Einsichten und Perspektiven - Bayerisches Staatsministerium für

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Einsichten und Perspektiven - Bayerisches Staatsministerium für
Bayerische
Landeszentrale
für politische
Bildungsarbeit
T H E M E N H E F T 1 | 11
Einsichten
und Perspektiven
Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte
50 Jahre Berliner Mauer
und die Teilung Deutschlands
Einsichten und Perspektiven
Autorin und Autoren dieses Heftes
Impressum
Miriam Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im For-
Einsichten
schungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin.
und Perspektiven
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den internationalen Beziehungen deutscher Außenpolitik und Außenpolitikgeschichte
Verantwortlich:
sowie der Geschichte des Kalten Kriegs und der deutschen
Werner Karg,
Teilungs- und Grenzgeschichte.
Praterinsel 2,
80538 München
Dr. Jochen Staadt ist Projektleiter im Forschungsverbund
SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Diverse Veröffent-
Redaktion:
lichungen über die westdeutsche Studentenbewegung von 1968,
Monika Franz,
die DDR und über deutsch-deutsche Beziehungsgeschichten.
Dr. Christof Hangkofer,
Christoph Huber,
Dr. Matthias Uhl ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Werner Karg
Deutschen Historischen Institut in Moskau. Seine Forschungsschwerpunkte bilden hauptsächlich die sowjetische Militär- und
Gestaltung:
Sicherheitspolitik in der zweiten Berlinkrise, die Rüstungs-,
griesbeckdesign
Technologie- und Reparationspolitik der UdSSR nach dem En-
www.griesbeckdesign.de
de des Zweiten Weltkriegs, die DDR im östlichen Militärbündnis
und sowjetische Geheim- und Nachrichtendienste im Kalten
Druck:
Krieg.
creo Druck &
Medienservice GmbH,
Gutenbergstraße 1,
96050 Bamberg
Titelbild:
Nach den ersten Straßensperrungen: Kontakte von
Müttern und ihren Kindern
über den Stacheldraht hinweg,
August 1961
Foto: ullstein bild
Die Landeszentrale konnte die Urheberrechte nicht bei allen Bildern dieser
Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit,
glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Einsichten und Perspektiven
Inhalt
50 Jahre Berliner Mauer
und die Teilung Deutschlands
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Grußwort des Bayerischen Staatsministers
für Unterricht und Kultus, Dr. Ludwig Spaenle
Matthias Uhl
„Warum sollten wir uns hier hinter dem Rücken
von Gen. Ulbricht verstecken?“
Die Sowjetunion und der Mauerbau im
internationalen Kontext
Jochen Staadt
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Miriam Müller
Zerrissenes Dreiländereck „Bayern –
Thüringen – Sachsen“:
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder
für das wiedervereinigte Deutschland
3
Grußwort
Grußwort
des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus, Dr. Ludwig Spaenle
Die sogenannte „Aktion Rose“ lief in Berlin in den Morgenstunden des 13. August 1961 an. Die in Moskau und
Ostberlin Verantwortlichen hatten bewusst einen Sonntag ausgewählt, um Störungen der Aktion durch den anlaufenden Berufsverkehr weitgehend zu vermeiden. Gegen ein Uhr nachts wurde die Grenze zwischen West- und
Ostberlin zunächst hauptsächlich mit Panzersperren und Stacheldraht verriegelt und die öffentlichen Verkehrsverbindungen gekappt. Rund um Westberlin flankierten auch sowjetische Militärverbände das Vorgehen der
ostdeutschen Grenzer und Bauarbeiter, um vor allem im Falle eines Aufstands wie am 17. Juni 1953 sofort einschreiten zu können. Doch ein Aufstand blieb aus.
Im Westen rechnete man – wenn auch nicht schon im Sommer 1961 – damit, dass die DDR die Grenze zum „imperialistischen“ Westen irgendwann abriegeln würde. Die vier Jahre schwelende zweite Berlin-Krise (1958–62),
in der Chruschtschow mit einer aggressiv-intransigenten Ultimatenpolitik die Anerkennung der DDR durchzusetzen suchte und eine mögliche Vereinnahmung auch des Westteils der Stadt auslotete, hatte erbracht, dass die
Freiheit Westberlins den Rubikon symbolisierte, dessen Überschreitung Krieg bedeutet hätte. Um seinem von
Moskau gesteuerten Satellitenregime angesichts weiter ansteigender Flüchtlingszahlen – insbesondere gut ausgebildete Menschen suchten einen Neuanfang im Westen – das Überleben zu sichern, drängte nun aber der
von dieser „Minimallösung“ enttäuschte SED-Chef und Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, den
Kreml, ihm wenigstens grünes Licht für eine Grenzschließung in der Mitte der deutschen Hauptstadt zu geben
und handelte nach dessen Erhalt sofort. Ein kommunistisches Regime mauerte damit am 13. August 1961 vor
den Augen der Welt seine Bevölkerung ein. Matthias Uhl beschreibt im vorliegenden Heft die hierarchischen
Strukturen zwischen Ostberlin und Moskau und schildert die politische Vorgeschichte des Mauerbaus.
28 Jahre lang sollten nun die beidenTeile Deutschlands voneinander abgeschottet sein. Die Stadt Berlin wurde
zum Symbol des Kalten Krieges und blieb bis 1989 ein konfliktreicher neuralgischer Punkt. So rechneten etwa
US-Militärstrategen während der Kuba-Krise 1962 mit einem atomaren Erstschlag gegen Berlin und Westdeutschland, falls auf Kuba ein direkter Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion entbrennen würde. Während die Welt im August 1961 schockiert nach Berlin blickte, waren sich die Westalliierten
einig, wegen der Grenzschließung keinen Krieg in Kauf zu nehmen. Um eine Eskalation zu vermeiden, verurteilten sie die Errichtung der Mauer, reagierten aber verhalten. Kennedy schrieb an Brandt: „Weder Sie noch wir,
noch irgendeiner unserer Verbündeten haben je angenommen, dass wir wegen dieses Streitpunktes einen Krieg
beginnen sollten.“ Jochen Staadt zeigt in seinem Artikel die Einstellungen und Reaktionen in West und Ost zum
Mauerbau auf.
Nach und nach wurden die Grenzanlagen mit Perfidie perfektioniert (so durch die Schließung unterirdischer
Fluchtwege und die Technisierung der Schussanlagen). Gelang in den ersten Jahren noch relativ vielen Menschen die Flucht, so mussten die Freiheitssuchenden immer größere Risiken auf sich nehmen, um der DDRDiktatur zu entkommen. Über die genaue Zahl der „Mauertoten“ wird weiterhin diskutiert; insgesamt bezahlten aber wohl allein in Berlin mindestens über zweihundert Menschen ihr Streben nach Freiheit mit dem Tod.
Nimmt man die gesamte innerdeutsche Grenze von der Lübecker Bucht bis Hof hinzu, kommt man auf weit
über tausend Opfer. Einer der ersten, der sein Leben auf dem Weg in die Freiheit ließ, war etwa Günter Litfin,
der in Berlin am 24. August 1961 den Spandauer Schifffahrtskanal (ca. 140 Meter) durchschwimmen wollte und
dabei von einem DDR-Grenzer gnadenlos mit einem Schuss in den Kopf getötet wurde.
Nicht nur die deutsche Hauptstadt wurde zum Symbol von Unmenschlichkeit undTeilung. Im „vermeintlich fernen“ Bayern wurde das Dorf Mödlareuth, dessen Gebiet sich halb in Bayern, halb in Thüringen erstreckt, mittendurch geteilt. Nach fünf Jahren Stacheldrahtgrenze wurde in diesem „little Berlin“ 1966 eine 3,30 Meter hohe
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Grußwort
Betonsperrmauer errichtet. Im Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth sind die ehemaligen Sperranlagen noch
heute zu besichtigen und es werden viele Geschichten von geglückten und verhinderten Fluchten, Zwangsaussiedlungen wie dem Alltag an dieser Mauer erzählt.
Seit dem Fall der Berliner Mauer sind 22 Jahre vergangen; mittlerweile ist eine Generation herangewachsen,
die die Mauer und dieTeilung nur noch aus Erzählungen, Geschichtsbüchern und elektronischen Medien kennt,
die wohl vielfach die Abstrusität dieser Teilungsgeschichte nur mit Unglauben zur Kenntnis nehmen kann. Mit
den Jahren hat es überdies diverse Versuche gegeben, das damalige Geschehen zu relativieren, die DDR als vergleichsweise „harmlose Diktatur“ darzustellen. Ob dies aus politischer Berechnung, als Verdrängungsstrategie
oder aus purer Unwissenheit geschehen mag – es ist ein Kernauftrag der politischen Bildung, aus der Perspektive einer freiheitlich-demokratischen Ordnung ganz klar herauszustellen, dass die DDR eine menschenverachtende Diktatur war, in der etwa bis in die achtziger Jahre die Todesstrafe praktiziert wurde. Wenn man es etwa
„cool“ findet, sich ein Bild von Erich Honecker aufs T-Shirt zu drucken: Tausende Biographien sind durch diese
kommunistische Diktatur zerstört oder deformiert worden; noch heute leiden Menschen, die etwa unschuldig
in den Haftanstalten Bautzen oder Hohenschönhausen einsaßen und dort gequält wurden, an den Spätfolgen
dieser Erfahrungen. Miriam Müller zeigt in ihrem Beitrag in diesem Heft auf, welche langfristigen politischen und
mentalen Folgen und Verwerfungen dieser Politik bis heute bestehen.
Zum anderen ist vielfach die Behauptung zu vernehmen, die außenpolitische Welt des Kalten Krieges sei zwar
gefährlich, aber im Vergleich mit der heutigen unübersichtlichen, von asymmetrischen und immer noch potentiell atomaren Konflikten bedrohten Welt des 21. Jahrhunderts berechenbar gewesen. Dabei wird zum einen
verdrängt, wie knapp die Welt bis 1990 zu mehreren Zeitpunkten von einem „heißen“ Kriegsgeschehen entfernt war und welchen Vernichtungsgrad dieses Kriegsszenario bedeutet hätte; zum anderen waren die Entscheidungsträger, die im Fall des Falles den Einsatz atomarer Waffen angeordnet hätten, auch emotional handelnde Menschen, denen Fehler unterlaufen konnten. Gerade in Blick auf den Kremlchef Nikita Chruschtschow
diskutieren Wissenschaftler noch heute über dessen bisweilen irrationale, von Provokationen wie Rückziehern
geprägte Außenpolitik.
Ganz in diesem Sinne sind die Bilder der geteilten Städte, der meterhohen Betonmauern, der Stacheldrahtmeilen und Geisterbahnhöfe Mahnung und Auftrag. Es ist entscheidend, nachfolgende Generationen, die die Welt
des Kalten Krieges nicht mehr erlebt haben, über das Zerstörungspotential unmenschlicher Ideologien aufzuklären. Ich empfehle daher insbesondere Schülerinnen und Schülern die Lektüre des vorliegenden Heftes.
München, im Mai 2011
Dr. Ludwig Spaenle
Bayerischer Staatsminister
für Unterricht und Kultus
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
„Warum sollten wir uns
hier hinter dem Rücken
von Gen. Ulbricht verstecken?“
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Von Matthias Uhl
Nikita Chruschtschow (re.) mit Walter Ulbricht (3. v. li.) in Berlin zum SED-Parteitag am 1. Januar 1958
Bild: ullstein bild
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Viele Jahre versuchte die DDR-Propaganda die Welt glauben zu machen, der Bau der
Mauer in Berlin sei auf Anweisung von SED-Chef Walter Ulbricht erfolgt. Tatsache
ist jedoch, dass ohne die Zustimmung und Unterstützung der Sowjetunion, die der
wichtigste Bündnispartner des ostdeutschen Staates war, eine derartige Aktion, die
Millionen Menschen für mehr als 28 Jahre die Freiheit kostete, nicht möglich gewesen
wäre. Dies machte der sowjetische Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow bereits am 9. November 1961 in einem Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter
in Moskau, Hans Kroll, deutlich: „Natürlich, ohne uns hätte die DDR die Grenze
nicht geschlossen. Warum sollten wir uns hier hinter dem Rücken von Gen. Ulbricht
verstecken? Sein Rücken ist in diesem Fall sowieso nicht so breit.“1
Dieser Beitrag untersucht, wie die Sowjetunion den Bau der
Mauer plante und realisierte, und zeigt, dass sie mit ihrer
Politik nicht nur das Schicksal von Millionen Menschen
fremdbestimmte, sondern auch international eine so gefährliche Situation heraufbeschwor, dass die Welt im Sommer
1961 nur knapp einem Krieg entging. Dass es nicht zum
„Krieg um Berlin“ kam, war vor allem der eindeutigen Position der Westmächte und insbesondere der USA geschuldet, Berlin auf keinen Fall preiszugeben, selbst wenn hierfür der Einsatz von Nuklearwaffen erforderlich sein würde.
Erst diese Drohung zwang den sowjetischen Staatschef zum
Einlenken und zur Aufgabe seines politischen Hauptzieles,
West-Berlin als „Freie Stadt“ unter die Kontrolle des sowjetischen Machtbereichs zu zwingen. Gleichzeitig mussten
jedoch 17 Millionen Menschen als Preis hierfür bezahlen, in
ihrem eigenen Land eingesperrt zu sein.
Zur Vorgeschichte des Mauerbaus
Mit seinem Ultimatum vom 27. November 1958 brach
Nikita S. Chruschtschow die zweite Berlin-Krise vom
Zaun. Er forderte von den Westmächten binnen sechs
Monaten nichts weniger als ein Ende der alliierten
Besetzung der ehemaligen deutschen Hauptstadt und
deren Umwandlung in eine entmilitarisierte und selbständige politische Einheit – eine Freie Stadt. Sollte der
Westen diese Forderung nicht erfüllen, würde die Sowjetunion nach Ablauf des Ultimatums einen einseitigen
Friedensvertrag mit der DDR unterzeichnen. Dieser
schloss nach dem Wortlaut des Ultimatums die Übertragung der alliierten Kontrollrechte an die Behörden
in Ost-Berlin – besonders in Bezug auf die westlichen
Militärtransporte von und nach Berlin – ein.
Jeden Versuch, die DDR an der Wahrnehmung der ihr
durch den Separatfrieden übertragenen souveränen Rechte
zu hindern, müsse die Sowjetunion als militärische Aggression gegen einen verbündeten Staat betrachten. Für den Fall,
dass die Westmächte versuchen würden, einen gewaltsamen
Zugang nach West-Berlin zu erzwingen, drohte Chruschtschow mit dem bewaffneten Widerstand der DDR und
UdSSR, was Krieg bedeuten würde. Erneut wollte also nach
Josef W. Stalin und dessen Berlin-Blockade ein sowjetischer
Regierungschef der amerikanischen Supermacht und dem
westlichen Bündnis ihre Verwundbarkeit im Brennpunkt
des Kalten Krieges demonstrieren.
Der sowjetische Staats- und Parteichef ging offensichtlich davon aus, dass die Westmächte seinen Vorschlag
akzeptieren, wegen Berlin keinen Krieg riskieren und letztendlich nachgeben würden. Trotz der von ihm erkannten
militärstrategischen Unterlegenheit glaubte der Kremlchef
bei Auslösung der Krise an seine politische Stärke. Den
Einsatz militärpolitischer Macht zur Durchsetzung seiner
Berlinforderungen sah er als zweitrangiges Problem.
Bestärkt durch seinen 1955 in Genf gewonnenen Eindruck, dass die USA die Sowjetunion mehr fürchte als
die UdSSR die Vereinigten Staaten, und sein Fehlurteil
während der Suez-Krise, die Drohung eines Kernwaffeneinsatzes habe nicht nur den militärischen Rückzug
Großbritanniens und Frankreichs, sondern auch eine
US-Intervention verhindert, ging er davon aus, seine
1 Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte, Moskau (RGANI), 52/1/586, Bl. 143, Protokoll des Gespräches zwischen Kroll und Chruščev,
9.11.1961.
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Berlin-Blockade 1948/49 –
Berliner beobachten vom
S-Bahnhof Tempelhof aus ein
Luftbrückenflugzeug beim
Landeanflug.
Bild: ullstein bild
politischen Ziele hinsichtlich Berlins allein mit Drohungen und Bluff durchsetzen zu können.2 Westliche Diplomaten hatten aus persönlichen Gesprächen mit dem
sowjetischen Partei- und Staatschef allerdings den Eindruck „that Khrushchev dangerously misjudges real
situation“, wenn er glaube „that it was unthinkable [...]
the West would fight over Berlin“.3 Chruschtschow
blieb jedoch bei seiner Position, allein durch die Androhung eines Nuklearkrieges die Westalliierten zum Abzug aus Berlin zwingen zu können. Unbeirrt von Einwänden aus dem sowjetischen Außenministerium, aber
auch von engen Freunden und Beratern setzte der sowjetische Partei- und Staatschef auf den unbedingten
Erfolg seines Vabanquespiels.4
Das Ultimatum aus Moskau bot der DDR gleichzeitig die
Chance, West-Berlin für eine internationale Aufwertung
des ostdeutschen Staates zu instrumentalisieren.5 Ein Friedensvertrag mit der UdSSR hätte der DDR die Kontrolle
des Zugangs zum Westteil der Stadt übertragen. Die Autorität des Ulbricht-Regimes wäre innenpolitisch gestiegen,
und außenpolitisch wäre dieser Schritt ein erster Hebel zur
Neutralisierung der Hallstein-Doktrin gewesen. Da die
SED-Führung aber international nicht über eigene Mittel
zur Erreichung ihrer Ziele verfügte, versuchte sie entsprechend ihren Möglichkeiten, das Handeln ihrer Blockführungsmacht zu beeinflussen.6
Bei genauerem und unvoreingenommenem Studium der Lage hätte Chruschtschow indessen erkennen müs-
2 Vgl. Gerhard Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963: Drohpolitik und Mauerbau, München 2006, S. 27; William Taubman:
Khrushchev: the Man and his Era, New York/London 2003, S. 352–360.
3 The Berlin Crisis, Doc. 00516, Telegram from Ambassador Thompson to Secretary of State, 15.12.1958. Thompson bezog sich dabei auf
Informationen des norwegischen Botschafters, der zwei Wochen zuvor ein entsprechendes Gespräch mit Chruščev hatte.
4 Vgl. Wladislaw Subok, Konstantin Pleschakow: Der Kreml im Kalten Krieg: Von 1945 bis zur Kubakrise, Hildesheim 1997, S. 281.
5 Vgl. Michael Lemke: Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949–1961, Köln u.a. 2001, S. 449.
6 Vgl. derselbe: Die Berlinkrise 1958 bis 1963: Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995, S. 108–112.
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Berlin – Mauer am Potsdamer Platz. Auf DDR-Seite ist eine Proganda-Aufschrift zur Hallstein-Doktrin zu sehen, um 1965.
Bild: ullstein bild
sen, dass ein separater Friedensvertrag eher geeignet war, die
sowjetische Position zu schwächen als zu stärken. Schließlich konnte die UdSSR aufgrund ihrer Rechte als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges und des fehlenden Friedenschlusses nach 1945 auf die Politik in Mitteleuropa unmittelbar einwirken und war durch ihre Militärmissionen in
ganz Deutschland präsent.7 Es machte in ihren Augen außerdem keinen Sinn, die DDR durch einen diplomatischen
Akt stärken zu wollen, der vom Westen abgelehnt wurde –
was der UdSSR ihr vorrangiges Ziel verbaut hätte, den
Status quo in Europa und Deutschland vertraglich zu sanktionieren. Ulbricht hingegen hatte andere Interessen. Sein
Maximalziel blieb ein separater Friedensvertrag; hätte doch
ein gesamtdeutscher Vertrag zu viele Kompromisse und zu
wenig Unabhängigkeit von Bonner Mitsprache bedeutet.
Weil dieses Ziel dem Kreml trotz der voreiligen Versprechungen des KPdSU-Chefs letztlich nicht abzuringen war,
schwenkte Ulbricht 1961 auf sein Minimalziel um, die
Schließung des Schlupflochs West-Berlin.8
Die sowjetische Entscheidung
zur Grenzschließung
Wann die UdSSR mit ersten detaillierten Planungen zur
Lösung der Berlin-Frage durch die strikte Abriegelung
des Westteils der Stadt begann, ist immer noch unklar.
Feststehen dürfte jedoch, dass – im Gegensatz zur DDR
– im Herbst 1960 in Moskau hierfür noch keine näheren
Überlegungen existierten. Dies legt ein Brief nahe, den
Chruschtschow am 24. Oktober des Jahres an Ulbricht
sandte. Der sowjetische Staats- und Parteichef vertröstete seinen auf eine Regelung der Berlin-Frage
drängenden ostdeutschen Kollegen auf dessen nächste,
im November bevorstehende Visite an der Moskwa. Er
verlangte zugleich, dass bis dahin „keine Maßnahmen
durchgeführt werden sollen, die die Lage an der Grenze
zu West-Berlin verändern“.9
7 Vgl. Karl-Heinz Schmidt: Dialog über Deutschland. Studien zur Deutschlandpolitik von KPdSU und SED (1960–1979), Baden-Baden
1998, S. 85f.
8 Vgl. Lemke (wie Anm. 5), S. 462f.: „Unter dem Druck insbesondere der Republikflucht koppelte das Politbüro jedoch das strategische Ziel
des separaten Friedensvertrages von der aktuellen Hauptaufgabe, der Schließung der Fluchtpforte Westberlin, ab“.
9 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO-DDR), DY 30/3682, Bl. 39, Schreiben
von Chruščev an Ulbricht, 24.10.1960.
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Demonstration militärischer Stärke: Parade am Roten Platz in Moskau am 1. Mai 1966.
Gleichwohl lässt sich vermuten, dass sich Chruschtschow
für eine wie auch immer geartete militärische Lösung des
Berlin-Problems wappnen wollte. Zumindest beendete er
Mitte 1960 intern die offiziell immer noch propagierte Abrüstungspolitik der UdSSR und verfügte eine mehr als dreißigprozentige Erhöhung der Rüstungsausgaben für 1961.10
Chruschtschow ging es mit dieser Vorgehensweise augenscheinlich darum, seine bisherige Berlin-Politik endlich
auch mit tatsächlich verfügbaren militärstrategischen Machtmitteln zu untermauern, um sie zum gegebenen Zeitpunkt
modifizieren zu können. Er hatte erkennen müssen, dass
seine Propaganda, die von einer immer wieder behaupteten
strategischen Überlegenheit der UdSSR auf dem Gebiet der
Raketenwaffen ausging, bislang weitgehend erfolglos war.
Schlimmer noch, die Vereinigten Staaten forcierten unter
Bild: ullstein bild
dem Eindruck der ständigen sowjetischen Drohungen ihre
eigenen Rüstungsbemühungen, sodass sich das militärische
Kräfteverhältnis in raschem Tempo weiter zugunsten der
USA entwickelte. Chruschtschows Versuche, die Erfolge
der sowjetischen Raumfahrt als Beweis der militärischen
Stärke der Sowjetunion erscheinen zu lassen, waren Ende
1960 endgültig gescheitert und damit auch seine Politik,
durch bloße Androhung von Gewalt die Westmächte zur
Teilnahme am Abschluss eines Friedensvertrags zu bewegen.
Denn der Westen zeigte sich immer weniger beeindruckt von der sowjetischen Drohpolitik und machte dem
Kremlchef klar, dass so die von ihm gewünschte Verständigung nicht möglich sei. Dies belegt auch ein Gespräch
zwischen Chruschtschow und dem neuseeländischen
10 Vgl. Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft, Moskau (RGAE), 4372/79/659, Bl. 2–15, Schreiben von Kosygin, Kozlov, Brežnev, Malinovskij
u.a. an das ZK der KPdSU, 23.12.1960.
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Premierminister Walter Nash. Als der Kremlchef wiederholt damit drohte, „dass England einfach zerstört wird“,
bemerkte der Neuseeländer nüchtern: „Die Möglichkeit
einer solchen Perspektive sollte nicht unsere Diskussionen
leiten. Man kann die Partner nicht vor die Wahl stellen – entweder bist Du mit meinen Vorschlägen einverstanden oder
Du wirst vernichtet.“11
Infolgedessen war Chruschtschow bestrebt, die
militärische Stärke der UdSSR wesentlich zu erhöhen und
so das Bedrohungspotential gegenüber dem Westen zu verstärken, um diesen zu einer Lösung des Berlin-Problems im
sowjetischen Sinne zu zwingen. Doch noch hielt der sowjetische Partei- und Staatschef die eigenen Kräfte für zu
schwach und den Zeitpunkt für eine mögliche militärische
Konfrontation um Berlin für verfrüht. Während des erwähnten Treffens im November 1960 in Moskau sperrte
sich Chruschtschow deshalb weiterhin gegen die von Ulbricht erwogene Abriegelung West-Berlins. Der Kremlchef
wollte zunächst noch die bevorstehenden Gespräche mit
dem neuen US-Präsidenten John F. Kennedy abwarten, um
die Streitfragen über Berlin beizulegen bzw. um Zeit zu gewinnen.
Trotz des weiter bestehenden Neins aus Moskau
setzte Walter Ulbricht jedoch seine Überlegungen zur Abriegelung West-Berlins fort. Ihm war vollkommen klar, dass
eine Abriegelung des Westteils der Stadt ohne den Einsatz
militärischer Mittel nicht möglich sein würde. Da die eigenen Kräfte hierfür nicht ausreichen würden, war er zwingend auf die Hilfe des sowjetischen „Waffenbruders“ und
seiner Streitkräfte angewiesen.
Am 29. März 1961 präsentierte Walter Ulbricht auf der
Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses des
Warschauer Paktes seine Vorstellungen zur Lösung des
Berlin-Problems.12 Mit seiner Rede und in sich daran
anschließenden Vier-Augen-Gesprächen gelang es Ulbricht vermutlich, Chruschtschow erstmals von der
Unvermeidbarkeit der Schließung der Grenzen in Berlin zu überzeugen. Ende April/Anfang Mai 1961 begannen die sowjetischen Streitkräfte nach jetzt zugänglichen Informationen des Bundesnachrichtendienstes mit
ersten konkreten Planungen für eine mögliche militärische Eskalation der Berlin-Krise.13
Die endgültige Entscheidung für den Einsatz militärischer
Maßnahmen zur Sicherstellung seiner Berlin-Politik traf
Chruschtschow zusammen mit dem Präsidium des ZK der
KPdSU am 26. Mai 1961. Der sowjetische Partei- und
Staatschef betonte in seiner Rede auf der Präsidiumssitzung,
dass die UdSSR seit November 1958 Geduld in der BerlinFrage gezeigt habe. Jetzt aber sei es an der Zeit, endlich den
Knoten West-Berlin zu zerschlagen und den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Dass die NATO deshalb mit Krieg
drohen werde, war dem sowjetischen Partei- und Staatschef
bewusst. Doch aufgrund der ihm vorliegenden Geheimdienstinformationen hielt Chruschtschow ein bewaffnetes
Eingreifen der Engländer und Franzosen für unwahrscheinlich. Auch die Bundesrepublik bereite ihm keine Probleme,
behauptete Chruschtschow und stellte sich damit im
Gegensatz zu seiner andauernden Propaganda gegen die
deutsche Wiederbewaffnung.
