truppen in der DDR, durch ihre Präsenz vor allem die politischen Maßnahmen der Moskauer Führung „militärisch so abzusichern, dass westliche militärische Anstrengungen jeweils ausgeglichen und etwaige Neigungen der Alliierten zu aktiven Gegenmaßnahmen [...] gedämpft oder notfalls vereitelt werden können“.54 Deshalb befahl Moskau in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 für die gesamten Truppen der GSSD erhöhte Gefechtsbereitschaft. Bei den sowjetischen Luftstreitkräften in der DDR wurden 50 Prozent der Verbände in die höchste Bereitschaftsstufe versetzt.55 Um dem Westen die sowjetische Kampfbereitschaft im Fall von Gegenmaßnahmen zu demonstrieren und um eigene Aufklärung zu betreiben, wurden zeitgleich Einheiten der GSSD in Kompaniebis Bataillonsstärke entlang der gesamten innerdeutschen 53 Vgl. RGANI, 5/30/367, Bl. 25–28, Bericht des Verteidigungsministeriums der UdSSR an das ZK der KPdSU über die Situation in Berlin und der DDR, 26.8.1961. 54 BA Koblenz, B 206/118, Militärischer BND-Lagebericht Dezember, zugleich Jahresabschlussbericht 1961, 15.12.1961, Bl. A I 5 55 Vgl. RGANI, 5/30/367, Bl. 1–3, Bericht des Verteidigungsministeriums der UdSSR an das ZK der KPdSU über die Situation in Berlin und der DDR, 15.8.1961; BA-MA, BW 2/2226, o. Bl., Vortragsnotiz Führungsstab Luftwaffe für Lagebesprechung beim Führungsstab der Bundeswehr, 8.9.1961. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 21 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Russische Panzer des Typs T34 an der Sektorengrenze zwischen den Berliner Stadtteilen Friedrichshain (Ost) und Kreuzberg (West) Bild: ullstein bild Grenze fünf bis zehn Kilometer hinter der Demarkationslinie als Sicherungsverbände postiert. Parallel errichteten die sowjetischen Streitkräfte zwischen Ostsee und Harz sowie entlang der Autobahn zwischen Helmstedt und Berlin eine ganze Reihe von Beobachtungsposten, die mit sowjetischen Offizieren besetzt wurden.56 Die dabei gewonnenen Informationen wurden von den Militärs vor Ort widersprüchlich gedeutet. Auf der einen Seite befürchteten sie – auch bedingt durch ihre politische Indoktrinierung – einen NATO-Angriff auf Berlin, auf der anderen bewertete man die Maßnahmen des Westens als genauso demonstrativ wie die der Sowjetunion.57 Doch die Führung der GSSD beschränkte sich nicht nur auf demonstrative Maßnahmen. Da der sowjetische Partei- und Staatschef immer noch das Ziel eines separaten Friedensvertrages mit der DDR verfolgte, wurden die militärischen Kräfte der Sowjetunion nochmals verstärkt. Am 29. August 1961 beschloss die sowjetische Führung, dass bis zur Unterzeichnung eines Friedensvertrages keine Entlassungen von Wehrdienstpflichtigen erfolgen sollten. Gleichzeitig wies das Verteidigungsministerium eine vorzeitige Einberufung des Jahrgangs 1942 an. Durch diese Maßnahme erhöhte sich die Gesamtpersonalstärke der sowjetischen Streitkräfte nach vorliegendem russischem Archivmaterial um ungefähr 400.000 Mann. Insgesamt schätzte der bundesdeutsche Nachrichtendienst, dass nach dem Mauerbau die sowjetische Truppenstärke von 3,3 Millionen auf 3,887 Millionen Mann gestiegen war.58 56 Vgl. BA Koblenz, B 206/181, Militärischer Monatsbericht August, 4.9.1961, Bl. 9; BA-MA, BW 2/2226, o. Bl., Zusammenfassung Lage durch Führungsstab Heer, 8.9.1961. 57 Vgl. Pavel A. Golicyn: Zapiski načal’nika voennoj razvedki, Moskva 2002, S. 119–125. 58 Vgl. Befehl des Verteidigungsministers der UdSSR Nr. 217/61, 14.9.1961, in: Krasnaja Zvezda, 15.9.1961; BA Koblenz, B 206/118, Militärischer BND-Lagebericht Dezember, zugleich Jahresabschlussbericht 1961, 15.12.1961, Bl. B I 2 5.; BA MA, BW 2/2226, o. Bl., Lage Heer, o. Datum (Anfang September); RGAE, 4372/79/882, Bl. 125–128, Schreiben von Zacharov und Rjabikov an den Ministerrat der UdSSR über die Auslieferung zusätzlicher Lebensmittel und Verbrauchsgüter an das Verteidigungsministerium, 21.9.1961. 22 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Der Atompilz steigt auf über Semipalatynsk, dem Atomwaffentestgelände der UdSSR im heutigen Kasachstan, 1962. Bild: ullstein bild Während Ulbricht und seine Militärs Anfang September 1961 offensichtlich davon ausgingen, dass die Abriegelung der Grenzen in West-Berlin zu keine größeren militärischen Spannungen führen würde, schätzte die UdSSR die Bedrohungssituation, wohl auch vor dem Hintergrund des immer noch ausstehenden Friedensvertrages, anders ein. Sie sah immer noch die Gefahr einer bewaffneten Konfrontation mit den USA und erhöhte deshalb weiter ihr Abschreckungspotential. Aus ihrer Sicht waren dazu offensive Maßnahmen das geeignete Mittel. Bereits am 28. August 1961 hatte Chruschtschow dem SED-Chef Ulbricht streng vertraulich mitgeteilt, dass die UdSSR in nächster Zeit das bisherige Teststoppmoratorium brechen werde. Die Kernwaffenversuche sollten, so der sowjetische Partei- und Staatschef, die Bereitschaft demonstrieren, „jeglichen Abenteuern seitens der aggressiven Staaten gewappnet entgegenzutreten“.59 Ab 1. September 1961 begann die Sowjetunion eine umfangreiche Kernwaffentestserie, die am 30. Oktober 1961 in der Erprobung einer 100-Megatonnen Bombe gipfelte, deren Sprengkraft jedoch auf 50 Megatonnen gedrosselt worden war.60 Der Westen zeigte sich durch die zahllosen sowjetischen Militäraktionen und die Truppenverstärkungen des Warschauer Paktes sehr besorgt, etwa General Gerhard Wessel in einer Einschätzung für den Militärischen Führungsrat der Bundesrepublik: „Der Nervenkrieg hat mit der Atom- und Raketenversuchsserie und den Manövern von Kräften der Warschauer-Pakt-Staaten einen absoluten Höhepunkt erreicht. Dieser Höhepunkt dient als militärisches Druckmittel, um die angestrebten Verhandlungen über Berlin und Deutschland zu erzwingen und zu einem für die UdSSR positiven Ergebnis zu führen. Es ist daher zu erwarten, dass der jetzt erreichte Höhepunkt über einen längeren Zeitraum konstant bleiben wird. Die Gefahr, dass aus der zunächst für Manöver gebildeten Kräftekonzentration überraschend zu einer Offensive gegen Mitteleuropa ange- 59 SAPMO-BA, DY 30/3386, Bl. 222–223, Schreiben von Chruščev an Ulbricht, 28.8.1961. 60 Vgl. Steven Zaloga: The Kremlin’s nuclear sword: the rise and fall of Russia’s strategic nuclear forces, 1945–2000, Washington/London 2002, S. 71–72. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 23 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext treten wird, ist nicht ausgeschlossen, wenngleich Anzeichen für unmittelbar bevorstehende Angriffe nicht vorliegen. Die in den letzten Wochen wesentlich erhöhte Stärke und Einsatzbereitschaft der Feindkräfte im europäischen Raum erschwert jedoch rechtzeitiges Erkennen etwaiger feindlicher Angriffsabsichten. Dieser ernsten und schwierigen Lage sollten die eigenen Maßnahmen – im militärischen wie im zivilen und im materiellen wie im geistigen Bereich – Rechnung tragen.“61 Die wirksamste militärische Gegenmaßnahme des Westens war die Erhöhung seiner Truppenpräsenz und Streitkräftestärke in Westeuropa. Dies wurde von den sowjetischen Militärs sehr genau wahrgenommen und auch an das ZK der KPdSU berichtet.62 Deshalb gelang es Chruschtschow zwar, die Schließung der Sektorengrenzen in Berlin sicherzustellen. Er scheiterte jedoch mit dem Versuch, den Westen durch militärischen Druck zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen und damit an dessen demonstrierter Bereitschaft, die alliierten Rechte in Berlin falls nötig auch mit Waffengewalt zu verteidigen.63 Ergebnisse Die Abriegelung der Sektorengrenzen in Berlin vom August 1961 war in ihrer militärischen Durchführung eine erfolgreiche Operation der Sowjetunion und der DDR, deren Geheimhaltung hervorragend gelungen war. Sowohl die Mauer rings um West-Berlin als auch das Sperrsystem an der „Staatsgrenze West” richteten sich nur potentiell, aber nicht in der Praxis gegen bewaffnete Überfälle aus westdeutscher Richtung, wie es die offizielle DDR-Propaganda vom „antifaschistischen Schutzwall“ stets suggerierte. Nirgendwo wurde von ostdeutschen und sowjetischen Dienststellen eine gezielte westdeutsche Provokation, der Aufmarsch westlicher Truppenverbände oder gar das Einschleusen von „Diversanten“ oder kleinen Kampfgruppen der NATOStreitkräfte („Rangern“) gemeldet. Stattdessen handelte es sich bei den „Grenzverletzern“ fast ausschließlich um fluchtwillige DDR-Bürger. Mit Recht hat der Historiker Götz Aly in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Mauer die Funktion anderer großer historischer Bollwerke wie des Limes, der Maginot-Linie oder der mittelalterlichen Stadtbefestigungen verkehrte; war es doch nicht ihr Ziel, einen feindlichen Angriff aufzuhalten und zu brechen, sondern die eigene Bevölkerung einzusperren.64 Die DDR und die Sowjetunion bereiteten die Schließung der Grenzen in Berlin gemeinsam vor, wobei OstBerlin wesentlich früher als bisher angenommen – etwa seit dem Herbst 1960 – mit den Vorbereitungen dazu begann, ohne zu dieser frühen Zeit das Einverständnis des Kreml zu besitzen. Die Sowjetunion und ihre Streitkräfte sicherten die geplante Aktion als Kernstück der zweiten Berlin-Krise strategisch ab und mobilisierten hierfür die gesamte Militärmacht der UdSSR. Die DDR übernahm die Ausarbeitung der mit der Grenzschließung verbundenen praktischen und taktischen Maßnahmen. Ulbrichts weitergehende Versuche nach dem August 1961, West- (wie auch Ost-)Berlin dem Alliierten-Recht zu entziehen und faktisch in die DDR einzugliedern, zeigten dem SED-Chef indessen die Grenzen seines Erfolges vom Sommer 1961. Den ungehinderten Zugang der Westmächte nach Ost-Berlin konnte er auch weiterhin, trotz der Eskalation am Checkpoint Charlie Ende Oktober desselben Jahres, nicht verhindern, denn hinter den Kulissen machten der Kreml und der GSSD-Oberkommandierende der SED-Führung klar, dass die DDR im Grenzregime den Vorschlägen und Wünschen der UdSSR zu folgen habe. Ulbricht drängte Moskau im Frühjahr 1961 zum Mauerbau und erreichte die sowjetische Zustimmung. Danach wurde die Handlungsfreiheit des Partei- und Staatschefs der DDR jedoch massiv eingeschränkt. Hauptziel der sowjetischen Politik und ihres Militäreinsatzes war es, auf jeden Fall eine bewaffnete Auseinandersetzung um Berlin zu vermeiden.65 Deshalb musste Ulbricht auf Anweisung aus Moskau Schritte zurücknehmen oder entschärfen, die dazu geführt hätten, die Situation weiter eskalieren zu lassen. Doch nur dadurch, dass er sich den sowjetischen Vorgaben unterordnete, gelang es Ulbricht, sein Ziel – die Schließung der Grenzen – durchzusetzen. 61 BA-MA, BW 2/2226, o. Bl.; Beitrag Wessel für Vortrag für Militärischen Führungsrat, 7.11.1961, S. 9. 62 RGANI, 5/30/368, Bl. 95 f., Bericht des Verteidigungsministeriums an das ZK der KPdSU über die Situation in Berlin und der DDR, 2.12.1961. 63 An dieser Stelle wird darauf verzichtet, auf die westlichen Gegenmaßnahmen näher einzugehen. Siehe hierfür u.a.: Lawrence Freedman: Kennedy’s Wars: Berlin, Cuba, Laos and Vietnam, Oxford 2002. 64 Vgl. Götz Aly: Warte nur auf bessere Zeiten. Die Berliner Mauer hielt die deutsche Frage 28 Jahre lang offen, in: Berliner Zeitung v. 6. August 2001, S. 11. 65 Vgl. John C. Ausland, Kennedy, Khrushchev and the Berlin-Cuba-Crisis 1961–1964, Oslo u.a. 1996, S. 2. 24 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext Der sowjetische Staats- und Parteivorsitzende Michail Gorbatschow (li.) und Bundeskanzler Helmut Kohl während des Staatsbesuchs von Gorbatschow in der Bundesrepublik Deutschland, 13. Juni 1989 Bild: ullstein bild Die Westmächte akzeptierten die Abriegelung West-Berlins, um den zum damaligen Zeitpunkt gefährlichsten internationalen Krisenherd endlich zu beruhigen. Das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen Ost und West wollten und konnten weder die USA noch die UdSSR eingehen. Deshalb wurde die dramatische Zuspitzung der Situation am Checkpoint Charlie am 27./28. Oktober 1961 zum endgültigen Wendepunkt. Der gleichzeitige Abzug der amerikanischen und sowjetischen Panzer von der Friedrichstraße zeigte, dass beide Supermächte die neue Situation und den Status quo in Berlin anerkannten.66 Gleichzeitig wurde für die Weltöffentlichkeit durch die Ereignisse in der Fried- richstraße klar, wer in der DDR letztlich die Kommandogewalt innehatte. Die so genannte zweite Geburt des ostdeutschen Staates wäre ohne die massive sowjetische Militärhilfe nicht geglückt. Sie verdeutlichte zugleich, dass auch nach mehr als elf Jahren ihres Bestehens die DDR ein Kunstprodukt war, deren Existenz, wie es der chinesische Militärattaché 1962 auf einem Empfang ausdrückte, „allein auf der Anwesenheit sowjetischer Truppen beruh[t]e“.67 Als die sowjetische Führung und ihre Streitkräfte nicht mehr bereit waren, die Politik der SED mit Waffengewalt zu schützen, brachen im Herbst 1989 die DDR und damit auch die Mauer wie ein Kartenhaus zusammen. 66 Vgl. Rolf Steininger: Berlinkrise und Mauerbau 1958 bis 1963, München 42009, S. 290–300. 67 Vgl. RGANI, 5/30/398, Bl. 12, Schreiben des KGB-Vorsitzenden Semičastnyj an das ZK der KPdSU, 10.3.1962. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 25 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Der Mauerbau aus Ostund Westperspektive Von Jochen Staadt Nikita Chruschtschow (1894–1971) bei seinem Besuch 1958 in Ostberlin mit Walter Ulbricht (1894–1971) Alle Bilder, falls nicht anders gekennzeichnet: ullstein bild 26 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Die Prognosen zum Jahreswechsel 1960/61 fielen für die SED-Führung düster aus. Über drei Millionen ihrer Bürger waren aus der DDR schon in den Westen geflüchtet. Die Wirtschaft lag darnieder, es bestand keine Aussicht auf eine Besserung der Lage. Am 16. Januar 1961 wandte sich der Erste Sekretär des SED-Zentralkomitees, Walter Ulbricht, mit der Bitte um dringende Hilfe an den sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow. „Teurer Genosse Nikita Sergejewitsch!“, begann Ulbricht höflich, „[n]ach der Aussprache zwischen uns im November 1960 halten wir es für notwendig, daß wir uns mit dem Präsidium des ZK der KPdSU über einige Hauptfragen der Deutschlandpolitik und der ökonomischen Lage der DDR im Jahr 1961 konsultieren.“ Sodann erging sich Ulbricht zunächst in allerlei Vorschlägen, wie „im Jahr 1961 bei der friedlichen Lösung der Westberlin-Frage und der Herbeiführung eines Friedensvertrages vorwärts zu kommen“ sei. Die Möglichkeiten, wenigstens einen Teil der in Berlin entstandenen Nachkriegskonstellation „abzubauen“, waren seiner Meinung nach besonders günstig, weil „die Adenauer-Regierung in der Zeit der Bundestags-Wahlkampagne nicht an einer Zuspitzung der Lage interessiert ist und Präsident Kennedy im ersten Jahr seiner Präsidentschaft ebenfalls keine Verschärfung der Lage wünscht“. Es sei zu erwarten, dass Adenauer den Abschluss eines Friedensvertrages der beiden deutschen Staaten mit allen Teilnehmerstaaten des Zweiten Weltkrieges ablehnen und auf dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland bestehen werde. Ungeachtet aller Angebote der DDR zur Verständigung werde Westdeutschland den Kalten Krieg verschärfen und dabei den Kampf gegen die DDR „hauptsächlich mit ökonomischen Waffen“ führen. Ulbricht schlug vor, den Druck auf die Westmächte zu erhöhen und auf internationaler Ebene für „die Notwendigkeit der Beseitigung der Reste des Krieges in Deutschland und speziell der anomalen Lage in Westberlin“ zu werben. Er bekräftigte die schon 1959 erhobene Forderung nach Umwandlung West-Berlins in eine „Freie Stadt“. Damit meinte er: „Beseitigung des Besatzungsregimes in Westberlin, d.h. Auflösung der Kommandantur und Verzicht der auf Grund des Besatzungsstatuts ausgeübten Rechte“ bis hin zum „vollständigen Abzug“ der Westalliierten. Die DDR werde dann in vertraglichen Vereinbarungen mit dem West-Berliner Senat alle Fragen regeln, die den Transitverkehr und die Versorgung der Stadt betreffen. Ulbricht forderte weiterhin, dass „die Autorität der DDR bei künftigen Verhandlungen“ erhöht werden müsse. Die Sowjetunion möge nachdrücklich erklären, „daß der Abschluß eines Friedensvertrages zwischen der Sowjetregierung und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik unter Beteiligung der Staaten der Anti-HitlerKoalition, die dazu bereit sind, unvermeidlich wird, wenn die Westmächte nicht im Verlauf der nächsten Monate auf einen Kompromiß eingehen“. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, schilderte der SED-Chef im zweiten Teil seines Schreibens ausführlich die dramatische Fehlentwicklung der DDRWirtschaft und ihr weiteres Zurückbleiben gegenüber dem Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik. Die „Steigerung der Bruttoproduktion in Westdeutschland betrug 1960 etwa 12 Prozent, während die Produktionssteigerung in der DDR 8 Prozent betrug.