Morgen früh, wenn Gott will – ebook
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Morgen früh, wenn Gott will – ebook
Florian Schuster Morgen früh, wenn Gott will Roman 1. Auflage Copyright: © 2014 Florian Schuster Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de ISBN 978-3-8442-5056-5 www.lintonsamueldawson.de Diese Geschichte ist frei erfunden. Alle Namen, handelnden Personen, Orte und Begebenheiten entspringen der Fantasie des Autors. Jede Ähnlichkeit mit real lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Schauplätzen wäre völlig unbeabsichtigt und reiner Zufall. Für Albertine Die Zeit ist ein Dieb. Sie stiehlt unser Leben. - Hakan Nesser, Schriftsteller Wenn wir endlich finden, was wir in der Finsternis gesucht haben, dann stellen wir fast immer fest, dass es genau das ist: Finsternis. - Dr. Georg Weihrauch, Psychologe † Und wenn man die Sache ein bisschen genauer betrachtete, gab es genau zwei Gründe, nach Berlin zu reisen. Der erste Grund war Katharina. 11 1 Die Fallgeschwindigkeit des Schnees beträgt etwa vier Stundenkilometer. Während im Fernseher der Wetterbericht läuft, kommt mir diese Formulierung in den Sinn. Vielleicht ist es nicht gerade die beste Einleitung, aber ich habe schon seit ein paar Tagen um einen Eingangssatz gerungen. Als wenn es nur um diese simple Sache ginge - einen Schlüssel, der die Erzählung öffnet, ein Siegel, das gebrochen werden muss, oder eine Art Zaubertrick. Wenn man ihn erst einmal durchschaut hat, alles andere in die richtigen Bahnen lenkt. Aber dem ist nicht so. Erzählungen müssen auf jeder Seite neu geboren werden, unablässig, unter Schmerzen und manchmal auch unter Freuden, Zeile für Zeile, Zentimeter für Zentimeter, und es gibt keine Abkürzung. Und genau so will ich vorgehen, wenn ich jetzt einen Bericht darüber schreibe, was in den letzten Jahren passiert ist und was genau in diesem Moment, und das wird nicht einfach sein. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es überhaupt irgendwohin führt, aber manchmal hat man keine andere Wahl . Ich gebe keinerlei Versprechen. Vielleicht wird es eine zusammenhängende Geschichte, vielleicht auch nicht. Jede Geschichte sucht ihre Form und findet sie. Oder sie stirbt. 12 Die Fallgeschwindigkeit des Schnees beträgt etwa vier Stundenkilometer, belehrte mich also der adrett angezogene Wettermoderator und erzählte seinem zusehenden Fernsehpublikum, dass heute der kälteste Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen war. Er hatte wohl Recht behalten (obwohl ich natürlich nicht sagen kann, wie vor 80 Jahren das Wetter war, aber ich vertraue dieser Berufsgruppe). Es war so kalt, dass selbst meine Heizungen mich nicht mehr richtig wärmen konnten. Vielleicht waren sie aber auch nur kaputt. Ich saß also in meiner 2-Zimmer-Wohnung am nördlichen Rand Hamburgs, eingepackt mit meiner dicksten Winterjacke und meiner Mütze auf dem Kopf und merkte, wie meine Lippen langsam blau wurden. Ich sollte den Hausmeister rufen, dachte ich. Im Nachhinein erinnere ich mich immer wieder an diesen bedeutungsschwangeren Tag im Dezember. Wie ich so versunken in meinem alten, verschlissenen Ledersofa saß und mir gerade auffiel, dass nun der erste Schnee des Winters fiel. Es war sozusagen die Wurzel allen Übels. Wenn ich zurück denke, kommt es mir so vor, als sei das kalte Wetter an jenen Tagen Schuld an dem ganzen Dilemma. Man könnte es so formulieren, dass, wenn es nicht so kalt gewesen wäre, ich nicht den Fernseher angestellt hätte, vielleicht wäre ich eher draußen spazieren gewesen, was bei solchen Temperaturen natürlich einem Selbstmord13 versuch