Die gefährlichste Macht sei Amerika, denn die USA
„könnten einen Krieg“ beginnen. Insgesamt hielt der
sowjetische Partei- und Staatschef diese Möglichkeit
aber für gering, ja, er sei sich zu 95 Prozent sicher, dass
die Unterzeichnung des Friedensvertrages nicht zum
Krieg führen werde. Einen Abzug der westalliierten
Truppen aus der Stadt werde er nicht fordern, betonte
der Parteichef, die Lieferung von Lebensmitteln sowie
die anderen Versorgungsadern nicht abschneiden. Bei
dieser Vorgehensweise, so war sich Chruschtschow
gewiss, werde es keinen Krieg geben.14
Dann wies er darauf hin, dass US-Botschafter Llewellyn E.
Thompson bei ihrem letzten Treffen Verständnis für die
Sorge geäußert habe, dass viele Leute aus der DDR fliehen,
und vorgeschlagen habe, „lassen sie uns irgendwelche Maßnahmen dagegen unternehmen“. Vor diesem Hintergrund
erklärte Chruschtschow, dass SED-Chef Ulbricht vor allem
der Flugverkehr zwischen der Bundesrepublik und WestBerlin stark beunruhige. Deshalb müsse hier gehandelt werden: „Unsere Position ist sehr stark, allerdings müssen wir
– falls nötig – auch real einschüchtern. Zum Beispiel, falls es
Flüge gibt, müssen wir diese Flugzeuge abschießen. Können
Sie zu Provokationen übergehen? Sie können. Wenn wir das
Flugzeug nicht abschießen, heißt das, wir kapitulieren. [...]
11 RGANI, 52/17575, Bl. 89, Protokoll des Gespräches zwischen Chruščev und Nash, 20.4.1960.
12 SAPMO DDR, DY 30/3386, Bl. 166, Wortlaut der Rede Ulbrichts auf der Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer
Paktes, 29.3.1961.
13 Vgl. Bundesarchiv, Koblenz (BA Koblenz), B 206/114, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Panzertruppenschule Wünsdorf (Stab GSSD), Information S-Nr. 932237, 26.4.1961.
14 Vgl. Protokoll der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU zur Frage des Meinungsaustausches mit Kennedy in Wien, 26.5.1961, in:
Prezidium CK KPSS 1954–1964. Černovye protokol'nye zapisi zasedanij. Stenogrammy. Postanovlenija, Tom 1: Černovye protokol'nye
zapisi zasedanij. Stenogrammy, hrsg. von A.A. Fursenko, Moskva 2003, S. 500 503.
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Mit einem Wort, Politik ist Politik. Falls wir unsere Politik
durchsetzen wollen und wir möchten, dass man unsere
Politik anerkennt, verehrt und fürchtet, so müssen wir hart
sein.“
Dass dies bedeutete, im Notfall auch militärische
Macht zu demonstrieren und für diesen Zweck die sowjetischen Streitkräfte in der DDR zu verstärken, machte
Chruschtschow seinen Parteigenossen wenig später klar:
„Ich möchte, dass die Gen. Malinowskij, Zacharow
und Gretschko gut überprüfen, wie für uns das Kräfteverhältnis in Deutschland ist und was notwendig wäre. Es kann
sein, dass wir Bewaffnung schicken müssen, mit einem Wort
für den Fall, dass dort Verstärkungen notwendig sind. Das
muss man überlegen, um da nichts zu hastig zu machen. Zunächst müssen wir Artillerie- und Schützenwaffen senden
und dann Soldaten schicken, damit wir dort für den Fall
einer Provokation starke Positionen haben. Dafür geben
wir euch einen Zeitraum von einem halben Jahr. Das ist
keine eilige Sache, aber jetzt denken sie nach und dann in
zwei Wochen tragen sie ihre Überlegungen vor. Falls eine
ergänzende Mobilmachung nötig ist, kann man die durchführen, ohne öffentliche Ankündigung. Hier muss man verstärken, damit man Worte mit realen Maßnahmen unterstützen kann.“15
Es zeigt sich, dass Chruschtschow den Fehler des ersten
Berlin-Ultimatums nicht wiederholen wollte. Diesmal
strebte er danach, über genügend militärische Kräfte zu
verfügen, um im Notfall seine politischen Forderungen
auch mit Gewalt durchsetzen zu können. Er wollte
jetzt aus einer Position der Stärke heraus agieren. Zugleich war der Kremlchef damit von seinem bisherigen
Konzept für die Berlin-Frage abgewichen, indem er sich
ausdrücklich das Recht auf den Erstgebrauch von militärischen Mitteln vorbehielt und damit selber die Verantwortung zum Schritt für einen möglichen Krieg
mit dem Westen übernahm.16 Selbst im Präsidium des
ZK der KPdSU war man sich jetzt nicht mehr so sicher,
dass bei dieser Vorgehensweise kein bewaffneter Konflikt ausbrechen könnte. Als dann in der Runde die
Frage aufkam, ob man denn für alle Fälle Geschenke für
das Treffen mit Kennedy in Wien vorbereiten müsse,
antwortete Chruschtschow: „Augenscheinlich ja, sogar
vor dem Krieg wird geschenkt.“17
Wilhelm Pieck (re.), erster und einziger Präsident der DDR
(1949–1960), begrüßt den neuen sowjetischen Botschafter in der
DDR, Michail Perwuchin, 14. März 1958.
Bild: ullstein bild
Nach Julij A. Kwizinskij, späterer Botschafter der UdSSR
in Bonn und damals junger Diplomat an der sowjetischen
Vertretung in Ost-Berlin, erreichte Ulbricht bei Chruschtschow mit seinem beharrlichen Drängen nicht erst in
der zweiten Juli-Hälfte, sondern bereits Anfang des Monats
die Erlaubnis, die technischen Vorbereitungsmaßnahmen
für eine Schließung der Sektorengrenze und der innerdeutschen Demarkationslinie in Gang zu setzen. In Wirklichkeit
waren diese auf ostdeutscher Seite schon deutlich länger
angelaufen. Zu diesem Zeitpunkt, Ende Juni oder Anfang
Juli, lud Ulbricht Botschafter Michail G. Perwuchin zusammen mit dem damaligen Attaché Kwizinskij in sein Haus am
Döllnsee ein, um dort nochmals nachdrücklich die Schließung der Grenze einzufordern, weil ansonsten der Zusammenbruch der DDR unvermeidlich sei und er nicht garantieren könne, die Lage weiter unter Kontrolle zu behalten.18
Perwuchin übermittelte daraufhin am 4. Juli dem
sowjetischen Außenminister Andrej A. Gromyko erneut
seine Einschätzung der Situation. Der Botschafter hielt die
Schließung der Grenze für technisch schwierig und politisch nicht besonders klug, aber möglicherweise nicht mehr
zu vermeiden.19 Nach der weiteren Schilderung Kwizinskijs20 fiel deshalb der Entschluss Chruschtschows zeitlich
mit deutlichem Abstand vor der Konferenz des Warschauer
Paktes. Kwizinskij glaubt sich zu erinnern, dass das end-
15 Ebd., S. 505.
16 Vgl. Wettig (wie Anm. 2), S. 146.
17 Vgl. Protokoll der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU zur Frage des Meinungsaustausches mit Kennedy in Wien, 26.5.1961, in:
Prezidium CK KPSS (wie Anm. 14), S. 507.
18 Vgl. Julij A. Kvizinskij: Vremja i slučaj. Zametki professionala, Moskva 1999, S. 215ff.
19 Vgl. Hope M. Harrison: Driving the Soviets up the Wall: Soviet-East German Relations, 1953–1961, Princeton/Oxford 2003, S. 182ff.
20 Vgl. Kvizinskij (wie Anm. 18), S. 215ff.
12
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Flüchtlinge aus der DDR stauen sich im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, 1960.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Bild: ullstein bild
13
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Sowjetisch-amerikanisches
Gipfeltreffen in Wien.
John F. Kennedy (re.) und
Nikita Chruschtschow,
3. Juni 1961.
Bild: ullstein bild
gültige „Ja“ aus Moskau am 6. Juli 1961 in der Botschaft
Unter den Linden eintraf und von Perwuchin und ihm sofort Ulbricht überbracht wurde, der sich gerade in der
Volkskammer aufhielt.21 Mitte Juli 1961 standen die Entscheidung zur Grenzabriegelung und die dafür konkret
notwendigen Maßnahmen fest; das belegt auch der sonstige
Schriftwechsel Ost-Berlins mit Moskau. All dies spricht
dafür, dass intern, zwischen Chruschtschow und Ulbricht,
die definitive Entscheidung für die Grenzschließung schon
einige Zeit vor der Moskauer Tagung gefallen war.
Zu einer ähnlichen Ansicht war auch der Bundesnachrichtendienst gelangt. Der routinemäßig an die Bundesregierung gehende militärische BND-Lagebericht vom
Juli 1961 zeigte der politischen Führung in Bonn sehr
präzise die sowjetischen Zielsetzungen, falls es zu einem
separaten Friedensschluss mit Ost-Berlin kommen sollte: die politische und wirtschaftliche Isolierung WestBerlins, die Absperrung des Flüchtlingsstroms dorthin
und die Unterbindung der Ausfliegepraxis von Flüchtlingen in die Bundesrepublik, und damit einhergehend
die „Konsolidierung des SBZ-Regimes“ und „de-factoAnerkennung des Pankower Regimes“; in der Folge die
Beseitigung der Ausstrahlungskraft des freien WestBerlin „in den Raum der SBZ“ und die Herauslösung
21
22
23
24
25
14
Ost-Berlins aus dem Viermächte-Statut mit anschließender endgültiger Integrierung „in die SBZ“.22 Aus der
Sicht Pullachs schienen sich Moskau und die SED-Führung darauf vorzubereiten, „seit langem systematisch“
geschaffene Voraussetzungen „zur Abriegelung bzw.
Überwachung der Zugänge aus Ost-BERLIN und der
SBZ nach West-BERLIN“23 in die Tat umzusetzen, entweder mit Abschluss eines Separatfriedensvertrages
mit der DDR oder bei weiter ansteigenden Flüchtlingszahlen bereits vorher: „Bei einer weiteren Steigerung
des Flüchtlingsstromes nach West-BERLIN kann die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass sich das
sowjetische Regime bereits vor diesem Termin zu Sperrmaßnahmen entschließt.“24
Wie auch immer das geschehen sollte, die isolierte Lage der
Stadt hatte zur Folge, so urteilte der BND-Bericht, dass
Moskau und Berlin „eine fast unerschöpfliche Fülle von
Handhaben, Schikanen und Pressionen zur Verfügung
steht“. Für den Bundesnachrichtendienst lag zweifelsfrei
auf der Hand, dass wegen der unbedingt notwendigen Verhinderung weiterer Fluchtbewegungen binnen kürzester
Zeit mit einer „wirksamen Blockierung“ der Fluchtwege
gerechnet werden musste.25
Vgl. Klaus Wiegrefe: Die Schandmauer, in: Der Spiegel, Nr. 32, 2001, S. 71.
BA Koblenz, B 206/181, Militärischer Lagebericht Juli 1961, o. Datum, Bl. 22.
Ebd., Bl. 25.
Ebd.
Ebd., Bl. 28; 25.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Frühsommer 1961 – Die militärischen
Maßnahmen der Sowjetunion
zur Absicherung des Mauerbaus
Während Ulbricht in Berlin noch an den Vorschlägen und
Varianten zur Abriegelung West-Berlins arbeitete, setzte
auch die Sowjetunion ihre Planungen zur Vorbereitung der
Aktion konsequent fort. Beschleunigt wurden diese durch
das Scheitern des sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffens
in Wien.26
Ende Juni 1961 erhielt der Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in der DDR, Generaloberst Iwan I.
Jakubowskij, aus Moskau die persönliche Anweisung
Chruschtschows zu prüfen, ob es möglich sei, die Grenze in Berlin komplett zu schließen. Zur Realisierung der
Grenzabriegelung wurde dann ein konkreter Maßnahmeplan erarbeitet.27 Dieser Plan sah hinsichtlich der
militärischen Fragen vor, dass die unmittelbare Abriegelung der Grenze durch die Truppen der NVA erfolgen sollte. Die sowjetischen Truppen erhielten die Aufgabe, sich in voller Kampfbereitschaft in der zweiten
Reihe zu halten. Dadurch sollte den Westmächten klar
gemacht werden, dass jeder Versuch, den Status an der
Grenze zu ändern, unweigerlich zur militärischen
Konfrontation mit der Sowjetunion führen würde.28
Denn auch der Mauerbau, aus sowjetischer Sicht zunächst
eine zweitrangige Option, bedurfte der militärischen Absicherung. Folgerichtig ging man daran, das für die Schließung der Grenzen in Berlin erforderliche Drohpotential der
UdSSR zu verstärken. Im Frühsommer 1961 begannen
Verlegungen sowjetischer Truppen in die DDR.29
Obwohl bis heute entsprechende Akten des Moskauer Verteidigungsministeriums und der Kremlführung
gesperrt sind, ist es auf Grundlage von freigegebenem Material des Bundesnachrichtendienstes und des Führungsstabes der Bundeswehr möglich, den Umfang dieser Truppenverstärkungen wenigstens ungefähr zu bestimmen. Die
Ende Mai 1961 vom ZK der KPdSU festgelegten Waffen-
und Truppentransporte in die DDR begannen bereits im
Juni 1961. Auch den ganzen Juli über hielten die Truppenverlegungen aus der UdSSR in die DDR sowie an die polnische Westgrenze an. Insgesamt erhöhte sich im Vorfeld
des Mauerbaus die Mannschaftsstärke der sowjetischen
Truppen in Mitteleuropa um etwa 25 Prozent auf mehr als
545.000 Mann. Die Sowjetunion hatte damit fast ein Drittel
ihrer gesamten Landstreitkräfte für die militärische Absicherung der Grenzschließung in Berlin in der DDR, Polen
und Ungarn konzentriert.30 Nachdem Moskau der von Ulbricht immer wieder geforderten Grenzschließung im Juli
1961 endgültig zugestimmt hatte, unterstützte die UdSSR
die einmal getroffene Entscheidung in ihrer Durchführung
nachhaltig und übernahm auch die strategische Führung des
Mauerbaus.
Am 25. Juli 1961 fand schließlich zur unmittelbaren Abstimmung der Grenzschließung ein Treffen zwischen
dem Chef des Stabes der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), Generalleutnant Grigorij I.
Ariko, und dem Chef des Hauptstabes der Nationalen
Volksarmee der DDR (NVA), Generalmajor Riedel, statt.
Dort wurde die Sicherung der Sektorengrenzen in Berlin,
am „Ring um Berlin“ sowie an der „Staatsgrenze West“ besprochen. Hinsichtlich der Sicherung der Berliner Sektorengrenzen legten die beiden Militärs fest,
„daß die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in
Zusammenarbeit mit dem Ministerium des Inneren
der DDR einen Plan zur Sicherung der Sektorengrenze erarbeitet. Hierbei ist vorgesehen, daß keine
sowjetischen Truppen oder Truppenteile der Nationalen Volksarmee zur unmittelbaren Sicherung
der Grenze herangezogen werden. Diese Aufgabe
wird ausschließlich durch die Kräfte des Ministeriums des Inneren gelöst.
Außerdem wird durch die Gruppe der
sowjetischen Streitkräfte ein Plan erarbeitet, der
Aufgaben zur Sicherung Berlins von außen durch
Kräfte der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte
und der Nationalen Volksarmee enthält, falls die
26
27
28
29
Vgl. Aleksandr Semenovi Orlov: Tajnaja bitva sverchdažav, Moskva 2000, S. 417f.
Vgl. Sergej N. Chruščev: Nikita Chruščev: Krizisy i rakety, Tom 2, Moskva 1994, S. 128.
Vgl. derselbe, Roždenie sverchderžavy: Kniga ob otce, Moskva 2000, S. 401 f.
Vgl. National Security Archive, Washington, D.C. (NSA), Berlin Crisis, box 29, Headquarters United States Army Europe (USAREUR) –
Intelligence Estimate 1962 (U), 1.1.1962, S. 14; BA Koblenz, B 206/107, Standortkartei des BND – Transporte Biesdorf/Kaulsdorf,
Information 89870 US, Juli 1961; ebenda, B 206/109, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Dresden, Querschnitt Dieter
Thomas, 14.7.1961; ebenda, B 206/13, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Rathenow, Nachricht E 46094, 12.6.1961. Die
Quelle des BND meldete u.a.: „Im Stadtbild viele neue Soldaten. Fallen durch Einkauf von Süßigkeiten, längeres Stehenbleiben vor
Schaufenstern usw. auf.“
30 Vgl. BA Koblenz, B 206/118, Militärischer BND-Lagebericht Dezember, zugleich Jahresabschlussbericht 1961, 15.12.1961, Bl. 2ff.; ebenda,
B 206/181, Militärischer Monatsbericht August, 4.9.1961, Bl. 9 15; ebenda, Militärischer Monatsbericht September, 5.10.1961, Bl. 21 23;
Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg (BA-MA), BW 2/2226, Berlin-Krise 1961/62 – Handakte General Gerhard Wessel – Ergänzung
Lagebeitrag Heer, 10.9.1961, o. Bl.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
15
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Kräfte des Ministeriums des Inneren hierfür nicht
ausreichen. [...] Die unmittelbare Sicherung an der
Grenze erfolgt durch die Deutsche Grenzpolizei.
Für die eingeteilten Verbände der sowjetischen
Streitkräfte und der Nationalen Volksarmee werden Abschnitte entlang der Grenze in einer Tiefe
von 1 bis 2 Kilometern vorgesehen.“31
Damit zeigt sich, dass die immer wieder zitierte KennedyRede vom 25. Juli 1961 offenbar keinen Einfluss auf die
sowjetische Entscheidungsfindung zum Mauerbau hatte.
Als der US-Präsident seine in die Geschichte eingegangene
Fernsehansprache hielt, war die Grenzschließung bereits
beschlossene Sache. Die Rede des US-Präsidenten dürfte allenfalls dazu beigetragen haben, den ursprünglich geplanten
Termin nach vorne zu verschieben. Dem US-Präsidenten
war dabei klar, dass er wohl die Freiheit der West-Berliner
verteidigen konnte, aber nicht die Freizügigkeit der OstBerliner: „Ich kann das Bündnis zum Handeln bewegen,
falls Chruschtschow etwas gegen West-Berlin unternimmt,
aber nicht, wenn er etwas in Ost-Berlin macht.“32
Gleichwohl zeigte sich Chruschtschow von dem Ultimatum Kennedys sehr getroffen und ließ dem Abrüstungsberater des US-Präsidenten seine ganze Verbitterung über die Bereitschaft der USA spüren, West-Berlin
und seine Bewohner mit allen Mitteln zu verteidigen:
„Kennedy erklärt, daß, wenn wir den Friedensvertrag
unterschreiben, dies zum Krieg führen wird. Wir nehmen diesen Ruf an und bereiten eine Antwort darauf
vor. Sie sollten sich auch vorbereiten. Soll doch die
Geschichte darüber urteilen, wer von uns Recht hat
und wer diesen Krieg überlebt.“33
Nur zwei Tage nach dem Treffen der beiden Stabschefs und
der Kennedy-Rede, am 27. Juli 1961, kamen Vertreter des
Innenministeriums der DDR (MdI) und der GSSD zusammen, um den geforderten Plan „zur Sicherung der Sektorengrenze“ auszuarbeiten. Am Ende des Treffens lag schließlich eine genaue Karte der in und um Berlin durchzuführenden Sperrmaßnahmen vor.34 Nachdem damit die entsprechenden Absprachen zwischen dem MdI und der
GSSD erfolgt waren, befahl am 31. Juli 1961 Innenminister
Karl Maron der Deutschen Grenzpolizei, „unter Wahrung
strengster Geheimhaltung in kürzester Zeit den verstärkten
pioniermäßigen Ausbau der Staatsgrenze der DDR zu
West-Berlin zu planen und vorzubereiten“.35 Am 1. August
wurde dann an der Westgrenze der DDR damit begonnen,
18.200 Betonsäulen, 150 Tonnen Stacheldraht, 5 Tonnen
Bindedraht und 2 Tonnen Krampen zum Transport nach
Berlin vorzubereiten. Zwischen dem 7. und dem 12. August
transportierten 400 LKW das Sperrmaterial in die Nähe
Berlins.36
Die Moskauer Konferenz der Partei- und
Staatschefs des Warschauer Paktes
Für alle unmittelbar an der Abriegelung der Grenzen zu
West-Berlin Beteiligten in Moskau und Ost-Berlin stand
Ende Juli/Anfang August 1961 fest, dass der Mauerbau kurz
bevorstand. Lediglich die konkreten Einsatzbefehle für die
vorgesehenen Einheiten mussten noch präzisiert werden.
Die endgültige Zustimmung zur Grenzschließung während
der Moskauer Konferenz war deshalb nur noch ein Nachtrag, der auf die formelle Einwilligung der übrigen osteuropäischen Hauptstädte – nicht Moskaus – zielte. Der Kreml
drängte anschließend auf ein schnelles Handeln, bevor der
Entschluss vorzeitig bekannt würde. „Wir vertrauten damals nicht sehr darauf, dass unsere Freunde, insbesondere
diejenigen in Polen und Ungarn, ‚wasserdicht‘ waren.“37
Hatte Chruschtschow der ihm von Ulbricht aufgedrängten
Abriegelung zunächst zögerlich gegenübergestanden und
ihr dann vornehmlich aus einer Nützlichkeitserwägung als
geringstem Übel zugestimmt, sicherten die Sowjets die einmal getroffene Entscheidung in ihrer Durchführung gleichermaßen mit praktischen wie mit demonstrativen Schritten ab. Offen blieb vorerst noch, an welchem Tag die von
beiden Seiten perfekt vorbereitete Aktion durchgeführt
werden sollte.
Die Entscheidung über den genauen Termin des
Einsatzes der Streitkräfte der DDR und UdSSR zur Grenzschließung in Berlin fiel kurz vor der Sitzung des Politisch
Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes in Moskau.
Am 1. August 1961 erörterten Chruschtschow und Ulbricht
im vertraulichen Gespräch die Details der bevorstehenden
Grenzschließung. Das jetzt zugängliche Protokoll dieses
31 Ebd., DVW 1/18771, Bl. 13 f., Notiz über die Absprache zwischen dem Chef des Stabes der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in
Deutschland, Generalleutnant Ariko, und dem Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef des NVA-Hauptstabes,
Generalmajor Riedel, ohne Datum.
32 Arthur M. Schlesinger: A Thousand Days: John F. Kennedy in the White House, Boston, S. 394.
33 RGANI, 52/1/581, Bl. 144 f., Protokoll des Gespräches zwischen McCloy und Chruščev, 27.6.1961.
34 Vgl. BA-MA, DVW 1/6284–5, Bl. 832, Karte des Plans der Sicherung Berlins, ausgearbeitet vom MdI und der GSSD, 27.7.1961.
35 BA-MA, DVW 1/14835, Bl. 34, Studie des Instituts für Deutsche Militärgeschichte „Die Nationale Volksarmee in der Aktion vom
13. August 1961“, 20.2.1964.
36 Vgl. ebd., Bl. 35.
37 Julij A. Kwizinskij: Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 182.
16
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Absperrung des Brandenburger Tores am 14. August 1961 durch Betriebskampfgruppen der DDR und Soldaten der NVA
Bild: ullstein bild
Treffens belegt, dass der sowjetische Partei- und Regierungschef in der Endphase der Vorbereitung des Mauerbaus
die treibende Kraft war und dem SED-Chef klar und unmissverständlich seine Vorstellungen zur Schließung der
Grenzen in und um Berlin diktierte: „Ich habe meinen Botschafter gebeten, Ihnen meine Überlegungen darüber darzulegen, dass die gegenwärtige Spannungssituation mit dem
Westen genutzt werden sollte, um Berlin mit einem eisernen
Ring zu umgeben. […] Ich glaube, dass unsere Streitkräfte
einen solchen Ring bilden sollten, aber kontrollieren werden ihn Ihre Truppen. Erstens, das muss bis zum Abschluss
des Friedensvertrages gemacht werden. Das wird unser
Druckmittel, es zeigt, dass wir diese Frage ernsthaft angehen und daß wenn man uns einen Krieg aufdrängt, Krieg
sein wird.“38
Lagers, legte Chruschtschow dann während einer Vorbesprechung mit Ulbricht fest, die Grenze zu WestBerlin am 13. August 1961 abzuriegeln.39 Handschriftlich hielt Walter Ulbricht fest, wie er und der sowjetische Staats- und Parteichef sich die Abriegelung WestBerlins vorstellten:
Am 3. August 1961, unmittelbar vor der Eröffnung des
Treffens der Staats- und Parteichefs des sozialistischen
Am Schluss des Zusammentreffens versicherte Chruschtschow Ulbricht nochmals, dass die Sowjetunion alles Not-
1. „Äußeren Grenzring schließen. Einreise Bürger der
DDR nur auf spezielle Passierscheine.