“ Die westdeutsche Wirtschaft bringe ihre Betriebe auf technischen Höchststand, „erhöhte die Löhne im Jahre 1960 um ca. 9 Prozent und verkürzte die Arbeitszeit, so daß bereits in einem Teil der Betriebe die Fünftagewoche besteht“. Bis 1965 solle sogar in einigen Industriezweigen die 40-Stunden-Woche eingeführt werden. „Bei uns sind solche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen nicht im Plan enthalten“, schrieb Ulbricht. Ohne weitere Kredite aus der Sowjetunion werde das Lebensniveau der Bevölkerung unter den Stand von 1960 sinken. „Der konjunkturelle Aufschwung in Westdeutschland, der für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, daß im Verlaufe von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben.“ Ulbricht rechnete mit ernsten Krisenerscheinungen, falls nicht bald „die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR stabil gemacht wird und möglichst weitgehende Garantien gegen die Störung des sozialistischen Aufbaus in der DDR von Seiten der imperialistischen Kräfte in Westdeutschland geschaffen werden“.1 Chruschtschow antwortete am 30. Januar 1961, die sowjetische Führung stimme „mit den Erwägungen betreffs der Maßnahmen“ überein, „die in Zusammenhang mit der Beseitigung der Überreste des Krieges und der Normalisierung der Lage in West-Berlin durchgeführt werden sollen“. Es bedürfe aber noch einiger Zeit, um Kennedys Position in der Deutschlandfrage deutlicher zu erkennen. Für den Fall, dass es zu keiner Einigung mit den Vereinigten Staaten über „gegenseitig annehmbare Beschlüsse“ komme, müsse die Angelegenheit „auf der Basis eines Friedensvertrages mit der Deutschen Demokratischen Republik gelöst werden“. Es werde dann notwendig sein, „die in Ihrem Brief behan- 1 Das Schreiben Ulbrichts vom 16. Januar 1961 findet sich unter SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/202/129, Bestand Büro Ulbricht. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 27 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive delten Maßnahmen, die sich unter gewissen Umständen als notwendig erweisen werden, mit dem Abschluß eines Friedensvertrages zu koppeln“. Ulbricht unterstrich das Wort „Maßnahmen“, über die es in Chruschtschows Brief weiter heißt: „Wenn es nicht gelingen wird, mit Kennedy zu einer Verständigung zu kommen, werden wir, wie vereinbart, gemeinsam mit Ihnen den Zeitpunkt ihrer Durchführung bestimmen.“2 Ulbricht hatte in seinem Schreiben zwar nicht von irgendwelchen Maßnahmen gesprochen – er hatte sich lediglich auf seine mündlichen Erörterungen mit der KPdSU-Spitze bezogen, die am Rande des Moskauer Treffens der kommunistischen und Arbeiterparteien am 10. November 1960 stattgefunden hatten –, aber er wusste genau, was Chruschtschow meinte, wenn er versprach, es würde dann – „wie vereinbart“ – gemeinsam der Zeitpunkt zur Durchführung der „Maßnahmen“ bestimmt, „die sich unter gewissen Umständen als notwendig erweisen werden“. Über diese „Maßnahmen“ nämlich hatte man sich im Groben schon im November 1960 verständigt. In unbestimmter Weise zieht sich die Begrifflichkeit „Maßnahmen“ durch das gesamte Schriftgut der SED- und Regierungsstellen, die mit der Vorbereitung des Mauerbaus befasst waren. Erst am 13. August 1961 wurde die sprachliche Kaschierung fallen gelassen. Noch am 11. August beschloss die Volkskammer der DDR pauschal, es seien „Maßnahmen gegen Menschenhandel, Abwerbung und Sabotage zu treffen“. Damit erhielten die durch das Politbüro der SED längst vollzogenen Entscheidungen ihre Bestätigung durch das Scheinparlament der DDR. „Geschwür West-Berlin“ Der Ministerrat ordnete am folgenden Tag, am 12. August 1961, „Maßnahmen zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins“ an und verkündete zynisch, es würde „eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist“. Selbst im Mobilmachungsbefehl, den DDR-Innenminister Karl Maron am Mittag des 12. August an die Stabschefs seiner bewaffneten Einheiten herausgab, ist von „Maßnah- men“ die Rede, die „mit X-Zeit zur Einschränkung des Verkehrs“ nach West-Berlin eingeleitet werden sollen.3 Die Frage, wann genau die Vorbereitungen für den „Tag X“ und die „X-Zeit“ begannen, ist bislang ungeklärt. Im März 1961 waren sie jedenfalls als Option schon sehr konkret im Gange. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass die endgültige Entscheidung für den Mauerbau unmittelbar nach dem für Chruschtschow negativen Ausgang der Wiener Gespräche mit dem amerikanischen Präsidenten Kennedy fiel. In groben Worten hatte sich der sowjetische Staatschef dort am 4. Juni 1961 gegenüber Kennedy über West-Berlin geäußert: „Wir wollen diesen Splitter herausziehen, dieses Geschwür am Körper Europas beseitigen und dies so tun, daß keinem der interessierten Staaten ein Nachteil daraus entsteht.“ Auf Kennedys Nachfrage, ob das bedeute, dass auch der amerikanische Zugang nach WestBerlin gesperrt werde, antwortete Chruschtschow lakonisch: „Sie haben richtig verstanden, Herr Präsident.“ Obwohl Chruschtschow im Fortgang des Gespräches unverhohlen mit Krieg drohte, lehnte Kennedy die geforderte „radikale Änderung“ des Berlin-Status ab und bekräftigte seine Entschlossenheit, alle „juristischen Verpflichtungen in dieser Frage zu erfüllen“. Kennedy erklärte darüber hinaus: „Wir sind überzeugt, daß unsere Anwesenheit in Berlin von der Bevölkerung West-Berlins unterstützt wird, der gegenüber wir bestimmte Verpflichtungen übernommen haben.“ Während Kennedy am 25. Juli 1961 noch einmal vor der Weltöffentlichkeit die amerikanischen Garantien für West-Berlin bekräftigte, bereitete in Ost-Berlin bereits ein geheimer Operationsstab den Mauerbau vor. Die politische Leitung dieses Stabes, der am 12. August 1961 seine Kommandozentrale im Präsidium der Volkspolizei Berlin aufschlug, lag in den Händen des für Sicherheitsfragen zuständigen ZK-Sekretärs Erich Honecker. Weitere Stabsmitglieder waren der Berliner SED-Bezirkschef Paul Verner, der stellvertretende Ministerratsvorsitzende Willi Stoph, der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Verkehrsminister Erwin Kramer, Innenminister Generaloberst Karl Maron, dessen Stellvertreter Generalmajor Willi Seifert, der Ost-Berliner Polizeipräsident Generalleutnant Fritz Eikemeier und Volkspolizei-Oberst Horst Ende als Koordinator des Stabes im Ministerium des Inneren. 2 Die Antwort Chruschtschows findet sich unter der gleichen Signatur, s. Anm. 1. 3 Vgl. Befehl des Ministers des Inneren Nr. 002/61, Aufgaben der Deutschen Grenzpolizei zur verstärkten Sicherung der Grenzen am Außenring von Groß-Berlin und an der Staatsgrenze West. BArch Lichterfelde, DO 1/2.2./58293. 28 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Betriebskampfgruppen der DDR und Soldaten der Nationalen Volksarmee in einem Panzerspähwagen am Brandenburger Tor, Berlin, 14. August 1961 Für die strategische Vorbereitung und logistische Umsetzung der „Maßnahmen“ in und um Berlin trugen als die eigentlichen Macher des Mauerbaus Maron, Seifert, Eikemeier und Ende die Verantwortung. Sie kommandierten, nachdem Ulbricht als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates formell die X-Zeit bestätigt hatte, sämtliche an der Grenze eingesetzten Sondereinheiten der Volkspolizei, Grenzpolizei, Transportpolizei und der Betriebskampfgruppen. Die Nationale Volksarmee befand sich in zweiter Linie in Bereitschaft, und sowjetische Truppen hielten sich als dritte Staffel im Hintergrund. Sie sollten nur im Falle einer militärischen Reaktion der Westalliierten zum Einsatz kommen.4 Die dramatischen Stunden am 13. August 1961 Die folgende Darstellung des Ablaufs der Ereignisse am 13. August bietet eine synchrone Betrachtung der Ereignisse in Berlin auf der Grundlage von Meldungen an Honeckers Einsatzstab im Ost-Berliner Polizeipräsidium und diversen westlichen Überlieferungen (Letztere sind mit Sternchen gekennzeichnet). Um 01.00 Uhr wurde in Ost-Berlin die „X-Zeit“ ausgelöst. „02.30 Uhr: Das Präsidium der Volkspolizei meldet: Mit dem Aufbau des Stacheldrahtes an der Grenze des demokratischen Berlin wurde um X + 60 Minuten begonnen. 02.40 Uhr: Stab der Deutschen Grenzpolizei meldet: Unterstellung Potsdam, Vorkommando eingetroffen, Bataillon noch nicht. 02.45 Uhr: Stab der Deutschen Grenzpolizei meldet vom westlichen Ring: 4 Kompanien und 5 Pionierzüge unterstellt. 03.15 Uhr: Oberstleutnant Schneider vom Stab des Präsidiums der Volkspolizei meldet: Arbeitsbereitschaft der 4 Vgl. Geschichte der Deutschen Volkspolizei, Bd. I, hg. v. Staatsministerium d. Innern, Friedrich Dickel (Leiter des Autorenkollektivs), Willi Seifert (Generalleutnant a.D., Mitgl. d. Hauptredaktion), Berlin 1987, S. 338. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 29 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Bezirkseinsatzleitung 01.30 Uhr hergestellt. Arbeitsbereitschaft des Stabes des Bezirks 01.50 Uhr hergestellt. Lagemeldungen konnten noch nicht gegeben werden. Schneider wurde angewiesen, unverzüglich Lagemeldung zu geben.“5 Dietrich Spangenberg, Chef der Berliner Senatskanzlei, unterrichtet den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, von den Vorgängen an der innerstädtischen Sektorengrenze. Brandt, der sich als Spitzenkandidat der SPD für die kommende Bundestagswahl im Zug auf Wahlkampfreise befindet, kehrt sofort mit einem Flugzeug nach Berlin zurück.6 „03.40 Uhr: Um 01.20 Uhr wurde ein sowjetischer Posten im Stützpunkt Saalo bei Zossen beschossen. Täter und Waffenart unbekannt. 03.30 Uhr: Stab Hauptabteilung Trapo(Transportpolizei) – Hauptmann Schmidt – meldet: 1. Einsatzbereitschaft Abschnitt Berlin 50 % hergestellt. 2. Sicherungskräfte der Trapo an Gleisunterbrechungen angekommen. 04.25 Uhr: Stützpunkt 9 Ehrenmal Treptow wurden Schüsse wahrgenommen, Aufklärungskräfte zur Untersuchung eingesetzt. 04.30 Uhr: Lage an den Übergängen: • Mitte – Pionierarbeiten abgeschlossen • Norden – arbeiten noch an einem Stützpunkt • Süden – noch nicht abgeschlossen. 04.30 Uhr Stab der Deutschen Grenzpolizei vom westlichen Ring meldet: Aufbau Igel7 verzögert sich um 1 bis 2 Stunden, da unsere Fahrzeuge in Kolonnen anderer Organe eingekeilt sind. 05.35 Uhr: Eine Überprüfung der Lage am Ehrenmal in Treptow ergab, daß die gehörten Schüsse vom Stadtförster, der sich auf Kaninchenjagd befand, herrührten. Jagd wurde eingestellt.“8 Kurz vor sechs Uhr: Der West-Berliner CDU-Vorsitzende und Senator Franz Amrehn informiert den Chef des Bundeskanzleramtes Staatssekretär, Hans Globke, über die begonnene Abriegelung von Ost-Berlin.9 „06.30 Uhr: Präsidium der Volkspolizei Berlin meldet: Alle KP (Kontrollposten) werden entsprechend des gegebenen Befehls planmäßig verdrahtet. Langandauernde Arbeiten sind noch im Gange. Am Brandenburger Tor fehlt Maschendraht, wurde von Potsdam angefordert und wird antransportiert. 06.45 Uhr: Präsidium der Volkspolizei Berlin meldet: Alle Kontrollpunkte wurden um X + 240 Minuten geschlossen. Die pioniermäßige Sicherstellung an den Kontrollpunkten ist gewährleistet. Am Brandenburger Tor reicht der Maschendraht nicht aus.“10 Kurz vor sieben Uhr unterrichtete Staatsekretär Globke Bundeskanzler Adenauer telefonisch von der Grenzschließung in Berlin.11 „07.15 Uhr: Der Tankwart der Tankstelle Berlin-Grünau machte Äußerungen über seine Absicht, zu streiken, und verkauft kein Benzin. 08.10 Uhr: Alle Maßnahmen gemäß Befehl des Präsidenten der Volkspolizei Berlin sind nach anfänglich zögernden Handlungen durch die Kommandeure nunmehr im Wesentlichen durchgesetzt. 08.35 Uhr: Seit den frühen Morgenstunden treten auch weiterhin verstärkt Reporter mit Film und einzelnen Fernsehkameras entlang der Übergänge in Erscheinung.“12 Um neun Uhr tritt der Senat von Berlin zu einer Sondersitzung im Schöneberger Rathaus zusammen und beschließt, sich mit der Bundesregierung und den Westalliierten über das weitere Vorgehen abzustimmen.13 „09.30 Uhr: Brandt erschien gegen 9.00 Uhr mit Fotoreportern am Brandenburger Tor. Nach zehn Minuten entfernte er sich wieder und bestieg ein Fahrzeug, mit dem er fortgebracht wurde.“ Um elf Uhr trifft Willy Brandt mit den drei westalliierten Stadtkommandanten zusammen. Er verlangt „Schritte der westlichen Regierungen auf hoher diplomatischer Ebene bei der UdSSR“. Die alliierten Stadtkommandanten erklären, dass sie zur Frage des konkreten Vorgehens noch Weisungen ihrer Regierung erwarten. Egon Bahr schreibt in seinen „Erinnerungen“, Brandt habe ihm gegenüber nach der Unterredung mit den drei Stadtkommandanten geäußert: „Diese Scheißer schicken nun wenigstens Patrouillen an die Sektorengrenze, damit die Berliner nicht denken, sie sind schon allein.“14 „11.20 Uhr: Im Bereich Treptow flüchtete gegen 10.30 eine Familie illegal über den Heidekamp-Graben. Die Pioniersperre war noch nicht errichtet. Über den Flut- 5 Die Meldungen finden sich in den Überlieferungen des DDR-Innenministeriums, Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2. 6 Vgl. Egon Bahr, Zu meiner Zeit. München 1996, S. 131. 7 Gemeint sind kreuzweise verschweißte Stahlträger, die als Fahrzeugsperren den innerstädtischen Straßenverkehr Berlins unterbrachen. 8 Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2. 9 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 660f. 10 Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2. 11 Vgl. Schwarz (wie Anm. 9) 12 Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2. 13 Vgl. Willy Brandt, Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947–1966. Berliner Ausgabe Bd. 3, Bonn 2004, S. 592. 14 Vgl. Baur (wie Anm. 6), S. 131. 30 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961: Soldaten der DDR-Grenztruppen bewachen erste Abriegelungen am Potsdamer Platz. graben in der Nähe der Lohmühlenstraße schwamm ein junges Mädchen nach Ablage der Kleider und wurde auf Westberliner Seite von der dortigen Menge johlend empfangen. 12.00 Uhr: Seit den Morgenstunden verstärkt der Gegner in zunehmendem Maße an der Sektorengrenze seine Provokationstätigkeit. Die Provokateure werden durch den RIAS und andere Sender systematisch aufgehetzt. Bisher zeichneten sich folgende charakteristische Handlungen des Gegners ab: • Zusammenrottung von Menschen, teilweise in Stärke bis zu 500 Personen beiderseits der Grenze, besonders aber auf westlicher Seite. Dabei kam es vielfach zu Provokationen und zu Versuchen, pioniertechnische Mittel zu zerstören. Schwerpunkte sind: Brandenburger Tor, Schillingstraße, Wollankstraße, Eberswalder- und Elsenstraße sowie Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Potsdamer Platz. Nach den bisherigen Feststellungen sind an den Menschenansammlungen auch eine große Zahl von Schaulustigen beteiligt. Der Zustrom von Menschen zum Zentrum ist so stark, daß der Bahnhof Friedrichstraße teilweise gesperrt werden mußte. • Grenzdurchbrüche an den schwach gesicherten Abschnitten, z.B. in den Grünanlagen zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz. • Gruppen randalierender Jugendlicher, die vielfach provokatorische Handlungen durchführen. • Die Handlungen des Gegners verstärken sich fortlaufend und tragen in zunehmendem Maße organisierten Charakter. 12.30 Uhr: Unsere bewaffneten Organe sind im wesentlichen Herr der Lage. Menschenansammlungen wurden zurückgedrängt, Diskussionsgruppen zerstreut und eine 31 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Flucht durch ein Fenster der in Ost-Berlin gelegenen Wohnung über die sich schon im französischen Sektor befindende Bernauer Straße in den Westteil der Stadt; 17. August 1961 Reihe von Provokateuren festgenommen. In einigen Fällen wurden Kampfgruppen zum Einsatz gebracht. Zur Anwendung kamen: Wasserwerfer und Nebelkerzen, das Schießen mit Platzmunition wurde erlaubt. An einigen Schwerpunkten, wie z.B. am Brandenburger Tor, wurde die Sicherung an der Grenze zu den Westsektoren durch Panzer der NVA verstärkt. Weitere Reservekräfte werden an die Brennpunkte gegnerischer Tätigkeit herangeführt. 13.00 Uhr: In Klein-Machnow, Kontrollpunkt Trippel, versammeln sich Menschen, die nach Westberlin wollen. Agitatoren der Partei versuchen erfolgreich, die Menschengruppe aufzulösen. Ähnlich ist die Situation am Kontrollpunkt Seehof (Teltow). 14.15 Uhr: Bislang wurden im Stadtgebiet 55 Personen wegen provokatorischer Äußerungen und Handlungen zugeführt, davon 10 westliche Staatsbürger.