glich, oder hätte mich um meine Aquarien, die noch bei meinem Cousin Niels in Münster standen, gekümmert, oder endlich einmal meine Steuererklärung vom letzten Jahr fertiggestellt. Das Wetter war schuld. Aber das sind vielleicht auch nur Ausreden. Nein, ganz sicher sogar. Vielleicht musste es einfach so sein. Gott, oder eine andere übernatürliche Form im Himmel, hat gewollt, dass ich in genau diesem Moment mit einem heißen Zitronen-Hibiskus-Tee vor dem Fernseher sitze und mir die Übertragung des fünften BeethovenKlavierkonzertes, das bekanntlich in D-Dur gespielt wurde, ansah. Kismet also. Ich hatte es mir mit einer warmen Decke bequem gemacht, eine Kerze dazu gestellt und eine Schale mit Nüssen war ebenfalls in Reichweite. Es war Sonntagabend und es schneite das erste Mal. Ich sah dieses Konzert auf Kanal 2. Oder besser gesagt, ich starrte einfach stumm und ohne jegliche Regung auf den Bildschirm und beobachtete die Musiker bei ihrem Spiel. Die Streicher, den Dirigent. Ich bin kein Kenner klassischer Musik, ich würde mich nicht einmal Liebhaber nennen, aber an kalten Wintertagen, wenn man meint, die Welt würde untergehen und einen die Schwermut packt, da helfen einem Beethoven, Bach und die anderen alten Meister enorm, den Tag irgendwie zu überstehen. Und heute war so ein Tag, wie erwähnt. 14 Der Tag begann, wie die Tage zuvor. Mein Verlag hatte aufgrund einiger finanzieller Probleme und schlechter Auftragslage wieder keine wirkliche Arbeit für mich, ich hatte somit seit einigen Wochen die Wahl zwischen meiner Couch und der Wiese vor meiner Haustür. Da es aber Winter war und nun auch Schnee lag, bevorzugte ich Ersteres. Tage zuvor spazierte ich hin und wieder an den Deich, setzte mich auf eine Bank, rauchte einige Zigaretten, las schwere polnische Literatur, die mir mein Chef empfohlen hatte und erfreute mich meines Müßigganges. An diesen Tagen dachte ich oft darüber nach, mir einen Hund zuzulegen. Einen Rottweiler vielleicht. 15 2 Das Husten kam ganz zum Schluss, während einer sehr leisen Partie. Und das versetzte mir einen Schlag. Ich habe immer wieder über das Geräusch als auch meine Reaktion darauf nachgedacht und ich weiß, dass es eigentlich keinerlei Zweifel in irgendeiner Weiße daran gab. Es war ein elektrischer Stoß, ganz einfach. Elektrisch, emotional. Ich verfiel in einen Schockzustand und er dauerte eine ganze Weile: Während ich abgestumpft dem Schlussakkord des Konzerts lauschte, während des folgenden, langen und absolut verdienten Applauses und bis der Abspann des Senders kam und uns erklärte, dass wir gerade Beethovens fünftes Klavierkonzert in einer Einspielung des Berliner Sinfonieorchesters gehört und gesehen hatten. Der Solist war Tilmann Krämer und das Datum der Aufzeichnung war der 14. Oktober dieses Jahres. Das war sie gewesen. Das war Katharinas Husten. Meine verschwundene Ehefrau hatte während dieser alten Aufnahme irgendwo im Publikum gesessen und auf Grund einen leichten Kratzens im Hals, das zu unterdrücken ihr nicht gelungen war, erhielt ich das erste Lebenszeichen von ihr seit mehr als drei Jahren. Ein Husten aus Berlin. Eineinhalb Minuten vor Ende des Stücks, in ei16 nem Moment, als es gerade eine kurze Pause gab. Natürlich mag es sonderbar klingen, aber im Lichte von vielem anderen, was mir früher oder später noch zustieß, erscheint es wiederrum gar nicht mehr so aufregend. Ich notierte mir auf einem Papierfetzen den Spielort und die Zeit des Konzertes, goss den schon kalt gewordenen Tee ins Spülbecken und steckte mir eine Zigarette an. Meine Gedanken fingen an zu arbeiten und ich merkte, dass ich davon leichte