2. Einwohnern der DDR verbieten, ohne Genehmigung
West-Berlin aufzusuchen. Alle Fußgänger, alle Passagen, alle Bahnen am Übergangskontrollpunkt kontrollieren. S-Bahn an Grenzstationen Kontrolle aller
Reisenden. Alle müssen aus dem Zug nach Westberlin
aussteigen, außer den Westberlinern.“40
38 RGANI, 52/1/557, Bl. 130–146, Protokoll des Gespräches zwischen Ulbricht und Chruščev, 1.8.1961.
39 Vgl. SAPMO-DDR, DY 30/3682, Bl. 150, handschriftliche Notizen von Ulbricht über Unterredung mit Chruščev, 3.8.1961.
40 Ebd., Bl. 148f.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Stacheldraht vor dem Brandenburger Tor, 14. August 1961
Bild: ullstein bild
wendige tun werde, damit die DDR mit dem Flüchtlingsproblem fertig werden könne.41 Diese Notizen und Anmerkungen belegen nochmals, dass die Tagung des Warschauer Paktes vom 3. bis 5. August 1961 in Moskau nicht,
wie bisher oft vermutet, über die Möglichkeit der Schließung der Sektorengrenze in Berlin diskutierte. Auf der
Sitzung wurden lediglich die von der UdSSR und der DDR
vorgelegten Pläne zur Kenntnis genommen. Akten aus dem
Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte zeigen, dass alle
von der Tagung des Politisch Beratenden Ausschusses verabschiedeten Beschlüsse und Dokumente bereits am Vormittag des 3. August 1961 vom Präsidium des ZK der
KPdSU bestätigt wurden. Dies betrifft sowohl die Erklärung der Warschauer Vertrags-Staaten42 als auch die Mittei-
lung für die Ersten Sekretäre der Kommunistischen und
Arbeiterparteien über die Sitzung der Vertrags-Staaten.43
Aufgrund der jetzt konkretisierten Zeitpläne begann noch
während der Moskauer Tagung die Verlegung starker sowjetischer Truppenverbände nach Berlin. Allein zwischen
dem 4. und 5. August 1961 trafen hier mehr als 4.600 sowjetische Soldaten ein.44 Am äußeren Ring der Stadt gingen
zum Zweck der vollständigen Abriegelung West-Berlins
neben der 1. Motorisierten Schützendivision der NVA aus
Potsdam drei weitere Divisionen der 20. sowjetischen Gardearmee in Stellung.45 Gleichzeitig brachte das Kommando
der sowjetischen Streitkräfte in der DDR entlang der Autobahnstrecke Helmstedt–Berlin umfangreiche sowjetische
Truppenverbände in Gefechtsposition. Ihr Auftrag: Die
41 Vgl. Aleksandr A. Fursenko, Rossija i meždunarodnye krizisy: seredina XX veka, Moskva 2006, S. 237–242.
42 Vgl. RGANI, 3/14/494, Bl. 79, Beschluss P 340/58 des Präsidiums des ZK der KPdSU, 3.8.1961; ebd., 3/14/469, Bl. 6–8, Anlage zum Punkt
Nr. 58: Entwurf der Erklärung der Warschauer Vertragsstaaten, ohne Datum.
43 Vgl. ebenda, 3/14/494, Beschluss P 340/59 des Präsidiums des ZK der KPdSU, 3.8.1961, Bl. 80; ebd., Bl. 9–11.3/14/469, Anlage zum Punkt
Nr. 59: Entwurf der Mitteilung an die Ersten Sekretäre der Kommunistischen und Arbeiterparteien über die Sitzung der Warschauer
Vertragsstaaten, ohne Datum.
44 Vgl. BA Koblenz, B 206/107, Standortkartei des BND – Lage Berlin, 64/61 – Transporte und Kolonnen nach Berlin, Information CCFFA
(Befehlshaber der in Deutschland stationierten französischen Streitkräfte), 4./5.8.1961.
45 Vgl. BA-MA, DVW 1/6284, Bl. 32–35, Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung Nr. 01/61, 12.8.1961 (ausgearbeitet am 11.8.1961
durch Oberstleutnant Skerra); NSA, Berlin Crisis, box 29, United States Army Europe (USAREUR) – Intelligence Estimate 1962 (U),
1.1.1962, S. 13; BA Koblenz, B 206/181, Militärischer Monatsbericht August, 4.9.1961, Bl. 14.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Britische Alliierte beobachten auf der Straße des 17. Juni das Geschehen am Brandenburger Tor, 13. August 1961.
Abwehr von eventuellen Versuchen der Amerikaner, mit
Waffengewalt vom Territorium der Bundesrepublik aus
nach West-Berlin durchzubrechen.46
Die Grenzabriegelung
In der Nacht vom 12. auf den 13. August begann die Absperrung der Sektorengrenzen in Berlin.47 An exponierten
Stellen in und um Berlin gingen Teile der 1. und 8. Motorisierten Schützendivision der NVA in Stellung, die eine
zweite Sicherungsstaffel in der Tiefe zu bilden hatten. Sie
stellten sofort Verbindung zu den ebenfalls in und um Berlin
eingesetzten sowjetischen Divisionen und zum Stab der
GSSD her.48
Bild: ullstein bild
An der Grenze selber wurden zunächst entsprechend
den mit der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in
Deutschland ausgearbeiteten Plänen Grenz- und Bereitschaftspolizisten sowie Kampfgruppen aufgestellt.
Innerhalb kürzester Zeit wurden in Berlin die meisten
innerstädtischen Grenzkontrollpunkte geschlossen und
mittels Pioniermaßnahmen versperrt. Zugleich unterbrachen Grenzpolizisten den S- und U-Bahn-Verkehr
von und nach West-Berlin.49 Mit einem Personalaufwand von etwa 5.000 Grenz- und ebenso vielen Volkspolizisten sowie 4.500 Mitgliedern der Kampfgruppen
und über 7.300 NVA-Soldaten gelang bis 6.00 Uhr am
Morgen des 13. August die Abriegelung West-Berlins.
46 Vgl. BA Koblenz, B 206/107, Standortkartei des BND – allgemeine Beobachtungen Dessau, Auszug Wochenbericht Narzisse (Deckname
des BND für den französischen Geheimdienst) 33/61, 17.–24.8.1961; NSA, Berlin Crisis, box 35, USAREUR – Unilateral Planning for the
Use of Tripartite Forces with Respect to Berlin, 21.9.1961.
47 Die dafür erlassenen Befehle sind abgedruckt in: Im Schatten der Mauer. Dokumente. 12. August bis 29. September 1961, hg. v. Hartmut
Mehls, Berlin 1990, S. 12–23; Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Eine Dokumentation, hrsg. von Matthias Uhl und Armin Wagner,
München 2003, S. 106–116.
48 Vgl. BA-MA, DVW 1/6284, Bd. 3, Bl. 444, Lagebericht 1. MSD, 14.8.1961; ebd., DVH 17/8216, Bl. 510, Verbindungsübersicht 8. MSD,
17.8.1961.
49 Vgl. Befehl von Innenminister Maron zur Veränderung des Verkehrsnetzes in Berlin, 12.8.1961, abgedruckt in: Im Schatten der Mauer (wie
Anm. 48), S. 16–19.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Panzer der amerikanischen Alliierten an der Sektorengrenze in Berlin Kreuzberg, 13. August 1961.
Die gesamte Operation wurde von einem Zentralen Stab
unter der Leitung von Erich Honecker überwacht. Ulbricht, der im Vorfeld detaillierte Vorstellungen zum Charakter der Operation entwickelt hatte, hielt sich aus der
Durchführung überwiegend heraus. Er zeigte sich stattdessen vor Ort an der Grenze und übernahm die politische
Rechtfertigung der Teilung Berlins.
Gleich am Anfang der Grenzschließung zeigte sich,
dass die Sowjetunion das neu eingeführte Grenzregime
wesentlich mitbestimmte. Ende September 1961 konnte der
Oberkommandierende der GSSD seine Forderung durchsetzen, in der 100-Meter-Sperrzone „ein strenges militärisches Regim[e] einzuführen“ und „gegen Verräter und
Grenzverletzer [...] die Schußwaffe anzuwenden“.50 Die
Forderung machte zum einen klar, dass die Sowjetunion den
Anspruch erhob, die Gestaltung des Grenzregimes wesentlich mitzubestimmen oder gar das letzte Wort zu behalten.
Zum anderen verdeutlicht die sowjetische Einmischung,
dass das Grenzsystem aus Sicht Moskaus – und in klarer
Bild: ullstein bild
Übereinstimmung mit Ulbrichts Intentionen – keine militärisch präventiv ausgelegte Funktion innehatte, sondern
vielmehr eine „binnenorientiert-repressive“ Funktion
besaß.51
Da Stacheldraht und Mauer nicht sofort die von der
SED gewünschte Wirkung, nämlich die Unterbindung
der zahlreichen Republikfluchten, zeigten, wurde an
der neuen Grenze der Waffengebrauch zum normalen,
bedarfsweise alltäglichen Zwangsmittel. Gegen „Verräter und Grenzverletzer“ bestand in den Augen der politischen Führung der DDR Feuererlaubnis.52 Das Kommando der GSSD und Botschafter Perwuchin wirkten
allerdings trotz der selbst geforderten Härte zwischen
August und Oktober 1961 mehrmals auf Ulbricht und
Honecker ein, an der Berliner Grenze nicht vorschnell
auf Flüchtige zu schießen. Der sowjetische Generalstab
war allerdings nicht darum bemüht, Menschenleben zu
retten, sondern wollte die brisante Situation nach der
50 BA-MA, DVW 1/39573, Bl. 97, Lagebesprechung des Zentralen Stabes, 20.9.1961.
51 Vgl. Armin Wagner: Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED: Der Nationale Verteidigungsrat der DDR und seine
Vorgeschichte (1953–1971), Berlin 2002, S. 461f.
52 Vgl. Torsten Diedrich: Die Grenzpolizei der SBZ/DDR (1946–1961), in: Im Dienste der Partei: Handbuch der bewaffneten Organe der
DDR, hrsg. von Torsten Diedrich, Hans Ehlert und Rüdiger Wenzke, Berlin 2 1998, S. 219.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
DDR-Volkspolizisten suchen
nach einem von ihnen erschossenen Flüchtling, der im
Teltowkanal untergegangen
war. Sowjetische Soldaten
beobachten den Vorfall, 1961.
Bild: ullstein bild
Grenzschließung nicht durch zusätzliche Provokationen in der Stadt aufschaukeln.53
Es war Auftrag der sowjetischen Truppen in der DDR, durch
ihre Präsenz vor allem die politischen Maßnahmen der Moskauer Führung „militärisch so abzusichern, dass westliche
militärische Anstrengungen jeweils ausgeglichen und etwaige
Neigungen der Alliierten zu aktiven Gegenmaßnahmen [...]
gedämpft oder notfalls vereitelt werden können“.54
Deshalb befahl Moskau in der Nacht vom 12. auf den 13.
August 1961 für die gesamten Truppen der GSSD erhöhte
Gefechtsbereitschaft. Bei den sowjetischen Luftstreitkräften in der DDR wurden 50 Prozent der Verbände in die
höchste Bereitschaftsstufe versetzt.55 Um dem Westen die
sowjetische Kampfbereitschaft im Fall von Gegenmaßnahmen zu demonstrieren und um eigene Aufklärung zu betreiben, wurden zeitgleich Einheiten der GSSD in Kompaniebis Bataillonsstärke entlang der gesamten innerdeutschen
53 Vgl. RGANI, 5/30/367, Bl. 25–28, Bericht des Verteidigungsministeriums der UdSSR an das ZK der KPdSU über die Situation in Berlin
und der DDR, 26.8.1961.
54 BA Koblenz, B 206/118, Militärischer BND-Lagebericht Dezember, zugleich Jahresabschlussbericht 1961, 15.12.1961, Bl. A I 5
55 Vgl. RGANI, 5/30/367, Bl. 1–3, Bericht des Verteidigungsministeriums der UdSSR an das ZK der KPdSU über die Situation in Berlin und
der DDR, 15.8.1961; BA-MA, BW 2/2226, o. Bl., Vortragsnotiz Führungsstab Luftwaffe für Lagebesprechung beim Führungsstab der
Bundeswehr, 8.9.1961.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Russische Panzer des Typs T34 an der Sektorengrenze zwischen den Berliner Stadtteilen Friedrichshain (Ost) und Kreuzberg (West)
Bild: ullstein bild
Grenze fünf bis zehn Kilometer hinter der Demarkationslinie als Sicherungsverbände postiert. Parallel errichteten
die sowjetischen Streitkräfte zwischen Ostsee und Harz
sowie entlang der Autobahn zwischen Helmstedt und
Berlin eine ganze Reihe von Beobachtungsposten, die mit
sowjetischen Offizieren besetzt wurden.56 Die dabei gewonnenen Informationen wurden von den Militärs vor Ort
widersprüchlich gedeutet. Auf der einen Seite befürchteten
sie – auch bedingt durch ihre politische Indoktrinierung –
einen NATO-Angriff auf Berlin, auf der anderen bewertete man die Maßnahmen des Westens als genauso demonstrativ wie die der Sowjetunion.57
Doch die Führung der GSSD beschränkte sich nicht
nur auf demonstrative Maßnahmen. Da der sowjetische
Partei- und Staatschef immer noch das Ziel eines separaten Friedensvertrages mit der DDR verfolgte, wurden die militärischen Kräfte der Sowjetunion nochmals
verstärkt. Am 29. August 1961 beschloss die sowjetische
Führung, dass bis zur Unterzeichnung eines Friedensvertrages keine Entlassungen von Wehrdienstpflichtigen erfolgen sollten. Gleichzeitig wies das Verteidigungsministerium eine vorzeitige Einberufung des
Jahrgangs 1942 an. Durch diese Maßnahme erhöhte
sich die Gesamtpersonalstärke der sowjetischen Streitkräfte nach vorliegendem russischem Archivmaterial
um ungefähr 400.000 Mann. Insgesamt schätzte der
bundesdeutsche Nachrichtendienst, dass nach dem
Mauerbau die sowjetische Truppenstärke von 3,3 Millionen auf 3,887 Millionen Mann gestiegen war.58
56 Vgl. BA Koblenz, B 206/181, Militärischer Monatsbericht August, 4.9.1961, Bl. 9; BA-MA, BW 2/2226, o. Bl., Zusammenfassung Lage
durch Führungsstab Heer, 8.9.1961.
57 Vgl. Pavel A. Golicyn: Zapiski načal’nika voennoj razvedki, Moskva 2002, S. 119–125.
58 Vgl. Befehl des Verteidigungsministers der UdSSR Nr. 217/61, 14.9.1961, in: Krasnaja Zvezda, 15.9.1961; BA Koblenz, B 206/118,
Militärischer BND-Lagebericht Dezember, zugleich Jahresabschlussbericht 1961, 15.12.1961, Bl. B I 2 5.; BA MA, BW 2/2226, o. Bl., Lage
Heer, o. Datum (Anfang September); RGAE, 4372/79/882, Bl. 125–128, Schreiben von Zacharov und Rjabikov an den Ministerrat der
UdSSR über die Auslieferung zusätzlicher Lebensmittel und Verbrauchsgüter an das Verteidigungsministerium, 21.9.1961.
22
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Der Atompilz steigt auf über Semipalatynsk, dem Atomwaffentestgelände der UdSSR im heutigen Kasachstan, 1962.
Bild: ullstein bild
Während Ulbricht und seine Militärs Anfang September
1961 offensichtlich davon ausgingen, dass die Abriegelung
der Grenzen in West-Berlin zu keine größeren militärischen
Spannungen führen würde, schätzte die UdSSR die
Bedrohungssituation, wohl auch vor dem Hintergrund des
immer noch ausstehenden Friedensvertrages, anders ein. Sie
sah immer noch die Gefahr einer bewaffneten Konfrontation mit den USA und erhöhte deshalb weiter ihr Abschreckungspotential. Aus ihrer Sicht waren dazu offensive
Maßnahmen das geeignete Mittel. Bereits am 28. August
1961 hatte Chruschtschow dem SED-Chef Ulbricht streng
vertraulich mitgeteilt, dass die UdSSR in nächster Zeit das
bisherige Teststoppmoratorium brechen werde. Die Kernwaffenversuche sollten, so der sowjetische Partei- und
Staatschef, die Bereitschaft demonstrieren, „jeglichen
Abenteuern seitens der aggressiven Staaten gewappnet entgegenzutreten“.59 Ab 1. September 1961 begann die Sowjetunion eine umfangreiche Kernwaffentestserie, die am 30.
Oktober 1961 in der Erprobung einer 100-Megatonnen
Bombe gipfelte, deren Sprengkraft jedoch auf 50 Megatonnen gedrosselt worden war.60
Der Westen zeigte sich durch die zahllosen sowjetischen Militäraktionen und die Truppenverstärkungen des
Warschauer Paktes sehr besorgt, etwa General Gerhard
Wessel in einer Einschätzung für den Militärischen Führungsrat der Bundesrepublik: „Der Nervenkrieg hat mit der
Atom- und Raketenversuchsserie und den Manövern von
Kräften der Warschauer-Pakt-Staaten einen absoluten Höhepunkt erreicht. Dieser Höhepunkt dient als militärisches
Druckmittel, um die angestrebten Verhandlungen über
Berlin und Deutschland zu erzwingen und zu einem für die
UdSSR positiven Ergebnis zu führen. Es ist daher zu erwarten, dass der jetzt erreichte Höhepunkt über einen längeren
Zeitraum konstant bleiben wird. Die Gefahr, dass aus der
zunächst für Manöver gebildeten Kräftekonzentration
überraschend zu einer Offensive gegen Mitteleuropa ange-
59 SAPMO-BA, DY 30/3386, Bl. 222–223, Schreiben von Chruščev an Ulbricht, 28.8.1961.
60 Vgl. Steven Zaloga: The Kremlin’s nuclear sword: the rise and fall of Russia’s strategic nuclear forces, 1945–2000, Washington/London
2002, S. 71–72.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
23
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
treten wird, ist nicht ausgeschlossen, wenngleich Anzeichen
für unmittelbar bevorstehende Angriffe nicht vorliegen. Die
in den letzten Wochen wesentlich erhöhte Stärke und
Einsatzbereitschaft der Feindkräfte im europäischen Raum
erschwert jedoch rechtzeitiges Erkennen etwaiger feindlicher Angriffsabsichten. Dieser ernsten und schwierigen
Lage sollten die eigenen Maßnahmen – im militärischen wie
im zivilen und im materiellen wie im geistigen Bereich –
Rechnung tragen.“61
Die wirksamste militärische Gegenmaßnahme des
Westens war die Erhöhung seiner Truppenpräsenz und
Streitkräftestärke in Westeuropa. Dies wurde von den
sowjetischen Militärs sehr genau wahrgenommen und
auch an das ZK der KPdSU berichtet.62 Deshalb gelang
es Chruschtschow zwar, die Schließung der Sektorengrenzen in Berlin sicherzustellen. Er scheiterte jedoch
mit dem Versuch, den Westen durch militärischen
Druck zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen
und damit an dessen demonstrierter Bereitschaft, die
alliierten Rechte in Berlin falls nötig auch mit Waffengewalt zu verteidigen.63
Ergebnisse
Die Abriegelung der Sektorengrenzen in Berlin vom August 1961 war in ihrer militärischen Durchführung eine erfolgreiche Operation der Sowjetunion und der DDR, deren
Geheimhaltung hervorragend gelungen war. Sowohl die
Mauer rings um West-Berlin als auch das Sperrsystem an der
„Staatsgrenze West” richteten sich nur potentiell, aber nicht
in der Praxis gegen bewaffnete Überfälle aus westdeutscher
Richtung, wie es die offizielle DDR-Propaganda vom „antifaschistischen Schutzwall“ stets suggerierte. Nirgendwo
wurde von ostdeutschen und sowjetischen Dienststellen
eine gezielte westdeutsche Provokation, der Aufmarsch
westlicher Truppenverbände oder gar das Einschleusen von
„Diversanten“ oder kleinen Kampfgruppen der NATOStreitkräfte („Rangern“) gemeldet. Stattdessen handelte es
sich bei den „Grenzverletzern“ fast ausschließlich um
fluchtwillige DDR-Bürger. Mit Recht hat der Historiker
Götz Aly in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,
dass die Mauer die Funktion anderer großer historischer
Bollwerke wie des Limes, der Maginot-Linie oder der mittelalterlichen Stadtbefestigungen verkehrte; war es doch
nicht ihr Ziel, einen feindlichen Angriff aufzuhalten und zu
brechen, sondern die eigene Bevölkerung einzusperren.64
Die DDR und die Sowjetunion bereiteten die Schließung der Grenzen in Berlin gemeinsam vor, wobei OstBerlin wesentlich früher als bisher angenommen – etwa
seit dem Herbst 1960 – mit den Vorbereitungen dazu
begann, ohne zu dieser frühen Zeit das Einverständnis
des Kreml zu besitzen. Die Sowjetunion und ihre Streitkräfte sicherten die geplante Aktion als Kernstück der
zweiten Berlin-Krise strategisch ab und mobilisierten
hierfür die gesamte Militärmacht der UdSSR. Die DDR
übernahm die Ausarbeitung der mit der Grenzschließung verbundenen praktischen und taktischen Maßnahmen. Ulbrichts weitergehende Versuche nach dem
August 1961, West- (wie auch Ost-)Berlin dem
Alliierten-Recht zu entziehen und faktisch in die DDR
einzugliedern, zeigten dem SED-Chef indessen die
Grenzen seines Erfolges vom Sommer 1961. Den ungehinderten Zugang der Westmächte nach Ost-Berlin
konnte er auch weiterhin, trotz der Eskalation am
Checkpoint Charlie Ende Oktober desselben Jahres,
nicht verhindern, denn hinter den Kulissen machten
der Kreml und der GSSD-Oberkommandierende der
SED-Führung klar, dass die DDR im Grenzregime den
Vorschlägen und Wünschen der UdSSR zu folgen habe.
Ulbricht drängte Moskau im Frühjahr 1961 zum Mauerbau
und erreichte die sowjetische Zustimmung. Danach wurde
die Handlungsfreiheit des Partei- und Staatschefs der DDR
jedoch massiv eingeschränkt. Hauptziel der sowjetischen
Politik und ihres Militäreinsatzes war es, auf jeden Fall eine
bewaffnete Auseinandersetzung um Berlin zu vermeiden.65
Deshalb musste Ulbricht auf Anweisung aus Moskau
Schritte zurücknehmen oder entschärfen, die dazu geführt
hätten, die Situation weiter eskalieren zu lassen. Doch nur
dadurch, dass er sich den sowjetischen Vorgaben unterordnete, gelang es Ulbricht, sein Ziel – die Schließung der
Grenzen – durchzusetzen.
61 BA-MA, BW 2/2226, o. Bl.; Beitrag Wessel für Vortrag für Militärischen Führungsrat, 7.11.1961, S. 9.
62 RGANI, 5/30/368, Bl. 95 f., Bericht des Verteidigungsministeriums an das ZK der KPdSU über die Situation in Berlin und der DDR,
2.12.1961.
63 An dieser Stelle wird darauf verzichtet, auf die westlichen Gegenmaßnahmen näher einzugehen. Siehe hierfür u.a.: Lawrence Freedman:
Kennedy’s Wars: Berlin, Cuba, Laos and Vietnam, Oxford 2002.
64 Vgl. Götz Aly: Warte nur auf bessere Zeiten. Die Berliner Mauer hielt die deutsche Frage 28 Jahre lang offen, in: Berliner Zeitung v.
6. August 2001, S. 11.
65 Vgl. John C. Ausland, Kennedy, Khrushchev and the Berlin-Cuba-Crisis 1961–1964, Oslo u.a. 1996, S. 2.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Die Sowjetunion und der Mauerbau im internationalen Kontext
Der sowjetische Staats- und Parteivorsitzende Michail Gorbatschow (li.) und Bundeskanzler
Helmut Kohl während des Staatsbesuchs von Gorbatschow in der Bundesrepublik Deutschland,
13. Juni 1989
Bild: ullstein bild
Die Westmächte akzeptierten die Abriegelung West-Berlins, um den zum damaligen Zeitpunkt gefährlichsten internationalen Krisenherd endlich zu beruhigen. Das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen Ost und West wollten
und konnten weder die USA noch die UdSSR eingehen.
Deshalb wurde die dramatische Zuspitzung der Situation
am Checkpoint Charlie am 27./28. Oktober 1961 zum endgültigen Wendepunkt. Der gleichzeitige Abzug der amerikanischen und sowjetischen Panzer von der Friedrichstraße
zeigte, dass beide Supermächte die neue Situation und den
Status quo in Berlin anerkannten.66 Gleichzeitig wurde für
die Weltöffentlichkeit durch die Ereignisse in der Fried-
richstraße klar, wer in der DDR letztlich die Kommandogewalt innehatte. Die so genannte zweite Geburt des ostdeutschen Staates wäre ohne die massive sowjetische Militärhilfe nicht geglückt. Sie verdeutlichte zugleich, dass auch
nach mehr als elf Jahren ihres Bestehens die DDR ein
Kunstprodukt war, deren Existenz, wie es der chinesische
Militärattaché 1962 auf einem Empfang ausdrückte, „allein
auf der Anwesenheit sowjetischer Truppen beruh[t]e“.67 Als
die sowjetische Führung und ihre Streitkräfte nicht mehr
bereit waren, die Politik der SED mit Waffengewalt zu
schützen, brachen im Herbst 1989 die DDR und damit auch
die Mauer wie ein Kartenhaus zusammen.
66 Vgl. Rolf Steininger: Berlinkrise und Mauerbau 1958 bis 1963, München 42009, S. 290–300.
67 Vgl. RGANI, 5/30/398, Bl. 12, Schreiben des KGB-Vorsitzenden Semičastnyj an das ZK der KPdSU, 10.3.1962.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Der Mauerbau aus Ostund Westperspektive
Von Jochen Staadt
Nikita Chruschtschow (1894–1971) bei seinem Besuch 1958 in Ostberlin mit Walter Ulbricht (1894–1971)
Alle Bilder, falls nicht anders gekennzeichnet: ullstein bild
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Die Prognosen zum Jahreswechsel 1960/61 fielen für
die SED-Führung düster aus. Über drei Millionen ihrer
Bürger waren aus der DDR schon in den Westen geflüchtet. Die Wirtschaft lag darnieder, es bestand keine
Aussicht auf eine Besserung der Lage. Am 16. Januar
1961 wandte sich der Erste Sekretär des SED-Zentralkomitees, Walter Ulbricht, mit der Bitte um dringende
Hilfe an den sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow.
„Teurer Genosse Nikita Sergejewitsch!“, begann Ulbricht
höflich, „[n]ach der Aussprache zwischen uns im November 1960 halten wir es für notwendig, daß wir uns mit dem
Präsidium des ZK der KPdSU über einige Hauptfragen der
Deutschlandpolitik und der ökonomischen Lage der DDR
im Jahr 1961 konsultieren.“ Sodann erging sich Ulbricht
zunächst in allerlei Vorschlägen, wie „im Jahr 1961 bei der
friedlichen Lösung der Westberlin-Frage und der Herbeiführung eines Friedensvertrages vorwärts zu kommen“ sei.
Die Möglichkeiten, wenigstens einen Teil der in Berlin entstandenen Nachkriegskonstellation „abzubauen“, waren
seiner Meinung nach besonders günstig, weil „die Adenauer-Regierung in der Zeit der Bundestags-Wahlkampagne
nicht an einer Zuspitzung der Lage interessiert ist und Präsident Kennedy im ersten Jahr seiner Präsidentschaft ebenfalls keine Verschärfung der Lage wünscht“. Es sei zu erwarten, dass Adenauer den Abschluss eines Friedensvertrages
der beiden deutschen Staaten mit allen Teilnehmerstaaten
des Zweiten Weltkrieges ablehnen und auf dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland bestehen werde. Ungeachtet aller Angebote der DDR zur Verständigung werde Westdeutschland den Kalten Krieg verschärfen und dabei den Kampf gegen die DDR „hauptsächlich mit ökonomischen Waffen“ führen.
Ulbricht schlug vor, den Druck auf die Westmächte
zu erhöhen und auf internationaler Ebene für „die Notwendigkeit der Beseitigung der Reste des Krieges in Deutschland und speziell der anomalen Lage in Westberlin“ zu werben. Er bekräftigte die schon 1959 erhobene Forderung
nach Umwandlung West-Berlins in eine „Freie Stadt“.