“ Bundeskanzler Adenauer berät sich unterdessen in seinem Wohnsitz Rhöndorf mit seinen engsten Vertrauten, Staatssekretär Hans Globke und dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Heinrich Krone, über das weitere Verhalten der Bundesregierung. Ein sofortiger Flug des Kanzlers nach Berlin wird verworfen, weil man fürchtete, dadurch könne die Lage in Berlin eskalieren. Der Bundeskanzler gibt am Sonntagnachmittag eine zurückhaltende Erklärung ab: „Es ist das Gesetz der Stunde,“ heißt es darin, „in Festigkeit, aber auch in Ruhe der Herausforderung des Ostens zu begegnen und nichts zu unternehmen, was die Lage nur erschweren, aber nicht verbessern kann.“15 „16.25 Uhr: Die Menschenmenge vor dem Brandenburger Tor ist auf 5.000 Personen angewachsen. Rowdy-Gruppen werden von zwei Hundertschaften der Stummpolizei16 am 15 Siehe hierzu Schwarz (wie Anm. 9), S. 660 f. 16 Im damaligen Sprachgebrauch des SED-Regimes wurde die West-Berliner Polizei nach ihrem Präsidenten Johannes Stumm nur als „Stummpolizei“ oder „Stupo“ bezeichnet. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass die Ost-Berliner Volkspolizei die einzig legitime Berliner Polizei sei. 32 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Eine 77-jährige Frau flüchtet aus ihrem Fenster in der Bernauer Straße in den Westteil der Stadt. SED-Ordner versuchen sie in das Fenster wieder hineinzuziehen, September 1961 Vordringen gehindert. Im Bereich Swinemünderstraße gelang es 700 Personen, die Grenzsperren zu durchbrechen. Wasserwerfer wurden vom Leiter des Einsatzstabes dorthin entsandt. Rowdy-Gruppen werfen Steine und versuchen durch den Stupo-Kordon durchzubrechen. 17.15 Uhr: Die Gaststätten der Stadtbezirke Prenzlauer Berg und Köpenick entwickelten sich seit dem frühen Nachmittag zu Ausgangspunkten von Provokationen. Es kam zu vereinzelten Schlägereien zwischen Kampfgruppenangehörigen und Provokateuren. Die Volkspolizei schloß deswegen alle Gaststätten im Prenzlauer Berg. Aus den Betrieben werden keine Vorkommnisse gemeldet. In den Bezirken verläuft das Leben normal. 18.00 Uhr: Die Zahl der Festnahmen von Provokateuren hat sich auf 105 erhöht.“17 Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt spricht am Abend des 13. August um 18.30 Uhr vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Seine Rede wird im Rundfunk übertragen. Brandt bezeichnet die „vom Ulbricht-Regime auf Aufforderung der Warschauer Pakt-Staaten verfügten und eingeleiteten Maßnahmen zur Abriegelung der Sowjetzone und des Sowjetsektors“ als empörendes Unrecht. Mitten durch Berlin sei „nicht nur eine Art Staatsgrenze, sondern die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen“ worden. Das Ulbricht-Regime setze sich erneut über rechtliche Bindungen und Gebote der Menschlichkeit hinweg. „Der Senat von Berlin erhebt vor aller Welt Anklage gegen die widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands, der Bedrücker Ostberlins und der Bedroher West-Berlins.“ Brandt gibt 17 Stab PdVP Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lagebericht vom Vormittag. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr. 3/2. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 33 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (1913–1992) im Gespräch mit dem amerikanischen Captain Jack Davis, dem Kommandeur der an der Friedrichstraße eingesetzten US-Panzereinheit, 24. August 1961 bekannt, dass zwischen der Mittagszeit des 12. August bis um 10.00 Uhr am 13. August 3.190 Menschen aus Ostnach West-Berlin geflüchtet seien. In den darauffolgenden Stunden hätten noch weitere 800 Flüchtlinge die bereits gesperrte Sektorengrenze überwunden.18 „Sie haben nach ihren eigenen Aussagen sich nur über Ruinengrundstücke, schwimmend durch Kanäle und Flüsse oder wenig übersichtliche Geländestreifen in den freien Teil der Stadt durchschlagen können.“ Brandt ruft sodann die WestBerliner zur Besonnenheit auf, bevor er das Wort „an unsere Landsleute in der Zone und unsere Mitbürger in Ostberlin“ richtet: „Lassen Sie sich nicht fortreißen, so stark und berechtigt die Erbitterung auch sein mag. Ergeben Sie sich nicht der Verzweiflung. Noch ist nicht aller Tage Abend. Die Mächte der Finsternis werden nicht siegen. Noch niemals konnten Menschen auf die Dauer in der Sklaverei gehalten werden. Wir hier im freien Teil dieser Stadt und – ich bin tief überzeugt – die Menschen in Westdeutschland. Wir alle werden Sie nicht abschreiben, wir werden uns niemals mit der brutalen Spaltung dieser Stadt, mit der widernatürlichen Spaltung unseres Landes abfinden. Und wenn die Welt voll Teufel wär‘!“19 „18.55 Uhr: Die auf westlicher Seite des Potsdamer Platzes aufgebaute Fernsehkamera wird abgebaut. 19.00 Uhr: Einsatzleitung Potsdam meldet, daß die Alarmierung der Kampfgruppen bei den Kampfgruppenbataillonen 51% beträgt. Bei den allgemeinen Hundertschaften 44,2%. Hauptgrund der ungenügenden Beteiligung ist die Urlaubszeit und Wochenendfahrten. Es gibt auch zahlreiche Fälle, angefangen bei Ausflüchten bis zur offenen Verweigerung. Generell ist die Stimmung aber gut. In Ludwigsfelde, Kreis Zossen, verweigerten zwei Angehörige der Kampfgruppen, darunter ein Ingenieur, und weiterhin zwei freiwillige Helfer der DVP die Einsatzbereitschaft. 20.15 Uhr: Der Galvaniseur Erich Mälike, geb. 10.12.09 in 18 Im Juni 1961 waren 20.000 und im Juli 1961 sogar 30.000 Menschen aus der DDR in den Westen geflüchtet. 19 Willy Brandt: Erklärung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin vor dem Berliner Abgeordnetenhaus am 13. August 1961, siehe Brandt (wie Anm. 13), S. 324 ff. 34 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) während der Rundfahrt entlang der Sektorengrenze zu Ost-Berlin: Gespräch mit dem Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer (re.), und Bürgermeister Franz Amrehn (li.) am Brandenburger Tor, 22. August 1961 Berlin, Mitarbeiter der Kreisleitung Mitte unserer Partei, wurde festgenommen. Grund: er rief den in der Adalbertstraße wohnhaften Personen zu: ,Seht, das ist die Freiheit . 20.25 Uhr: An der Kontrollstelle 27 – Chausseestraße – durchbrach gegen 18.55 Uhr ein heller Trabant mit großer Geschwindigkeit die Kontrollstelle in Richtung Westberlin. 20.35 Uhr: Sammelmeldungen von Kontrollstellen: An der Kontrollstelle 22 versuchten ca. 350 Personen die Grenze von Westberlin aus zu durchbrechen. Der Durchbruch wurde durch Einheiten der Stummpolizei verhindert. Gegen 20.10 Uhr durchbrach eine männliche Person die Kontrollstelle 6 – Wilhelmsruh – über den Bahnübergang. Gegen 20.15 Uhr wurden an der Kontrollstelle 34 (Unter den Linden) starke Menschenansammlungen auf westlicher Seite festgestellt. Dabei wurde gerufen: ‚Macht das Tor auf, Freiheit‘ usw. 20.50 Uhr Oberleutnant Hain – Abt K. – meldet, daß am Potsdamer Platz vollkommene Ruhe herrscht. Hauptmann Schulz – Abt. K – meldet, daß am Brandenburger Tor nur noch vereinzelt Gruppen auftreten. Im Allgemeinen ist die Lage ruhig. 21.20 Uhr: Gegen 21.00 fuhr an der Kontrollstelle 15 ein Westberliner PKW, Typ Taunus, Pol.-Kennzeichen B-MC936, besetzt mit einem Mann, einer Frau und einem Kind in Richtung Westberlin. Die Sicherung hat versagt.“20 Bis zu diesem Zeitpunkt waren laut dem Ost-Berliner Stabsbericht 189 Personen festgenommen worden. Sie wurden in 60 Fällen beschuldigt, Handlungen gegen den Staat unternommen zu haben, 29 Festnahmen erfolgten wegen Passvergehen, 9 wegen Widerstandsdelikten und 72 aus „sonstigen Gründen“; 64 Personen wurden nach der Überprüfung ihrer Personalien wieder entlassen. Die Männer der Stunde X Alle Mitglieder des Kommandostabes, der den Mauerbau leitete, hatten eine totalitäre politische Sozialisation hinter sich. Bis auf den fünfunddreißigjährigen Stabs- 20 Stab PdVP Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lagebericht vom Vormittag. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 35 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Nach den ersten Straßensperrungen: Kontakte von Müttern und ihren Kindern über den Stacheldraht hinweg, August 1961 oberst Horst Ende waren sie gestandene Kommunisten, die schon als junge KPD-Mitglieder am Kampf gegen die Weimarer Republik und die konkurrierenden Nationalsozialisten teilgenommen hatten. Verteidigungsminister Hoffmann, Verkehrsminister Kramer, Staatssicherheitsminister Mielke, Polizeipräsident Eikemeier und der Erste Sekretär von Berlin, Paul Verner, hatten zwischen 1936 und 1939 auf Seiten der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg gedient. Kramer, Maron und Hoffmann gehörten zur Minderheit der deutschen Kommunisten, die einigermaßen ungeschoren die stalinistischen Säuberungen im sowjetischen Exil überstanden hatten. Eikemeier, den die Gestapo 1940 in Frankreich einfing, verbrachte fünf Jahre im KZ Sachsenhausen, Honecker saß neun Jahre in nationalsozialistischen Zuchthäusern und Willi Seifert sogar zehn Jahre, davon sieben hinter dem Stacheldraht des Konzentrationslagers Buchenwald. Seifert nahm als Logistikchef in Honeckers Einsatzstab eine Schlüsselfunktion ein. Er hatte sich seine Qualifikation für diese Aufgabe buchstäblich im Konzentrationslager erwor36 ben. Im Unterschied zu den kommunistischen Spanienkämpfern verfügte Seifert über keine praktische militärische Erfahrung und im Unterschied zu den Moskauemigranten hatte er keine fundierte kommunistische Funktionärsausbildung durchlaufen. Seiferts logistische Fähigkeiten beruhten auf seiner Tätigkeit als Kapo der Arbeitsstatistik im KZ Buchenwald. Dort war er von 1943 bis 1945 für den Arbeitseinsatz von bis zu 60.000 Sklavenarbeitern der SS zuständig. Die SS-Wachmannschaften selbst konnten mit ihren rund 4.000 Mann zwar die äußere Bewachung des Lagers und der Arbeitseinsätze bewerkstelligen, die innere Ordnung und vor allem die Planung und Durchführung der Sklavenarbeit in den Thüringer Rüstungsbetrieben aber musste von den Häftlingsfunktionären selbst gewährleistet werden. Die illegale kommunistische Lagerorganisation hatte in tödlichen Kämpfen den kriminellen Häftlingen die interne Lagerverwaltung aus der Hand genommen und alle Schlüsselpositionen mit ihren Leuten besetzt. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Bildikone des Mauerbaus: Der 19-jährige Volkspolizist Conrad Schumann springt über den Stacheldraht in der Bernauer Straße und flüchtet nach West-Berlin, 15. August 1961. Der ehemalige Buchenwaldhäftling Eugen Kogon beschrieb in seiner 1946 erschienen Analyse „Der SS-Staat“ die innere Organisation des KZ Buchenwald. Die Aufgaben, die von der Arbeitsstatistik bewältigt werden mussten, war demnach „schwer und undankbar“. Es kam vor, schreibt Kogon, „daß sie binnen zweier Stunden Tausende von Häftlingen bereitzustellen hatte“. Je mehr Häftlinge zum Arbeitseinsatz in kriegswichtige Betriebe kommandiert wurden, um so wichtiger wurde die Häftlingsgruppe in der Arbeitsstatistik. Sie konnten ihre Machtstellung, die darin bestand, Häftlingen „gute“ oder „schlechte“ Kommandos zuzuweisen, segensreich oder verhängnisvoll nutzen. Hunderte wurden, wie Kogon schreibt, mit Hilfe der Arbeitsstatistik gerettet, „teils indem sie von Todestransportlisten heimlich gestrichen, teils indem sie, wenn ihr Leben im Stammlager gefährdet war, in Außenkommandos geschmuggelt wurden. Viele Kameraden sind aber auch durch dunkle Machenschaften und Intrigen an Orte inner- und außerhalb der Lager gebracht worden, wo sie entweder schweren Schaden nahmen oder zugrunde gingen.“21 Jorge Semprun war einer der jungen Kommunisten, die unter dem Schutzschirm der kommunistischen Lagerleitung Buchenwald überlebt haben. In seinem autobiographischen Roman „Was für ein schöner Sonntag!“ schildert Semprun seine erste Begegnung mit Willi Seifert in der Baracke der Arbeitsstatistik folgendermaßen: „Seifert, der Kapo der Arbeit, hat mich empfangen. Er hat mich in seinem Privatbüro empfangen und lange mit mir geredet. Seifert war ruhig, präzis, autoritär. Oder vielmehr: er strahlte eine Autorität aus, die nicht nur von seinem Posten her stammte, sondern auch aus seiner Natur. Ein Herr in dieser Lagerwelt, das sah man. Er war sechs- oder siebenundzwanzig. Über dem roten Dreieck auf seiner gutgeschnittenen Jacke befand sich zusätzlich ein schmales Band. Rückfälliger.“ Semprun, der 1944 in der Arbeitsstatistik unterkam, beschreibt eine sehr aufschlussreiche Auseinander- 21 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, zit. nach der Ausgabe München 1974. Siehe dort zur Rolle der kommunistischen Funktionshäftlinge insbes. S. 65f., 89f. u. 310 ff. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 37 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Beginn des Baus der Berliner Mauer am Potsdamer Platz; ein Volkspolizist bewacht den Stacheldrahtzaun vor West-Berliner Bürgern, 13./14. August 1961 setzung zwischen Seifert und einem SS-Unteroffizier, der sich in der Arbeitsstatistik darüber beschwerte, dass seinem Arbeitskommando in den deutschen Ausrüstungswerken nicht genügend Häftlinge zugeteilt wurden. Seifert habe sich in aller Ruhe die lautstark vorgetragene Beschwerde angehört. „Danach hat er im gleichen Ton wie der SS-Unteroffizier, mit der gleichen Bissigkeit, der gleichen Schärfe – allerdings zurückhaltender, beherrscht – dem SS-Mann erklärt“, er würde ihm erst genügend Arbeitskräfte zuweisen, wenn sie künftig nicht mehr beim Arbeitseinsatz geschlagen und misshandelt werden. „Seifert brüllte, und ich sagte mir, daß dies böse enden würde. Aber der SS-Mann hat ihn brüllen lassen. Er hat den Kopf geschüttelt, hat nicht gewußt, was er darauf erwidern sollte, er hat kehrtgemacht und ist gegangen. Seifert hat ‚Achtung!‘ geschrien. Wir hatten erneut unsere Ärsche von den Stühlen erhoben. Das war Vorschrift. Der SS-Mann schloß die Bürotür hinter sich. [...] An jenem Tag habe ich begriffen, woher er seine Autorität hatte. Jahre des listigen Kampfes im Dschungel der Lager hatten diesen eisernen, grimmigen Willen geprägt. Wir standen still, wir betrachteten Seifert, und Seifert beherrschte uns alle durch seine Größe. Zweifellos ein Herr.“ Robert Siewert, der im Baukommando I des Lagers Buchenwald als Kapo zeitweise bis zu tausend Häftlinge unter sich hatte, hielt im Januar 1954 in einem persönlichen Rechenschaftsbericht an die Kaderabteilung des SEDZentralkomitees über sein Verhalten im KZ Buchenwald fest: „Es war eine meiner wichtigsten Aufgaben, neu eingegliederte Genossen, die in der Regel dem Steinbruchkommando zugeteilt wurden, schnellstens aus diesem Kommando freizubekommen. Da das Baukommando I immer neuen Bedarf an Arbeitskräften hatte, war es möglich, viele Genossen nach kurzer Zeit aus dem Steinbruchkommando herauszuholen und dem Baukommando I zuzuführen. Dabei hat uns besonders Genosse Willi Seifert als Kapo der Arbeitsstatistik geholfen.“22 Was Siewert in seinem Bericht 22 Die „Aussagen über Verhalten im KZ Buchenwald“ von Robert Siewert finden sich unter SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/ 155, Bestand KPD. Robert Siewert (1887–1973) war bis 1950 Innenminister von Sachsen-Anhalt, verlor kurzzeitig seine Parteiämter in der SED wegen Zugehörigkeit zur KP-Opposition (KPO) und arbeitete nach seiner Rehabilitierung in leitender Position des DDR-Ministeriums für Aufbau. 38 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Grenzsoldaten beim Bau des ersten Stacheldrahtzaunes, August 1961 freilich verschwieg, war die in diesem Zusammenhang nötige Auffüllung der Todeskommandos im Steinbruch mit anderen Häftlingen, die gegen die Kommunisten ausgetauscht wurden. Benedikt Kautsky, der ebenfalls in Buchenwald inhaftierte Sohn des sozialdemokratischen Theoretikers Karl Kautsky, nannte die kommunistische Oberschicht im KZ Buchenwald sarkastisch eine „Lageraristokratie“, die „ihre Vorteile eifersüchtig wahrte und ihre Stellung ebenso gegen oben – das heißt die SS – wie gegen unten – die Masse der Häftlinge – behauptete“.23 Drastischer noch fiel ein erster Bericht aus, den eine Untersuchungskommission der amerikanischen Streitkräfte nach der Befreiung des KZ Buchenwald am 14. April 1945 niederschrieb. „Dieser Bericht ist sensationell in vielfacher Hinsicht“, meldeten die beiden Offiziere nach einer ersten Befragung der befreiten Häftlinge nach Washington. Es sei nach ihrem ersten Eindruck über ein „Konzentrationslager in einem Konzentrationslager zu berichten, über ein Terrorsystem innerhalb eines Terrorsystems, über eine kommunistische Diktatur in einem Vernichtungslager der Nazis“. Das Lager „sei heute nur noch ein Sanatorium“, sagte Willi Seifert 1944, als er Jorge Semprun in seinem Büro im Barackenbau der Arbeitsstatistik zum Vorstellungsgespräch empfing, während er „mechanisch die Papiere auf seinem Schreibtisch ordnete“. So mag es am Ende der kommunistischen Funktionärsschicht vorgekommen sein, nachdem sie alle Führungspositionen der „Lagerselbstverwaltung“ unter sich aufgeteilt hatte. Im auffälligen Unterschied zu den anderen Häftlingen traten sie im April 1945 gut gekleidet und genährt ihren amerikanischen Befreiern gegenüber. Willi Seifert machte in der SBZ sofort Karriere. Unter Erich Reschke, einem ehemaligen kommunistischen Lagerältesten aus dem KZ Buchenwald, ernannten ihn die Sowjets 23 Benedikt Kautsky, Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern, Zürich 1946. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 39 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Diese und die nächste Abbildung: Ein junges Brautpaar, das im Westen geheiratet hat, steht verzweifelt vor dem Wohnhaus der Brauteltern, das im Osten liegt. Die Haustür des Elternhauses (nicht im Bild) ist bereits zugemauert und die Eltern stützen sich weinend auf der Fensterbank ab, September 1961. 1946 zum stellvertretenden Präsidenten der Deutschen Verwaltung des Inneren. Seiferts Kollege als zweiter Stellvertreter von Präsident Reschke war der spätere Staatssicherheitsminister Erich Mielke. Auch in den Wochen nach dem 13. August kümmerte sich Seifert um Alles und Jedes zur weiteren Grenzschließung in Berlin. Die von ihm unterzeichneten Befehle enthielten bis zur Zusammensetzung des Mörtels alle erdenklichen Details zur Durchführung des Mauerausbaus: „Betongüte B 225, Putzmörtel MG II, MZ-Pfeiler MZ/MG III, Verlegemörtel MG II.“ Oder: „Die Chausseestraße ist mit einer 2,20 m breiten und 1,60 m hohen Mauer zu sperren. Dazu ist die vorhandene Mauer 2,25 m hoch und 0,30 m breit einzubeziehen und von der rechten Straßenbegrenzung bis zur Straßenbahninsel in gleicher Art durchzuführen, wobei hier noch eine Verstärkung von 2,20 m Breite und 1,56 m Höhe hinzukommt. Im Bereich der Straßenbahninsel ist eine 1,00 m breite Öffnung für Fußgänger vorzusehen. An der linken Fahrbahnbegrenzung wird eine Durchfahrt von 3,00 m gelassen. Die Lücken zwischen Mauer und Gebäuden sind mit einer doppelten Reihe von Igelsperren zu schließen.“ Zur Oberbaumbrücke: „Zwischen den bereits vorhandenen Sperrmauern auf der Oberbaumbrücke wird als zusätzliche Sperrmaßnahme in gleicher Breite der Mauer eine doppelte Igelreihung vorgesehen. Der linke Teil der Oberbaumbrücke wird nicht gesondert abgesperrt und dient dem Fußgängerverkehr.“24 Im SED Zentralorgan „Neues Deutschland“ erschien am 31. Januar 1986 ein Nachruf auf „unseren Genossen“ Generalleutnant a.D. Willi Seifert. Sein ganzes Leben habe er „den Zielen der revolutionären Arbeiterklasse und 24 Ministerium des Inneren, Stab; Willi Seifert: Planung des Bedarfs und Materials, Technik, Kräften und Zeit für die Sperrmaßnahmen an den offenen und wichtigsten geschlossenen Kontrollpassierpunkten im Zusammenhang mit dem 13.8.1961 (Aktentitel). BArch Lichterfelde, DO 1/0.2.0, Nr. 5/2. 40 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive ihrer marxistisch-leninistischen Partei gewidmet“, heißt es darin. „Mutig und entschlossen, unter Einsatz seines Lebens, bewährte er sich in der Illegalität, hinter den Mauern faschistischer Zuchthäuser und im Konzentrationslager Buchenwald als Kämpfer gegen den Faschismus.“25 nen Menschen hinter Mauern und Stacheldraht einzusperren. Es gehört zu den bedrückenden Seiten der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass sich Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrationslager wie Willi Seifert am 13. August 1961 mit voller Überzeugung und an entscheidender Stelle daran beteiligten, siebzehn Millio- Die Spitzenfunktionäre um Walter Ulbricht befanden sich in aufgeräumter Stimmung, als sie sich am 22. August 1961, neun Tage nach der Grenzschließung, zur ersten regulären Politbürositzung trafen und Bilanz zogen. Der „Tag X“ war gut gelaufen. West-Berlin war mit Stacheldraht eingezäunt, Selbstverpflichtung zum Schusswaffengebrauch 25 Zentralkomitee der SED: Nachruf auf Willi Seifert, in: Das Neue Deutschland vom 31. Oktober 1986. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 41 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Ein Maurer mauert ein Fenster an der Mauergrenze in Ost-Berlin zu, 1961 und der „pioniermäßige Ausbau“ der Grenzanlagen ging zügig voran. Als erstes ließ Walter Ulbricht eine Protesterklärung gegen den Berlin-Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson abstimmen. Johnson hatte zwei Tage zuvor im Auftrag von Präsident Kennedy in West-Berlin die amerikanischen Freiheitsgarantien für die West-Sektoren der Stadt bekräftigt. Dieser Besuch von Vizepräsident Johnson und die demonstrative Verstärkung der amerikanischen Truppen sei der Beweis, „daß Westdeutschland und Westberlin Besatzungsgebiet und Westberlin keine freie Stadt ist“, erklärte das SED-Politbüro und 42 rief in völliger Verkennung der Lage dazu auf, „in Westdeutschland für die Freiheit Westdeutschlands von den Besatzungstruppen zu demonstrieren unter der Losung ‚Ami go home‘“. Erst wenn die „amerikanischen Besatzungstruppen abziehen“, könne die „Selbstbestimmung des deutschen Volkes“ verwirklicht werden. Zur gleichen Zeit, als sich Konrad Adenauer am 22. August vor dem Brandenburger Tor über die neue Situation in Berlin informieren ließ, beschloss knapp zwei Kilometer entfernt davon die SED-Führung, dass von Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive West-Berliner im Bezirk Wedding blicken und winken über die Mauer. nun an auf Flüchtlinge an der innerstädtischen Grenze geschossen werden sollte. Formal entschied das SEDPolitbüro zwar lediglich „die vorgesehenen Maßnahmen“ zum „Übergang von der 1. Etappe zur 2. Etappe der Grenzsicherung“. Aus der erläuternden Anlage zum Beschluss, die Walter Ulbricht verfasst hatte, geht jedoch hervor, was die „2. Etappe“ bedeutete. „Nach der verleumderischen Rede Brandts“ – gemeint war ein Appell Willy Brandts an die DDR-Grenzer „Schießt nicht auf die eigenen Landsleute!“ – sollte der SED-Propagandachef Albert Norden dafür sorgen, „daß durch Gruppen, Züge oder Kompanien schriftliche Erklärungen abgegeben werden, um was es geht, und daß jeder, der die Gesetze unserer Deutschen Demokratischen Republik verletzt – auch wenn erforderlich –, durch Anwendung der Waffe zur Ordnung gerufen wird“. Gemeinsam mit den Erklärungen „sollen die Fotos der jeweiligen Angehörigen der bewaffneten Kräfte veröf- fentlicht werden“, die sich zum Schusswaffengebrauch bekennen.26 Seit dem 13. August 1961 hatten zahlreiche Menschen die noch nicht perfektionierten Absperrungen zwischen Ostund West-Berlin durchbrochen. Es waren aber auch schon zwei Todesopfer zu beklagen. Eine Frau und ein Mann starben bei Fluchtversuchen in der Bernauer Straße. Sie stürzten in den Tod, während sie versuchten, aus den oberen Stockwerken der im Ostteil gelegenen Häuser in den Westteil der Stadt herunterzuklettern. Der Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge war jedoch bis dahin vermieden worden. Jetzt sollte er zur verbindlichen Norm für die Grenztruppen werden – propagandistisch als Selbstverpflichtung verkauft. Das Politbüromitglied Albert Norden holte sofort nach der Politbürositzung von einigen Volkspolizeieinheiten diese Selbstverpflichtungen zum Schusswaffengebrauch 26 Protokoll Nr. 45/61 der Sitzung des Politbüros am Dienstag, dem 22. August 1961, SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/787, Bestand Politbüro des ZK. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 43 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive West-Berlin: Junge vor einer Absperrung aus Stacheldraht mit einer Ausgabe des Extrablatts der „Berliner Morgenpost“, 13. August 1961. ein. Den Text der „freiwilligen“ Erklärung hatte Norden eigenhändig verfasst. Er richtete sich in der Form eines „Offenen Briefes“ an den Regierenden Bürgermeister Berlins und war adressiert an „Willy Brandt, Verwaltungsleiter, z. Z. (noch) Rathaus Schöneberg“. Im ersten Abschnitt eines von der „Einheit Heymann“ einstimmig angenommenen Schreibens an Brandt hieß es: „Obwohl Sie für ein Gespräch über Gewissen, Ehre, Menschlichkeit und Vaterlandsliebe nicht gerade der geeignete Partner sind, veröffentlichen wir diesen offenen Brief – nicht in der Hoffnung, Sie zu diesen Tugenden zu bekehren, wohl aber für Augen, Ohren und Verstand jener, denen Sie mit Ihrem verleumderischen Geschwätz über Charakter, Zweck und moralische und militärische Stärke der bewaffneten Organe der DDR Sand in die Augen streuen wollen.“ 44 Der Schutz des Friedens und die Aufgabe, „Kriegsbrandstifter zu zügeln, ist ein Akt höchster Menschlichkeit. Dem Vaterland den Frieden zu retten, ist das Gewissenhafteste, was es gibt. Und den größten Gefallen, den man unserem sozialistischen Staat, aber auch unseren Brüdern und Schwestern in Westberlin und Westdeutschland tun kann, ist es, gesinnungslosen Lumpen wie Ihnen übers Maul zu fahren, wenn sie sich zu mucken wagen.“ Man wisse „aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, daß einst die rechten SPD-Führer Braun und Severing, deren würdiger Nachfolger“ Brandt sei, „bedenkenlos auf Sozialdemokraten und Kommunisten schießen ließen“. Die „Einheit Heymann“ erkläre hiermit, „daß wir nicht zuletzt hier sind, um die Einhaltung der Gesetze der DDR zu sichern und, wenn es erforderlich ist, durch Anwendung der Waffe dieEinsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Ausbau der Grenzanlagen in der Zimmerstraße in Kreuzberg, November 1961 jenigen zur Ordnung zu rufen, die diese Gesetze der Arbeiter-und-Bauern-Macht mit Füßen treten wollen.“ Am Ende des „Offenen Briefes“ wurde Willy Brandt aufgefordert, „machen Sie das einzige, was Sie den Berlinern Gutes tun können: Treten Sie ab!“ Ähnliche Erklärungen ließ Albert Norden noch am gleichen Tag von weiteren Volkspolizeieinheiten abstimmen. Auch sie veröffentlichte „Das Neue Deutschland“ am folgenden Tag im Wortlaut samt einem Foto der Grenzsoldaten, die zustimmend ihre Hände hoben.27 27 „Gesinnungslosen Lumpen fahren wir übers Maul!“ In: Das Neue Deutschland vom 23.8.1961. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 45 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Vor einer Einheit der Grenztruppen, die er am 22. August besuchte, erklärte Norden in einer kurzen Ansprache: „Unser Stacheldraht, unsere Mauern kesseln die Kriegstreiber ein, sie sind ein Wall für den Frieden. Ihr steht an der Grenze zwischen Krieg und Frieden.“ Gegenüber einem Truppenteil, den er danach in Treptow aufsuchte, sagte Norden laut „Berliner Zeitung“ vom 23. August 1961: „Ihr, Genossen, steht hier an der Grenze zwischen Krieg und Frieden, zwischen Imperialismus und Sozialismus. Wer es wagt, über die Grenze zu fassen, wird sich die Finger am Stacheldraht blutig reißen, wer seine Schweineschnauze in unseren sozialistischen Garten steckt, wird sie blutig wieder zurückziehen.28 Wir danken euch, Genossen, und wissen, daß sich die Arbeiterklasse auf Euch verlassen kann. Ihr seid Fleisch vom Fleische der Arbeiterklasse und Blut von ihrem Blute.“ Das erste Opfer des Schießbefehls Am Nachmittag des 24. August 1961 ging beim Chef des Stabes im Ministerium des Inneren, Willi Seifert, die Meldung 156 ein. Oberleutnant Loidolt teilte um 16.50 Uhr mit, ein Sicherungsposten der Transportpolizei „hat von der SBahn-Brücke, die sich kurz vor dem Lehrter Bahnhof befindet, eine im Wasser schwimmende Person, die die Republik verlassen wollte, erschossen. (Die Person ging nach Abgabe des Schusses unter). Vermutlich handelt es sich um eine Person aus der Charité.“ Drei Stunden später, um 19.55 Uhr, informierte ein Leutnant Lange aus der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei Willi Seifert mit Meldung 157 über den Tod des Flüchtlings: „Gegen 19.10 Uhr wurde die Leiche in der Nähe der S-Bahnbrücke Humboldthafen geborgen. Name: Litfin, Günter, 19.7.37 Bln.-Weißensee, Heinersdorfer Str. 32. Diese Person hat versucht, die Spree zu durchschwimmen und wurde noch am Spreeufer von den Transportpolizisten gewarnt. Nachdem die Person in die Spree gesprungen war, wurden von den Genossen Warnschüsse abgegeben und danach Sperrfeuer gegeben. Als die Person ca. 10 m vom Ufer des demokratischen Berlin entfernt war, sackte sie ab, vermutlich infolge eines Treffers. Auf westberliner Seite sammelten sich unmittelbar danach ca. 200 Personen und 2 Stummpolizisten an.“29 Das erste Opfer infolge des Schießbefehls an der Berliner Mauer: Günter Litfin (1937–1961) Bild: Jürgen Litfin, Berlin Günter Litfin wurde im Alter von vierundzwanzig Jahren das erste Opfer des Schießbefehls. Der Schneider aus Weißensee arbeitete vor dem 13. August in einem West-Berliner Atelier und hatte sich bereits eine Wohnung im Westteil der Stadt gesucht. Der Mauerbau zerstörte seine Lebensplanung. Litfin war wie sein Vater und seine beiden Brüder Mitglied des illegalen CDUKreisverbandes Weißensee, der sich der Unterordnung der Ost-CDU unter die SED-Blockpolitik verweigerte und sich als Untergliederung der West-CDU betrachtete.30 Das Zentralorgan der SED „Neues Deutschland“ verhöhnte am 9. September 1961 den Ermordeten mit den Worten: „Als der Zuhälter Horst Wessel bei der Ausübung seines nicht ungefährlichen Berufs zu Tode kam, wurde er zum geeigneten Objekt nazistischer Heldenverehrung. Warum soll also der Homosexuelle mit dem Spitznamen ‚Puppe‘, der in den Humboldthafen sprang, nicht zum Heros der 28 Es handelt sich hier um ein indirektes Stalin-Zitat. Der Diktator hatte 1934 auf dem XVII. Parteitag der KPdSU, dem „Parteitag der Sieger“, erklärt: „Denjenigen aber, die versuchen sollten, unser Land zu überfallen, wird eine vernichtende Abfuhr zuteil werden, damit ihnen in Zukunft die Lust vergehe, ihre Schweineschnauze in unseren Sowjetgarten zu stecken.“ 29 Vgl. Ministerium des Inneren, Stab: Meldungen über eingesetzte Kräfte, Vorkommnisse etc. an den Stellvertreter des Ministers und Chef des Stabes Willi Seifert. BArch Lichterfelde, DO 1/0.2.0. Nr. 4/2. 30 Nach Günter Litfin ist heute in Weißensee eine Straße und in Berlin-Mitte eine Gedenk- und Informationsstätte benannt, am Ort seiner Ermordung befindet sich ein Gedenkstein. 46 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive Frontstadt werden? Jeder soll die Helden haben, die er wert ist.“ Die hetzerische Tonlage gegenüber Andersdenkende kennzeichnete auch die Binnenmobilisierung in den gleichgeschalteten Massenorganisationen des SED-Regimes. Eine besondere Rolle spielte dabei die „Kampfreserve“ FDJ. Dem Jugendverband fiel die Aufgabe zu, sofort nach der Grenzschließung den Konformitätsdruck in seinem Verantwortungsbereich schlagartig zu erhöhen. Nachdem das Politbüro am 22. August 1961 den Schießbefehl und vierzehn weitere Beschlüsse „zur Sicherung der Grenzen der DDR“ ohne Diskussion verabschiedet hatte, wurde eine Delegation des FDJ-Zentralrats, der neben dem FDJVorsitzenden Schumann auch der Nachwuchskommunist Egon Krenz angehörte, in den Sitzungssaal gebeten. Walter Ulbricht dankte den Jugendfunktionären für die vorzügliche Arbeit der neu gebildeten FDJ-Ordnungsgruppen, die seit dem 13. August „als Helfer und unter Leitung der Volkspolizei besonders in den Städten“ zum Einsatz kamen. Die Aufgaben der FDJ-Ordnungsgruppen hatte der FDJVorsitzende Horst Schumann in einem „Kampfaufruf“ am 13. August 1961 wie folgt beschrieben: „Sichern helfen, daß – weder in Kinos noch in Gaststätten oder anderswo – Provokateure oder Dummköpfe ungestraft ihr Unwesen treiben können; besonders sind Diskussionsgruppen zu unterlassen. Mit Provokateuren wird nicht diskutiert. Sie werden erst verdroschen und dann staatlichen Organen übergeben. Jeder, der auch nur im geringsten abfällige Äußerungen über die Sowjetarmee, über den besten Freund des deutschen Volkes, den Genossen N. S. Chruschtschow oder über den Vorsitzenden des Staatsrates Genossen Walter Ulbricht von sich gibt, muß in jedem Falle auf der Stelle den entsprechenden Denkzettel erhalten.“31 Infolge dieser Direktive haben Schlägertrupps der FDJ in den ersten Wochen nach dem Mauerbau manche Rechnung mit Kritikern des SED-Regimes beglichen. In Ost-Berlin galt das insbesondere für Oberschüler und Studenten, die bis zum 13. August West-Berliner Schulen und Universitäten besucht hatten. Das Politbüro der SED entschied am 22. August nämlich auch darüber, was mit diesen Jugendlichen zu geschehen hatte. Ehemalige Westschüler der Klassen 1 bis 10 seien an den allgemeinbildenden Oberschulen einzuschulen, Schüler der Klassen 11 und 12 „in der Regel einem Lehr- bzw. Arbeitsverhältnis zuzuführen, Aufnahmen in die Erweiterte Oberschule sind nur in ganz besonders gelagerten Einzelfällen zulässig. Das sind solche Fälle, wo es im gesellschaftlichen Interesse zweckmäßig und angebracht ist, die Einschulung in einer erweiterten Oberschule vorzunehmen.“ Schülern der Klassen 13 sei ein Arbeitsverhältnis zu vermitteln, Studenten Arbeitsplätze in Volkseigenen Betrieben außerhalb Berlins. „Diejenigen, die provokatorisch auftreten, werden in einem Arbeitslager erzogen.