Kopfschmerzen bekam. Mir kam zudem in den Sinn, dass an jenem 14. Oktober, an dem dieses Konzert stattfand, jemand mir Bekanntes Geburtstag hatte, aber mir fiel es auf Biegen und Brechen nicht ein, wer es war. Es kostete mich über eine Woche – acht Tage um genau zu sein – um eine DVD dieses Konzertes beim Sender zu bekommen. Als ich sie dann endlich im Briefkasten vorfand, fingen meine Hände leicht zu zittern an und ich merkte an meinen Fingerkuppen eine Kälte, wie ich sie nur bei großer Angst verspüre. Ich nahm die DVD aus der Hülle und ließ sie abspielen. Das Publikum sah man nur ganz kurz am Anfang. Ich spulte vor bis zu dem Punkt als es diese Pause gab und hörte es mir neun, zehn Mal an und jedes Mal versuchte ich absolut unvoreingenommen und gleichzeitig besonders aufmerksam zuzuhören. Ich stellte den Tonregler auf Anschlag, hörte es mit meinen Kopf17 hörern, machte es leiser und versuchte selbst zu husten und dabei zu achten, wie so etwas denn klingt. Ich kann es natürlich nicht beschreiben. Gibt es überhaupt Worte für so etwas wie ein Husten? Mir kommt der Gedanke, wie wenig von unserer Wirklichkeit und unseren Vorstellungen von ihr eigentlich in den Bereich der Sprache fällt. Während es also kein Problem für mich darstellt, mit Hilfe eines ganz kurzen Höreindrucks das Charakteristische an dem spezifischen Husten eines Menschen herauszufiltern – unter dem von hundert oder tausend anderen, besitze ich kaum ein adäquates Wort oder einen Ausdruck, um dieses Geräusch zu beschreiben. Ich nehme an, dass eine genaue Unterscheidung mit Hilfe von Luftfrequenzkurven und ähnlicher Techniken zu Stande kommen könnte. Aber was mich betrifft, war dieser Aspekt von Anfang an überflüssig und uninteressant. Es war Katharina, die da hustete. Am 14. Oktober hatte sie in Berlin gesessen und Beethovens fünftes Klavierkonzert gehört. Und ich hatte es sofort gewusst als ich es hörte und ich wusste es immer noch genau nachdem ich es mir wieder und wieder angehört und angesehen hatte. Sie lebte. Und es gab sie. Zumindest vor knapp fünf Wochen. Und das versetzte mir einen Schlag – wie schon gesagt.. 18 3 Der zweite Grund nach Berlin zu reisen, kam drei Tage vor Heiligabend. Ich musste am Abend davor spät ins Bett gegangen sein, denn als mich das Telefon gegen 11 Uhr morgens wachklingelte, fiel ich fast vor Schreck aus dem Bett. Der Verleger Kerr rief mich an und teilte mir mit, dass Bachmann tot sei und dass er soeben dessen neues Manuskript erhalten habe. Ich wusste im ersten Moment überhaupt nicht, von was er sprach. Too much information, hätte Erik früher dazu gesagt und dabei fällt mir ein, dass ich Erik sehr vermisse. Und Sonny. Ich sollte ihn mal wieder anrufen. Es gäbe einen neuen Job für mich, sagte Kerr, trocken wie eh und je. Einen wichtigen, vielleicht der wichtigste meines Lebens, meinte er, ohne Regung in der Stimme. Und ich solle doch bitte schleunigst in den Klosterkeller kommen um das Ganze mit ihm bei einem Teller Pasta und einem Glas Rotwein zu besprechen. Ich fühlte mich leicht überrumpelt, wusste nicht, von was er sprach, aber nahm die Einladung an, zog mich um und stieg in die erste Bahn Richtung Klosterkeller. „Bachmann ist tot“, sagte Kerr und stocherte ein wenig lustlos mit der Gabel in seinen gefüllten Cannelloni herum. „Die genauen Umstände sind bisher noch nicht bekannt. Jedoch – und das wissen sie auch, Mertens – 19 war er gesundheitlich schon seit Jahren angeschlagen. Man kennt doch die Geschichten, Alkohol, Drogen, Tabletten. Also keine große Überraschung“, führte er das ganze weiter aus. „Ach“, bekam ich nur heraus. Ich war überrascht. Bachmann, Richard Cornelius Bachmann der Schriftsteller, war also tot. Allerdings dachte ich nicht, dass Kerr mich nur deshalb hier antanzen ließ. Das hätte er mir sicher auch am Telefon sagen können oder per E-Mail. „Davon wusste ich nichts“, fuhr ich fort. „Wie ist es passiert?