Damit meinte er: „Beseitigung des Besatzungsregimes in
Westberlin, d.h. Auflösung der Kommandantur und Verzicht der auf Grund des Besatzungsstatuts ausgeübten
Rechte“ bis hin zum „vollständigen Abzug“ der Westalliierten. Die DDR werde dann in vertraglichen Vereinbarungen
mit dem West-Berliner Senat alle Fragen regeln, die den
Transitverkehr und die Versorgung der Stadt betreffen.
Ulbricht forderte weiterhin, dass „die Autorität der DDR
bei künftigen Verhandlungen“ erhöht werden müsse. Die
Sowjetunion möge nachdrücklich erklären, „daß der Abschluß eines Friedensvertrages zwischen der Sowjetregierung und der Regierung der Deutschen Demokratischen
Republik unter Beteiligung der Staaten der Anti-HitlerKoalition, die dazu bereit sind, unvermeidlich wird, wenn
die Westmächte nicht im Verlauf der nächsten Monate auf
einen Kompromiß eingehen“.
Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen,
schilderte der SED-Chef im zweiten Teil seines Schreibens
ausführlich die dramatische Fehlentwicklung der DDRWirtschaft und ihr weiteres Zurückbleiben gegenüber dem
Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik. Die „Steigerung
der Bruttoproduktion in Westdeutschland betrug 1960 etwa
12 Prozent, während die Produktionssteigerung in der
DDR 8 Prozent betrug.“ Die westdeutsche Wirtschaft bringe ihre Betriebe auf technischen Höchststand, „erhöhte die
Löhne im Jahre 1960 um ca. 9 Prozent und verkürzte die
Arbeitszeit, so daß bereits in einem Teil der Betriebe die
Fünftagewoche besteht“. Bis 1965 solle sogar in einigen Industriezweigen die 40-Stunden-Woche eingeführt werden.
„Bei uns sind solche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen nicht im Plan enthalten“, schrieb Ulbricht.
Ohne weitere Kredite aus der Sowjetunion werde das
Lebensniveau der Bevölkerung unter den Stand von
1960 sinken. „Der konjunkturelle Aufschwung in Westdeutschland, der für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, daß im Verlaufe von
zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere
Republik verlassen haben.“ Ulbricht rechnete mit ernsten Krisenerscheinungen, falls nicht bald „die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR stabil gemacht wird
und möglichst weitgehende Garantien gegen die Störung des sozialistischen Aufbaus in der DDR von Seiten
der imperialistischen Kräfte in Westdeutschland
geschaffen werden“.1
Chruschtschow antwortete am 30. Januar 1961, die sowjetische Führung stimme „mit den Erwägungen betreffs der
Maßnahmen“ überein, „die in Zusammenhang mit der Beseitigung der Überreste des Krieges und der Normalisierung der Lage in West-Berlin durchgeführt werden sollen“.
Es bedürfe aber noch einiger Zeit, um Kennedys Position in
der Deutschlandfrage deutlicher zu erkennen. Für den Fall,
dass es zu keiner Einigung mit den Vereinigten Staaten über
„gegenseitig annehmbare Beschlüsse“ komme, müsse die
Angelegenheit „auf der Basis eines Friedensvertrages mit
der Deutschen Demokratischen Republik gelöst werden“.
Es werde dann notwendig sein, „die in Ihrem Brief behan-
1 Das Schreiben Ulbrichts vom 16. Januar 1961 findet sich unter SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/202/129, Bestand Büro Ulbricht.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
27
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
delten Maßnahmen, die sich unter gewissen Umständen als
notwendig erweisen werden, mit dem Abschluß eines Friedensvertrages zu koppeln“. Ulbricht unterstrich das Wort
„Maßnahmen“, über die es in Chruschtschows Brief weiter
heißt: „Wenn es nicht gelingen wird, mit Kennedy zu einer
Verständigung zu kommen, werden wir, wie vereinbart,
gemeinsam mit Ihnen den Zeitpunkt ihrer Durchführung
bestimmen.“2
Ulbricht hatte in seinem Schreiben zwar nicht von
irgendwelchen Maßnahmen gesprochen – er hatte sich
lediglich auf seine mündlichen Erörterungen mit der
KPdSU-Spitze bezogen, die am Rande des Moskauer
Treffens der kommunistischen und Arbeiterparteien
am 10. November 1960 stattgefunden hatten –, aber er
wusste genau, was Chruschtschow meinte, wenn er versprach, es würde dann – „wie vereinbart“ – gemeinsam
der Zeitpunkt zur Durchführung der „Maßnahmen“
bestimmt, „die sich unter gewissen Umständen als notwendig erweisen werden“.
Über diese „Maßnahmen“ nämlich hatte man sich im Groben schon im November 1960 verständigt. In unbestimmter Weise zieht sich die Begrifflichkeit „Maßnahmen“ durch
das gesamte Schriftgut der SED- und Regierungsstellen, die
mit der Vorbereitung des Mauerbaus befasst waren. Erst am
13. August 1961 wurde die sprachliche Kaschierung fallen
gelassen. Noch am 11. August beschloss die Volkskammer
der DDR pauschal, es seien „Maßnahmen gegen Menschenhandel, Abwerbung und Sabotage zu treffen“. Damit erhielten die durch das Politbüro der SED längst vollzogenen
Entscheidungen ihre Bestätigung durch das Scheinparlament der DDR.
„Geschwür West-Berlin“
Der Ministerrat ordnete am folgenden Tag, am 12. August
1961, „Maßnahmen zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte
Westdeutschlands und Westberlins“ an und verkündete zynisch, es würde „eine solche Kontrolle an den Grenzen der
Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der
Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt,
wie sie an Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist“.
Selbst im Mobilmachungsbefehl, den DDR-Innenminister
Karl Maron am Mittag des 12. August an die Stabschefs seiner bewaffneten Einheiten herausgab, ist von „Maßnah-
men“ die Rede, die „mit X-Zeit zur Einschränkung des
Verkehrs“ nach West-Berlin eingeleitet werden sollen.3
Die Frage, wann genau die Vorbereitungen für den
„Tag X“ und die „X-Zeit“ begannen, ist bislang ungeklärt.
Im März 1961 waren sie jedenfalls als Option schon sehr
konkret im Gange. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass die
endgültige Entscheidung für den Mauerbau unmittelbar
nach dem für Chruschtschow negativen Ausgang der Wiener Gespräche mit dem amerikanischen Präsidenten
Kennedy fiel. In groben Worten hatte sich der sowjetische
Staatschef dort am 4. Juni 1961 gegenüber Kennedy über
West-Berlin geäußert: „Wir wollen diesen Splitter herausziehen, dieses Geschwür am Körper Europas beseitigen und
dies so tun, daß keinem der interessierten Staaten ein
Nachteil daraus entsteht.“ Auf Kennedys Nachfrage, ob das
bedeute, dass auch der amerikanische Zugang nach WestBerlin gesperrt werde, antwortete Chruschtschow lakonisch: „Sie haben richtig verstanden, Herr Präsident.“
Obwohl Chruschtschow im Fortgang des Gespräches unverhohlen mit Krieg drohte, lehnte Kennedy die
geforderte „radikale Änderung“ des Berlin-Status ab und
bekräftigte seine Entschlossenheit, alle „juristischen Verpflichtungen in dieser Frage zu erfüllen“. Kennedy erklärte
darüber hinaus: „Wir sind überzeugt, daß unsere Anwesenheit in Berlin von der Bevölkerung West-Berlins unterstützt
wird, der gegenüber wir bestimmte Verpflichtungen übernommen haben.“
Während Kennedy am 25. Juli 1961 noch einmal vor
der Weltöffentlichkeit die amerikanischen Garantien für
West-Berlin bekräftigte, bereitete in Ost-Berlin bereits
ein geheimer Operationsstab den Mauerbau vor. Die
politische Leitung dieses Stabes, der am 12. August 1961
seine Kommandozentrale im Präsidium der Volkspolizei
Berlin aufschlug, lag in den Händen des für Sicherheitsfragen zuständigen ZK-Sekretärs Erich Honecker.
Weitere Stabsmitglieder waren der Berliner SED-Bezirkschef Paul Verner, der stellvertretende Ministerratsvorsitzende Willi Stoph, der Minister für Staatssicherheit Erich
Mielke, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Verkehrsminister Erwin Kramer, Innenminister Generaloberst Karl
Maron, dessen Stellvertreter Generalmajor Willi Seifert, der
Ost-Berliner Polizeipräsident Generalleutnant Fritz Eikemeier und Volkspolizei-Oberst Horst Ende als Koordinator des Stabes im Ministerium des Inneren.
2 Die Antwort Chruschtschows findet sich unter der gleichen Signatur, s. Anm. 1.
3 Vgl. Befehl des Ministers des Inneren Nr. 002/61, Aufgaben der Deutschen Grenzpolizei zur verstärkten Sicherung der Grenzen am
Außenring von Groß-Berlin und an der Staatsgrenze West. BArch Lichterfelde, DO 1/2.2./58293.
28
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Betriebskampfgruppen der DDR und Soldaten der Nationalen Volksarmee in einem Panzerspähwagen am Brandenburger Tor, Berlin,
14. August 1961
Für die strategische Vorbereitung und logistische Umsetzung der „Maßnahmen“ in und um Berlin trugen als die
eigentlichen Macher des Mauerbaus Maron, Seifert, Eikemeier und Ende die Verantwortung. Sie kommandierten,
nachdem Ulbricht als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates formell die X-Zeit bestätigt hatte, sämtliche an
der Grenze eingesetzten Sondereinheiten der Volkspolizei,
Grenzpolizei, Transportpolizei und der Betriebskampfgruppen. Die Nationale Volksarmee befand sich in zweiter
Linie in Bereitschaft, und sowjetische Truppen hielten sich
als dritte Staffel im Hintergrund. Sie sollten nur im Falle
einer militärischen Reaktion der Westalliierten zum Einsatz
kommen.4
Die dramatischen Stunden am
13. August 1961
Die folgende Darstellung des Ablaufs der Ereignisse am 13.
August bietet eine synchrone Betrachtung der Ereignisse in
Berlin auf der Grundlage von Meldungen an Honeckers
Einsatzstab im Ost-Berliner Polizeipräsidium und diversen
westlichen Überlieferungen (Letztere sind mit Sternchen
gekennzeichnet).
Um 01.00 Uhr wurde in Ost-Berlin die „X-Zeit“ ausgelöst.
„02.30 Uhr: Das Präsidium der Volkspolizei meldet:
Mit dem Aufbau des Stacheldrahtes an der Grenze des
demokratischen Berlin wurde um X + 60 Minuten begonnen.
02.40 Uhr: Stab der Deutschen Grenzpolizei meldet:
Unterstellung Potsdam, Vorkommando eingetroffen,
Bataillon noch nicht.
02.45 Uhr: Stab der Deutschen Grenzpolizei meldet vom
westlichen Ring: 4 Kompanien und 5 Pionierzüge unterstellt.
03.15 Uhr: Oberstleutnant Schneider vom Stab des Präsidiums der Volkspolizei meldet: Arbeitsbereitschaft der
4 Vgl. Geschichte der Deutschen Volkspolizei, Bd. I, hg. v. Staatsministerium d. Innern, Friedrich Dickel (Leiter des Autorenkollektivs),
Willi Seifert (Generalleutnant a.D., Mitgl. d. Hauptredaktion), Berlin 1987, S. 338.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
29
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Bezirkseinsatzleitung 01.30 Uhr hergestellt. Arbeitsbereitschaft des Stabes des Bezirks 01.50 Uhr hergestellt. Lagemeldungen konnten noch nicht gegeben werden.
Schneider wurde angewiesen, unverzüglich Lagemeldung
zu geben.“5
Dietrich Spangenberg, Chef der Berliner Senatskanzlei,
unterrichtet den Regierenden Bürgermeister von Berlin,
Willy Brandt, von den Vorgängen an der innerstädtischen
Sektorengrenze. Brandt, der sich als Spitzenkandidat der
SPD für die kommende Bundestagswahl im Zug auf Wahlkampfreise befindet, kehrt sofort mit einem Flugzeug nach
Berlin zurück.6
„03.40 Uhr: Um 01.20 Uhr wurde ein sowjetischer Posten
im Stützpunkt Saalo bei Zossen beschossen. Täter und
Waffenart unbekannt.
03.30 Uhr: Stab Hauptabteilung Trapo(Transportpolizei)
– Hauptmann Schmidt – meldet: 1. Einsatzbereitschaft
Abschnitt Berlin 50 % hergestellt. 2. Sicherungskräfte der
Trapo an Gleisunterbrechungen angekommen.
04.25 Uhr: Stützpunkt 9 Ehrenmal Treptow wurden
Schüsse wahrgenommen, Aufklärungskräfte zur Untersuchung eingesetzt.
04.30 Uhr: Lage an den Übergängen:
• Mitte – Pionierarbeiten abgeschlossen
• Norden – arbeiten noch an einem Stützpunkt
• Süden – noch nicht abgeschlossen.
04.30 Uhr Stab der Deutschen Grenzpolizei vom westlichen Ring meldet: Aufbau Igel7 verzögert sich um 1 bis 2
Stunden, da unsere Fahrzeuge in Kolonnen anderer Organe eingekeilt sind.
05.35 Uhr: Eine Überprüfung der Lage am Ehrenmal in
Treptow ergab, daß die gehörten Schüsse vom Stadtförster,
der sich auf Kaninchenjagd befand, herrührten. Jagd wurde eingestellt.“8
Kurz vor sechs Uhr: Der West-Berliner CDU-Vorsitzende und Senator Franz Amrehn informiert den Chef
des Bundeskanzleramtes Staatssekretär, Hans Globke,
über die begonnene Abriegelung von Ost-Berlin.9
„06.30 Uhr: Präsidium der Volkspolizei Berlin meldet:
Alle KP (Kontrollposten) werden entsprechend des gegebenen Befehls planmäßig verdrahtet. Langandauernde
Arbeiten sind noch im Gange. Am Brandenburger Tor
fehlt Maschendraht, wurde von Potsdam angefordert und
wird antransportiert.
06.45 Uhr: Präsidium der Volkspolizei Berlin meldet: Alle
Kontrollpunkte wurden um X + 240 Minuten geschlossen.
Die pioniermäßige Sicherstellung an den Kontrollpunkten
ist gewährleistet. Am Brandenburger Tor reicht der Maschendraht nicht aus.“10
Kurz vor sieben Uhr unterrichtete Staatsekretär Globke
Bundeskanzler Adenauer telefonisch von der Grenzschließung in Berlin.11
„07.15 Uhr: Der Tankwart der Tankstelle Berlin-Grünau
machte Äußerungen über seine Absicht, zu streiken, und
verkauft kein Benzin.
08.10 Uhr: Alle Maßnahmen gemäß Befehl des Präsidenten der Volkspolizei Berlin sind nach anfänglich zögernden Handlungen durch die Kommandeure nunmehr im
Wesentlichen durchgesetzt.
08.35 Uhr: Seit den frühen Morgenstunden treten auch
weiterhin verstärkt Reporter mit Film und einzelnen
Fernsehkameras entlang der Übergänge in Erscheinung.“12
Um neun Uhr tritt der Senat von Berlin zu einer Sondersitzung im Schöneberger Rathaus zusammen und
beschließt, sich mit der Bundesregierung und den Westalliierten über das weitere Vorgehen abzustimmen.13
„09.30 Uhr: Brandt erschien gegen 9.00 Uhr mit Fotoreportern am Brandenburger Tor. Nach zehn Minuten
entfernte er sich wieder und bestieg ein Fahrzeug, mit dem
er fortgebracht wurde.“
Um elf Uhr trifft Willy Brandt mit den drei westalliierten Stadtkommandanten zusammen. Er verlangt „Schritte
der westlichen Regierungen auf hoher diplomatischer
Ebene bei der UdSSR“. Die alliierten Stadtkommandanten
erklären, dass sie zur Frage des konkreten Vorgehens noch
Weisungen ihrer Regierung erwarten. Egon Bahr schreibt
in seinen „Erinnerungen“, Brandt habe ihm gegenüber
nach der Unterredung mit den drei Stadtkommandanten
geäußert: „Diese Scheißer schicken nun wenigstens Patrouillen an die Sektorengrenze, damit die Berliner nicht
denken, sie sind schon allein.“14
„11.20 Uhr: Im Bereich Treptow flüchtete gegen 10.30
eine Familie illegal über den Heidekamp-Graben. Die
Pioniersperre war noch nicht errichtet. Über den Flut-
5 Die Meldungen finden sich in den Überlieferungen des DDR-Innenministeriums, Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin;
Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2.
6 Vgl. Egon Bahr, Zu meiner Zeit. München 1996, S. 131.
7 Gemeint sind kreuzweise verschweißte Stahlträger, die als Fahrzeugsperren den innerstädtischen Straßenverkehr Berlins unterbrachen.
8 Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2.
9 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 660f.
10 Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2.
11 Vgl. Schwarz (wie Anm. 9)
12 Stab Präsidium der Volkspolizei (PdVP) Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lageberichte. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2.
13 Vgl. Willy Brandt, Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947–1966. Berliner Ausgabe Bd. 3, Bonn 2004, S. 592.
14 Vgl. Baur (wie Anm. 6), S. 131.
30
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Beginn des Mauerbaus am
13. August 1961: Soldaten der
DDR-Grenztruppen bewachen erste Abriegelungen am
Potsdamer Platz.
graben in der Nähe der Lohmühlenstraße schwamm ein
junges Mädchen nach Ablage der Kleider und wurde auf
Westberliner Seite von der dortigen Menge johlend empfangen.
12.00 Uhr: Seit den Morgenstunden verstärkt der Gegner
in zunehmendem Maße an der Sektorengrenze seine
Provokationstätigkeit. Die Provokateure werden durch
den RIAS und andere Sender systematisch aufgehetzt.
Bisher zeichneten sich folgende charakteristische
Handlungen des Gegners ab:
• Zusammenrottung von Menschen, teilweise in Stärke bis
zu 500 Personen beiderseits der Grenze, besonders aber
auf westlicher Seite. Dabei kam es vielfach zu Provokationen und zu Versuchen, pioniertechnische Mittel zu zerstören. Schwerpunkte sind: Brandenburger Tor, Schillingstraße, Wollankstraße, Eberswalder- und Elsenstraße sowie
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Potsdamer Platz. Nach den bisherigen Feststellungen sind
an den Menschenansammlungen auch eine große Zahl von
Schaulustigen beteiligt. Der Zustrom von Menschen zum
Zentrum ist so stark, daß der Bahnhof Friedrichstraße teilweise gesperrt werden mußte.
• Grenzdurchbrüche an den schwach gesicherten Abschnitten, z.B. in den Grünanlagen zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz.
• Gruppen randalierender Jugendlicher, die vielfach provokatorische Handlungen durchführen.
• Die Handlungen des Gegners verstärken sich fortlaufend und tragen in zunehmendem Maße organisierten
Charakter.
12.30 Uhr: Unsere bewaffneten Organe sind im wesentlichen Herr der Lage. Menschenansammlungen wurden
zurückgedrängt, Diskussionsgruppen zerstreut und eine
31
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Flucht durch ein Fenster der in Ost-Berlin gelegenen Wohnung über die sich schon im französischen Sektor befindende Bernauer Straße
in den Westteil der Stadt; 17. August 1961
Reihe von Provokateuren festgenommen. In einigen Fällen wurden Kampfgruppen zum Einsatz gebracht. Zur
Anwendung kamen: Wasserwerfer und Nebelkerzen, das
Schießen mit Platzmunition wurde erlaubt. An einigen
Schwerpunkten, wie z.B. am Brandenburger Tor, wurde
die Sicherung an der Grenze zu den Westsektoren durch
Panzer der NVA verstärkt. Weitere Reservekräfte werden
an die Brennpunkte gegnerischer Tätigkeit herangeführt.
13.00 Uhr: In Klein-Machnow, Kontrollpunkt Trippel,
versammeln sich Menschen, die nach Westberlin wollen.
Agitatoren der Partei versuchen erfolgreich, die Menschengruppe aufzulösen. Ähnlich ist die Situation am
Kontrollpunkt Seehof (Teltow).
14.15 Uhr: Bislang wurden im Stadtgebiet 55 Personen
wegen provokatorischer Äußerungen und Handlungen
zugeführt, davon 10 westliche Staatsbürger.“
Bundeskanzler Adenauer berät sich unterdessen in seinem Wohnsitz Rhöndorf mit seinen engsten Vertrauten,
Staatssekretär Hans Globke und dem Vorsitzenden der
CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Heinrich
Krone, über das weitere Verhalten der Bundesregierung.
Ein sofortiger Flug des Kanzlers nach Berlin wird verworfen, weil man fürchtete, dadurch könne die Lage in Berlin
eskalieren. Der Bundeskanzler gibt am Sonntagnachmittag
eine zurückhaltende Erklärung ab: „Es ist das Gesetz der
Stunde,“ heißt es darin, „in Festigkeit, aber auch in Ruhe
der Herausforderung des Ostens zu begegnen und nichts
zu unternehmen, was die Lage nur erschweren, aber nicht
verbessern kann.“15
„16.25 Uhr: Die Menschenmenge vor dem Brandenburger
Tor ist auf 5.000 Personen angewachsen. Rowdy-Gruppen
werden von zwei Hundertschaften der Stummpolizei16 am
15 Siehe hierzu Schwarz (wie Anm. 9), S. 660 f.
16 Im damaligen Sprachgebrauch des SED-Regimes wurde die West-Berliner Polizei nach ihrem Präsidenten Johannes Stumm nur als
„Stummpolizei“ oder „Stupo“ bezeichnet. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass die Ost-Berliner Volkspolizei die einzig legitime
Berliner Polizei sei.
32
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Eine 77-jährige Frau flüchtet
aus ihrem Fenster in der Bernauer Straße in den Westteil
der Stadt. SED-Ordner versuchen sie in das Fenster wieder
hineinzuziehen, September
1961
Vordringen gehindert. Im Bereich Swinemünderstraße
gelang es 700 Personen, die Grenzsperren zu durchbrechen. Wasserwerfer wurden vom Leiter des Einsatzstabes
dorthin entsandt. Rowdy-Gruppen werfen Steine und
versuchen durch den Stupo-Kordon durchzubrechen.
17.15 Uhr: Die Gaststätten der Stadtbezirke Prenzlauer
Berg und Köpenick entwickelten sich seit dem frühen
Nachmittag zu Ausgangspunkten von Provokationen. Es
kam zu vereinzelten Schlägereien zwischen Kampfgruppenangehörigen und Provokateuren. Die Volkspolizei
schloß deswegen alle Gaststätten im Prenzlauer Berg. Aus
den Betrieben werden keine Vorkommnisse gemeldet. In
den Bezirken verläuft das Leben normal.
18.00 Uhr: Die Zahl der Festnahmen von Provokateuren
hat sich auf 105 erhöht.“17
Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt spricht am
Abend des 13. August um 18.30 Uhr vor dem Berliner
Abgeordnetenhaus. Seine Rede wird im Rundfunk übertragen. Brandt bezeichnet die „vom Ulbricht-Regime auf
Aufforderung der Warschauer Pakt-Staaten verfügten und
eingeleiteten Maßnahmen zur Abriegelung der Sowjetzone und des Sowjetsektors“ als empörendes Unrecht. Mitten durch Berlin sei „nicht nur eine Art Staatsgrenze, sondern die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen“
worden. Das Ulbricht-Regime setze sich erneut über
rechtliche Bindungen und Gebote der Menschlichkeit hinweg. „Der Senat von Berlin erhebt vor aller Welt Anklage
gegen die widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands, der Bedrücker
Ostberlins und der Bedroher West-Berlins.“ Brandt gibt
17 Stab PdVP Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lagebericht vom Vormittag. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr. 3/2.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (1913–1992) im Gespräch mit dem amerikanischen Captain Jack Davis, dem Kommandeur
der an der Friedrichstraße eingesetzten US-Panzereinheit, 24. August 1961
bekannt, dass zwischen der Mittagszeit des 12. August bis
um 10.00 Uhr am 13. August 3.190 Menschen aus Ostnach West-Berlin geflüchtet seien. In den darauffolgenden
Stunden hätten noch weitere 800 Flüchtlinge die bereits
gesperrte Sektorengrenze überwunden.18 „Sie haben nach
ihren eigenen Aussagen sich nur über Ruinengrundstücke,
schwimmend durch Kanäle und Flüsse oder wenig übersichtliche Geländestreifen in den freien Teil der Stadt
durchschlagen können.“ Brandt ruft sodann die WestBerliner zur Besonnenheit auf, bevor er das Wort „an
unsere Landsleute in der Zone und unsere Mitbürger in
Ostberlin“ richtet: „Lassen Sie sich nicht fortreißen, so
stark und berechtigt die Erbitterung auch sein mag. Ergeben Sie sich nicht der Verzweiflung. Noch ist nicht aller
Tage Abend. Die Mächte der Finsternis werden nicht siegen. Noch niemals konnten Menschen auf die Dauer in
der Sklaverei gehalten werden. Wir hier im freien Teil dieser Stadt und – ich bin tief überzeugt – die Menschen in
Westdeutschland. Wir alle werden Sie nicht abschreiben,
wir werden uns niemals mit der brutalen Spaltung dieser
Stadt, mit der widernatürlichen Spaltung unseres Landes
abfinden. Und wenn die Welt voll Teufel wär‘!“19
„18.55 Uhr: Die auf westlicher Seite des Potsdamer
Platzes aufgebaute Fernsehkamera wird abgebaut.
19.00 Uhr: Einsatzleitung Potsdam meldet, daß die Alarmierung der Kampfgruppen bei den Kampfgruppenbataillonen 51% beträgt. Bei den allgemeinen Hundertschaften 44,2%. Hauptgrund der ungenügenden Beteiligung ist
die Urlaubszeit und Wochenendfahrten. Es gibt auch zahlreiche Fälle, angefangen bei Ausflüchten bis zur offenen
Verweigerung. Generell ist die Stimmung aber gut. In
Ludwigsfelde, Kreis Zossen, verweigerten zwei Angehörige der Kampfgruppen, darunter ein Ingenieur, und weiterhin zwei freiwillige Helfer der DVP die Einsatzbereitschaft.
20.15 Uhr: Der Galvaniseur Erich Mälike, geb. 10.12.09 in
18 Im Juni 1961 waren 20.000 und im Juli 1961 sogar 30.000 Menschen aus der DDR in den Westen geflüchtet.
19 Willy Brandt: Erklärung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin vor dem Berliner Abgeordnetenhaus am 13. August 1961, siehe Brandt
(wie Anm. 13), S. 324 ff.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) während der Rundfahrt entlang der Sektorengrenze zu Ost-Berlin: Gespräch mit dem
Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer (re.), und Bürgermeister Franz Amrehn (li.) am Brandenburger Tor,
22. August 1961
Berlin, Mitarbeiter der Kreisleitung Mitte unserer Partei,
wurde festgenommen. Grund: er rief den in der Adalbertstraße wohnhaften Personen zu: ,Seht, das ist die Freiheit .