“32 Die erwogenen Arbeitslager wurden dann doch nicht eingerichtet, schließlich konnte das SEDRegime nach dem Mauerbau die DDR-Bevölkerung „störfrei“ ihrer kommunistischen Erziehungsdiktatur unterwerfen. Ein nachhaltiger Erfolg war dem erzwungenen DDRSozialismus trotz der 28 Jahre andauernden Einmauerung der eigenen Bevölkerung nicht beschieden. Über drei Millionen Menschen haben zwischen 1949 und 1989 die DDR verlassen, weil sie mit den politischen Verhältnissen und den Lebensbedingungen in diesem Staat nicht einverstanden waren. Die SED konnte weder zu Beginn, in der SBZ und GroßBerlin noch am Ende, in der noch existierenden DDR als SED/PDS eine freie Wahl gewinnen. Eine Mehrheitsloyalität gegenüber dem SED-Regime hat zu keinem Zeitpunkt existiert und für die Mehrheit der DDR-Bürger blieb die Bundesrepublik über alle Jahre in politischer, kultureller und vor allem wirtschaftlicher Hinsicht der positiv besetzte Vergleichsmaßstab gegenüber den Verhältnissen im SEDStaat. Die Nationale Volksarmee der DDR bereitete insgeheim bis in die achtziger Jahre eine militärische Besetzung des Westteils der Stadt vor. Die letzten Besatzungspläne, in die das Ministerium für Staatssicherheit bereits namentlich seine Kommandanten für die West-Berliner Bezirke samt Stellvertreter und Sekretärinnen eingetragen hatte, stammen aus dem Jahr 1988. 31 Horst Schumann, Sekretariat des Zentralrats der FDJ: Kampfauftrag für die Bezirksverbände der FDJ in den nächsten Tagen vom 13. August 1961. SAPMO-BArch, DY 24, FDJ, ZAG 3.753/I. 32 Vgl. Protokoll Nr. 45/61 der Sitzung des Politbüros (wie Anm. 26). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 47 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Das zerrissene Dreiländereck „Bayern – Thüringen – Sachsen“: Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wiedervereinigte Deutschland Von Miriam Müller Wachturm an der deutsch-deutschen Grenze, 1961 48 Foto: Aufnahme der Bayerischen Grenzpolizei Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland „Zur Unterbindung der feindlichenTätigkeit […] Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der DDR einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.“1 Beschluss des Ministerrates der DDR vom 12. August 1961 „Die haben immer gesagt: antifaschistischer Schutzwall. Aber die ganze Sache war verkehrt herum gebaut. […] Die [Mauer] war so gebaut, dass von unserer Seite [der DDR] praktisch keiner rüber konnte. Aber von drüben [aus Westdeutschland] hätte alles rüberrollen können.“2 Zeitzeugenbericht eines NVA-Grenzsoldaten über die Mauer in Berlin Am 13. August 1961 startete unter der Einsatzleitung Erich Honeckers um Mitternacht die „Aktion X“. Der spätere Chef der DDR war zu diesem Zeitpunkt bereits ein wichtiger Mann im SED-Staat und seit 1958 als Sekretär des Zentralkomitees (ZK) zuständig für Sicherheitsfragen. Ziel der Aktion war es, entlang der Grenze durch Berlin eine Mauer zu errichten, um die Flüchtlingsexplosion von Ost- nach West-Berlin zurückzudrängen. Dafür veranlasste Honecker über 7.000 Mann der Nationalen Volksarmee (NVA) mit Panzern und Panzerfahrzeugen entlang der zukünftigen Mauer und um ganz Berlin herum in Stellung zu gehen. Die Staatsführung der DDR befürchtete zu diesem Zeitpunkt die Gegenwehr der Bevölkerung, konnte aber auch ein Eingreifen der drei Westalliierten USA, Großbritannien und Frankreich nicht ausschließen. Der Beginn der Bauarbeiten bedeutete gleichzeitig das Ende des alltäglichen Berliner Pendelverkehrs zwischen Ost und West mit über einer halben Million Menschen.3 Nicht wenige nutzten den letzten Tag vor der Schließung der Grenze, um mit der S-Bahn nach West-Berlin zu fliehen. Der Berliner Mauerbau mit Stacheldraht und Hohlblocksteinen markierte als pars pro toto den Abschluss der sich seit der Staatsgründung vollziehenden Abriegelung der DDR nach Westen. Denn auch die innerdeutsche Grenze wurde von der Ostsee bis zum Vogtland zwar ohne Mauer, aber nicht weniger unmenschlich ausge- baut, die Abwehrmechanismen immer engmaschiger, die Grenze immer undurchdringlicher. Entgegen der offiziellen Proklamationen der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) und ihrer Organisationen richteten sich die Grenzanlagen allerdings lediglich in zweiter Instanz gegen die Bedrohung der DDR von außen durch den ungeliebten Zwillingsbruder Bundesrepublik und seine Schutzpatrone im Westen.4 Hauptrichtung der Sicherungsmaßnahmen war das Staatsgebiet der DDR und ihre Kernaufgabe, die Verhinderung „unerlaubter Grenzübertritte“ aus Richtung des eigenen Staatsgebietes. Da in der DDR die für eine Urlaubsreise oder gar Auswanderung benötigten Reisepapiere nur selten gewährt wurden, bedeutete dies de facto die Inhaftierung eines ganzen Volkes. Das Sicherungssystem der SED entfaltete nun seine volle Effizienz durch Kontrolle, Überwachung und Abschreckung. Von diesem Monstrum technischer und personeller Sicherung ist im vereinten Deutschland – von unzähligen Mauerresten an historischer oder auch weniger historischer Stelle einmal abgesehen – lediglich das „grüne Band“ geblieben: Ein einzigartiger Naturschutzraum, der sich vom Priwall bis nach Prex erstreckt. In diesem Deutschland wächst nun eine junge Generation heran, die keine einzige passpflichtige Lan- 1 Beschluss des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. August 1961, in: Neues Deutschland vom 13.08.1961, Nr. 222, S. 1. 2 Zeitzeugenbericht eines Grenzsoldaten im Berlin-Stadtführer „Die Mauer entlang. Auf den Spuren der verschwundenen Grenze“, Berlin 1996, S.106, nach: Edgar Wolfrum, Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009, S. 78f. 3 Nach: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 2009, S. 20. 4 Vgl. Beschluss des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. August 1961, in: Neues Deutschland vom 13.08.1961, Nr. 222, S. 1. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 49 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Markusgrün, Mai 1966 Foto: Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth, Fotograf: Achim Kilian desgrenze mehr überqueren muss, um zum Mittelmeer zu gelangen. Jugendlichen in Ost und West erscheint die Zeit der deutschen Teilung als ein Anachronismus, eine überkommene Vergangenheit, die sie nicht mit dem Hier und Jetzt verbinden können und wollen.5 Dennoch ist von dieser Grenze mehr geblieben, als heute sichtbar ist: Entlang ihres Weges teilte sie nicht nur das Land, sondern vor allem die Menschen. Kolonnenweg und Stacheldraht zerrissen die Bande der über Jahrhunderte gewachsenen Kulturräume6 – wie zum Beispiel im Dreiländereck zwischen Bayern, Thüringen und Sachsen. Jenseits seiner politischen Grenzen war das dortige Gebiet durch Wanderungsbewegungen, zeitweilige territoriale Zusammengehörigkeiten und den gemeinsamen Naturraum wirtschaftlich und gesellschaftlich eng verbunden. Nun geht mit dem Aussterben der Zeitzeugen des einstigen deutschen Reiches auch die Erinnerung an diese überregionale Verflechtung verloren: Die Menschen sind sich über die Zeit fremd geworden. Eine Mehrheit in Ost und West sieht im Jahr 2009 nach einem seit 1990 andauernden Trend des Zusammen- wachsens wieder mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen.7 Auch über zwei Jahrzehnte nach dem Kitten der deutschen Einzelteile wird das Land im alltäglichen Sprachgebrauch zunächst nach Ost und West unterteilt und nicht, wie einst, nach Nord und Süd. In der deutschen Geschichtswissenschaft wie auch in den Gesellschaftswissenschaften spielten und spielen Grenzen als Analysekategorie zumeist eine nachgeordnete Rolle.8 Doch insbesondere für die Geschichte der deutschen Teilung und ihre Auswirkungen auf das deutsche Zusammenwachsen müssen die Folgen von „Grenzziehung“ und dem Leben mit der Grenze zumindest mitgedacht werden. Der folgende Aufsatz will nun zu den Anfängen der Teilung der einstigen Kulturräume durch die innerdeutsche Grenze zurückkehren und den fortschreitenden Zerfall der regionalen Bindungen bis in die sechziger Jahre hinein exemplarisch nachzeichnen. Zunächst werden die geographischen, historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten des heutigen Dreiländerecks Bayern – Thüringen – Sachsen herausgearbeitet, um die Kennzeichen des Kulturraums zu verdeutlichen. Die Bezüge zur ehemaligen Tschechoslowaki- 5 Dies wurde in über 50 Klassengesprächen mit Schülerinnen und Schülern der 8. bis 10. Jahrgangsstufe aller Schulformen aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Bayern zur aktuellen Studie des Forschungsverbundes SED-Staat „Kenntnisse, Bilder, Deutungen – das zeitgeschichtliche Bewusstsein Jugendlicher in Deutschland“ von Januar bis Oktober 2010 deutlich. 6 Begriffsverwendung nach: Gerhard Wolf, Formationen, Transformationen und Interaktionen von Kulturräumen in historischer Perspektive, Research Perspectives of the Max-Planck-Society 2010: Cultural Spheres, in: http://perspectives.mpg.de/75728/hm04_Cultural Spheres-basetext.pdf (Stand: 21.12.2010) 7 Vgl. Klaus, Schroeder, Das neue Deutschland, Berlin 2010, S. 54. 8 Vgl. Hans Medick, Grenzziehungen und Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Monika Eigmüller/Georg Vobruba (Hg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden, 2006, S. 38f. 50 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland „Himmelreich“ bei Heinersgrün, Mai 1966 Foto: Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth, Fotograf: Achim Kilian Fichtelsee bei Heinersgrün Foto: Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth, Fotograf: Achim Kilian schen Republik (ČSR)9 können im Rahmen dieses Textes lediglich Erwähnung finden, wobei eine weitere Untersuchung jedoch vielversprechend scheint. Anschließend wird der Ausbau des Grenzregimes als das schrittweise Kappen aller Verbindungen der gemeinsamen Bezüge des Kulturraumes dargestellt. Zentral sind hierbei die Auswirkungen auf die historisch gewachsenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bindungen. Die Entwicklung von Grenzbefestigung und -kontrolle wird im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung erfasst und die Auswirkungen des Berliner Mauerbaus auf die Grenzregion DDR –Bayern ge- sondert in den Blick genommen. Konkretes Beispiel der unmittelbaren Auswirkungen des Grenzregimes auf die Bevölkerung in der Region ist im Folgenden das Dorf Mödlareuth. Die Bewohner des kleinen Ortes hatten die Teilung auf besonders schmerzliche Weise erfahren müssen, da die Grenze die Dorfgemeinschaft über vierzig Jahre trennte und so Familien und Freunde voneinander fernhielt. Den Abschluss der Analyse bildet ein Ausblick auf die Auswirkungen der Zerstörung der historischen, grenzübergreifenden Kulturräume auf das wiedervereinigte Deutschland. 9 Ab 1960 Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 51 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Siedeln und Leben in einem Kulturraum: eine gemeinsame Herrschafts- und Wirtschaftsgeschichte Der Begriff des „Kulturraums“ beinhaltet ein interdisziplinäres und stark umstrittenes Konzept gemeinsamer Kennzeichen „zugleich kohärenter [und] in sich heterogener Räume“, die zwar in vielen Belangen verschieden, jedoch eng miteinander verbunden und in ständigem Austausch begriffen sind.10 Ursprünglich als Werkzeug der Anthropologie und Ethnologie entwickelt, wurde es durch die „Wissenschaft“ der Nationalsozialisten in der Argumentation ihrer Rassenideologie missbraucht. Seither überdauerte es im Bereich der Regionalstudien und -geschichte und erlebt nun in der Globalisierungsforschung seinen „zweiten Frühling“. Erkenntnisgewinn verspricht das Konzept grenzübergreifender Kulturräume jedoch weiterhin besonders auf der regionalen Ebene, denn hier werden der Austausch von Menschen, Gütern und Ideen und seine Auswirkungen auf eine Region konkret begreifbar. Im Folgenden soll nun die Entstehung des Kulturraums im Dreiländereck Bayern – Thüringen – Sachsen überblickartig nachvollzogen werden. Der Fokus liegt dabei auf den Gemeinsamkeiten bzw. Verbindungen durch Geographie, Migration, Handel und Sprache.11 Verbindungen jenseits der Territorialzugehörigkeit: ein gemeinsamer Naturraum Topographische Karten mit der inzwischen historischen Grenze zwischen Bayern und der DDR rufen die deutsche Teilung so ins Gedächtnis, wie sie vor allem der Wanderer zu Fuß in eindrucksvoller Weise erleben konnte: Vom nordwestlichen Bayern kommend endet ab 1952 der Weg durch die Rhön am Querenberg im Dreiländereck zwischen Bayern, Hessen und Thüringen vor den Sperranlagen der DDR. Auch durch das sich im Osten anschließende Grabfeld, im frühen Mittelalter Grenzgau der Franken, zieht sich die innerdeutsche Grenze. Heute reicht der thüringische Teil des Grabfeldes von der Werra bis zu den Städten Meiningen und Hildburghausen, der bayerische Teil gehört zu Unterfranken mit seinem regionalen Zentrum Bad Königshofen. Weiter nach Osten schließt sich in Bayern das Coburger Land an. Erst 1920 hatte der damalige Freistaat Coburg gegen den Beitritt zum Freistaat Thüringen gestimmt und damit den Weg für die Angliederung an Bayern geebnet. Selbst der Frankenwald, der sich auf bayerischer Seite über den Landkreis Kronach bis in den Hofer Kreis erstreckt, findet seine Fortsetzung auf dem Gebiet der einstigen DDR und geht in Richtung Thüringen ins Thüringer Schiefergebirge über. Bei Bad Steben im Landkreis Hof passiert die Saale, die im Fichtelgebirge bei Zell ihren Ursprung findet, die innerdeutsche Grenze, durchquert Jena, Naumburg und Halle, bis sie schließlich in die Elbe mündet. Das heutige Thüringen und Sachsen liegen in einem von Erzgebirge, Thüringer Wald, Harz und Fläming umschlossenen Naturraum; beide Länder sind voneinander durch keine natürliche Grenze, sondern lediglich durch Territorialzugehörigkeit, Kultur und Mundart geschieden. Karlheinz Blaschke, einer der wenigen Regionalhistoriker der DDR, sieht Sachsen und Thüringen „im Laufe vieler Jahrhunderte mehr verbunden als getrennt“. Dieser topographisch geschlossene und kulturell, gesellschaftlich und wirtschaftlich eng verbundene Raum sei dabei in seinen Außenbeziehungen „besonders auf die Verbindung nach dem Süden“,12 dem heutigen Bayern, orientiert gewesen. An dieser Stelle muss auf die von Bayern lange Zeit unabhängige politische Entwicklung des heutigen Nordbayern hingewiesen werden: Erst nach den napoleonischen Kriegen ein Teil Bayerns, wurde die Region über Jahrhunderte von „verwirrende[r] Vielfalt und Zersplitterung“13 geprägt. Der Raum entwickelte sich ohne größere, geschlossene Territorien mit starken Spannungen zwischen den wirtschaftlichen und religiösen Zentren Nürnberg, Bamberg, Würzburg und Ansbach. Die enge Verbindung zwischen Franken und dem heutigen Thüringen und Sachsen belegt auch Sebastian Münsters Kartenwerk, in dem das Gebiet Thüringen und Meißen bis nach Bamberg als geographische Einheit verzeichnet ist. Münster trägt damit vor allem den Lebensumständen der Menschen und ihren historisch gewachsenen Verbindungen, weniger den tatsächlichen politischen Gegebenheiten dieser Zeit Rechnung. Die einzelnen Gebiete des Dreiländerecks sind vor allem durch Siedlungsbewegungen kulturell eng verbunden, wie z.B. die große Zahl thüringischer Ortsnamen in Franken zeigt. Noch bis zum ersten Drittel des 6. Jahrhunderts n. Chr. erstreckte sich das thüringische Königreich von Magdeburg 10 Wolf (wie Anm. 6), S. 1. 11 Auf die Verbindungen im Bereich der bildenden und darstellenden Kunst kann aufgrund des Textumfangs leider nicht eingegangen werden. 12 Karlheinz Blaschke, Politische Geschichte Sachsens und Thüringens. Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 13, München 1991, Einleitung. 13 Peter Claus Hartmann: Bayerns Weg in die Gegenwart. Vom Stammesherzogtum zum Freistaat heute, Regensburg 1989, S. 142. 14 Ebd., S. 75. 52 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Bauarbeiten an der Saalebrücke bei Hof, September 1964 Foto: ullstein bild Der Grenzübergang Saalebrücke bei Hof Anfang der siebziger Jahre Foto: ullstein bild bis an die Donau und auch das „siedlungsfeindlich[e]“,14 dicht bewaldete Franken war von Thüringern besiedelt. 531 fiel das südliche Gebiet bis an die Unstrut an das Frankenreich. Im folgenden Jahrhundert siedelten sorbische Stämme aus Böhmen östlich der Saale im heutigen Thüringen und Fichtelgebirge, wie zahlreiche Ortsnamen in Nordostoberfranken belegen.15 Die deutsche „Kleinstaaterei“ führte auch im Dreiländereck zu wiederholten Herrschafts- und somit auch Konfessions- und Zugehörigkeitswechseln der örtlichen Bevölkerung. Zahlreiche politische und kirchliche Verbindungen entstanden in dieser Zeit mit und ohne räumlichen Zusammenhang: Im Frühmittelalter fand beispielsweise eine Ausdehnung herrschaftlicher Gewalt vom bayerischen Maingebiet bis nach Thüringen statt und bayerische Siedler zogen bis ins sächsische Vogtland. Das heutige Grenzgebiet Nordostbayern, Südwestthüringen und Südostsachsen unterstand vom 15 Vgl. z.B. Reinhard Höllerich, Historisches Ortsnamenbuch von Bayern. Oberfranken Band 3: Rehau – Selb, München 1977, S. 21–26. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 53 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Der historische Raum Nordostbayern – Südwestthüringen und Südostsachsen auf einer historischen Karte ca. aus dem Jahr 1885 Karte: Mapp. XI, 92 C–G, Bayerische Staatsbibliothek 11. bis 16. Jahrhundert der Verwaltung der Vögte von Weida, Gera, Plauen und Greiz und bis heute wird vom bayerischen, thüringischen und sächsischen „Vogtland“ gesprochen.16 Sebastian Münster zeigt in seiner „Cosmographia“17 auf, dass der Begriff „Vogtland“ für die gesamte Region bis nach Franken hinein verwendet wurde: Den Raum zwischen Coburg, Kronach (Cronach) und Hildburghausen/ Schleusingen (Schleusung) bezeichnet er als „Voitland“. Die Besiedlung von Vogtland und Erzgebirge im 12. Jahrhundert erfolgte vorrangig durch Bauern aus Oberfranken. Ab 154718 begann mit der festen Etablierung des Kurfürstentums Sachsen auch die schrittweise territoriale Konsolidie- rung Sachsens. Gleichzeitig wurde mit dem Ernestiner Herzogtum und seiner Hauptstadt Weimar der Grundstein der politischen Eigenständigkeit Thüringens gelegt. Das fränkische Gebiet hingegen blieb politisch und deshalb auch konfessionell ein Flickenteppich. Die religiösen Vorstellungen Martin Luthers breiteten sich von Sachsen und Thüringen als „Ursprungsland der Reformation“ von Nürnberg19 über ganz Franken aus und führten zu seiner konfessionellen Durchmischung: Bis zur Angliederung des Gebietes an Bayern bestimmten die Herren der „ungeschlossenen Reichslande“ (lat. territoria non clausa20) die Konfession ihres Landes und auch heute bildet der fränkische Raum mit 16 Jörg Maier, Universität Bayreuth (Hg.), Das geographische Seminar Spezial. Exkursionsführer Oberfranken, Westermann Verlag, Braunschweig 2007, S. 286. 17 Sebastian Münster, Cosmographia oder Beschreibung der gantzen Welt, Faksimile nach dem Original von 1628, Lindau 1984. 18 In der Schlacht vom Mühlberg 1547 gelingt dem Albertiner Moritz die Wiederherstellung der Einheit wettinischen Länder und er erringt die Kurwürde für sich. Vgl. Blaschke (wie Anm. 12), S. 23f. 19 In Franken hatte die Reformation in Nürnberg ihren Ursprung und wurde seit 1527 vor allem durch Markgraf Georg von AnsbachKulmbach verbreitet. 20 Vgl. Medick (wie Anm. 8), S. 41. 54 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland einer, wenn auch kwnappen, protestantischen Mehrheit im katholischen Bayern noch immer einen konfessionellen Sonderfall.21 Die Entwicklung der Infrastruktur und wirtschaftliches Zusammenwachsen Wie stark sich bereits vor Jahrhunderten der gewerbliche und wirtschaftliche Austausch zwischen Bayern, Sachsen, Thüringen und Böhmen intensivierte, zeigt ein Blick auf den Ausbau des Wegnetzes und der Handelsrouten. Ende des 15. Jahrhunderts verlief neben den reitenden Posten nach Prag aus Süden über Erding und aus Westen von Nürnberg über Waldmünchen lediglich ein weiterer reitender Posten von Bamberg, über Lichtenfels, Kulmbach nach Eger und weiter nach Prag.22 Richtung Leipzig und Dresden führten der Posten des Landsberger Bundes und ein reitender Posten von München über Nürnberg und Truppach. Ende des 18. Jahrhunderts waren diese Strecken aber bereits nicht nur alle als fahrende Posten, also mit befestigten Straßen ausgebaut, sondern unzählige weitere reitende Posten von Bayern gen Norden und Nordosten eingerichtet und zusätzliche fahrende Posten erschlossen. Diese Verbindungen hatten sich nach und nach durch die Wanderung von Siedlern und Kaufleuten entwickeln können, vorrangig aus der fränkischen Reichsstadt Nürnberg nach Norden und Nordosten: So bezeichnet Albert Herzog zu Sachsen die Nürnberger Kaufleute ab ca. 1450 als die „Vertreter fremder Kaufleute schlechthin“23 in der Messestadt Leipzig.24 In Zusammenhang mit dem fränkischen Engagement in der Ober- und Niederlausitz sowie dem Bergbau im Erzgebirge fand ein reger wirtschaftlicher, aber auch personeller Austausch zwischen Franken und ganz Sachsen statt. In den folgenden Jahrhunderten setzte sich diese Entwicklung fort und in Thüringen, Sachsen, Nordböhmen und Oberfranken bildete sich ein geschlossener Wirtschaftsraum heraus.25 Das erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu Bayern gehörige Oberfranken bezog seine Rohstoffe bis 1945 aus dem Norden und Nordosten und setzte den Hauptteil seiner gefertigten Konsumgüter innerhalb dieses mitteldeutschen Wirtschaftsraumes ab. So wurden Anfang des 19. Jahrhunderts beispielsweise 80 Prozent der Bierproduktion der Hofer Großbrauereien nach Sachsen und Böhmen geliefert.26 Die wirtschaftskulturelle Nähe wird z.B. im gemeinsamen Schwerpunkt Textil- und Keramikproduktion entlang der Achse der Städte Bayreuth, Hof, Plauen und Chemnitz deutlich.27 Mit fortschreitender Industrialisierung verteilten sich die Fertigungsstufen einzelner Produkte je nach Spezialisierung im gesamten Raum und erzeugten ein dichtes Beziehungsgeflecht wirtschaftlicher Abhängigkeiten. Ausfluss des Austausches von Menschen und Waren: eine gemeinsame Sprache „[D]enn das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache.“28 Theodor Fontane (1819–1898) Der bis heute lebendige Ausdruck der kulturellen Nähe entlang der einstigen Grenze zwischen Bayern und der DDR ist die Ähnlichkeit der Sprechweise. Trotz der hörbaren Unterschiede im Klang überwiegen die Gemeinsamkeiten in Lautfärbung und Ausdrucksweise im Dreiländereck. Wie Steger im ersten derart umfassenden Werk zu den Mundarten „im östlichen Franken“ belegt, liegt innerhalb der Verbindungslinien zwischen den Orten Eisfeld/Thüringen, Greiz/Thüringen, Selb/Oberfranken, Weißenburg/Mittelfranken und Uffenheim/Mittelfranken29 eine sprachliche Raumeinheit der Mundart Oberostfränkisch. 21 Die Annahme, dieses Verhältnis sei durch den Zuzug der Vertriebenen nach 1945 zu Gunsten der Protestanten verschoben worden, ist nachweislich falsch. Die Konfessionsverhältnisse der Einheimischen entsprechen beinahe denen der Ende der vierziger Jahre ankommenden Flüchtlinge. Allerdings findet in Bayern in der Folge wie auch in ganz Deutschland eine konfessionelle Durchmischung der Landkreise statt. Vgl. Martin Kornrumpf, In Bayern angekommen. Die Eingliederung der Vertriebenen. Zahlen – Daten – Namen, München 1979, S. 168. 22 Vgl. Karte 4: Bayerische Verkehrskarte 1551–1650 und Karte 6: Bayerische Verkehrskarte 1764, in: Eckart Schremmer, Die Wirtschaft Bayerns. Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung. Bergbau. Gewerbe. Handel, München 1970. 23 Albert Herzog zu Sachsen, Die Beziehungen zwischen Bayern und Sachsen in den vergangenen Jahrhunderten, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40 (1977), S. 264. 24 Vgl. Messeprivilegien der Stadt Leipzig von 1497 und 1507, in: Herbert Helbig, Quellen zur älteren Wirtschaftsgeschichte Mitteldeutschlands Teil II, Weimar 1952, S. 86-88/89f. 25 Vgl. Heiko Steffens/Birger Ollrogge/Gabriela Kubanek (Hrsg.): Lebensjahre im Schatten der deutschen Grenze. Selbstzeugnisse vom Leben an der innerdeutschen Grenze 1945, Opladen 1990, S. 13. 26 Maier (wie Anm. 16), S.216. 27 Ebd. 28 Theodor Fontane, Unwiederbringlich, Ditzingen 1986, Kapitel 13. 29 Hugo Steger, Sprachumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken. Das Lautsystem der Mundarten im Ostteil Frankens und seine sprach- und landesgeschichtlichen Grundlagen, Neustadt/Aisch 1968, S. 2. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 55 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Minensuche Anfang der sechziger Jahre Foto: Bundesgrenzschutz Von den südlichen Mundarten Unterostfränkisch und Nordbayerisch unterscheidet sich diese grundlegend. Nach Norden und Nordosten hingegen geht die Mundart des Oberostfränkischen fließend in die ostfränkischen Ausbaulandschaften Vogtland, Südmeißen, Westerzgebirge und Nordwestböhmen über.30 Zudem lassen sich für diese Sprachgebiete dialektale Überlappungen über die Landesgrenzen hinweg nachweisen, so zum Beispiel vom Thüringischen zum Oberostfränkischen: Nördlich von Kronach zwischen Haßlach und Ludwigsstadt ist im heutigen Bayern eine Form des Thüringischen erhalten geblieben.31 Weiterhin ist der Nailaer Raum in Franken sprachlich eng mit dem reußischen Raum in Thüringen verbunden.32 Als Ursachen für diese sprachliche Nähe nennt Steger den gegenseitigen Einfluss geographisch, politisch und kirchenor- ganisatorisch verbundener Räume auf die Entwicklung der Mundarten und Siedlungsbewegungen. Für einige Lautgruppen weist Steger zudem eine Ausdehnung der ostfränkischen Mundart bis nördlich von Schleiz nach33 und begründet dies mit der historischen Straße von Münchberg/ Helmbrechts über Hof nach Plauen.34 Die Nordfranken und Südthüringer, aber auch die Südostsachsen sprechen in mancherlei Hinsicht bis heute die „gleiche Sprache“. Der „eiserne Vorhang“ senkt sich: das Absterben des Kulturraumes im Dreiländereck Nach Ende des Zweiten Weltkrieges senkte sich der so genannte „Eiserne Vorhang“35 in der Mitte Europas und riss das einstige „Dritte Reich“ in zwei Teile. Es war der Beginn 30 Ebd., S.7. 31 Dies weist der „Sprechende Sprachatlas Bayerns“ zwischen 2006 und 2008 unter der Leitung von Prof. Dr. Werner König erneut nach. Vgl. http://sprachatlas.bayerische-landesbibliothek-online.de (Stand: 08.Oktober 2010). 32 Steger (wie Anm. 29), S.509ff. 33 Vgl. Lautkarten in: Steger (wie Anm. 29), S.637ff. 34 Steger (wie Anm. 29), S.490. 35 Nach: Winston Churchill, „The Sinews of Peace” am 5. März 1946 am Westminster College in Fulton, Missouri, in: http://www.hpol.org/ churchill/(Stand: 17.12.2010). 56 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Explosion einer Mine am Grenzzaun, Mitte der sechziger Jahre eines weltweiten „Kalten Krieges“36 zwischen den „zwei Weltlagern“37 der östlichen und der westlichen Hemisphäre, der über vier Jahrzehnte andauern sollte. Bereits im Oktober 1943, noch während des Zweiten Weltkrieges, hatten die führenden alliierten Mächte USA, Großbritannien und die Sowjetunion die Eckpfeiler der Neuaufteilung des Deutschen Reiches bestimmt.38 Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 unterzeichneten die Staatschefs der zukünftigen Siegermächte des Krieges, Winston Leonard SpencerChurchill, Franklin Delano Roosevelt und Iosif Vissarionovi Stalin, schließlich den „Bericht über die Krim-Konferenz“: „Gemäß dem in gegenseitigem Einvernehmen festgelegten Plan werden die Streitkräfte der drei Mächte je eine besondere Zone Deutschlands besetzen.“39 Foto: Bundesgrenzschutz Mit diesen „Besatzungszonen“ entlang der Ländergrenzen der Weimarer Republik40 wurde auch die „Demarkationslinie“ zwischen Thüringen, Sachsen41 und Bayern festgelegt. Die dortige Grenze war bislang lediglich durch Grenzsteine markiert. Auf bayerischer Seite behielt sie diesen durchlässigen, ja lediglich symbolischen Charakter als Erinnerung an die Hülle der einstigen Fürstentümer im Dreiländereck bei. Gen Osten hingegen mutierte die Demarkationslinie über die Jahrzehnte zu einem perfiden Abwehrmechanismus des SED-Regimes. Im Sommer 1945 übergab die US-Armee unter General Patton das von ihr zum Großteil besetzte Sachsen, Thü- 36 Begriff nach: Herbert B. Swope 1946, Mitarbeiter des U.S.-Präsidentenberaters Baruch, in: Bernard Baruch, Public Years, New York 1960, S. 80 und 368f. 37 Schdanow, Andrej, September 1947 als Antwort Stalins auf Harry S. Trumans „Kriegserklärung“ vom März 1947, in: Bernd Stöver, Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S.73. 38 Zur Außenministerkonferenz in Moskau vgl. Rolf Steininger: Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Band 1: 1945–1947, Frankfurt/Main 2002, S. 18. 39 Bericht über die Krim-Konferenz vom 03.–11. Februar 1945, in: http://www.documentarchiv.de/index.html (Stand: 08.12.2010). 40 Diese Ländergrenzen hatten mit der „Gleichschaltung der Länder“ zur Zentralisierung des „Dritten Reiches“ durch die NSDAP 1933 ihre Bedeutung verloren. 41 Vor der Verwaltungsreform in der DDR 1952. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 57 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Grenzpatrouille des Bundesgrenzschutzes am sog. „Flandernzaun“ aus Stacheldrahtgeflecht, 1958 ringen und Westböhmen an die Sowjetarmee, die entsprechend bis an die bayerische Nord- und Ostgrenze heranrückte.42 Zu spüren war dies vor allem in den ober- und unterfränkischen Grenzgemeinden, denn dort lagerten die sowjetischen Vorposten in direkter Blickweite. Ein anschaulicher Sonderfall ist das kleine Grenzdorf Mödlareuth, zur Hälfte in Bayern, zur Hälfte in Thüringen gelegen. Der Ort wurde im Sommer 1945 entgegen der Vereinbarung der Krimkonferenz in Jalta vollständig von der Roten Armee besetzt: Bereits 1810 war das Dorf entlang des Tannbachs geteilt und unterschiedlichen Herren, dem Königreich Bayern und dem Fürstentum Reuß, zugeschlagen worden. Am Lebensalltag der Menschen hatte dies nichts geändert. Alle Mödlareuther, ob nun aus dem Ost- oder aus dem Westteil des Dorfes, hatten den gleichen Gottesdienst besucht, zunächst in Töpen, später in Gefell, hatten sowohl auf bayerischer als auch auf reußischer Seite gearbeitet. Foto: BGS Bayreuth Bereits nach dem Ersten Weltkrieg war der Osten des Dorfes Teil des Landes Thüringen, der Westen unter bayerische Verwaltungshoheit gestellt worden, so dass auch hier die Bestimmungen der Krimkonferenz hätten greifen müssen. Im April 1945 erreichten nun US-amerikanische Truppen Mödlareuth und besetzten den gesamten Ort, um sich im Juli gemäß den vereinbarten Besatzungszonen hinter die bayerische Grenze zurückzuziehen. Dabei räumten die Besatzer allerdings auch den Westteil Mödlareuths. Am 7. Juli übernahmen dann sowjetische Truppen den kleinen Ort und errichteten auf der bayerischen Seite ihre Ortskommandantur. Bis zum Sommer 1946 war den Bewohnern Mödlareuths deshalb unklar, zu welcher der beiden Besatzungszonen sie künftig gehören würden. Erst ein Jahr später erfolgte der Rückzug der sowjetischen Soldaten aus West-Mödlareuth. Die US-Armee rückte bis an die Demarkationslinie entlang des Tannbachs und die Teilung der Dorfgemeinschaft war besiegelt. 42 Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundesland, München 1986, S. 556. 58 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Bau der 700 Meter langen Betonsperrmauer, 1966 Foto: BGS Bayreuth In den ersten Jahren der Teilung von 1945 bis 1952 war die innerdeutsche Grenze noch nicht durchgängig befestigt und daher relativ durchlässig. Dennoch wurde sie von Beginn an von sowjetischen Truppen bewacht: In den ersten Monaten nach der bedingungslosen Kapitulation übernahmen die sowjetischen Besatzungstruppen die Grenzsicherung entlang der späteren innerdeutschen Grenze – so auch im Grenzgebiet von Thüringen und Sachsen. Nach dem Scheitern der gemeinsamen Verwaltung Berlins durch die Siegermächte wandelte sich die Zonengrenze zwischen SBZ und US-amerikanischer Zone von einer Verwaltungsgrenze zu einer politischen Zoll- und Wirtschaftsgrenze. Zunächst war der Grenzübertritt noch ohne größere Hindernisse möglich, jenseits der offiziellen Grenzübergänge jedoch illegal. Die Not der Nachkriegsjahre wurde in vielen Regionen durch kalte Winter und Missernten verschlimmert. Im Grenzgebiet des Dreiländerecks entstand in dieser Zeit ein reger Tauschhandel zwischen den Zonen, aber vor allem auch Schmuggel von Nahrungsmitteln, Kleidung und Waren des täglichen Bedarfs. Die „Grenzgänger“ dieser Zeit mussten jederzeit damit rechnen, von den Grenztruppen aufgegriffen oder unter Beschuss genommen zu werden. Nicht wenige junge Leute verschwanden spurlos. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Aus Nachbarn werden Feinde: der Aufbau von Deutscher Grenzpolizei und Bundesgrenzschutz Bereits in den ersten Jahren bereiteten die Besatzerarmeen entlang der Demarkationslinie die Übernahme der Bewachung der Grenze durch einheimische Truppen vor. Rekrutiert wurde vorrangig im grenznahen Raum, so dass sich bald auf beiden Seiten vor allem diejenigen als Feinde gegenüberstehen mussten, die ihr Leben gemeinsam unter gleichen Bedingungen in der Region gelebt und die Grenze kaum als solche wahrgenommen hatten. Am 28. November 1946 veranlasste die Sowjetische Militäradministration (SMAD) die Aufstellung einer Deutschen Grenzpolizei (GrePo) und übertrug ihr als Sowjetische Kontrollkommission (SKK) am 10. Juni 1950 die Kontrollaufgaben an den Grenzkontrollpassierpunkten. Als Reaktion auf die Unterzeichnung des Deutschlandvertrages durch die Bundesrepublik wurde im Mai 1952 die Verordnung über „Maßnahmen an der Demarkationslinie“ erlassen. Noch zehn Tage zuvor war die Grenzpolizei dem jungen Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterstellt und das Ministerium somit durch die Verordnung ermächtigt worden, 59 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland „strenge Maßnahmen“ der Grenzsicherung einzuleiten. Ihre Aufgabe war es, „Grenzverletzungen zu verhindern und aufzuklären, Grenzverletzer zu stellen“. Bereits ab 1956 wurde geplant, die Einsatzmöglichkeiten und -fähigkeiten der Grenzpolizei im militärischen Sinne zu erweitern: Die Deutsche Grenzpolizei sollte in der Lage sein, „nach militärischen Grundsätzen [zu] handeln und mit Teilen der Nationalen Volksarmee gemeinsam Handlungen durchführen [zu] können“.43 Organisatorisch wurde die Grenzpolizei deshalb ab 1961 zum „Kommando der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee“ umgeformt und als Teil der Landesverteidigung entsprechend militarisiert. Personell und organisatorisch blieben die Grenztruppen allerdings mit dem MfS verflochten: „Die Abteilung Aufklärung bei der Deutschen Grenzpolizei wird mit Wirkung vom 20. Mai 1959 dem Minister für Staatssicherheit in der operativen Anleitung und Kontrolle unterstellt.“44 Der Dienst in der Grenzpolizei brachte zwar materielle Vorteile, jedoch auch extreme Einschränkungen des alltäglichen Lebens mit sich. Westreisen und entsprechend auch der Kontakt zu Personen, die regelmäßig in den Westen reisten, waren streng verboten. Gleiches galt für die Kommunikation zu den „Grenzern“ der Bundesrepublik. Die Angehörigen der Grenzpolizei waren der beständigen Überwachung durch Kollegen, Vorgesetzte, aber auch Untergebene ausgesetzt. Berichtet wurde über Unmutsäußerungen, DDR-kritische und „westfreundliche“ Aussagen. In einem Sonderbericht ist beispielsweise über die Äußerung eines Angehörigen der Grenzbereitschaft zu lesen: „Der Sperrenbau in Berlin und das Auffahren von Panzern besiegelt die Spaltung Deutschlands. Diese Maßnahmen zeigen die Schwäche der DDR.“45 Die Methode, über jede kritische Anmerkung Protokoll zu führen, wurde von allen staatlichen Organen angewendet. Die Angst vor Denunziation und den Folgen sollte die Linientreue der Staatsdiener garantieren. Bis Mitte der sechziger Jahre wurden Auflagen und Überwachung der Grenztruppen immer weiter verstärkt, da insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer „Fahnenfluchten; schwere Grenzdurchbrüche und grobe Verstöße gegen die militärische Disziplin und Ordnung“46 innerhalb der Grenzpolizei stark anstiegen. Der Vergleich der jeweils zweiten Jahreshälfte 1960 und 1961 zeigt eine Verdopplung der Fahnenfluchten. Über 40 Prozent der Flüchtigen seien dabei „erst 1961 in die Grenztruppen eingestellt worden“. Dieser Umstand hatte eine Verschärfung der Überprüfung bei Neueinstellungen zur Folge, um Fluchtplänen den Weg nicht weiter über den Dienst bei den Grenztruppen zu ebnen. Die Grenzdurchbrüche aus den Reihen der Truppen wurde aus Sicht der Behörden vor allem auch dadurch begünstigt, dass die Grenzpolizisten bei Fluchtversuchen ihrer Kameraden „von der Schußwaffe […] überhaupt nicht Gebrauch“47 machen würden. Nicht auf ihre Kameraden zu schießen, sei ein Hinweis auf die „Schwäche“ ihrer „klassenmäßigen Erziehung“. In der Folge begannen im Grenzgebiet z.B. bei Meiningen und Suhl intensive „Parteiarbeit“ und ideologische Schulungen der Truppen, um ihre Loyalität zu sichern. Ab dem 1. Juli 1945 übernahmen Soldaten der US-Army die Überwachung der Grenze zwischen Bayern und den Ländern Thüringen und Sachsen. Bereits jetzt wies die amerikanische Besatzungsmacht die bayerische Staatsregierung unter ihrem ersten Ministerpräsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg, Fritz Schäffer, an, eine „Bayerische Landesgrenzpolizei“ einzurichten. Am 15. November wurde die „Anordnung über die Wiedererrichtung der Bayerischen Landesgrenzpolizei“48 erlassen und die ersten Kräfte als „Border Police“ eingestellt. 1947 wurde der Zollgrenzdienst als Spezialeinheit der Grenzpolizei zugeordnet. Ein Jahr später überließen die US-Streitkräfte der Landesgrenzpolizei die Verantwortung für die Grenzüberwachung, Passkontrolle und Gewährung 43 Bericht über die Kontrolle der Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 18./20.12.1956 „Veränderung der Struktur der Polizeikräfte im Bereich des Abschnittsstabes Erfurt der Deutschen Grenzpolizei vom 26.03.1957, S. 5, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch) DY 30/ IV 2/ 12/ 71. 44 Befehl – Nr. 190/59 des Ministerium des Innern und des Ministerium für Staatssicherheit, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 78. 45 Sonderinformation Nr. 024/61 des Kommandos der Deutschen Grenzpolizei, Politische Verwaltung vom 31.08.1961, S.4, in: SAPMOBArch DY 30 /IV 2 /12 /72. 46 Information über die Lage in den Grenztruppen der Nationalen Volksarmee vom 16.2.1962, S. 3, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 73. 47 Auszug aus dem Bericht der Bezirksleitung Suhl an den 1. Sekretär des Zentralkomitees vom 26.02.1962 und Bericht über den Einsatz zum Studium der Erfahrungen in der Arbeit mit Parteiaktivisten der Bezirksleitungen Suhl und Gera, vom 7.03.1962, beide in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 73. 48 Nach: Reinhold Albert/Hans-Jürgen Salier, Grenzerfahrungen Kompakt. Das Grenzregime zwischen Südthüringen und Bayern/Hessen von 1945 bis 1990, Leipzig 2009, S. 23. 60 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Holzbretterzaun mit Oberer Mühle in Mödlareuth, die im Rahmen der ersten Zwangsaussiedlungswelle abgerissen wurde, 1952 Foto: Friedrich Marx, Hof der Sicherheit. Da nach der Gründung der Bundesrepublik und des Bundesgrenzschutzes (BGS) eigentlich der Bund für die Sicherung der Grenze zuständig war, wurde der bayerischen Grenzpolizei im Februar 1953 die Aufgabe des Grenzschutzes offiziell vom Bund übertragen. Diese beinhaltete in erster Linie den Schutz des Bundesgebietes vor „verbotene[n] Grenzübertritte[n]“.49 Die von den westdeutschen Truppen angewandte Grenzpraxis orientierte sich insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten stark am Vorgehen der US-Truppen. Beispielsweise erinnerte die Markierung des Grenzverlaufes auf bayerischer Seite in den Farben Gelb und Weiß bis Mitte der siebziger Jahre an die nach dem Zweiten Weltkrieg in Bayern stationierte 7. USArmee. Auch ehemalige Beobachtungspunkte der USTruppen, wie zum Beispiel der Beerberg bei Rodach im Landkreis Coburg, wurden von deutschen Grenzern weiter genutzt. Im Vergleich zur GrePo war der BGS weit weniger militarisiert, waren die Privilegien zwar an Verfassungs- treue, nicht jedoch an Untertanenmentalität gekoppelt. Auslandsreisen waren für die Grenzbeamten der Bundesrepublik eine Selbstverständlichkeit. Vom Provisorium zur Staatsgrenze: die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie“50 von 1952 Der 1952 von der SED verkündete „Aufbau des Sozialismus“ beinhaltete auch eine administrative Neugliederung mit dem Ziel, den jungen Staat zu zentralisieren. Während auf bayerischer Seite die Regierungs- und Verwaltungseinheiten über die Jahrzehnte grundsätzlich erhalten blieben, wurden im Juli 1952 die Länder der DDR aufgelöst. Die Grenzländer zu Bayern waren nicht mehr Thüringen und Sachsen, sondern erhielten als Bezirke Suhl, Gera und KarlMarx-Stadt ein neues Gewand. Auf bayerischer Seite schlossen in den heutigen Regierungsbezirken Unter- und 49 Gesetz über den Bundesgrenzschutz und die Einrichtung von Bundesgrenzschutzbehörden vom 16. März 1951, § 2, in: www.bgbl.de (Stand: 17.12.2010). 50 Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands vom 26. Mai 1952, in: http://www.documentarchiv.de/ddr/1952/demarkationslinie-schutz_vo.html (Stand: 08.12.2010). Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 61 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Grenzverlauf Bayern–DDR51 Abbildung: Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Die innerdeutsche Grenze, Bonn, 1989 nachbearbeitet v. Miriam Müller Oberfranken die Landkreise Rhön-Grabfeld, Haßberge, Coburg, Kronach und Hof an die DDR an. Bis 1952 blieben an der Nordgrenze Bayerns verschiedene Übergänge im Güterverkehr eingerichtet, wie beispielsweise zwischen Neustadt im Landkreis Coburg und Sonneberg in Thüringen. Seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 stieg die Zahlen derer, die die DDR nach Westen in die Bundesrepublik verließen, stetig an – bis zum Erlass der „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie“ im Mai 1952. Diese Maßnahmen bewirkten den Ausbau der Grenzanlagen und die Schließung eines Großteils der Grenzübergänge für Güter- und Personenverkehr. An der Grenze zu Bayern wurden bereits im Herbst 1951 die Übergänge Gutenfürst-Heinersgrün an der Autobahn, Höhnebach und Probstzella-Lauenstein (Landkreis Kronach) geschlossen und durch einen einzigen neuen Grenzübergang, den „KPP Juchö“, südlich von Gefell in der Nähe des bayerischen Töpen52 ersetzt. Es folgte die Umleitung des gesamten Interzonenverkehrs auf die „Strasse JuchöGefell-Schleiz“. Die historischen Handelsrouten wurden auf beiden Seiten der Grenze zur Sackgasse. Das Ende wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Bindungen Der Hofer Hauptbahnhof, seit 1848 eine der „Schaltstellen im europäischen Bahngüterwesen“,53 fand sich nun infrastrukturell nicht mehr im Zentrum Kontinentaleuropas, sondern am östlichen Rand des innerdeutschen Grabens wieder. Die einstige Textilmetropole litt unter den zusätzlichen Frachtkosten des Transportumweges nach Norddeutschland und der Westverschiebung der Handelsrouten von Italien an die Nord- und Ostsee. Bis heute verharrt Hof deshalb in lediglich lokaler Bedeutung. Die drastischen Auswirkungen der Schließung der Verkehrswege werden beispielsweise auch bei den Personenverkehrsbetrieben deutlich: Anfang der fünfziger Jahre wurde noch regelmäßiger Omnibusverkehr zwischen z.B. Erfurt und Coburg oder Plauen und Hof angeboten. Für die heute 30 km weite Strecke zwischen Plauen und Hof entlang der A72 bedeutete der Umweg über Juchö eine Verdopplung der „kilometrische[n] Länge der Fahrstrecke“.54 Während die andere Stadt heute in etwa einer halben Stunde zu erreichen ist, dehnte sich die Fahrzeit mit Grenzkontrolle nun auf etwa vier Stunden aus. Geschäftsreisen, aber auch private Besuche wurden immer beschwerlicher und die immer weiter verschärften Kontrollvorschriften von Grenzpolizei und Zoll behinderten zusätzlich den Austausch von West nach Ost. Für die einander benachbarten „Puppenstädte“ Neustadt bei Coburg in Bayern und Sonneberg in Thüringen läutete die Verordnung das Ende ihrer über Jahrhunderte gewachsenen Position auf dem weltweiten Spielzeugmarkt ein. Bis 1945 waren beide Städte infrastrukturell und personell Teil des Wirtschaftsraums Südthüringen. Die Abriegelung verursachte einen Einbruch von Produktion und Absatz, von dem sie sich bis heute nicht haben erholen kön- 51 Aus: Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Die innerdeutsche Grenze, Bonn, 1989, Faltkarte, bearb. v. Miriam Müller. 52 Vgl. Befehl Nr. 57/51 HVDVP Betr. Neuerrichtung eines Straßen-KPP in Juchö (südlich Gefell), Hauptverwaltung deutsche Volkspolizei vom 3. Oktober 1951, in: BArch DO/1/2.2 (56086). 53 Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Die innerdeutsche Grenze, Bonn, 1989, S. 109. 54 Schreiben der Vereinigung Volkseigener Betriebe Land Sachsen Kraftverkehr an das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Sachsen HA Verkehr und Straßenwesen vom 15. Mai 1952 Betreff Innerdeutscher Kraftomnibusverkehr Plauen – Hof, in: BArch DM/1/989 Bestand Generaldirektion Kraftverkehr und Straßenwesen 1950–1952. 62 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland nen. Von der Regionalplanung Oberfranken als gemeinsames Mittelzentrum der Region ausgewiesen, haben Neustadt und Sonneberg dennoch weiterhin mit beständigem Einwohner- und vor allem Erwerbstätigenverlust zu kämpfen.55 Dies ist exemplarisch für die gesamte Grenzregion entlang der einstigen Grenze zwischen Bayern und der DDR.56 Bis zum Mai 1952 war es auch in Mödlareuth noch möglich, mit Passierschein und „kleinem Grenzschein“ den Tannbach zu überqueren. Mit dem Schließen des Übergangs änderte sich das Leben der Menschen von Grund auf, so zum Beispiel für die Schulkinder. Seit Kriegsende hatten alle Mödlareuther Kinder die Schule in Ost-Mödlareuth besucht. Entsprechend mussten die Schüler aus dem bayerischen Teil täglich die Demarkationslinie passieren. Nach der Flucht der Ost-Mödlareuther Lehrerin Pribl nach Bayern 1948 wurde der Schulbetrieb in Mödlareuth eingestellt und alle Schüler wanderten täglich zwei Kilometer nach Gebersreuth in Thüringen zur dortigen Schule. Auch nach Gründung der beiden deutschen Staaten passierten die West-Mödlareuther Kinder weiterhin täglich ohne Passierschein die Demarkationslinie auf ihrem Weg dorthin. Die „Verordnung“ von 1952 setzte dem nun ein Ende: Dem letzten bayerischen Schüler Siegfried Seidel wurde am 26. Mai, zwei Monate vor seinem Schulabschluss, der Weg zur Schule in Gebersreuth verwehrt. Wie alle anderen Schüler aus WestMödlareuth war er nun Schüler der Volksschule im bayerischen Töpen. Im Zusammenhang mit der „Verordnung“ fand entlang der gesamten innerdeutschen Grenze eine Überprüfung der Grenzbewohner auf ihre politische Zuverlässigkeit hin statt. Eine negative Beurteilung z.B. durch die Staatssicherheit führte zur Zwangsaussiedlung ins Landesinnere oder aber in das polnische Grenzgebiet. Bis zum Herbst 1952 mussten über 2.400 Familien ihre Heimat unweit der Grenze verlassen. Auch in den Kreisen der DDR an der Grenze zu Bayern führten MfS und Volkspolizei Umsiedlungsmaßnahmen unter dem Decknamen „Aktion Ungeziefer“57 durch. Einige betroffene Familien begingen Selbstmord, da sie eine Aussiedlung bzw. Verbannung in die Sowjetunion fürchteten. Insgesamt waren in den sächsischen Grenzkreisen zu Bayern etwa 400 und in den thüringischen Grenzkreisen gut 1.700 Personen betroffen. Grundlage der Deportationen war nicht selten lediglich die Denunziation, das „Anschwärzen“ durch Nachbarn oder ortsansässige Vertreter der SED bei den zuständigen Behörden. Die eigentlichen Aussiedlungsaktionen führten Volkspolizisten durch, die oft erst in der Nacht der Aktion vom Ziel der Maßnahme unterrichtet wurden. Die Zwangsausgesiedelten wurden mit Hab und Gut auf Züge verladen und an unbekannte Ziele ins Landesinnere verbracht. Auch einige Familien in Mödlareuth waren betroffen. Die Bewohner der so genannten „Oberen Mühle“ in Ost-Mödlareuth konnten im letzten Augenblick fliehen, denn das Stallgebäude ihres Hofes liegt direkt auf der Grenze. Während die Polizei bereits im Hof auf die Familie wartete, gelang den Eltern und ihren Kindern der Sprung aus den Scheunenfenstern in die Bundesrepublik. Entlang der gesamten innerdeutschen Grenze wurde nun ein erster Stacheldrahtzaun errichtet und ein etwa zehn Meter breiter Kontrollstreifen angelegt. Darüber hinaus schufen die Grenztruppen einen 500 Meter breiten „Schutzstreifen“ und eine fünf Kilometer tiefe Sperrzone. Wie für Hunderte anderer Dörfer galten für die Ost-Mödlareuther die Vorschriften dieser Sperrzone. Doch da hier die Menschen unmittelbar an der Grenze im „Schutzstreifen“ lebten, waren die Maßnahmen bereits ab diesem Zeitpunkt im Vergleich zum Rest der „grünen Grenze“ verschärft. Außerhalb des Dorfes entsprach der Zehn-Meter-Kontrollstreifen den Grenzsperranlagen der restlichen innerdeutschen Grenze. Im Dorf jedoch zogen die Grenztruppen der DDR einen blickdichten Bretterzaun entlang des Tannbachs. Von nun an fand das tägliche Leben der Ost-Mödlareuther in politisch vorgegebenen, engen Bahnen statt. Übernachtungen unter freiem Himmel oder im Zelt, unangemeldete Zusammenkünfte oder das „Winken nach Drüben“ verbot die SED. Um im „Schutzstreifen“ wohnen zu können, wurde eine Wohnerlaubnis benötigt, die regelmäßig, in den ersten zwanzig Jahren sogar alle drei Monate, verlängert werden musste. Eine Verlängerung erfolgte nur nach regelmäßiger Überprüfung. Galt ein Bewohner des Grenzstreifens als „fluchtgefährdet“ oder politisch unzuverlässig, drohte ihm die Zwangsaussiedlung ins Hinterland der DDR. 55 Maier (wie Anm. 16), S. 200. 56 Vgl. ebd., S. 216. 57 Vgl. Inge Bennewitz/Rainer Potratz, Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze, Berlin 1997, S.12ff. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 63 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Blick von Westmödlareuth nach Ostmödlareuth, damals ... ... und heute Foto: Miriam Müller Foto: Arndt Schaffner Wie auch die Angehörigen der Grenztruppen waren die Bewohner des „Schutzstreifens“ der beständigen Überwachung durch Parteigänger, Angehörige der Grenztruppen und Nachbarn ausgesetzt. In einer Sonderinformation der Deutschen Grenzpolizei von 1960 hieß es über einen Bürger aus Rustenfelde im Grenzgebiet Kreis Suhl, er habe in einer Gastwirtschaft erklärt: „Wir leben wie unter Hitler, unter der gleichen Diktatur.“58 Doch auch und besonders Mitglieder der SED im Grenzstreifen wurden überwacht. Die Stammtischrede eines Parteisekretärs im Kreis seiner Freunde wurde genau dokumentiert: „In der Partei werde ich nicht mehr mitarbeiten, weil meine westdeutschen Verwandten keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen.“59 Die „Maßnahmen des 13. August 1961“: der Berliner Mauerbau und die innerdeutsche Grenze Während die meisten Menschen bis zur „doppelten deutschen Staatsgründung“60 1949 trotz des Zusammenschlusses der Westzonen 1946/47 von einer baldigen Lockerung der Passierregelungen zwischen Ost und West ausgingen, hatte sich die Situation in den Folgejahren drastisch geändert. Spätestens mit der Errichtung des Grenzregimes auf Seiten der DDR ab 1952 und den in diesem Zusammenhang durchgeführten Zwangsaussiedlungen wurde der Bevölkerung auf beiden Seiten der neuen Grenze klar, dass der Zustand der Trennung von Dauer sein würde. Als Reaktion auf die Lebensumstände in der sich nun nach und nach entfaltenden Diktatur in der DDR entschieden sich immer mehr, vor allem junge Menschen zur Flucht. Unter dem Konformitätsdruck der Parole „Aufbau des Sozialismus“61 blutete der Staat zusehends aus – nicht nur personell, sondern auch moralisch. Die „Erhöhung der Sicherheit an der Staatsgrenze West“ war deshalb beständiges Thema der Sicherheitsorgane und nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 wurden die Anforderungen an die Menschen, die im „Schutzstreifen“ entlang der innerdeutschen Grenze lebten, sogar noch weiter verschärft. Das DDR-Passgesetz von 1954 führte die Republikflucht als Straftatbestand ein, ab 1957 zählte hierzu auch die Nichteinhaltung vorgeschriebener Reiseziele, Reisewege und Reisefristen. Von westlicher Seite existierten seit der Aufhebung des Interzonenpasszwanges hingegen keinerlei Reisebeschränkungen mehr. Trotz des weiteren Ausbaus der Sperranlagen entlang der innerdeutschen Grenze und der Grenze durch Berlin gingen – entgegen der Hoffnung der SED – die Flüchtlingszahlen in den fünfziger Jahren jedoch nicht zurück, vielmehr dynamisierte sich die Entwicklung: Viele Menschen befürchteten eine weitere Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Insgesamt wurden im ehemaligen Thüringen im Jahr 1960 „179 Fälle [von Grenzdurchbrüchen, M.M.] mit 275 Personen“62 vor allem durch „LPGBauern mit Vieh, Fahrzeugen und Hausrat“ von DDRGebiet nach Bayern durch die Grenzpolizei gemeldet. Ein Großteil der Grenzdurchbrüche wurde von den Truppen allerdings weder verfolgt noch registriert, wie z.B in einem 58 Sonderinformation Nr. 024/61 des Kommandos der Deutschen Grenzpolizei, Politische Verwaltung vom 31.08.1961, S. 5, in: SAPMOBArch DY 30/ IV 2/ 12/72. 59 Ebd. 64 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Protokoll der 2. Grenzbrigade (Grenze Raum Berlin) vom November 1961 zu lesen ist.63 Von Juli bis August 1961 stieg die Zahl der Flüchtlinge aus West-Berlin von 1.000 auf über 1.500 täglich. Um den Zusammenbruch der DDR und somit das Ende der Macht der SED zu verhindern, überzeugte Walter Ulbricht, Generalsekretär des ZK der SED und somit „Chef der DDR“, Moskau schließlich davon, die Grenze zur Bundesrepublik vollständig abriegeln zu dürfen. Die SED errichtete eine Mauer quer durch die DreiMillionen-Stadt Berlin.64 An der innerdeutschen Grenze waren die Flüchtlingszahlen im Sommer 1961 zwar relativ konstant65 geblieben. Dennoch folgt dem Berliner Mauerbau nach und nach auch die Verdichtung und Modernisierung der bestehenden Abwehrmaßnahmen von der Ostsee bis ins Dreiländereck. Bis Mitte der sechziger Jahre mutierte die einstige Demarkationslinie zur bestbefestigten Grenze der Welt. Wie drastisch sich die endgültige Abriegelung der Grenze auf die Menschen und die Wirtschaft in der Grenzregion auswirkte, ist nur schwer zu beurteilen. Aussagen über einzelne Kreise hinaus werden den regionalen Unterschieden und Bezügen meist nicht gerecht. Deutlich wird allerdings, dass der Ausbau der Grenze überall zu häufig untragbaren Situationen für die Bewohner sowie für landwirtschaftliche und industrielle Betriebe im „Schutzstreifen“66 der DDR führte. Beispielsweise wurden in Dorndorf nahe Bad Salzungen Teile der Anlagen des Kalikombinates „Werra“ von der Geschäftsleitung abgetrennt. Im „Schutzstreifen“ gelegen, waren sie für die Arbeiter an einem normalen Arbeitstag aufgrund von Umwegen und Wartezeiten an den Passierpunkten nicht mehr zu erreichen und deshalb nutzlos. Vollständig aufgehoben wurden die Auflagen für die von solchen Absurditäten Betroffenen, die sich sowieso nur noch innerhalb der DDR bewegen konnten, dabei so gut wie nie. Als Lösung wurden meist einzelne Sondergenehmigungen erteilt, die zwar z.B. eine Anfahrt der Arbeiter zu ihrem Arbeitsplatz möglich machten. Der Verwaltungs- und Zeitaufwand verursachte dabei jedoch weiterhin unverhältnismäßig hohe Kosten. Infrastrukturell waren alle Dörfer entlang der Grenze untereinander und grenzübergreifend eng verflochten. Vor 1945 hatte täglich ein reger Austausch an Gütern und Nachrichten von Sachsen und Thüringen nach Bayern stattgefunden. Die Menschen waren in den nahe gelegenen Ortschaften ihrer Arbeit nachgegangen, hatten die Schule, den Gottesdienst oder den Wochenmarkt in einem der Dörfer jenseits dieser neuen Grenze besucht. Die Region zu beiden Seiten der Zonengrenzen wurde in ganz Deutschland von der Behinderung des Austauschs und der späteren völligen Abriegelung zwischen Ost und West stark beeinträchtigt. Die Landwirte litten besonders unter dem erschwerten Zugang zu ihren Feldern bzw. konnten diese häufig überhaupt nicht mehr bestellen.67 Die Auflagen von Seiten der DDR wurden immer detaillierter und schwieriger zu erfüllen. Die Menschen reagierten mit Ablehnung und Unwillen. Beispielsweise zeigten sich die Bewohner der Grenzkreise im Süden Thüringens unter Aufsicht der 3. und 4. Brigade unzufrieden und galten als besonders „fluchtgefährdet“.68 Im Kreis Sonneberg erließ der örtliche Kommandeur 1960 deshalb, dass „ganze Familien nicht mehr geschlossen Feldarbeiten im 500-m-Gebiet durchführen dürfen“ und „Fuhrwerke, mit denen Ackergerät mitgeführt wird, 300 Meter vor dem 10-m-Kontrollstreifen so aufzustellen sind, daß die Deichsel in Richtung DDR steht“.69 Vor Ort wurden die Vorgaben noch zusätzlich erweitert: „Das Mitnehmen von Kindern in das 500-m-Gebiet bei Feldarbeiten“ war grundsätzlich verboten. Durch derartige Vorgaben kam die Landwirtschaft im Schutzstreifen beinahe völlig zum Erliegen. Doch nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch sozial waren die Grenzdörfer in nur schwer nachvollziehbarem Ausmaß beeinträchtigt. Der im Juni 1952 durch Mödlareuth errichtete Bretterzaun wurde bereits 1958 durch einen so genannten „Flandernzaun“ aus Stacheldrahtgeflecht und Holzpfählen ersetzt, der keinen Zweifel mehr an der Brutalität und Unmenschlichkeit der Teilung des Dorfes ließ. Als Reaktion auf den Beginn des Mauerbaus 60 Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Göttingen 1982. 61 Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949–1990, hg. v. d. Bayerischen Landeszentrale f. politische Bildungsarbeit, München 1998, S. 119. 62 Zusammenfassung der Berichtswahlversammlungen und Delegiertenkonferenzen 1960, S.7, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 72. 63 Protokoll über die erste Zwischenauswertung des Einsatzes der Genossen aus dem Parteiapparat gemäß Beschluß des Sekretariates des Zentralkomitees in der 2.Grenzbrigade (B) vom 30.November 1961, S.5, in: SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/ 12/ 72. 64 Aus: http://www.statistik-berlin.de/statistiken/Grosszaehlungen/vz.htm (Stand: 19.12.2010). 65 Vgl. Peter Joachim Lapp, Frontdienst im Frieden – Die DDR Grenztruppen, Bernard & Graefe, Koblenz 1987. 66 Vgl. Antrag auf Herauslösung der Bergarbeiterwohngemeinde Dorndorf aus dem 5-km-Sperrgebiet, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 73. 67 Vgl. auch Elfriede Siegel, Landflucht und Verödung der Dörfer, in: Heiko Steffens/Birger Ollrogge/Gabriela Kubanek (Hg.): Lebensjahre im Schatten der deutschen Grenze. Selbstzeugnisse vom Leben an der innerdeutschen Grenze 1945, Opladen 1990, S. 28. 68 Zusammenfassung der Berichtswahlversammlungen und Delegiertenkonferenzen 1960, S.7, SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 72. 69 Zusammenfassung der Berichtswahlversammlungen und Delegiertenkonferenzen 1960, S.5, SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 72. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 65 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Öffnung des Grenzübergangs Mödlareuth, 9. Dezember 1989 Foto: Alfred Eiber, Hof in Berlin wurde ein „verbesserter“, mit Betonpfeilern verstärkter Stacheldrahtzaun errichtet und in den Folgejahren um weitere Stacheldrahtreihen ergänzt. 1964 konnten die Mödlareuther einen letzten Blick „nach drüben“ werfen, bevor eine Plattenwand aus Beton- und Holzelementen wieder jeden Sichtkontakt beendete. Zwei Jahre später erfolgte die Wiedergeburt des kleinen Grenzdorfes Mödlareuth als „Little Berlin“: Bäume wurden gefällt, Höfe abgerissen und der Ort mit weniger als hundert Einwohnern erhielt seine eigene „Mauer“, 700 Meter lang, 3,30 Meter hoch.70 Ein Treffen von Ost- und West-Mödlareuthern konnte deshalb während der nächsten Jahrzehnte nur im Hinterland der DDR stattfinden und die Familien, die in „Little Berlin“ nur einen Steinwurf von einander entfernt lebten, mussten Reisen von mehreren Stunden einplanen, um sich von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Die Besuche sind selten und kurz und wie allen anderen Grenzlandbewohnern ging es auch der einstigen Mödlareuther Dorfgemeinschaft: Sie wurden einander fremd. Innere Einheit und die Heilung der Kulturräume Die in historischen Karten und Bildern ländliche, aber als lebendig beschriebene Gegend im Norden Bayerns erscheint dem Besucher heute vielerorts verschlafen, im Dreiländereck sogar menschenleer. Für die nachgeborene Generation aus Ost und West ist dies das Echo der Grenzanlagen am „Ende der Welt“. Für sie ist die Zeit der Teilung eine Nacherzählung ferner Vergangenheit. Geblieben sind die Holzschnitte der gegenseitigen Zuschreibungen zwischen Ost und West wie „Jammerossi“ und „Besserwessi“.71 Die zuvor in Jahrhunderten gewachsenen überregionalen Verbindungen sind den Jugendlichen allerdings völlig fremd – denn auch ihre Eltern haben an das gewachsene Deutschland keine Erinnerungen mehr. Fälschlicherweise wird in Diskussionen zur deutschen Vereinigung „innere Einheit“ häufig als Gleichheit von Einstellungen, Orientierungen und Mentalitäten in ganz Deutschland verstanden. Dabei ist Deutschland als die „verspätete Nation“72 nicht nur als alte, sondern auch als neue Bundesrepublik vor allem historisch gewachsener Föderalstaat. Mit seinen stark ausgeprägten, regionalen Unterschieden soll und kann das wiedervereinigte Deutschland kein „Einheitsstaat“ sein. Sich diese Einheitlichkeit zu wünschen, wie sie auch vor der Teilung nie bestanden hat, ist ein wenig sinnvolles Unterfangen. Mit dem in diesem Aufsatz vorgestellten Fokus auf die ehemalige Grenzregion entlang der einstigen innerdeutschen Grenze zwischen Bayern und der 70 Vgl. Robert Lebegern, Mauer, Zaun und Stacheldraht. Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze 1945–1990, Weiden 2002. 71 Vgl. Schroeder (wie Anm. 7), S. 9 und 53ff. 72 Vgl. Helmut Plessner, Die Verspätete Nation, Suhrkamp Verlag, Stuttgart 1985. 66 Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland Der Blick aus dem Dorf in Richtung des (heute abgebauten) Be- Dokumentation der ehemaligen Grenze im Deutsch-Deutschen obachtungsturms Museum Mödlareuth Foto: Miriam Müller DDR wird jedoch deutlich, dass die Grenze zwar nicht die Kultureinheit Deutschlands teilte, da diese so nie existiert hatte. Doch teilte sie gewachsene Kulturräume, die einmal weit mehr verband als nur die Durchfahrt zum Beispiel auf dem Weg nach Berlin oder München. Die Auswirkungen der Teilung auf diese Kulturräume sind zahlreich und deutlich. Was zuvor nicht nur im engen Austausch stand, sondern häufig sogar eine Einheit bildete, wurde mit der Grenzziehung durch Deutschland zerrissen und entwickelte sich nun zwangsläufig getrennt. Der Einfluss der umliegenden Region erfolgte in Nordbayern nur noch einseitig von Westen. Auf thüringischer und sächsischer Seite der Grenze waren die Menschen zusätzlich in ihrem eigenen Land ein Sonderfall: Die Einflüsse aus dem Hinterland der DDR wurden durch die Bestimmungen für den „Schutzstreifen“ gefiltert. Weiterhin unterlag die gesamte Bevölkerung der DDR im SED-Staat de facto einem „Freizügigkeitsverbot“,73 das zur Grenze hin immer engmaschiger gefasst war. Die konkreten Folgen für die Menschen werden in Ansätzen im Grenzdorf Mödlareuth sichtbar. Nicht allein, dass die Mödlareuther nur noch auf einer Seite der Grenze ihrer Arbeit nachgehen konnten. Auch eine Heirat „nach drüben“, zuvor ein Normalfall, war nicht mehr möglich und es entstanden keine neuen familiären Verbindungen zwischen beiden Dorfteilen oder den umliegenden Ortschaften. Kulturell erinnert besonders der Verlust einer gemeinsamen Sprache schmerzhaft an die Trennung der Mödlareuther. Das Reußische, ein Thüringer Dialekt, ist Foto: Andreas Kolitsch beinahe vollständig ausgestorben. Diese Mundart wird heute nur noch in Ost-Mödlareuth von den Ältesten der Dorfgemeinschaft gesprochen. Alle übrigen Ost-Mödlareuther sprechen den Dialekt des thüringischen Umlandes und im Westen des Ortes hat sich das Ostoberfränkische durchgesetzt. Stattet man dem Mödlareuther Wirtshaus im Osten des Dorfes einen Besuch ab, sprechen die Mödlareuther beim Freitagsstammtisch im „Grenzgänger“ wieder miteinander – doch nur ungern über das Vergangene und nie über die Mauer.74 Die „doppelte deutsche Staatsgründung“, das monströse Grenzregime und vierzig Jahre der geradezu hermetischen Abriegelung der DDR-Bevölkerung nach Westen führten zur Herausbildung unterschiedlicher Erinnerungen und Mentalitäten75 der Menschen in Ost und West. Im gleichen Atemzug zerschnitt die deutsche Teilung über Jahrhunderte gewachsene regionale und landsmannschaftliche Bindungen und Bezüge. In der DDR verdrängte, ersetzte und erstickte der „Aufbau des Sozialismus“ die regionale Kultur und löschte die gewachsenen Gemeinsamkeiten beinahe vollständig aus. Entsprechend muss in der Diskussion um das Zusammenwachsen Deutschlands der gesamtdeutsche Blick besonders auf die einstigen Wundränder der deutschen Teilung gerichtet und an die gemeinsame Geschichte der regionalen Kulturräume erinnert werden. Denn erst wenn sich die Menschen dort wieder zusammenfinden, wo die Trennung der Deutschen ihre tiefsten Spuren hinterlassen hat, ist die Teilung tatsächlich überkommene Vergangenheit. 73 Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit, München 2003, S. 214. 74 Judith Innerhofer/Fenske Sarah, Der Grenzgänger, Little Berlin. Ein Dorf deutscher Geschichte, 2009, in: http://littleberlin.de/?PID=static, DerGrenzgaenger_de (Stand: 12.12.2010). 75 Vgl. Schroeder (wie Anm. 7), S. 182, 187 und 232. Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11 67 Weitere Themenhefte von Einsichten und Perspektiven Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Themenheft 1.05 Themenheft 1.06 Themenheft 2.06 Reichsgründung Bundestagswahl 2005 Bayern und die Pfalz – Föderalismus eine historische Beziehung Bündnisse voller Höhen und Tiefen Themenheft 1.07 Themenheft 2.07 Themenheft 3.07 Themenheft 4.07 Große Koalitionen Bayern und China – Epochenjahr 1917 – Italien im Umbruch? bilaterale Beziehungen politische und militärische Zwischenbilanz nach einem und Kulturtransfers Weichenstellungen Jahr unter Romano Prodi Themenheft 1.08 Themenheft 2.08 Themenheft 1.09 Themenheft 1.10 Holocaust Education Die sicherheitspolitischen Schlesier, Ostpreußen und Zum Nachdruck der national- Beziehungen zwischen Asien andere Vertriebenengruppen sozialistischen Tagespresse in und Europa „Zeitungszeugen“ Diese und andere Publikationen können Sie bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit beziehen. Praterinsel 2, 80538 München, Fax: 089 - 21 86 - 21 80, [email protected], www.politische-bildung-bayern.de