“, fragte ich Kerr, der mir während dieses Gespräches noch nicht ein Mal in die Augen gesehen hat. “Naja, die Gerüchteküche in der Verlagswelt brodelt natürlich. Einige sagen Selbstmord, er nahm ja viele Antidepressiva. Manche vermuten auch Drogen oder starke Tabletten. Manche sagen, er hinge an der Nadel. Aber er hat sich wohl im See ertränkt – an seinem Geburtstag“, antwortete Kerr kurz und knapp. „Wohnte er noch in Berlin? Charlottenburg, wenn ich mich recht erinnere?“, fragte ich. „Ja, bis zuletzt mit seiner Frau, da soll es aber auch lange schon gekriselt haben, erzählt man sich.“ Ich nickte. „Und die offizielle Meldung?“, fragte ich. „Es gab eine knappe Pressemitteilung. Man fand nur sein 20 Boot auf dem See. Keine Leiche. Aber einen Abschiedsbrief. Der wird aber gerade noch untersucht. Genaueres wird man wohl erst in den nächsten Tagen erfahren. Sein Verleger, Herr Büchner, schweigt noch.“ Ich nickte. Ich erinnere mich, wie ich zwei seiner Bücher vor längerer Zeit einmal übersetzt hatte. Einmal Der schwarze Brief, eine groteske Liebeskomödie, angesiedelt im Tokio der Achtziger-Jahre und Glücklos in den Fliederbüschen, eine seltsam geschriebene Erzählung über eine verlorene Kindheit in den Weltkriegsjahren 1914-1918. Es war generell keine leichte Kost. Oft benutzte er eine sehr subtile Sprache und versuchte mit langen Schachtelsätzen und Andeutungen anscheinend den Intellekt des Lesers herauszufordern. Das Feuilleton liebte ihn und seine Bücher, auch weil er anders war als die meisten Autoren der Gegenwart. Mir gefielen die Bücher, die ich von ihm kannte nicht sonderlich aber es war eben mein Job, sie zu übersetzen. Nicht mehr aber eben auch nicht weniger. Ich hatte ihn auch einmal eher zufällig bei einer Vorlesung eines seiner Bücher in einem kleinen Szenelokal in Sankt Pauli persönlich getroffen. Bachmann saß an diesem Abend an einem für ihn, zu groß geratenen Tisch und lies Gedichte vor, die er während seiner Jugend schrieb. Es war ihm allerdings anzusehen, dass er solche 21 Veranstaltungen hasste und das einzige Gefühl, dass man aus seinem Verhalten lesen konnte war pure Verachtung. Auf alles und jeden. Jedoch fiel mir damals schon seine wunderschöne Ehefrau auf. Marlene Bachmann. Eingehüllt in ein enganliegendes schwarzes Samtkleid zog sie wohl nicht nur meine Blicke an diesem Abend auf sich. Sie war etwas größer als er, hatte lange dunkelbraune Haare, die sie hochgesteckt trug. Irgendwie passte sie rein äußerlich nicht richtig zu ihm, aber warum sollte das eine Rolle spielen? Ich war Bachmann danach nur noch bei zwei oder drei Gelegenheiten begegnet aber unweigerlich war mir etwas schwer zu akzeptierendes an ihm aufgefallen. Ich habe nie wirklich sagen können, worauf es eigentlich beruhte aber nichtsdestotrotz war dieses Gefühl vorhanden. Als ob er nicht hier her gehörte. „Aber naja, es gibt da noch etwas, und da kommen sie ins Spiel, lieber Herr Mertens“, fuhr Kerr weiter fort während er einen großen Schluck Rotwein zu sich nahm, „einen Tag zuvor, also gestern, hat er uns das hier zukommen lassen.“ Kerr öffnete seine Aktentasche und zog ein mit einem einfachen Schnellhefter zusammengebundenes Manuskript heraus. Zudem legte er mir noch einen Brief dazu. Der Umschlag des Manuskriptes war noch verschlossen, was einen irritierenden Blick meinerseits hervorrief. 