20.25 Uhr: An der Kontrollstelle 27 – Chausseestraße –
durchbrach gegen 18.55 Uhr ein heller Trabant mit großer
Geschwindigkeit die Kontrollstelle in Richtung Westberlin.
20.35 Uhr: Sammelmeldungen von Kontrollstellen: An
der Kontrollstelle 22 versuchten ca. 350 Personen die
Grenze von Westberlin aus zu durchbrechen. Der Durchbruch wurde durch Einheiten der Stummpolizei verhindert.
Gegen 20.10 Uhr durchbrach eine männliche Person die
Kontrollstelle 6 – Wilhelmsruh – über den Bahnübergang.
Gegen 20.15 Uhr wurden an der Kontrollstelle 34 (Unter
den Linden) starke Menschenansammlungen auf westlicher Seite festgestellt. Dabei wurde gerufen: ‚Macht das
Tor auf, Freiheit‘ usw.
20.50 Uhr Oberleutnant Hain – Abt K. – meldet, daß am
Potsdamer Platz vollkommene Ruhe herrscht. Hauptmann
Schulz – Abt. K – meldet, daß am Brandenburger Tor nur
noch vereinzelt Gruppen auftreten. Im Allgemeinen ist die
Lage ruhig.
21.20 Uhr: Gegen 21.00 fuhr an der Kontrollstelle 15 ein
Westberliner PKW, Typ Taunus, Pol.-Kennzeichen B-MC936, besetzt mit einem Mann, einer Frau und einem Kind in
Richtung Westberlin. Die Sicherung hat versagt.“20
Bis zu diesem Zeitpunkt waren laut dem Ost-Berliner Stabsbericht 189 Personen festgenommen worden. Sie
wurden in 60 Fällen beschuldigt, Handlungen gegen den
Staat unternommen zu haben, 29 Festnahmen erfolgten wegen Passvergehen, 9 wegen Widerstandsdelikten und 72 aus
„sonstigen Gründen“; 64 Personen wurden nach der Überprüfung ihrer Personalien wieder entlassen.
Die Männer der Stunde X
Alle Mitglieder des Kommandostabes, der den Mauerbau leitete, hatten eine totalitäre politische Sozialisation
hinter sich. Bis auf den fünfunddreißigjährigen Stabs-
20 Stab PdVP Berlin; Abteilung Information, 13. August 1961: Lagebericht vom Vormittag. BArch, DO 1/0.2.0./ Nr.3/2.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Nach den ersten Straßensperrungen: Kontakte von Müttern und ihren Kindern über den Stacheldraht hinweg, August 1961
oberst Horst Ende waren sie gestandene Kommunisten,
die schon als junge KPD-Mitglieder am Kampf gegen
die Weimarer Republik und die konkurrierenden Nationalsozialisten teilgenommen hatten.
Verteidigungsminister Hoffmann, Verkehrsminister Kramer, Staatssicherheitsminister Mielke, Polizeipräsident Eikemeier und der Erste Sekretär von Berlin, Paul Verner, hatten zwischen 1936 und 1939 auf Seiten der Internationalen
Brigaden im spanischen Bürgerkrieg gedient. Kramer,
Maron und Hoffmann gehörten zur Minderheit der deutschen Kommunisten, die einigermaßen ungeschoren die stalinistischen Säuberungen im sowjetischen Exil überstanden
hatten. Eikemeier, den die Gestapo 1940 in Frankreich einfing, verbrachte fünf Jahre im KZ Sachsenhausen, Honecker
saß neun Jahre in nationalsozialistischen Zuchthäusern und
Willi Seifert sogar zehn Jahre, davon sieben hinter dem
Stacheldraht des Konzentrationslagers Buchenwald.
Seifert nahm als Logistikchef in Honeckers Einsatzstab eine
Schlüsselfunktion ein. Er hatte sich seine Qualifikation für
diese Aufgabe buchstäblich im Konzentrationslager erwor36
ben. Im Unterschied zu den kommunistischen Spanienkämpfern verfügte Seifert über keine praktische militärische
Erfahrung und im Unterschied zu den Moskauemigranten
hatte er keine fundierte kommunistische Funktionärsausbildung durchlaufen. Seiferts logistische Fähigkeiten beruhten auf seiner Tätigkeit als Kapo der Arbeitsstatistik im
KZ Buchenwald. Dort war er von 1943 bis 1945 für den
Arbeitseinsatz von bis zu 60.000 Sklavenarbeitern der SS
zuständig.
Die SS-Wachmannschaften selbst konnten mit ihren
rund 4.000 Mann zwar die äußere Bewachung des Lagers und der Arbeitseinsätze bewerkstelligen, die innere
Ordnung und vor allem die Planung und Durchführung der Sklavenarbeit in den Thüringer Rüstungsbetrieben aber musste von den Häftlingsfunktionären
selbst gewährleistet werden. Die illegale kommunistische Lagerorganisation hatte in tödlichen Kämpfen den
kriminellen Häftlingen die interne Lagerverwaltung
aus der Hand genommen und alle Schlüsselpositionen
mit ihren Leuten besetzt.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Bildikone des Mauerbaus: Der 19-jährige Volkspolizist Conrad Schumann springt über den Stacheldraht in der Bernauer Straße und
flüchtet nach West-Berlin, 15. August 1961.
Der ehemalige Buchenwaldhäftling Eugen Kogon beschrieb in seiner 1946 erschienen Analyse „Der SS-Staat“
die innere Organisation des KZ Buchenwald. Die Aufgaben, die von der Arbeitsstatistik bewältigt werden mussten,
war demnach „schwer und undankbar“. Es kam vor,
schreibt Kogon, „daß sie binnen zweier Stunden Tausende
von Häftlingen bereitzustellen hatte“. Je mehr Häftlinge
zum Arbeitseinsatz in kriegswichtige Betriebe kommandiert wurden, um so wichtiger wurde die Häftlingsgruppe
in der Arbeitsstatistik. Sie konnten ihre Machtstellung, die
darin bestand, Häftlingen „gute“ oder „schlechte“ Kommandos zuzuweisen, segensreich oder verhängnisvoll nutzen. Hunderte wurden, wie Kogon schreibt, mit Hilfe der
Arbeitsstatistik gerettet, „teils indem sie von Todestransportlisten heimlich gestrichen, teils indem sie, wenn ihr
Leben im Stammlager gefährdet war, in Außenkommandos
geschmuggelt wurden. Viele Kameraden sind aber auch
durch dunkle Machenschaften und Intrigen an Orte inner-
und außerhalb der Lager gebracht worden, wo sie entweder
schweren Schaden nahmen oder zugrunde gingen.“21
Jorge Semprun war einer der jungen Kommunisten, die unter dem Schutzschirm der kommunistischen Lagerleitung Buchenwald überlebt haben. In seinem autobiographischen Roman „Was für ein schöner Sonntag!“ schildert Semprun seine erste Begegnung mit Willi Seifert in der
Baracke der Arbeitsstatistik folgendermaßen: „Seifert, der
Kapo der Arbeit, hat mich empfangen. Er hat mich in seinem Privatbüro empfangen und lange mit mir geredet.
Seifert war ruhig, präzis, autoritär. Oder vielmehr: er strahlte eine Autorität aus, die nicht nur von seinem Posten her
stammte, sondern auch aus seiner Natur. Ein Herr in dieser
Lagerwelt, das sah man. Er war sechs- oder siebenundzwanzig. Über dem roten Dreieck auf seiner gutgeschnittenen Jacke befand sich zusätzlich ein schmales Band. Rückfälliger.“ Semprun, der 1944 in der Arbeitsstatistik unterkam, beschreibt eine sehr aufschlussreiche Auseinander-
21 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, zit. nach der Ausgabe München 1974. Siehe dort zur Rolle der
kommunistischen Funktionshäftlinge insbes. S. 65f., 89f. u. 310 ff.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Beginn des Baus der Berliner Mauer am Potsdamer Platz; ein Volkspolizist bewacht den Stacheldrahtzaun vor West-Berliner Bürgern,
13./14. August 1961
setzung zwischen Seifert und einem SS-Unteroffizier, der
sich in der Arbeitsstatistik darüber beschwerte, dass seinem
Arbeitskommando in den deutschen Ausrüstungswerken
nicht genügend Häftlinge zugeteilt wurden. Seifert habe
sich in aller Ruhe die lautstark vorgetragene Beschwerde
angehört. „Danach hat er im gleichen Ton wie der SS-Unteroffizier, mit der gleichen Bissigkeit, der gleichen Schärfe –
allerdings zurückhaltender, beherrscht – dem SS-Mann erklärt“, er würde ihm erst genügend Arbeitskräfte zuweisen,
wenn sie künftig nicht mehr beim Arbeitseinsatz geschlagen
und misshandelt werden. „Seifert brüllte, und ich sagte mir,
daß dies böse enden würde. Aber der SS-Mann hat ihn brüllen lassen. Er hat den Kopf geschüttelt, hat nicht gewußt,
was er darauf erwidern sollte, er hat kehrtgemacht und ist
gegangen. Seifert hat ‚Achtung!‘ geschrien. Wir hatten erneut unsere Ärsche von den Stühlen erhoben. Das war Vorschrift. Der SS-Mann schloß die Bürotür hinter sich. [...] An
jenem Tag habe ich begriffen, woher er seine Autorität hatte.
Jahre des listigen Kampfes im Dschungel der Lager hatten
diesen eisernen, grimmigen Willen geprägt. Wir standen
still, wir betrachteten Seifert, und Seifert beherrschte uns
alle durch seine Größe. Zweifellos ein Herr.“
Robert Siewert, der im Baukommando I des Lagers
Buchenwald als Kapo zeitweise bis zu tausend Häftlinge
unter sich hatte, hielt im Januar 1954 in einem persönlichen
Rechenschaftsbericht an die Kaderabteilung des SEDZentralkomitees über sein Verhalten im KZ Buchenwald
fest: „Es war eine meiner wichtigsten Aufgaben, neu eingegliederte Genossen, die in der Regel dem Steinbruchkommando zugeteilt wurden, schnellstens aus diesem Kommando freizubekommen. Da das Baukommando I immer neuen
Bedarf an Arbeitskräften hatte, war es möglich, viele Genossen nach kurzer Zeit aus dem Steinbruchkommando
herauszuholen und dem Baukommando I zuzuführen. Dabei hat uns besonders Genosse Willi Seifert als Kapo der
Arbeitsstatistik geholfen.“22 Was Siewert in seinem Bericht
22 Die „Aussagen über Verhalten im KZ Buchenwald“ von Robert Siewert finden sich unter SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/ 155, Bestand KPD.
Robert Siewert (1887–1973) war bis 1950 Innenminister von Sachsen-Anhalt, verlor kurzzeitig seine Parteiämter in der SED wegen Zugehörigkeit zur KP-Opposition (KPO) und arbeitete nach seiner Rehabilitierung in leitender Position des DDR-Ministeriums für Aufbau.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Grenzsoldaten beim Bau des ersten Stacheldrahtzaunes, August 1961
freilich verschwieg, war die in diesem Zusammenhang nötige Auffüllung der Todeskommandos im Steinbruch mit anderen Häftlingen, die gegen die Kommunisten ausgetauscht
wurden.
Benedikt Kautsky, der ebenfalls in Buchenwald inhaftierte Sohn des sozialdemokratischen Theoretikers Karl
Kautsky, nannte die kommunistische Oberschicht im KZ
Buchenwald sarkastisch eine „Lageraristokratie“, die „ihre
Vorteile eifersüchtig wahrte und ihre Stellung ebenso gegen
oben – das heißt die SS – wie gegen unten – die Masse der
Häftlinge – behauptete“.23 Drastischer noch fiel ein erster
Bericht aus, den eine Untersuchungskommission der amerikanischen Streitkräfte nach der Befreiung des KZ Buchenwald am 14. April 1945 niederschrieb. „Dieser Bericht ist
sensationell in vielfacher Hinsicht“, meldeten die beiden
Offiziere nach einer ersten Befragung der befreiten Häftlinge nach Washington. Es sei nach ihrem ersten Eindruck über
ein „Konzentrationslager in einem Konzentrationslager zu
berichten, über ein Terrorsystem innerhalb eines Terrorsystems, über eine kommunistische Diktatur in einem
Vernichtungslager der Nazis“.
Das Lager „sei heute nur noch ein Sanatorium“, sagte
Willi Seifert 1944, als er Jorge Semprun in seinem Büro
im Barackenbau der Arbeitsstatistik zum Vorstellungsgespräch empfing, während er „mechanisch die Papiere
auf seinem Schreibtisch ordnete“. So mag es am Ende
der kommunistischen Funktionärsschicht vorgekommen sein, nachdem sie alle Führungspositionen der
„Lagerselbstverwaltung“ unter sich aufgeteilt hatte.
Im auffälligen Unterschied zu den anderen Häftlingen
traten sie im April 1945 gut gekleidet und genährt
ihren amerikanischen Befreiern gegenüber. Willi Seifert
machte in der SBZ sofort Karriere. Unter Erich Reschke, einem ehemaligen kommunistischen Lagerältesten
aus dem KZ Buchenwald, ernannten ihn die Sowjets
23 Benedikt Kautsky, Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern, Zürich
1946.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Diese und die nächste Abbildung: Ein junges Brautpaar, das im Westen geheiratet hat, steht verzweifelt vor dem Wohnhaus der Brauteltern, das im Osten liegt. Die Haustür des Elternhauses (nicht im Bild) ist bereits zugemauert und die Eltern stützen sich weinend auf
der Fensterbank ab, September 1961.
1946 zum stellvertretenden Präsidenten der Deutschen
Verwaltung des Inneren. Seiferts Kollege als zweiter
Stellvertreter von Präsident Reschke war der spätere
Staatssicherheitsminister Erich Mielke.
Auch in den Wochen nach dem 13. August kümmerte sich
Seifert um Alles und Jedes zur weiteren Grenzschließung in
Berlin. Die von ihm unterzeichneten Befehle enthielten bis
zur Zusammensetzung des Mörtels alle erdenklichen Details zur Durchführung des Mauerausbaus: „Betongüte
B 225, Putzmörtel MG II, MZ-Pfeiler MZ/MG III, Verlegemörtel MG II.“ Oder: „Die Chausseestraße ist mit einer
2,20 m breiten und 1,60 m hohen Mauer zu sperren. Dazu
ist die vorhandene Mauer 2,25 m hoch und 0,30 m breit einzubeziehen und von der rechten Straßenbegrenzung bis zur
Straßenbahninsel in gleicher Art durchzuführen, wobei hier
noch eine Verstärkung von 2,20 m Breite und 1,56 m Höhe
hinzukommt. Im Bereich der Straßenbahninsel ist eine 1,00
m breite Öffnung für Fußgänger vorzusehen. An der linken
Fahrbahnbegrenzung wird eine Durchfahrt von 3,00 m gelassen. Die Lücken zwischen Mauer und Gebäuden sind mit
einer doppelten Reihe von Igelsperren zu schließen.“ Zur
Oberbaumbrücke: „Zwischen den bereits vorhandenen
Sperrmauern auf der Oberbaumbrücke wird als zusätzliche
Sperrmaßnahme in gleicher Breite der Mauer eine doppelte
Igelreihung vorgesehen. Der linke Teil der Oberbaumbrücke wird nicht gesondert abgesperrt und dient dem
Fußgängerverkehr.“24
Im SED Zentralorgan „Neues Deutschland“ erschien am 31. Januar 1986 ein Nachruf auf „unseren Genossen“ Generalleutnant a.D. Willi Seifert. Sein ganzes Leben
habe er „den Zielen der revolutionären Arbeiterklasse und
24 Ministerium des Inneren, Stab; Willi Seifert: Planung des Bedarfs und Materials, Technik, Kräften und Zeit für die Sperrmaßnahmen an den
offenen und wichtigsten geschlossenen Kontrollpassierpunkten im Zusammenhang mit dem 13.8.1961 (Aktentitel). BArch Lichterfelde,
DO 1/0.2.0, Nr. 5/2.
40
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
ihrer marxistisch-leninistischen Partei gewidmet“, heißt es
darin. „Mutig und entschlossen, unter Einsatz seines Lebens, bewährte er sich in der Illegalität, hinter den Mauern
faschistischer Zuchthäuser und im Konzentrationslager Buchenwald als Kämpfer gegen den Faschismus.“25
nen Menschen hinter Mauern und Stacheldraht einzusperren.
Es gehört zu den bedrückenden Seiten der deutschen
Nachkriegsgeschichte, dass sich Überlebende der nationalsozialistischen Konzentrationslager wie Willi Seifert
am 13. August 1961 mit voller Überzeugung und an
entscheidender Stelle daran beteiligten, siebzehn Millio-
Die Spitzenfunktionäre um Walter Ulbricht befanden sich
in aufgeräumter Stimmung, als sie sich am 22. August 1961,
neun Tage nach der Grenzschließung, zur ersten regulären
Politbürositzung trafen und Bilanz zogen. Der „Tag X“ war
gut gelaufen. West-Berlin war mit Stacheldraht eingezäunt,
Selbstverpflichtung zum Schusswaffengebrauch
25 Zentralkomitee der SED: Nachruf auf Willi Seifert, in: Das Neue Deutschland vom 31. Oktober 1986.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Ein Maurer mauert ein Fenster an der Mauergrenze in
Ost-Berlin zu, 1961
und der „pioniermäßige Ausbau“ der Grenzanlagen ging
zügig voran. Als erstes ließ Walter Ulbricht eine Protesterklärung gegen den Berlin-Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson abstimmen. Johnson hatte
zwei Tage zuvor im Auftrag von Präsident Kennedy in
West-Berlin die amerikanischen Freiheitsgarantien für die
West-Sektoren der Stadt bekräftigt. Dieser Besuch von
Vizepräsident Johnson und die demonstrative Verstärkung
der amerikanischen Truppen sei der Beweis, „daß Westdeutschland und Westberlin Besatzungsgebiet und Westberlin keine freie Stadt ist“, erklärte das SED-Politbüro und
42
rief in völliger Verkennung der Lage dazu auf, „in Westdeutschland für die Freiheit Westdeutschlands von den Besatzungstruppen zu demonstrieren unter der Losung ‚Ami
go home‘“. Erst wenn die „amerikanischen Besatzungstruppen abziehen“, könne die „Selbstbestimmung des deutschen
Volkes“ verwirklicht werden.
Zur gleichen Zeit, als sich Konrad Adenauer am 22. August vor dem Brandenburger Tor über die neue Situation in Berlin informieren ließ, beschloss knapp zwei
Kilometer entfernt davon die SED-Führung, dass von
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
West-Berliner im Bezirk Wedding blicken und winken über die Mauer.
nun an auf Flüchtlinge an der innerstädtischen Grenze
geschossen werden sollte. Formal entschied das SEDPolitbüro zwar lediglich „die vorgesehenen Maßnahmen“ zum „Übergang von der 1. Etappe zur 2. Etappe
der Grenzsicherung“. Aus der erläuternden Anlage
zum Beschluss, die Walter Ulbricht verfasst hatte, geht
jedoch hervor, was die „2. Etappe“ bedeutete. „Nach
der verleumderischen Rede Brandts“ – gemeint war ein
Appell Willy Brandts an die DDR-Grenzer „Schießt
nicht auf die eigenen Landsleute!“ – sollte der SED-Propagandachef Albert Norden dafür sorgen, „daß durch
Gruppen, Züge oder Kompanien schriftliche Erklärungen abgegeben werden, um was es geht, und daß jeder,
der die Gesetze unserer Deutschen Demokratischen
Republik verletzt – auch wenn erforderlich –, durch
Anwendung der Waffe zur Ordnung gerufen wird“.
Gemeinsam mit den Erklärungen „sollen die Fotos der
jeweiligen Angehörigen der bewaffneten Kräfte veröf-
fentlicht werden“, die sich zum Schusswaffengebrauch
bekennen.26
Seit dem 13. August 1961 hatten zahlreiche Menschen die
noch nicht perfektionierten Absperrungen zwischen Ostund West-Berlin durchbrochen. Es waren aber auch schon
zwei Todesopfer zu beklagen. Eine Frau und ein Mann starben bei Fluchtversuchen in der Bernauer Straße. Sie stürzten in den Tod, während sie versuchten, aus den oberen
Stockwerken der im Ostteil gelegenen Häuser in den Westteil der Stadt herunterzuklettern. Der Schusswaffeneinsatz
gegen Flüchtlinge war jedoch bis dahin vermieden worden.
Jetzt sollte er zur verbindlichen Norm für die Grenztruppen werden – propagandistisch als Selbstverpflichtung verkauft.
Das Politbüromitglied Albert Norden holte sofort
nach der Politbürositzung von einigen Volkspolizeieinheiten diese Selbstverpflichtungen zum Schusswaffengebrauch
26 Protokoll Nr. 45/61 der Sitzung des Politbüros am Dienstag, dem 22. August 1961, SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/787, Bestand
Politbüro des ZK.
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
West-Berlin: Junge vor einer
Absperrung aus Stacheldraht
mit einer Ausgabe des Extrablatts der „Berliner Morgenpost“, 13. August 1961.
ein. Den Text der „freiwilligen“ Erklärung hatte Norden
eigenhändig verfasst. Er richtete sich in der Form eines „Offenen Briefes“ an den Regierenden Bürgermeister Berlins
und war adressiert an „Willy Brandt, Verwaltungsleiter,
z. Z. (noch) Rathaus Schöneberg“. Im ersten Abschnitt eines
von der „Einheit Heymann“ einstimmig angenommenen
Schreibens an Brandt hieß es: „Obwohl Sie für ein Gespräch
über Gewissen, Ehre, Menschlichkeit und Vaterlandsliebe
nicht gerade der geeignete Partner sind, veröffentlichen wir
diesen offenen Brief – nicht in der Hoffnung, Sie zu diesen
Tugenden zu bekehren, wohl aber für Augen, Ohren und
Verstand jener, denen Sie mit Ihrem verleumderischen
Geschwätz über Charakter, Zweck und moralische und
militärische Stärke der bewaffneten Organe der DDR Sand
in die Augen streuen wollen.“
44
Der Schutz des Friedens und die Aufgabe, „Kriegsbrandstifter zu zügeln, ist ein Akt höchster Menschlichkeit. Dem
Vaterland den Frieden zu retten, ist das Gewissenhafteste,
was es gibt. Und den größten Gefallen, den man unserem
sozialistischen Staat, aber auch unseren Brüdern und
Schwestern in Westberlin und Westdeutschland tun kann,
ist es, gesinnungslosen Lumpen wie Ihnen übers Maul zu
fahren, wenn sie sich zu mucken wagen.“ Man wisse „aus
der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, daß einst
die rechten SPD-Führer Braun und Severing, deren würdiger Nachfolger“ Brandt sei, „bedenkenlos auf Sozialdemokraten und Kommunisten schießen ließen“. Die „Einheit
Heymann“ erkläre hiermit, „daß wir nicht zuletzt hier sind,
um die Einhaltung der Gesetze der DDR zu sichern und,
wenn es erforderlich ist, durch Anwendung der Waffe dieEinsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Ausbau der Grenzanlagen in der Zimmerstraße in Kreuzberg, November 1961
jenigen zur Ordnung zu rufen, die diese Gesetze der
Arbeiter-und-Bauern-Macht mit Füßen treten wollen.“ Am
Ende des „Offenen Briefes“ wurde Willy Brandt aufgefordert, „machen Sie das einzige, was Sie den Berlinern Gutes
tun können: Treten Sie ab!“ Ähnliche Erklärungen ließ
Albert Norden noch am gleichen Tag von weiteren Volkspolizeieinheiten abstimmen. Auch sie veröffentlichte „Das
Neue Deutschland“ am folgenden Tag im Wortlaut samt
einem Foto der Grenzsoldaten, die zustimmend ihre Hände
hoben.27
27 „Gesinnungslosen Lumpen fahren wir übers Maul!“ In: Das Neue Deutschland vom 23.8.1961.
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Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Vor einer Einheit der Grenztruppen, die er am 22.
August besuchte, erklärte Norden in einer kurzen Ansprache: „Unser Stacheldraht, unsere Mauern kesseln
die Kriegstreiber ein, sie sind ein Wall für den Frieden.
Ihr steht an der Grenze zwischen Krieg und Frieden.“
Gegenüber einem Truppenteil, den er danach in Treptow aufsuchte, sagte Norden laut „Berliner Zeitung“
vom 23. August 1961: „Ihr, Genossen, steht hier an der
Grenze zwischen Krieg und Frieden, zwischen Imperialismus und Sozialismus. Wer es wagt, über die Grenze zu fassen, wird sich die Finger am Stacheldraht blutig reißen, wer seine Schweineschnauze in unseren
sozialistischen Garten steckt, wird sie blutig wieder
zurückziehen.28 Wir danken euch, Genossen, und wissen, daß sich die Arbeiterklasse auf Euch verlassen
kann. Ihr seid Fleisch vom Fleische der Arbeiterklasse
und Blut von ihrem Blute.“
Das erste Opfer des Schießbefehls
Am Nachmittag des 24. August 1961 ging beim Chef des
Stabes im Ministerium des Inneren, Willi Seifert, die Meldung 156 ein. Oberleutnant Loidolt teilte um 16.50 Uhr mit,
ein Sicherungsposten der Transportpolizei „hat von der SBahn-Brücke, die sich kurz vor dem Lehrter Bahnhof befindet, eine im Wasser schwimmende Person, die die Republik
verlassen wollte, erschossen. (Die Person ging nach Abgabe
des Schusses unter). Vermutlich handelt es sich um eine
Person aus der Charité.“ Drei Stunden später, um 19.55 Uhr,
informierte ein Leutnant Lange aus der Hauptverwaltung
der Deutschen Volkspolizei Willi Seifert mit Meldung 157
über den Tod des Flüchtlings: „Gegen 19.10 Uhr wurde die
Leiche in der Nähe der S-Bahnbrücke Humboldthafen
geborgen. Name: Litfin, Günter, 19.7.37 Bln.-Weißensee,
Heinersdorfer Str. 32. Diese Person hat versucht, die Spree
zu durchschwimmen und wurde noch am Spreeufer von den
Transportpolizisten gewarnt. Nachdem die Person in die
Spree gesprungen war, wurden von den Genossen
Warnschüsse abgegeben und danach Sperrfeuer gegeben.
Als die Person ca. 10 m vom Ufer des demokratischen Berlin
entfernt war, sackte sie ab, vermutlich infolge eines Treffers.
Auf westberliner Seite sammelten sich unmittelbar danach
ca. 200 Personen und 2 Stummpolizisten an.“29
Das erste Opfer infolge des Schießbefehls an der Berliner Mauer:
Günter Litfin (1937–1961)
Bild: Jürgen Litfin, Berlin
Günter Litfin wurde im Alter von vierundzwanzig Jahren das erste Opfer des Schießbefehls. Der Schneider
aus Weißensee arbeitete vor dem 13. August in einem
West-Berliner Atelier und hatte sich bereits eine Wohnung im Westteil der Stadt gesucht. Der Mauerbau zerstörte seine Lebensplanung. Litfin war wie sein Vater
und seine beiden Brüder Mitglied des illegalen CDUKreisverbandes Weißensee, der sich der Unterordnung
der Ost-CDU unter die SED-Blockpolitik verweigerte
und sich als Untergliederung der West-CDU betrachtete.30
Das Zentralorgan der SED „Neues Deutschland“ verhöhnte am 9. September 1961 den Ermordeten mit den Worten:
„Als der Zuhälter Horst Wessel bei der Ausübung seines
nicht ungefährlichen Berufs zu Tode kam, wurde er zum
geeigneten Objekt nazistischer Heldenverehrung. Warum
soll also der Homosexuelle mit dem Spitznamen ‚Puppe‘,
der in den Humboldthafen sprang, nicht zum Heros der
28 Es handelt sich hier um ein indirektes Stalin-Zitat. Der Diktator hatte 1934 auf dem XVII. Parteitag der KPdSU, dem „Parteitag der
Sieger“, erklärt: „Denjenigen aber, die versuchen sollten, unser Land zu überfallen, wird eine vernichtende Abfuhr zuteil werden, damit
ihnen in Zukunft die Lust vergehe, ihre Schweineschnauze in unseren Sowjetgarten zu stecken.“
29 Vgl. Ministerium des Inneren, Stab: Meldungen über eingesetzte Kräfte, Vorkommnisse etc. an den Stellvertreter des Ministers und Chef
des Stabes Willi Seifert. BArch Lichterfelde, DO 1/0.2.0. Nr. 4/2.
30 Nach Günter Litfin ist heute in Weißensee eine Straße und in Berlin-Mitte eine Gedenk- und Informationsstätte benannt, am Ort seiner
Ermordung befindet sich ein Gedenkstein.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Der Mauerbau aus Ost- und Westperspektive
Frontstadt werden? Jeder soll die Helden haben, die er wert
ist.“
Die hetzerische Tonlage gegenüber Andersdenkende kennzeichnete auch die Binnenmobilisierung in den
gleichgeschalteten Massenorganisationen des SED-Regimes. Eine besondere Rolle spielte dabei die „Kampfreserve“
FDJ. Dem Jugendverband fiel die Aufgabe zu, sofort nach
der Grenzschließung den Konformitätsdruck in seinem
Verantwortungsbereich schlagartig zu erhöhen. Nachdem
das Politbüro am 22. August 1961 den Schießbefehl und
vierzehn weitere Beschlüsse „zur Sicherung der Grenzen
der DDR“ ohne Diskussion verabschiedet hatte, wurde eine
Delegation des FDJ-Zentralrats, der neben dem FDJVorsitzenden Schumann auch der Nachwuchskommunist
Egon Krenz angehörte, in den Sitzungssaal gebeten. Walter
Ulbricht dankte den Jugendfunktionären für die vorzügliche Arbeit der neu gebildeten FDJ-Ordnungsgruppen, die
seit dem 13. August „als Helfer und unter Leitung der
Volkspolizei besonders in den Städten“ zum Einsatz kamen.
Die Aufgaben der FDJ-Ordnungsgruppen hatte der FDJVorsitzende Horst Schumann in einem „Kampfaufruf“ am
13. August 1961 wie folgt beschrieben: „Sichern helfen, daß
– weder in Kinos noch in Gaststätten oder anderswo – Provokateure oder Dummköpfe ungestraft ihr Unwesen treiben können; besonders sind Diskussionsgruppen zu unterlassen. Mit Provokateuren wird nicht diskutiert. Sie werden
erst verdroschen und dann staatlichen Organen übergeben.
Jeder, der auch nur im geringsten abfällige Äußerungen über
die Sowjetarmee, über den besten Freund des deutschen
Volkes, den Genossen N. S. Chruschtschow oder über den
Vorsitzenden des Staatsrates Genossen Walter Ulbricht von
sich gibt, muß in jedem Falle auf der Stelle den entsprechenden Denkzettel erhalten.“31
Infolge dieser Direktive haben Schlägertrupps der
FDJ in den ersten Wochen nach dem Mauerbau manche
Rechnung mit Kritikern des SED-Regimes beglichen. In
Ost-Berlin galt das insbesondere für Oberschüler und
Studenten, die bis zum 13. August West-Berliner Schulen
und Universitäten besucht hatten. Das Politbüro der SED
entschied am 22. August nämlich auch darüber, was mit diesen Jugendlichen zu geschehen hatte. Ehemalige Westschüler der Klassen 1 bis 10 seien an den allgemeinbildenden
Oberschulen einzuschulen, Schüler der Klassen 11 und 12
„in der Regel einem Lehr- bzw. Arbeitsverhältnis zuzuführen, Aufnahmen in die Erweiterte Oberschule sind nur in
ganz besonders gelagerten Einzelfällen zulässig. Das sind
solche Fälle, wo es im gesellschaftlichen Interesse zweckmäßig und angebracht ist, die Einschulung in einer erweiterten Oberschule vorzunehmen.“ Schülern der Klassen 13
sei ein Arbeitsverhältnis zu vermitteln, Studenten Arbeitsplätze in Volkseigenen Betrieben außerhalb Berlins. „Diejenigen, die provokatorisch auftreten, werden in einem Arbeitslager erzogen.“32 Die erwogenen Arbeitslager wurden
dann doch nicht eingerichtet, schließlich konnte das SEDRegime nach dem Mauerbau die DDR-Bevölkerung „störfrei“ ihrer kommunistischen Erziehungsdiktatur unterwerfen.
Ein nachhaltiger Erfolg war dem erzwungenen DDRSozialismus trotz der 28 Jahre andauernden Einmauerung der eigenen Bevölkerung nicht beschieden. Über
drei Millionen Menschen haben zwischen 1949 und 1989
die DDR verlassen, weil sie mit den politischen Verhältnissen und den Lebensbedingungen in diesem Staat
nicht einverstanden waren.
Die SED konnte weder zu Beginn, in der SBZ und GroßBerlin noch am Ende, in der noch existierenden DDR als
SED/PDS eine freie Wahl gewinnen. Eine Mehrheitsloyalität gegenüber dem SED-Regime hat zu keinem Zeitpunkt
existiert und für die Mehrheit der DDR-Bürger blieb die
Bundesrepublik über alle Jahre in politischer, kultureller
und vor allem wirtschaftlicher Hinsicht der positiv besetzte Vergleichsmaßstab gegenüber den Verhältnissen im SEDStaat.
Die Nationale Volksarmee der DDR bereitete insgeheim bis in die achtziger Jahre eine militärische Besetzung
des Westteils der Stadt vor. Die letzten Besatzungspläne, in
die das Ministerium für Staatssicherheit bereits namentlich
seine Kommandanten für die West-Berliner Bezirke samt
Stellvertreter und Sekretärinnen eingetragen hatte, stammen
aus dem Jahr 1988.
31 Horst Schumann, Sekretariat des Zentralrats der FDJ: Kampfauftrag für die Bezirksverbände der FDJ in den nächsten Tagen vom
13. August 1961. SAPMO-BArch, DY 24, FDJ, ZAG 3.753/I.
32 Vgl. Protokoll Nr. 45/61 der Sitzung des Politbüros (wie Anm. 26).
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Das zerrissene Dreiländereck „Bayern – Thüringen – Sachsen“:
Über die Bedeutung der
einstigen Zonenränder
für das wiedervereinigte
Deutschland
Von Miriam Müller
Wachturm an der deutsch-deutschen Grenze, 1961
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Foto: Aufnahme der Bayerischen Grenzpolizei
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
„Zur Unterbindung der feindlichenTätigkeit […] Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der DDR einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt,
wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.“1
Beschluss des Ministerrates der DDR vom 12. August 1961
„Die haben immer gesagt: antifaschistischer Schutzwall. Aber die ganze Sache war verkehrt herum gebaut.
[…] Die [Mauer] war so gebaut, dass von unserer Seite [der DDR] praktisch keiner rüber konnte. Aber von
drüben [aus Westdeutschland] hätte alles rüberrollen können.“2
Zeitzeugenbericht eines NVA-Grenzsoldaten über die Mauer in Berlin
Am 13. August 1961 startete unter der Einsatzleitung Erich
Honeckers um Mitternacht die „Aktion X“. Der spätere
Chef der DDR war zu diesem Zeitpunkt bereits ein wichtiger Mann im SED-Staat und seit 1958 als Sekretär des Zentralkomitees (ZK) zuständig für Sicherheitsfragen. Ziel der
Aktion war es, entlang der Grenze durch Berlin eine Mauer
zu errichten, um die Flüchtlingsexplosion von Ost- nach
West-Berlin zurückzudrängen. Dafür veranlasste Honecker
über 7.000 Mann der Nationalen Volksarmee (NVA) mit
Panzern und Panzerfahrzeugen entlang der zukünftigen
Mauer und um ganz Berlin herum in Stellung zu gehen. Die
Staatsführung der DDR befürchtete zu diesem Zeitpunkt
die Gegenwehr der Bevölkerung, konnte aber auch ein Eingreifen der drei Westalliierten USA, Großbritannien und
Frankreich nicht ausschließen. Der Beginn der Bauarbeiten
bedeutete gleichzeitig das Ende des alltäglichen Berliner
Pendelverkehrs zwischen Ost und West mit über einer halben Million Menschen.3 Nicht wenige nutzten den letzten
Tag vor der Schließung der Grenze, um mit der S-Bahn nach
West-Berlin zu fliehen. Der Berliner Mauerbau mit Stacheldraht und Hohlblocksteinen markierte als pars pro toto den
Abschluss der sich seit der Staatsgründung vollziehenden
Abriegelung der DDR nach Westen. Denn auch die innerdeutsche Grenze wurde von der Ostsee bis zum Vogtland
zwar ohne Mauer, aber nicht weniger unmenschlich ausge-
baut, die Abwehrmechanismen immer engmaschiger, die
Grenze immer undurchdringlicher. Entgegen der offiziellen
Proklamationen der SED (Sozialistische Einheitspartei
Deutschlands) und ihrer Organisationen richteten sich die
Grenzanlagen allerdings lediglich in zweiter Instanz gegen
die Bedrohung der DDR von außen durch den ungeliebten
Zwillingsbruder Bundesrepublik und seine Schutzpatrone
im Westen.4 Hauptrichtung der Sicherungsmaßnahmen war
das Staatsgebiet der DDR und ihre Kernaufgabe, die Verhinderung „unerlaubter Grenzübertritte“ aus Richtung des
eigenen Staatsgebietes. Da in der DDR die für eine Urlaubsreise oder gar Auswanderung benötigten Reisepapiere nur
selten gewährt wurden, bedeutete dies de facto die Inhaftierung eines ganzen Volkes. Das Sicherungssystem der SED
entfaltete nun seine volle Effizienz durch Kontrolle, Überwachung und Abschreckung.
Von diesem Monstrum technischer und personeller
Sicherung ist im vereinten Deutschland – von unzähligen Mauerresten an historischer oder auch weniger
historischer Stelle einmal abgesehen – lediglich das
„grüne Band“ geblieben: Ein einzigartiger Naturschutzraum, der sich vom Priwall bis nach Prex erstreckt. In diesem Deutschland wächst nun eine junge
Generation heran, die keine einzige passpflichtige Lan-
1 Beschluss des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. August 1961, in: Neues Deutschland vom 13.08.1961, Nr.
222, S. 1.
2 Zeitzeugenbericht eines Grenzsoldaten im Berlin-Stadtführer „Die Mauer entlang. Auf den Spuren der verschwundenen Grenze“, Berlin
1996, S.106, nach: Edgar Wolfrum, Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009, S. 78f.
3 Nach: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 2009, S. 20.
4 Vgl. Beschluss des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. August 1961, in: Neues Deutschland vom 13.08.1961,
Nr. 222, S. 1.
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Markusgrün, Mai 1966
Foto: Deutsch-Deutsches Museum
Mödlareuth, Fotograf: Achim Kilian
desgrenze mehr überqueren muss, um zum Mittelmeer
zu gelangen. Jugendlichen in Ost und West erscheint
die Zeit der deutschen Teilung als ein Anachronismus,
eine überkommene Vergangenheit, die sie nicht mit
dem Hier und Jetzt verbinden können und wollen.5
Dennoch ist von dieser Grenze mehr geblieben, als heute
sichtbar ist: Entlang ihres Weges teilte sie nicht nur das
Land, sondern vor allem die Menschen. Kolonnenweg und
Stacheldraht zerrissen die Bande der über Jahrhunderte
gewachsenen Kulturräume6 – wie zum Beispiel im Dreiländereck zwischen Bayern, Thüringen und Sachsen. Jenseits
seiner politischen Grenzen war das dortige Gebiet durch
Wanderungsbewegungen, zeitweilige territoriale Zusammengehörigkeiten und den gemeinsamen Naturraum wirtschaftlich und gesellschaftlich eng verbunden. Nun geht mit
dem Aussterben der Zeitzeugen des einstigen deutschen
Reiches auch die Erinnerung an diese überregionale Verflechtung verloren: Die Menschen sind sich über die Zeit
fremd geworden.
Eine Mehrheit in Ost und West sieht im Jahr 2009 nach
einem seit 1990 andauernden Trend des Zusammen-
wachsens wieder mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen.7 Auch über
zwei Jahrzehnte nach dem Kitten der deutschen Einzelteile wird das Land im alltäglichen Sprachgebrauch
zunächst nach Ost und West unterteilt und nicht, wie
einst, nach Nord und Süd.
In der deutschen Geschichtswissenschaft wie auch in den
Gesellschaftswissenschaften spielten und spielen Grenzen
als Analysekategorie zumeist eine nachgeordnete Rolle.8
Doch insbesondere für die Geschichte der deutschen Teilung und ihre Auswirkungen auf das deutsche Zusammenwachsen müssen die Folgen von „Grenzziehung“ und dem
Leben mit der Grenze zumindest mitgedacht werden. Der
folgende Aufsatz will nun zu den Anfängen der Teilung der
einstigen Kulturräume durch die innerdeutsche Grenze
zurückkehren und den fortschreitenden Zerfall der regionalen Bindungen bis in die sechziger Jahre hinein exemplarisch nachzeichnen. Zunächst werden die geographischen,
historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten des heutigen Dreiländerecks Bayern – Thüringen – Sachsen herausgearbeitet, um die Kennzeichen des Kulturraums zu verdeutlichen. Die Bezüge zur ehemaligen Tschechoslowaki-
5 Dies wurde in über 50 Klassengesprächen mit Schülerinnen und Schülern der 8. bis 10. Jahrgangsstufe aller Schulformen aus Thüringen,
Sachsen-Anhalt und Bayern zur aktuellen Studie des Forschungsverbundes SED-Staat „Kenntnisse, Bilder, Deutungen – das zeitgeschichtliche Bewusstsein Jugendlicher in Deutschland“ von Januar bis Oktober 2010 deutlich.
6 Begriffsverwendung nach: Gerhard Wolf, Formationen, Transformationen und Interaktionen von Kulturräumen in historischer Perspektive, Research Perspectives of the Max-Planck-Society 2010: Cultural Spheres, in: http://perspectives.mpg.de/75728/hm04_Cultural
Spheres-basetext.pdf (Stand: 21.12.2010)
7 Vgl. Klaus, Schroeder, Das neue Deutschland, Berlin 2010, S. 54.
8 Vgl. Hans Medick, Grenzziehungen und Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Monika Eigmüller/Georg Vobruba (Hg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des
Raumes, Wiesbaden, 2006, S. 38f.
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
„Himmelreich“ bei Heinersgrün, Mai 1966
Foto: Deutsch-Deutsches Museum
Mödlareuth, Fotograf: Achim Kilian
Fichtelsee bei Heinersgrün
Foto: Deutsch-Deutsches Museum
Mödlareuth, Fotograf: Achim Kilian
schen Republik (ČSR)9 können im Rahmen dieses Textes lediglich Erwähnung finden, wobei eine weitere Untersuchung jedoch vielversprechend scheint. Anschließend wird
der Ausbau des Grenzregimes als das schrittweise Kappen
aller Verbindungen der gemeinsamen Bezüge des Kulturraumes dargestellt. Zentral sind hierbei die Auswirkungen
auf die historisch gewachsenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bindungen. Die Entwicklung von Grenzbefestigung und -kontrolle wird im Zusammenhang mit der
politischen Entwicklung erfasst und die Auswirkungen des
Berliner Mauerbaus auf die Grenzregion DDR –Bayern ge-
sondert in den Blick genommen. Konkretes Beispiel der
unmittelbaren Auswirkungen des Grenzregimes auf die Bevölkerung in der Region ist im Folgenden das Dorf Mödlareuth. Die Bewohner des kleinen Ortes hatten die Teilung
auf besonders schmerzliche Weise erfahren müssen, da die
Grenze die Dorfgemeinschaft über vierzig Jahre trennte
und so Familien und Freunde voneinander fernhielt. Den
Abschluss der Analyse bildet ein Ausblick auf die Auswirkungen der Zerstörung der historischen, grenzübergreifenden Kulturräume auf das wiedervereinigte Deutschland.
9 Ab 1960 Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR).
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Siedeln und Leben in einem Kulturraum:
eine gemeinsame Herrschafts- und Wirtschaftsgeschichte
Der Begriff des „Kulturraums“ beinhaltet ein interdisziplinäres und stark umstrittenes Konzept gemeinsamer
Kennzeichen „zugleich kohärenter [und] in sich heterogener Räume“, die zwar in vielen Belangen verschieden,
jedoch eng miteinander verbunden und in ständigem
Austausch begriffen sind.10 Ursprünglich als Werkzeug
der Anthropologie und Ethnologie entwickelt, wurde es
durch die „Wissenschaft“ der Nationalsozialisten in der
Argumentation ihrer Rassenideologie missbraucht.
Seither überdauerte es im Bereich der Regionalstudien
und -geschichte und erlebt nun in der Globalisierungsforschung seinen „zweiten Frühling“.
Erkenntnisgewinn verspricht das Konzept grenzübergreifender Kulturräume jedoch weiterhin besonders auf der
regionalen Ebene, denn hier werden der Austausch von
Menschen, Gütern und Ideen und seine Auswirkungen auf
eine Region konkret begreifbar. Im Folgenden soll nun die
Entstehung des Kulturraums im Dreiländereck Bayern –
Thüringen – Sachsen überblickartig nachvollzogen werden.
Der Fokus liegt dabei auf den Gemeinsamkeiten bzw.
Verbindungen durch Geographie, Migration, Handel und
Sprache.11
Verbindungen jenseits der Territorialzugehörigkeit: ein gemeinsamer Naturraum
Topographische Karten mit der inzwischen historischen
Grenze zwischen Bayern und der DDR rufen die deutsche
Teilung so ins Gedächtnis, wie sie vor allem der Wanderer
zu Fuß in eindrucksvoller Weise erleben konnte: Vom nordwestlichen Bayern kommend endet ab 1952 der Weg durch
die Rhön am Querenberg im Dreiländereck zwischen Bayern, Hessen und Thüringen vor den Sperranlagen der DDR.
Auch durch das sich im Osten anschließende Grabfeld, im
frühen Mittelalter Grenzgau der Franken, zieht sich die innerdeutsche Grenze. Heute reicht der thüringische Teil des
Grabfeldes von der Werra bis zu den Städten Meiningen und
Hildburghausen, der bayerische Teil gehört zu Unterfranken mit seinem regionalen Zentrum Bad Königshofen.
Weiter nach Osten schließt sich in Bayern das Coburger
Land an. Erst 1920 hatte der damalige Freistaat Coburg
gegen den Beitritt zum Freistaat Thüringen gestimmt und
damit den Weg für die Angliederung an Bayern geebnet.
Selbst der Frankenwald, der sich auf bayerischer Seite über
den Landkreis Kronach bis in den Hofer Kreis erstreckt,
findet seine Fortsetzung auf dem Gebiet der einstigen DDR
und geht in Richtung Thüringen ins Thüringer Schiefergebirge über. Bei Bad Steben im Landkreis Hof passiert die
Saale, die im Fichtelgebirge bei Zell ihren Ursprung findet,
die innerdeutsche Grenze, durchquert Jena, Naumburg und
Halle, bis sie schließlich in die Elbe mündet.
Das heutige Thüringen und Sachsen liegen in einem
von Erzgebirge, Thüringer Wald, Harz und Fläming
umschlossenen Naturraum; beide Länder sind voneinander durch keine natürliche Grenze, sondern lediglich
durch Territorialzugehörigkeit, Kultur und Mundart
geschieden. Karlheinz Blaschke, einer der wenigen
Regionalhistoriker der DDR, sieht Sachsen und Thüringen „im Laufe vieler Jahrhunderte mehr verbunden
als getrennt“.
Dieser topographisch geschlossene und kulturell, gesellschaftlich und wirtschaftlich eng verbundene Raum sei dabei in seinen Außenbeziehungen „besonders auf die Verbindung nach dem Süden“,12 dem heutigen Bayern, orientiert
gewesen. An dieser Stelle muss auf die von Bayern lange Zeit
unabhängige politische Entwicklung des heutigen Nordbayern hingewiesen werden: Erst nach den napoleonischen
Kriegen ein Teil Bayerns, wurde die Region über Jahrhunderte von „verwirrende[r] Vielfalt und Zersplitterung“13 geprägt. Der Raum entwickelte sich ohne größere, geschlossene Territorien mit starken Spannungen zwischen den
wirtschaftlichen und religiösen Zentren Nürnberg, Bamberg, Würzburg und Ansbach. Die enge Verbindung zwischen Franken und dem heutigen Thüringen und Sachsen
belegt auch Sebastian Münsters Kartenwerk, in dem das
Gebiet Thüringen und Meißen bis nach Bamberg als geographische Einheit verzeichnet ist. Münster trägt damit vor
allem den Lebensumständen der Menschen und ihren historisch gewachsenen Verbindungen, weniger den tatsächlichen politischen Gegebenheiten dieser Zeit Rechnung. Die
einzelnen Gebiete des Dreiländerecks sind vor allem durch
Siedlungsbewegungen kulturell eng verbunden, wie z.B. die
große Zahl thüringischer Ortsnamen in Franken zeigt.
Noch bis zum ersten Drittel des 6. Jahrhunderts n. Chr.
erstreckte sich das thüringische Königreich von Magdeburg
10 Wolf (wie Anm. 6), S. 1.
11 Auf die Verbindungen im Bereich der bildenden und darstellenden Kunst kann aufgrund des Textumfangs leider nicht eingegangen werden.
12 Karlheinz Blaschke, Politische Geschichte Sachsens und Thüringens. Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 13, München 1991,
Einleitung.
13 Peter Claus Hartmann: Bayerns Weg in die Gegenwart. Vom Stammesherzogtum zum Freistaat heute, Regensburg 1989, S. 142.
14 Ebd., S. 75.
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Bauarbeiten an der Saalebrücke bei Hof, September
1964
Foto: ullstein bild
Der Grenzübergang Saalebrücke bei Hof Anfang der
siebziger Jahre
Foto: ullstein bild
bis an die Donau und auch das „siedlungsfeindlich[e]“,14
dicht bewaldete Franken war von Thüringern besiedelt.
531 fiel das südliche Gebiet bis an die Unstrut an das
Frankenreich. Im folgenden Jahrhundert siedelten sorbische Stämme aus Böhmen östlich der Saale im heutigen
Thüringen und Fichtelgebirge, wie zahlreiche Ortsnamen in
Nordostoberfranken belegen.15
Die deutsche „Kleinstaaterei“ führte auch im Dreiländereck zu wiederholten Herrschafts- und somit auch
Konfessions- und Zugehörigkeitswechseln der örtlichen
Bevölkerung.
Zahlreiche politische und kirchliche Verbindungen entstanden in dieser Zeit mit und ohne räumlichen Zusammenhang:
Im Frühmittelalter fand beispielsweise eine Ausdehnung
herrschaftlicher Gewalt vom bayerischen Maingebiet bis
nach Thüringen statt und bayerische Siedler zogen bis ins
sächsische Vogtland. Das heutige Grenzgebiet Nordostbayern, Südwestthüringen und Südostsachsen unterstand vom
15 Vgl. z.B. Reinhard Höllerich, Historisches Ortsnamenbuch von Bayern. Oberfranken Band 3: Rehau – Selb, München 1977, S. 21–26.
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Der historische Raum Nordostbayern – Südwestthüringen und Südostsachsen auf einer historischen Karte ca. aus dem Jahr 1885
Karte: Mapp. XI, 92 C–G, Bayerische Staatsbibliothek
11. bis 16. Jahrhundert der Verwaltung der Vögte von Weida, Gera, Plauen und Greiz und bis heute wird vom bayerischen, thüringischen und sächsischen „Vogtland“ gesprochen.16 Sebastian Münster zeigt in seiner „Cosmographia“17
auf, dass der Begriff „Vogtland“ für die gesamte Region bis
nach Franken hinein verwendet wurde: Den Raum zwischen Coburg, Kronach (Cronach) und Hildburghausen/
Schleusingen (Schleusung) bezeichnet er als „Voitland“. Die
Besiedlung von Vogtland und Erzgebirge im 12. Jahrhundert erfolgte vorrangig durch Bauern aus Oberfranken. Ab
154718 begann mit der festen Etablierung des Kurfürstentums Sachsen auch die schrittweise territoriale Konsolidie-
rung Sachsens. Gleichzeitig wurde mit dem Ernestiner
Herzogtum und seiner Hauptstadt Weimar der Grundstein
der politischen Eigenständigkeit Thüringens gelegt. Das
fränkische Gebiet hingegen blieb politisch und deshalb auch
konfessionell ein Flickenteppich. Die religiösen Vorstellungen Martin Luthers breiteten sich von Sachsen und Thüringen als „Ursprungsland der Reformation“ von Nürnberg19 über ganz Franken aus und führten zu seiner konfessionellen Durchmischung: Bis zur Angliederung des Gebietes an Bayern bestimmten die Herren der „ungeschlossenen
Reichslande“ (lat. territoria non clausa20) die Konfession
ihres Landes und auch heute bildet der fränkische Raum mit
16 Jörg Maier, Universität Bayreuth (Hg.), Das geographische Seminar Spezial. Exkursionsführer Oberfranken, Westermann Verlag, Braunschweig 2007, S. 286.
17 Sebastian Münster, Cosmographia oder Beschreibung der gantzen Welt, Faksimile nach dem Original von 1628, Lindau 1984.
18 In der Schlacht vom Mühlberg 1547 gelingt dem Albertiner Moritz die Wiederherstellung der Einheit wettinischen Länder und er erringt
die Kurwürde für sich. Vgl. Blaschke (wie Anm. 12), S. 23f.
19 In Franken hatte die Reformation in Nürnberg ihren Ursprung und wurde seit 1527 vor allem durch Markgraf Georg von AnsbachKulmbach verbreitet.
20 Vgl. Medick (wie Anm. 8), S. 41.
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
einer, wenn auch kwnappen, protestantischen Mehrheit im
katholischen Bayern noch immer einen konfessionellen
Sonderfall.21
Die Entwicklung der Infrastruktur und
wirtschaftliches Zusammenwachsen
Wie stark sich bereits vor Jahrhunderten der gewerbliche
und wirtschaftliche Austausch zwischen Bayern, Sachsen,
Thüringen und Böhmen intensivierte, zeigt ein Blick auf
den Ausbau des Wegnetzes und der Handelsrouten. Ende
des 15. Jahrhunderts verlief neben den reitenden Posten
nach Prag aus Süden über Erding und aus Westen von
Nürnberg über Waldmünchen lediglich ein weiterer reitender Posten von Bamberg, über Lichtenfels, Kulmbach nach
Eger und weiter nach Prag.22 Richtung Leipzig und Dresden
führten der Posten des Landsberger Bundes und ein reitender Posten von München über Nürnberg und Truppach.
Ende des 18. Jahrhunderts waren diese Strecken aber bereits
nicht nur alle als fahrende Posten, also mit befestigten Straßen ausgebaut, sondern unzählige weitere reitende Posten
von Bayern gen Norden und Nordosten eingerichtet und
zusätzliche fahrende Posten erschlossen. Diese Verbindungen hatten sich nach und nach durch die Wanderung von
Siedlern und Kaufleuten entwickeln können, vorrangig aus
der fränkischen Reichsstadt Nürnberg nach Norden und
Nordosten: So bezeichnet Albert Herzog zu Sachsen die
Nürnberger Kaufleute ab ca. 1450 als die „Vertreter fremder Kaufleute schlechthin“23 in der Messestadt Leipzig.24
In Zusammenhang mit dem fränkischen Engagement
in der Ober- und Niederlausitz sowie dem Bergbau
im Erzgebirge fand ein reger wirtschaftlicher, aber auch
personeller Austausch zwischen Franken und ganz
Sachsen statt. In den folgenden Jahrhunderten setzte
sich diese Entwicklung fort und in Thüringen, Sachsen,
Nordböhmen und Oberfranken bildete sich ein
geschlossener Wirtschaftsraum heraus.25
Das erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu Bayern gehörige Oberfranken bezog seine Rohstoffe bis 1945 aus dem
Norden und Nordosten und setzte den Hauptteil seiner
gefertigten Konsumgüter innerhalb dieses mitteldeutschen
Wirtschaftsraumes ab. So wurden Anfang des 19. Jahrhunderts beispielsweise 80 Prozent der Bierproduktion der Hofer Großbrauereien nach Sachsen und Böhmen geliefert.26
Die wirtschaftskulturelle Nähe wird z.B. im gemeinsamen
Schwerpunkt Textil- und Keramikproduktion entlang der
Achse der Städte Bayreuth, Hof, Plauen und Chemnitz
deutlich.27 Mit fortschreitender Industrialisierung verteilten
sich die Fertigungsstufen einzelner Produkte je nach Spezialisierung im gesamten Raum und erzeugten ein dichtes
Beziehungsgeflecht wirtschaftlicher Abhängigkeiten.
Ausfluss des Austausches von Menschen
und Waren: eine gemeinsame Sprache
„[D]enn das Menschlichste, was wir haben, ist doch die
Sprache.“28
Theodor Fontane (1819–1898)
Der bis heute lebendige Ausdruck der kulturellen Nähe entlang der einstigen Grenze zwischen Bayern und der DDR
ist die Ähnlichkeit der Sprechweise. Trotz der hörbaren
Unterschiede im Klang überwiegen die Gemeinsamkeiten
in Lautfärbung und Ausdrucksweise im Dreiländereck. Wie
Steger im ersten derart umfassenden Werk zu den Mundarten „im östlichen Franken“ belegt, liegt innerhalb der
Verbindungslinien zwischen den Orten Eisfeld/Thüringen,
Greiz/Thüringen, Selb/Oberfranken, Weißenburg/Mittelfranken und Uffenheim/Mittelfranken29 eine sprachliche
Raumeinheit der Mundart Oberostfränkisch.
21 Die Annahme, dieses Verhältnis sei durch den Zuzug der Vertriebenen nach 1945 zu Gunsten der Protestanten verschoben worden, ist
nachweislich falsch. Die Konfessionsverhältnisse der Einheimischen entsprechen beinahe denen der Ende der vierziger Jahre ankommenden
Flüchtlinge. Allerdings findet in Bayern in der Folge wie auch in ganz Deutschland eine konfessionelle Durchmischung der Landkreise
statt. Vgl. Martin Kornrumpf, In Bayern angekommen. Die Eingliederung der Vertriebenen. Zahlen – Daten – Namen, München 1979,
S. 168.
22 Vgl. Karte 4: Bayerische Verkehrskarte 1551–1650 und Karte 6: Bayerische Verkehrskarte 1764, in: Eckart Schremmer, Die Wirtschaft
Bayerns. Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung. Bergbau. Gewerbe. Handel, München 1970.
23 Albert Herzog zu Sachsen, Die Beziehungen zwischen Bayern und Sachsen in den vergangenen Jahrhunderten, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40 (1977), S. 264.
24 Vgl. Messeprivilegien der Stadt Leipzig von 1497 und 1507, in: Herbert Helbig, Quellen zur älteren Wirtschaftsgeschichte Mitteldeutschlands Teil II, Weimar 1952, S. 86-88/89f.
25 Vgl. Heiko Steffens/Birger Ollrogge/Gabriela Kubanek (Hrsg.): Lebensjahre im Schatten der deutschen Grenze. Selbstzeugnisse vom Leben an der innerdeutschen Grenze 1945, Opladen 1990, S. 13.
26 Maier (wie Anm. 16), S.216.
27 Ebd.
28 Theodor Fontane, Unwiederbringlich, Ditzingen 1986, Kapitel 13.
29 Hugo Steger, Sprachumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken. Das Lautsystem der Mundarten im Ostteil Frankens und seine
sprach- und landesgeschichtlichen Grundlagen, Neustadt/Aisch 1968, S. 2.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
55
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Minensuche Anfang der sechziger Jahre
Foto: Bundesgrenzschutz
Von den südlichen Mundarten Unterostfränkisch und
Nordbayerisch unterscheidet sich diese grundlegend. Nach
Norden und Nordosten hingegen geht die Mundart des
Oberostfränkischen fließend in die ostfränkischen Ausbaulandschaften Vogtland, Südmeißen, Westerzgebirge und
Nordwestböhmen über.30 Zudem lassen sich für diese
Sprachgebiete dialektale Überlappungen über die Landesgrenzen hinweg nachweisen, so zum Beispiel vom Thüringischen zum Oberostfränkischen: Nördlich von Kronach
zwischen Haßlach und Ludwigsstadt ist im heutigen Bayern eine Form des Thüringischen erhalten geblieben.31 Weiterhin ist der Nailaer Raum in Franken sprachlich eng mit
dem reußischen Raum in Thüringen verbunden.32 Als
Ursachen für diese sprachliche Nähe nennt Steger den gegenseitigen Einfluss geographisch, politisch und kirchenor-
ganisatorisch verbundener Räume auf die Entwicklung der
Mundarten und Siedlungsbewegungen. Für einige Lautgruppen weist Steger zudem eine Ausdehnung der ostfränkischen Mundart bis nördlich von Schleiz nach33 und begründet dies mit der historischen Straße von Münchberg/
Helmbrechts über Hof nach Plauen.34 Die Nordfranken
und Südthüringer, aber auch die Südostsachsen sprechen in
mancherlei Hinsicht bis heute die „gleiche Sprache“.
Der „eiserne Vorhang“ senkt sich: das Absterben des Kulturraumes im Dreiländereck
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges senkte sich der so genannte „Eiserne Vorhang“35 in der Mitte Europas und riss
das einstige „Dritte Reich“ in zwei Teile. Es war der Beginn
30 Ebd., S.7.
31 Dies weist der „Sprechende Sprachatlas Bayerns“ zwischen 2006 und 2008 unter der Leitung von Prof. Dr. Werner König erneut nach. Vgl.
http://sprachatlas.bayerische-landesbibliothek-online.de (Stand: 08.Oktober 2010).
32 Steger (wie Anm. 29), S.509ff.
33 Vgl. Lautkarten in: Steger (wie Anm. 29), S.637ff.
34 Steger (wie Anm. 29), S.490.
35 Nach: Winston Churchill, „The Sinews of Peace” am 5. März 1946 am Westminster College in Fulton, Missouri, in: http://www.hpol.org/
churchill/(Stand: 17.12.2010).
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Explosion einer Mine am Grenzzaun, Mitte der sechziger Jahre
eines weltweiten „Kalten Krieges“36 zwischen den „zwei
Weltlagern“37 der östlichen und der westlichen Hemisphäre,
der über vier Jahrzehnte andauern sollte. Bereits im Oktober 1943, noch während des Zweiten Weltkrieges, hatten die
führenden alliierten Mächte USA, Großbritannien und die
Sowjetunion die Eckpfeiler der Neuaufteilung des Deutschen Reiches bestimmt.38 Auf der Konferenz von Jalta im
Februar 1945 unterzeichneten die Staatschefs der zukünftigen Siegermächte des Krieges, Winston Leonard SpencerChurchill, Franklin Delano Roosevelt und Iosif Vissarionovi Stalin, schließlich den „Bericht über die Krim-Konferenz“: „Gemäß dem in gegenseitigem Einvernehmen festgelegten Plan werden die Streitkräfte der drei Mächte je eine
besondere Zone Deutschlands besetzen.“39
Foto: Bundesgrenzschutz
Mit diesen „Besatzungszonen“ entlang der Ländergrenzen der Weimarer Republik40 wurde auch die „Demarkationslinie“ zwischen Thüringen, Sachsen41 und Bayern festgelegt. Die dortige Grenze war bislang lediglich
durch Grenzsteine markiert. Auf bayerischer Seite
behielt sie diesen durchlässigen, ja lediglich symbolischen Charakter als Erinnerung an die Hülle der einstigen Fürstentümer im Dreiländereck bei. Gen Osten
hingegen mutierte die Demarkationslinie über die Jahrzehnte zu einem perfiden Abwehrmechanismus des
SED-Regimes.
Im Sommer 1945 übergab die US-Armee unter General
Patton das von ihr zum Großteil besetzte Sachsen, Thü-
36 Begriff nach: Herbert B. Swope 1946, Mitarbeiter des U.S.-Präsidentenberaters Baruch, in: Bernard Baruch, Public Years, New York 1960,
S. 80 und 368f.
37 Schdanow, Andrej, September 1947 als Antwort Stalins auf Harry S. Trumans „Kriegserklärung“ vom März 1947, in: Bernd Stöver, Der
Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S.73.
38 Zur Außenministerkonferenz in Moskau vgl. Rolf Steininger: Deutsche Geschichte. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Band 1:
1945–1947, Frankfurt/Main 2002, S. 18.
39 Bericht über die Krim-Konferenz vom 03.–11. Februar 1945, in: http://www.documentarchiv.de/index.html (Stand: 08.12.2010).
40 Diese Ländergrenzen hatten mit der „Gleichschaltung der Länder“ zur Zentralisierung des „Dritten Reiches“ durch die NSDAP 1933 ihre
Bedeutung verloren.
41 Vor der Verwaltungsreform in der DDR 1952.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Grenzpatrouille des Bundesgrenzschutzes am sog. „Flandernzaun“ aus Stacheldrahtgeflecht, 1958
ringen und Westböhmen an die Sowjetarmee, die entsprechend bis an die bayerische Nord- und Ostgrenze heranrückte.42 Zu spüren war dies vor allem in den ober- und unterfränkischen Grenzgemeinden, denn dort lagerten die
sowjetischen Vorposten in direkter Blickweite.
Ein anschaulicher Sonderfall ist das kleine Grenzdorf
Mödlareuth, zur Hälfte in Bayern, zur Hälfte in Thüringen gelegen. Der Ort wurde im Sommer 1945 entgegen der Vereinbarung der Krimkonferenz in Jalta
vollständig von der Roten Armee besetzt: Bereits 1810
war das Dorf entlang des Tannbachs geteilt und unterschiedlichen Herren, dem Königreich Bayern und dem
Fürstentum Reuß, zugeschlagen worden.
Am Lebensalltag der Menschen hatte dies nichts geändert.
Alle Mödlareuther, ob nun aus dem Ost- oder aus dem
Westteil des Dorfes, hatten den gleichen Gottesdienst
besucht, zunächst in Töpen, später in Gefell, hatten sowohl
auf bayerischer als auch auf reußischer Seite gearbeitet.
Foto: BGS Bayreuth
Bereits nach dem Ersten Weltkrieg war der Osten des Dorfes Teil des Landes Thüringen, der Westen unter bayerische
Verwaltungshoheit gestellt worden, so dass auch hier die
Bestimmungen der Krimkonferenz hätten greifen müssen.
Im April 1945 erreichten nun US-amerikanische Truppen
Mödlareuth und besetzten den gesamten Ort, um sich im
Juli gemäß den vereinbarten Besatzungszonen hinter die
bayerische Grenze zurückzuziehen. Dabei räumten die Besatzer allerdings auch den Westteil Mödlareuths. Am 7. Juli
übernahmen dann sowjetische Truppen den kleinen Ort
und errichteten auf der bayerischen Seite ihre Ortskommandantur.
Bis zum Sommer 1946 war den Bewohnern Mödlareuths deshalb unklar, zu welcher der beiden Besatzungszonen sie künftig gehören würden. Erst ein Jahr
später erfolgte der Rückzug der sowjetischen Soldaten
aus West-Mödlareuth. Die US-Armee rückte bis an die
Demarkationslinie entlang des Tannbachs und die
Teilung der Dorfgemeinschaft war besiegelt.
42 Wolfgang Zorn, Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie zum Bundesland, München 1986, S. 556.
58
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Bau der 700 Meter langen Betonsperrmauer, 1966
Foto: BGS Bayreuth
In den ersten Jahren der Teilung von 1945 bis 1952 war die
innerdeutsche Grenze noch nicht durchgängig befestigt und
daher relativ durchlässig. Dennoch wurde sie von Beginn an
von sowjetischen Truppen bewacht: In den ersten Monaten
nach der bedingungslosen Kapitulation übernahmen die
sowjetischen Besatzungstruppen die Grenzsicherung entlang der späteren innerdeutschen Grenze – so auch im
Grenzgebiet von Thüringen und Sachsen. Nach dem Scheitern der gemeinsamen Verwaltung Berlins durch die Siegermächte wandelte sich die Zonengrenze zwischen SBZ und
US-amerikanischer Zone von einer Verwaltungsgrenze zu
einer politischen Zoll- und Wirtschaftsgrenze. Zunächst
war der Grenzübertritt noch ohne größere Hindernisse
möglich, jenseits der offiziellen Grenzübergänge jedoch
illegal. Die Not der Nachkriegsjahre wurde in vielen Regionen durch kalte Winter und Missernten verschlimmert. Im
Grenzgebiet des Dreiländerecks entstand in dieser Zeit ein
reger Tauschhandel zwischen den Zonen, aber vor allem
auch Schmuggel von Nahrungsmitteln, Kleidung und Waren des täglichen Bedarfs. Die „Grenzgänger“ dieser Zeit
mussten jederzeit damit rechnen, von den Grenztruppen
aufgegriffen oder unter Beschuss genommen zu werden.
Nicht wenige junge Leute verschwanden spurlos.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Aus Nachbarn werden Feinde: der Aufbau
von Deutscher Grenzpolizei und Bundesgrenzschutz
Bereits in den ersten Jahren bereiteten die Besatzerarmeen
entlang der Demarkationslinie die Übernahme der Bewachung der Grenze durch einheimische Truppen vor. Rekrutiert wurde vorrangig im grenznahen Raum, so dass sich
bald auf beiden Seiten vor allem diejenigen als Feinde gegenüberstehen mussten, die ihr Leben gemeinsam unter gleichen Bedingungen in der Region gelebt und die Grenze
kaum als solche wahrgenommen hatten. Am 28. November
1946 veranlasste die Sowjetische Militäradministration
(SMAD) die Aufstellung einer Deutschen Grenzpolizei
(GrePo) und übertrug ihr als Sowjetische Kontrollkommission (SKK) am 10. Juni 1950 die Kontrollaufgaben an
den Grenzkontrollpassierpunkten. Als Reaktion auf die
Unterzeichnung des Deutschlandvertrages durch die Bundesrepublik wurde im Mai 1952 die Verordnung über
„Maßnahmen an der Demarkationslinie“ erlassen. Noch
zehn Tage zuvor war die Grenzpolizei dem jungen Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterstellt und das Ministerium somit durch die Verordnung ermächtigt worden,
59
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
„strenge Maßnahmen“ der Grenzsicherung einzuleiten. Ihre Aufgabe war es, „Grenzverletzungen zu verhindern und
aufzuklären, Grenzverletzer zu stellen“. Bereits ab 1956
wurde geplant, die Einsatzmöglichkeiten und -fähigkeiten
der Grenzpolizei im militärischen Sinne zu erweitern: Die
Deutsche Grenzpolizei sollte in der Lage sein, „nach militärischen Grundsätzen [zu] handeln und mit Teilen der Nationalen Volksarmee gemeinsam Handlungen durchführen
[zu] können“.43 Organisatorisch wurde die Grenzpolizei
deshalb ab 1961 zum „Kommando der Grenztruppen der
Nationalen Volksarmee“ umgeformt und als Teil der Landesverteidigung entsprechend militarisiert.
Personell und organisatorisch blieben die Grenztruppen
allerdings mit dem MfS verflochten: „Die Abteilung
Aufklärung bei der Deutschen Grenzpolizei wird mit
Wirkung vom 20. Mai 1959 dem Minister für Staatssicherheit in der operativen Anleitung und Kontrolle
unterstellt.“44
Der Dienst in der Grenzpolizei brachte zwar materielle
Vorteile, jedoch auch extreme Einschränkungen des alltäglichen Lebens mit sich. Westreisen und entsprechend auch
der Kontakt zu Personen, die regelmäßig in den Westen
reisten, waren streng verboten. Gleiches galt für die Kommunikation zu den „Grenzern“ der Bundesrepublik. Die
Angehörigen der Grenzpolizei waren der beständigen
Überwachung durch Kollegen, Vorgesetzte, aber auch Untergebene ausgesetzt. Berichtet wurde über Unmutsäußerungen, DDR-kritische und „westfreundliche“ Aussagen.
In einem Sonderbericht ist beispielsweise über die Äußerung eines Angehörigen der Grenzbereitschaft zu lesen:
„Der Sperrenbau in Berlin und das Auffahren von Panzern
besiegelt die Spaltung Deutschlands. Diese Maßnahmen
zeigen die Schwäche der DDR.“45 Die Methode, über jede
kritische Anmerkung Protokoll zu führen, wurde von allen
staatlichen Organen angewendet. Die Angst vor Denunziation und den Folgen sollte die Linientreue der Staatsdiener garantieren.
Bis Mitte der sechziger Jahre wurden Auflagen und
Überwachung der Grenztruppen immer weiter verstärkt, da insbesondere nach dem Bau der Berliner
Mauer „Fahnenfluchten; schwere Grenzdurchbrüche
und grobe Verstöße gegen die militärische Disziplin und
Ordnung“46 innerhalb der Grenzpolizei stark anstiegen.
Der Vergleich der jeweils zweiten Jahreshälfte 1960 und
1961 zeigt eine Verdopplung der Fahnenfluchten.
Über 40 Prozent der Flüchtigen seien dabei „erst 1961 in die
Grenztruppen eingestellt worden“. Dieser Umstand hatte
eine Verschärfung der Überprüfung bei Neueinstellungen
zur Folge, um Fluchtplänen den Weg nicht weiter über den
Dienst bei den Grenztruppen zu ebnen. Die Grenzdurchbrüche aus den Reihen der Truppen wurde aus Sicht der
Behörden vor allem auch dadurch begünstigt, dass die
Grenzpolizisten bei Fluchtversuchen ihrer Kameraden
„von der Schußwaffe […] überhaupt nicht Gebrauch“47 machen würden. Nicht auf ihre Kameraden zu schießen, sei ein
Hinweis auf die „Schwäche“ ihrer „klassenmäßigen Erziehung“. In der Folge begannen im Grenzgebiet z.B. bei
Meiningen und Suhl intensive „Parteiarbeit“ und ideologische Schulungen der Truppen, um ihre Loyalität zu sichern.
Ab dem 1. Juli 1945 übernahmen Soldaten der US-Army die Überwachung der Grenze zwischen Bayern und
den Ländern Thüringen und Sachsen. Bereits jetzt wies
die amerikanische Besatzungsmacht die bayerische
Staatsregierung unter ihrem ersten Ministerpräsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg, Fritz Schäffer, an, eine
„Bayerische Landesgrenzpolizei“ einzurichten. Am 15.
November wurde die „Anordnung über die Wiedererrichtung der Bayerischen Landesgrenzpolizei“48 erlassen und die ersten Kräfte als „Border Police“ eingestellt.
1947 wurde der Zollgrenzdienst als Spezialeinheit der
Grenzpolizei zugeordnet. Ein Jahr später überließen die
US-Streitkräfte der Landesgrenzpolizei die Verantwortung
für die Grenzüberwachung, Passkontrolle und Gewährung
43 Bericht über die Kontrolle der Durchführung des Beschlusses des Politbüros vom 18./20.12.1956 „Veränderung der Struktur der Polizeikräfte im Bereich des Abschnittsstabes Erfurt der Deutschen Grenzpolizei vom 26.03.1957, S. 5, in: Stiftung Archiv der Parteien und
Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch) DY 30/ IV 2/ 12/ 71.
44 Befehl – Nr. 190/59 des Ministerium des Innern und des Ministerium für Staatssicherheit, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 78.
45 Sonderinformation Nr. 024/61 des Kommandos der Deutschen Grenzpolizei, Politische Verwaltung vom 31.08.1961, S.4, in: SAPMOBArch DY 30 /IV 2 /12 /72.
46 Information über die Lage in den Grenztruppen der Nationalen Volksarmee vom 16.2.1962, S. 3, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 73.
47 Auszug aus dem Bericht der Bezirksleitung Suhl an den 1. Sekretär des Zentralkomitees vom 26.02.1962 und Bericht über den Einsatz zum
Studium der Erfahrungen in der Arbeit mit Parteiaktivisten der Bezirksleitungen Suhl und Gera, vom 7.03.1962, beide in: SAPMO-BArch
DY 30/ IV 2/ 12/ 73.
48 Nach: Reinhold Albert/Hans-Jürgen Salier, Grenzerfahrungen Kompakt. Das Grenzregime zwischen Südthüringen und Bayern/Hessen
von 1945 bis 1990, Leipzig 2009, S. 23.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Holzbretterzaun mit Oberer Mühle in Mödlareuth, die im Rahmen der ersten Zwangsaussiedlungswelle abgerissen wurde, 1952
Foto: Friedrich Marx, Hof
der Sicherheit. Da nach der Gründung der Bundesrepublik
und des Bundesgrenzschutzes (BGS) eigentlich der Bund
für die Sicherung der Grenze zuständig war, wurde der
bayerischen Grenzpolizei im Februar 1953 die Aufgabe des
Grenzschutzes offiziell vom Bund übertragen. Diese beinhaltete in erster Linie den Schutz des Bundesgebietes vor
„verbotene[n] Grenzübertritte[n]“.49 Die von den westdeutschen Truppen angewandte Grenzpraxis orientierte
sich insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten stark am
Vorgehen der US-Truppen. Beispielsweise erinnerte die
Markierung des Grenzverlaufes auf bayerischer Seite in den
Farben Gelb und Weiß bis Mitte der siebziger Jahre an die
nach dem Zweiten Weltkrieg in Bayern stationierte 7. USArmee. Auch ehemalige Beobachtungspunkte der USTruppen, wie zum Beispiel der Beerberg bei Rodach im
Landkreis Coburg, wurden von deutschen Grenzern weiter
genutzt. Im Vergleich zur GrePo war der BGS weit weniger
militarisiert, waren die Privilegien zwar an Verfassungs-
treue, nicht jedoch an Untertanenmentalität gekoppelt.
Auslandsreisen waren für die Grenzbeamten der Bundesrepublik eine Selbstverständlichkeit.
Vom Provisorium zur Staatsgrenze: die
„Verordnung über Maßnahmen an der
Demarkationslinie“50 von 1952
Der 1952 von der SED verkündete „Aufbau des Sozialismus“ beinhaltete auch eine administrative Neugliederung
mit dem Ziel, den jungen Staat zu zentralisieren. Während
auf bayerischer Seite die Regierungs- und Verwaltungseinheiten über die Jahrzehnte grundsätzlich erhalten blieben,
wurden im Juli 1952 die Länder der DDR aufgelöst. Die
Grenzländer zu Bayern waren nicht mehr Thüringen und
Sachsen, sondern erhielten als Bezirke Suhl, Gera und KarlMarx-Stadt ein neues Gewand. Auf bayerischer Seite
schlossen in den heutigen Regierungsbezirken Unter- und
49 Gesetz über den Bundesgrenzschutz und die Einrichtung von Bundesgrenzschutzbehörden vom 16. März 1951, § 2, in: www.bgbl.de
(Stand: 17.12.2010).
50 Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands vom 26. Mai 1952, in: http://www.documentarchiv.de/ddr/1952/demarkationslinie-schutz_vo.html (Stand:
08.12.2010).
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Grenzverlauf Bayern–DDR51
Abbildung: Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Die innerdeutsche Grenze, Bonn, 1989 nachbearbeitet v. Miriam Müller
Oberfranken die Landkreise Rhön-Grabfeld, Haßberge,
Coburg, Kronach und Hof an die DDR an. Bis 1952 blieben an der Nordgrenze Bayerns verschiedene Übergänge
im Güterverkehr eingerichtet, wie beispielsweise zwischen
Neustadt im Landkreis Coburg und Sonneberg in Thüringen.
Seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949
stieg die Zahlen derer, die die DDR nach Westen in die
Bundesrepublik verließen, stetig an – bis zum Erlass der
„Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie“ im Mai 1952. Diese Maßnahmen bewirkten
den Ausbau der Grenzanlagen und die Schließung eines
Großteils der Grenzübergänge für Güter- und Personenverkehr.
An der Grenze zu Bayern wurden bereits im Herbst 1951
die Übergänge Gutenfürst-Heinersgrün an der Autobahn,
Höhnebach und Probstzella-Lauenstein (Landkreis Kronach) geschlossen und durch einen einzigen neuen Grenzübergang, den „KPP Juchö“, südlich von Gefell in der Nähe
des bayerischen Töpen52 ersetzt. Es folgte die Umleitung
des gesamten Interzonenverkehrs auf die „Strasse JuchöGefell-Schleiz“. Die historischen Handelsrouten wurden
auf beiden Seiten der Grenze zur Sackgasse.
Das Ende wirtschaftlicher, sozialer
und kultureller Bindungen
Der Hofer Hauptbahnhof, seit 1848 eine der „Schaltstellen im europäischen Bahngüterwesen“,53 fand sich
nun infrastrukturell nicht mehr im Zentrum Kontinentaleuropas, sondern am östlichen Rand des innerdeutschen Grabens wieder.
Die einstige Textilmetropole litt unter den zusätzlichen
Frachtkosten des Transportumweges nach Norddeutschland und der Westverschiebung der Handelsrouten von
Italien an die Nord- und Ostsee. Bis heute verharrt Hof deshalb in lediglich lokaler Bedeutung. Die drastischen Auswirkungen der Schließung der Verkehrswege werden beispielsweise auch bei den Personenverkehrsbetrieben deutlich: Anfang der fünfziger Jahre wurde noch regelmäßiger
Omnibusverkehr zwischen z.B. Erfurt und Coburg oder
Plauen und Hof angeboten. Für die heute 30 km weite
Strecke zwischen Plauen und Hof entlang der A72 bedeutete der Umweg über Juchö eine Verdopplung der „kilometrische[n] Länge der Fahrstrecke“.54 Während die andere
Stadt heute in etwa einer halben Stunde zu erreichen ist,
dehnte sich die Fahrzeit mit Grenzkontrolle nun auf etwa
vier Stunden aus. Geschäftsreisen, aber auch private Besuche wurden immer beschwerlicher und die immer weiter
verschärften Kontrollvorschriften von Grenzpolizei und
Zoll behinderten zusätzlich den Austausch von West nach
Ost. Für die einander benachbarten „Puppenstädte“ Neustadt bei Coburg in Bayern und Sonneberg in Thüringen
läutete die Verordnung das Ende ihrer über Jahrhunderte
gewachsenen Position auf dem weltweiten Spielzeugmarkt
ein. Bis 1945 waren beide Städte infrastrukturell und personell Teil des Wirtschaftsraums Südthüringen. Die Abriegelung verursachte einen Einbruch von Produktion und
Absatz, von dem sie sich bis heute nicht haben erholen kön-
51 Aus: Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Die innerdeutsche Grenze, Bonn, 1989, Faltkarte, bearb. v. Miriam Müller.
52 Vgl. Befehl Nr. 57/51 HVDVP Betr. Neuerrichtung eines Straßen-KPP in Juchö (südlich Gefell), Hauptverwaltung deutsche Volkspolizei
vom 3. Oktober 1951, in: BArch DO/1/2.2 (56086).
53 Ministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Die innerdeutsche Grenze, Bonn, 1989, S. 109.
54 Schreiben der Vereinigung Volkseigener Betriebe Land Sachsen Kraftverkehr an das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes
Sachsen HA Verkehr und Straßenwesen vom 15. Mai 1952 Betreff Innerdeutscher Kraftomnibusverkehr Plauen – Hof, in: BArch
DM/1/989 Bestand Generaldirektion Kraftverkehr und Straßenwesen 1950–1952.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
nen. Von der Regionalplanung Oberfranken als gemeinsames Mittelzentrum der Region ausgewiesen, haben Neustadt und Sonneberg dennoch weiterhin mit beständigem
Einwohner- und vor allem Erwerbstätigenverlust zu kämpfen.55 Dies ist exemplarisch für die gesamte Grenzregion
entlang der einstigen Grenze zwischen Bayern und der
DDR.56
Bis zum Mai 1952 war es auch in Mödlareuth noch
möglich, mit Passierschein und „kleinem Grenzschein“ den
Tannbach zu überqueren. Mit dem Schließen des Übergangs
änderte sich das Leben der Menschen von Grund auf, so
zum Beispiel für die Schulkinder. Seit Kriegsende hatten alle
Mödlareuther Kinder die Schule in Ost-Mödlareuth besucht. Entsprechend mussten die Schüler aus dem bayerischen Teil täglich die Demarkationslinie passieren.
Nach der Flucht der Ost-Mödlareuther Lehrerin Pribl
nach Bayern 1948 wurde der Schulbetrieb in Mödlareuth eingestellt und alle Schüler wanderten täglich
zwei Kilometer nach Gebersreuth in Thüringen zur
dortigen Schule. Auch nach Gründung der beiden deutschen Staaten passierten die West-Mödlareuther Kinder
weiterhin täglich ohne Passierschein die Demarkationslinie auf ihrem Weg dorthin. Die „Verordnung“ von
1952 setzte dem nun ein Ende: Dem letzten bayerischen
Schüler Siegfried Seidel wurde am 26. Mai, zwei Monate
vor seinem Schulabschluss, der Weg zur Schule in Gebersreuth verwehrt. Wie alle anderen Schüler aus WestMödlareuth war er nun Schüler der Volksschule im
bayerischen Töpen.
Im Zusammenhang mit der „Verordnung“ fand entlang der
gesamten innerdeutschen Grenze eine Überprüfung der
Grenzbewohner auf ihre politische Zuverlässigkeit hin
statt. Eine negative Beurteilung z.B. durch die Staatssicherheit führte zur Zwangsaussiedlung ins Landesinnere
oder aber in das polnische Grenzgebiet.
Bis zum Herbst 1952 mussten über 2.400 Familien ihre
Heimat unweit der Grenze verlassen. Auch in den Kreisen der DDR an der Grenze zu Bayern führten MfS
und Volkspolizei Umsiedlungsmaßnahmen unter dem
Decknamen „Aktion Ungeziefer“57 durch.
Einige betroffene Familien begingen Selbstmord, da sie eine
Aussiedlung bzw. Verbannung in die Sowjetunion fürchteten. Insgesamt waren in den sächsischen Grenzkreisen zu
Bayern etwa 400 und in den thüringischen Grenzkreisen gut
1.700 Personen betroffen. Grundlage der Deportationen
war nicht selten lediglich die Denunziation, das „Anschwärzen“ durch Nachbarn oder ortsansässige Vertreter
der SED bei den zuständigen Behörden. Die eigentlichen
Aussiedlungsaktionen führten Volkspolizisten durch, die
oft erst in der Nacht der Aktion vom Ziel der Maßnahme
unterrichtet wurden.
Die Zwangsausgesiedelten wurden mit Hab und Gut
auf Züge verladen und an unbekannte Ziele ins Landesinnere verbracht. Auch einige Familien in Mödlareuth
waren betroffen. Die Bewohner der so genannten
„Oberen Mühle“ in Ost-Mödlareuth konnten im letzten Augenblick fliehen, denn das Stallgebäude ihres
Hofes liegt direkt auf der Grenze. Während die Polizei
bereits im Hof auf die Familie wartete, gelang den Eltern und ihren Kindern der Sprung aus den Scheunenfenstern in die Bundesrepublik.
Entlang der gesamten innerdeutschen Grenze wurde nun
ein erster Stacheldrahtzaun errichtet und ein etwa zehn Meter breiter Kontrollstreifen angelegt. Darüber hinaus schufen die Grenztruppen einen 500 Meter breiten „Schutzstreifen“ und eine fünf Kilometer tiefe Sperrzone. Wie für
Hunderte anderer Dörfer galten für die Ost-Mödlareuther
die Vorschriften dieser Sperrzone. Doch da hier die Menschen unmittelbar an der Grenze im „Schutzstreifen“ lebten, waren die Maßnahmen bereits ab diesem Zeitpunkt im
Vergleich zum Rest der „grünen Grenze“ verschärft. Außerhalb des Dorfes entsprach der Zehn-Meter-Kontrollstreifen den Grenzsperranlagen der restlichen innerdeutschen Grenze. Im Dorf jedoch zogen die Grenztruppen der
DDR einen blickdichten Bretterzaun entlang des Tannbachs. Von nun an fand das tägliche Leben der Ost-Mödlareuther in politisch vorgegebenen, engen Bahnen statt.
Übernachtungen unter freiem Himmel oder im Zelt, unangemeldete Zusammenkünfte oder das „Winken nach Drüben“ verbot die SED.
Um im „Schutzstreifen“ wohnen zu können, wurde
eine Wohnerlaubnis benötigt, die regelmäßig, in den
ersten zwanzig Jahren sogar alle drei Monate, verlängert werden musste. Eine Verlängerung erfolgte nur
nach regelmäßiger Überprüfung. Galt ein Bewohner
des Grenzstreifens als „fluchtgefährdet“ oder politisch
unzuverlässig, drohte ihm die Zwangsaussiedlung ins
Hinterland der DDR.
55 Maier (wie Anm. 16), S. 200.
56 Vgl. ebd., S. 216.
57 Vgl. Inge Bennewitz/Rainer Potratz, Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze, Berlin 1997, S.12ff.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Blick von Westmödlareuth nach Ostmödlareuth, damals ...
... und heute
Foto: Miriam Müller
Foto: Arndt Schaffner
Wie auch die Angehörigen der Grenztruppen waren die
Bewohner des „Schutzstreifens“ der beständigen Überwachung durch Parteigänger, Angehörige der Grenztruppen
und Nachbarn ausgesetzt. In einer Sonderinformation der
Deutschen Grenzpolizei von 1960 hieß es über einen Bürger
aus Rustenfelde im Grenzgebiet Kreis Suhl, er habe in einer
Gastwirtschaft erklärt: „Wir leben wie unter Hitler, unter
der gleichen Diktatur.“58 Doch auch und besonders Mitglieder der SED im Grenzstreifen wurden überwacht. Die
Stammtischrede eines Parteisekretärs im Kreis seiner
Freunde wurde genau dokumentiert: „In der Partei werde
ich nicht mehr mitarbeiten, weil meine westdeutschen Verwandten keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen.“59
Die „Maßnahmen des 13. August 1961“: der
Berliner Mauerbau und die innerdeutsche Grenze
Während die meisten Menschen bis zur „doppelten deutschen Staatsgründung“60 1949 trotz des Zusammenschlusses der Westzonen 1946/47 von einer baldigen Lockerung
der Passierregelungen zwischen Ost und West ausgingen,
hatte sich die Situation in den Folgejahren drastisch geändert. Spätestens mit der Errichtung des Grenzregimes auf
Seiten der DDR ab 1952 und den in diesem Zusammenhang
durchgeführten Zwangsaussiedlungen wurde der Bevölkerung auf beiden Seiten der neuen Grenze klar, dass der Zustand der Trennung von Dauer sein würde. Als Reaktion auf
die Lebensumstände in der sich nun nach und nach entfaltenden Diktatur in der DDR entschieden sich immer mehr,
vor allem junge Menschen zur Flucht. Unter dem Konformitätsdruck der Parole „Aufbau des Sozialismus“61 blutete
der Staat zusehends aus – nicht nur personell, sondern auch
moralisch.
Die „Erhöhung der Sicherheit an der Staatsgrenze
West“ war deshalb beständiges Thema der Sicherheitsorgane und nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953
wurden die Anforderungen an die Menschen, die im
„Schutzstreifen“ entlang der innerdeutschen Grenze
lebten, sogar noch weiter verschärft.
Das DDR-Passgesetz von 1954 führte die Republikflucht
als Straftatbestand ein, ab 1957 zählte hierzu auch die Nichteinhaltung vorgeschriebener Reiseziele, Reisewege und
Reisefristen. Von westlicher Seite existierten seit der Aufhebung des Interzonenpasszwanges hingegen keinerlei Reisebeschränkungen mehr. Trotz des weiteren Ausbaus der
Sperranlagen entlang der innerdeutschen Grenze und der
Grenze durch Berlin gingen – entgegen der Hoffnung der
SED – die Flüchtlingszahlen in den fünfziger Jahren jedoch
nicht zurück, vielmehr dynamisierte sich die Entwicklung:
Viele Menschen befürchteten eine weitere Verschlechterung
ihrer Lebenssituation. Insgesamt wurden im ehemaligen
Thüringen im Jahr 1960 „179 Fälle [von Grenzdurchbrüchen, M.M.] mit 275 Personen“62 vor allem durch „LPGBauern mit Vieh, Fahrzeugen und Hausrat“ von DDRGebiet nach Bayern durch die Grenzpolizei gemeldet. Ein
Großteil der Grenzdurchbrüche wurde von den Truppen
allerdings weder verfolgt noch registriert, wie z.B in einem
58 Sonderinformation Nr. 024/61 des Kommandos der Deutschen Grenzpolizei, Politische Verwaltung vom 31.08.1961, S. 5, in: SAPMOBArch DY 30/ IV 2/ 12/72.
59 Ebd.
64
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Protokoll der 2. Grenzbrigade (Grenze Raum Berlin) vom
November 1961 zu lesen ist.63 Von Juli bis August 1961 stieg
die Zahl der Flüchtlinge aus West-Berlin von 1.000 auf über
1.500 täglich. Um den Zusammenbruch der DDR und somit
das Ende der Macht der SED zu verhindern, überzeugte
Walter Ulbricht, Generalsekretär des ZK der SED und somit „Chef der DDR“, Moskau schließlich davon, die
Grenze zur Bundesrepublik vollständig abriegeln zu dürfen. Die SED errichtete eine Mauer quer durch die DreiMillionen-Stadt Berlin.64
An der innerdeutschen Grenze waren die Flüchtlingszahlen im Sommer 1961 zwar relativ konstant65 geblieben. Dennoch folgt dem Berliner Mauerbau nach und nach
auch die Verdichtung und Modernisierung der bestehenden
Abwehrmaßnahmen von der Ostsee bis ins Dreiländereck.
Bis Mitte der sechziger Jahre mutierte die einstige Demarkationslinie zur bestbefestigten Grenze der Welt. Wie drastisch sich die endgültige Abriegelung der Grenze auf die
Menschen und die Wirtschaft in der Grenzregion auswirkte, ist nur schwer zu beurteilen. Aussagen über einzelne
Kreise hinaus werden den regionalen Unterschieden und
Bezügen meist nicht gerecht. Deutlich wird allerdings, dass
der Ausbau der Grenze überall zu häufig untragbaren Situationen für die Bewohner sowie für landwirtschaftliche und
industrielle Betriebe im „Schutzstreifen“66 der DDR führte.
Beispielsweise wurden in Dorndorf nahe Bad Salzungen
Teile der Anlagen des Kalikombinates „Werra“ von der
Geschäftsleitung abgetrennt. Im „Schutzstreifen“ gelegen,
waren sie für die Arbeiter an einem normalen Arbeitstag
aufgrund von Umwegen und Wartezeiten an den Passierpunkten nicht mehr zu erreichen und deshalb nutzlos. Vollständig aufgehoben wurden die Auflagen für die von solchen Absurditäten Betroffenen, die sich sowieso nur noch
innerhalb der DDR bewegen konnten, dabei so gut wie nie.
Als Lösung wurden meist einzelne Sondergenehmigungen
erteilt, die zwar z.B. eine Anfahrt der Arbeiter zu ihrem
Arbeitsplatz möglich machten. Der Verwaltungs- und Zeitaufwand verursachte dabei jedoch weiterhin unverhältnismäßig hohe Kosten.
Infrastrukturell waren alle Dörfer entlang der Grenze
untereinander und grenzübergreifend eng verflochten.
Vor 1945 hatte täglich ein reger Austausch an Gütern
und Nachrichten von Sachsen und Thüringen nach
Bayern stattgefunden. Die Menschen waren in den nahe
gelegenen Ortschaften ihrer Arbeit nachgegangen, hatten die Schule, den Gottesdienst oder den Wochenmarkt
in einem der Dörfer jenseits dieser neuen Grenze besucht. Die Region zu beiden Seiten der Zonengrenzen
wurde in ganz Deutschland von der Behinderung des
Austauschs und der späteren völligen Abriegelung zwischen Ost und West stark beeinträchtigt.
Die Landwirte litten besonders unter dem erschwerten
Zugang zu ihren Feldern bzw. konnten diese häufig überhaupt nicht mehr bestellen.67 Die Auflagen von Seiten der
DDR wurden immer detaillierter und schwieriger zu erfüllen. Die Menschen reagierten mit Ablehnung und Unwillen.
Beispielsweise zeigten sich die Bewohner der Grenzkreise
im Süden Thüringens unter Aufsicht der 3. und 4. Brigade
unzufrieden und galten als besonders „fluchtgefährdet“.68
Im Kreis Sonneberg erließ der örtliche Kommandeur 1960
deshalb, dass „ganze Familien nicht mehr geschlossen Feldarbeiten im 500-m-Gebiet durchführen dürfen“ und „Fuhrwerke, mit denen Ackergerät mitgeführt wird, 300 Meter
vor dem 10-m-Kontrollstreifen so aufzustellen sind, daß die
Deichsel in Richtung DDR steht“.69 Vor Ort wurden die
Vorgaben noch zusätzlich erweitert: „Das Mitnehmen von
Kindern in das 500-m-Gebiet bei Feldarbeiten“ war grundsätzlich verboten. Durch derartige Vorgaben kam die Landwirtschaft im Schutzstreifen beinahe völlig zum Erliegen.
Doch nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem
auch sozial waren die Grenzdörfer in nur schwer nachvollziehbarem Ausmaß beeinträchtigt. Der im Juni 1952 durch
Mödlareuth errichtete Bretterzaun wurde bereits 1958
durch einen so genannten „Flandernzaun“ aus Stacheldrahtgeflecht und Holzpfählen ersetzt, der keinen Zweifel
mehr an der Brutalität und Unmenschlichkeit der Teilung
des Dorfes ließ. Als Reaktion auf den Beginn des Mauerbaus
60 Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Göttingen 1982.
61 Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949–1990, hg. v. d. Bayerischen Landeszentrale f. politische Bildungsarbeit,
München 1998, S. 119.
62 Zusammenfassung der Berichtswahlversammlungen und Delegiertenkonferenzen 1960, S.7, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 72.
63 Protokoll über die erste Zwischenauswertung des Einsatzes der Genossen aus dem Parteiapparat gemäß Beschluß des Sekretariates des Zentralkomitees in der 2.Grenzbrigade (B) vom 30.November 1961, S.5, in: SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/ 12/ 72.
64 Aus: http://www.statistik-berlin.de/statistiken/Grosszaehlungen/vz.htm (Stand: 19.12.2010).
65 Vgl. Peter Joachim Lapp, Frontdienst im Frieden – Die DDR Grenztruppen, Bernard & Graefe, Koblenz 1987.
66 Vgl. Antrag auf Herauslösung der Bergarbeiterwohngemeinde Dorndorf aus dem 5-km-Sperrgebiet, in: SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/
73.
67 Vgl. auch Elfriede Siegel, Landflucht und Verödung der Dörfer, in: Heiko Steffens/Birger Ollrogge/Gabriela Kubanek (Hg.): Lebensjahre
im Schatten der deutschen Grenze. Selbstzeugnisse vom Leben an der innerdeutschen Grenze 1945, Opladen 1990, S. 28.
68 Zusammenfassung der Berichtswahlversammlungen und Delegiertenkonferenzen 1960, S.7, SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 72.
69 Zusammenfassung der Berichtswahlversammlungen und Delegiertenkonferenzen 1960, S.5, SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/ 12/ 72.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Öffnung des Grenzübergangs
Mödlareuth, 9. Dezember
1989
Foto: Alfred Eiber, Hof
in Berlin wurde ein „verbesserter“, mit Betonpfeilern verstärkter Stacheldrahtzaun errichtet und in den Folgejahren
um weitere Stacheldrahtreihen ergänzt. 1964 konnten die
Mödlareuther einen letzten Blick „nach drüben“ werfen,
bevor eine Plattenwand aus Beton- und Holzelementen
wieder jeden Sichtkontakt beendete. Zwei Jahre später erfolgte die Wiedergeburt des kleinen Grenzdorfes Mödlareuth als „Little Berlin“: Bäume wurden gefällt, Höfe abgerissen und der Ort mit weniger als hundert Einwohnern
erhielt seine eigene „Mauer“, 700 Meter lang, 3,30 Meter
hoch.70 Ein Treffen von Ost- und West-Mödlareuthern
konnte deshalb während der nächsten Jahrzehnte nur im
Hinterland der DDR stattfinden und die Familien, die in
„Little Berlin“ nur einen Steinwurf von einander entfernt
lebten, mussten Reisen von mehreren Stunden einplanen,
um sich von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Die Besuche sind selten und kurz und wie allen anderen Grenzlandbewohnern ging es auch der einstigen Mödlareuther
Dorfgemeinschaft: Sie wurden einander fremd.
Innere Einheit und die Heilung der
Kulturräume
Die in historischen Karten und Bildern ländliche, aber
als lebendig beschriebene Gegend im Norden Bayerns
erscheint dem Besucher heute vielerorts verschlafen, im
Dreiländereck sogar menschenleer. Für die nachgeborene Generation aus Ost und West ist dies das Echo der
Grenzanlagen am „Ende der Welt“. Für sie ist die Zeit
der Teilung eine Nacherzählung ferner Vergangenheit.
Geblieben sind die Holzschnitte der gegenseitigen Zuschreibungen zwischen Ost und West wie „Jammerossi“
und „Besserwessi“.71 Die zuvor in Jahrhunderten gewachsenen überregionalen Verbindungen sind den Jugendlichen
allerdings völlig fremd – denn auch ihre Eltern haben an das
gewachsene Deutschland keine Erinnerungen mehr. Fälschlicherweise wird in Diskussionen zur deutschen Vereinigung „innere Einheit“ häufig als Gleichheit von Einstellungen, Orientierungen und Mentalitäten in ganz Deutschland
verstanden. Dabei ist Deutschland als die „verspätete Nation“72 nicht nur als alte, sondern auch als neue Bundesrepublik vor allem historisch gewachsener Föderalstaat. Mit seinen stark ausgeprägten, regionalen Unterschieden soll und
kann das wiedervereinigte Deutschland kein „Einheitsstaat“ sein. Sich diese Einheitlichkeit zu wünschen, wie sie
auch vor der Teilung nie bestanden hat, ist ein wenig sinnvolles Unterfangen. Mit dem in diesem Aufsatz vorgestellten Fokus auf die ehemalige Grenzregion entlang der einstigen innerdeutschen Grenze zwischen Bayern und der
70 Vgl. Robert Lebegern, Mauer, Zaun und Stacheldraht. Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze 1945–1990, Weiden 2002.
71 Vgl. Schroeder (wie Anm. 7), S. 9 und 53ff.
72 Vgl. Helmut Plessner, Die Verspätete Nation, Suhrkamp Verlag, Stuttgart 1985.
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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
Über die Bedeutung der einstigen Zonenränder für das wieder vereinigte Deutschland
Der Blick aus dem Dorf in Richtung des (heute abgebauten) Be-
Dokumentation der ehemaligen Grenze im Deutsch-Deutschen
obachtungsturms
Museum Mödlareuth
Foto: Miriam Müller
DDR wird jedoch deutlich, dass die Grenze zwar nicht die
Kultureinheit Deutschlands teilte, da diese so nie existiert
hatte. Doch teilte sie gewachsene Kulturräume, die einmal
weit mehr verband als nur die Durchfahrt zum Beispiel auf
dem Weg nach Berlin oder München.
Die Auswirkungen der Teilung auf diese Kulturräume sind zahlreich und deutlich. Was zuvor nicht nur im
engen Austausch stand, sondern häufig sogar eine Einheit
bildete, wurde mit der Grenzziehung durch Deutschland
zerrissen und entwickelte sich nun zwangsläufig getrennt.
Der Einfluss der umliegenden Region erfolgte in Nordbayern nur noch einseitig von Westen. Auf thüringischer und
sächsischer Seite der Grenze waren die Menschen zusätzlich
in ihrem eigenen Land ein Sonderfall: Die Einflüsse aus dem
Hinterland der DDR wurden durch die Bestimmungen für
den „Schutzstreifen“ gefiltert. Weiterhin unterlag die gesamte Bevölkerung der DDR im SED-Staat de facto einem
„Freizügigkeitsverbot“,73 das zur Grenze hin immer engmaschiger gefasst war. Die konkreten Folgen für die Menschen werden in Ansätzen im Grenzdorf Mödlareuth sichtbar. Nicht allein, dass die Mödlareuther nur noch auf einer
Seite der Grenze ihrer Arbeit nachgehen konnten. Auch
eine Heirat „nach drüben“, zuvor ein Normalfall, war nicht
mehr möglich und es entstanden keine neuen familiären
Verbindungen zwischen beiden Dorfteilen oder den umliegenden Ortschaften.
Kulturell erinnert besonders der Verlust einer gemeinsamen Sprache schmerzhaft an die Trennung der Mödlareuther. Das Reußische, ein Thüringer Dialekt, ist
Foto: Andreas Kolitsch
beinahe vollständig ausgestorben. Diese Mundart wird
heute nur noch in Ost-Mödlareuth von den Ältesten
der Dorfgemeinschaft gesprochen.
Alle übrigen Ost-Mödlareuther sprechen den Dialekt des
thüringischen Umlandes und im Westen des Ortes hat sich
das Ostoberfränkische durchgesetzt. Stattet man dem Mödlareuther Wirtshaus im Osten des Dorfes einen Besuch ab,
sprechen die Mödlareuther beim Freitagsstammtisch im
„Grenzgänger“ wieder miteinander – doch nur ungern über
das Vergangene und nie über die Mauer.74
Die „doppelte deutsche Staatsgründung“, das
monströse Grenzregime und vierzig Jahre der geradezu hermetischen Abriegelung der DDR-Bevölkerung nach Westen führten zur Herausbildung unterschiedlicher Erinnerungen und Mentalitäten75 der Menschen in Ost und West.
Im gleichen Atemzug zerschnitt die deutsche Teilung über
Jahrhunderte gewachsene regionale und landsmannschaftliche Bindungen und Bezüge. In der DDR verdrängte, ersetzte und erstickte der „Aufbau des Sozialismus“ die regionale Kultur und löschte die gewachsenen Gemeinsamkeiten
beinahe vollständig aus. Entsprechend muss in der Diskussion um das Zusammenwachsen Deutschlands der gesamtdeutsche Blick besonders auf die einstigen Wundränder der
deutschen Teilung gerichtet und an die gemeinsame Geschichte der regionalen Kulturräume erinnert werden.
Denn erst wenn sich die Menschen dort wieder zusammenfinden, wo die Trennung der Deutschen ihre tiefsten Spuren
hinterlassen hat, ist die Teilung tatsächlich überkommene
Vergangenheit.
73 Peter Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit, München 2003, S. 214.
74 Judith Innerhofer/Fenske Sarah, Der Grenzgänger, Little Berlin. Ein Dorf deutscher Geschichte, 2009, in: http://littleberlin.de/?PID=static,
DerGrenzgaenger_de (Stand: 12.12.2010).
75 Vgl. Schroeder (wie Anm. 7), S. 182, 187 und 232.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 11
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