22 „Noch zu? Dachte, es wäre so wichtig“, sagte ich unsicher. „Lesen sie erst mal“, forderte er mich auf und überreichte mir den Umschlag. Ich nahm den Brief sorgfältig aus dem Kuvert und erkannte Bachmanns Handschrift sofort. Die gleichen überschwänglichen Serifen wie immer. Aufdringliche, arrogante Type. Berlin, 19. Dezember Ich schicke Ihnen mein letztes Manuskript zur Übersetzung und Veröffentlichung. Verboten ist jeglicher Kontakt mit meinen Verlegern und Anderen. Das Buch darf unter keinen Umständen in meiner Muttersprache erscheinen. Höchste Diskretion ist notwendig. Hochachtungsvoll Richard C. Bachmann. PS. Das ist die einzige Kopie. Ich gehe davon aus, dass ich mich auf Sie verlassen kann, E. M. Ich schluckte und faltete den Brief wieder zusammen. „Na, zu viel versprochen?“, sagte Kerr, nach dem er beim Kellner mit dem Namen Giovanni, sein zweites Glas Pinot Grigio bestellte. „Hm, und was bedeutet das?“, fragte ich. „Keine Ahnung“, wir haben das Paket gestern bekom23 men. Ich habe daraufhin sofort bei Bachmann zuhause angerufen, aber keiner ging ran, ebenso bei seinem Verlag in Dresden, Büchner ging nicht ran. Bis ich gestern Abend die Pressemitteilung las, dass er wohl verstorben sei.“ Ich nickte und wir widmeten uns nach dieser Erläuterung schweigend dem Essen und ich erinnere mich daran, dass ich meinen Blick nicht von dem verschlossenen Manuskript wenden konnte, dass neben Kerr auf dem Tisch lag. Ich spürte eine enorme Neugier auf das Geschriebene aber auch eine Form von Verachtung. Und dann dachte ich an Marlene Bachmann und ihr schwarzes Kleid. „Mit E.M. meint er wohl sie, Edgar Mertens“, begann Kerr wieder und deutete mit seinem Zeigefinger auf mich. „Ja, sieht so aus, dann habe ich wohl keine andere Wahl, was?“ meinte ich und putze mir meinen Mund mit einer Serviette ab. „Genau“, meinte Kerr, „ich habe heute Morgen mit Winter, unserem Verlagsleiter, gesprochen und ihm alles erklärt.“ Er faltete die Hände, drehte seinen Kopf in Richtung Fenster und sah raus auf den Marktplatz, sah auf die kommenden Straßenbahnen und den starken Verkehr. Ich kenne Kerr lange genug und ich weiß, dass er mit genau solchen Gesten seinen Worten immer mehr Gewicht zu24 fügen will. Was auch jedes Mal wirkt. „Wir sind der Meinung, dass sie es sofort übersetzen sollten. Nehmen sie das Manuskript, gehen sie damit wohin wie wollen, wir zahlen ihnen jedes Hotel, jedes Essen, bereiten sie das auf. Das wird der Knüller, der Beststeller des Jahres, vielleicht sogar noch mehr.“ Kerr, Meister der Übersprungsbewegungen, strich sich pathetisch durch sein dichtes Haar, als er weiter sprach. „Er ist gestern oder vorgestern verstorben und heute haben wir sein Buch in der Hand. Wie lange würden sie dafür brauchen, Mertens, wie lange?“ „Wie viele Seiten sind es?“, fragte ich vorsichtig. „An die 350.“ „Vier Monate, vielleicht auch etwas länger, bei Bachmann ist das immer so eine Sache. Für sein letztes Buch hatte ich fast ein Jahr gebraucht, wissen sie noch? Das war voll mit Anspielungen, Wortspielen, die sich nicht einfach übersetzen ließen, und so weiter, sehr schwierig und aufwändig“, erklärte ich ihm. „Verstehe. Meinen Sie es langt noch vor dem Sommer?“ Ich blickte auf meine Uhr. „Ich denke schon.“ „Also?“, fragte mich Kerr mit hochgezogener Stirn. „Ich schlafe eine Nacht drüber und melde mich morgen früh, ja?“, gab ich ihm als Antwort, was ihm sichtlich gefiel. 25 Mir war es natürlich klar, und Kerr auch, dass ich die Arbeit annahm, aber ich wollte die Verlagsleute ein wenig zappeln lassen, Stärke zeigen. Danach verabschiedeten wir uns und ich fuhr mit der S-Bahn-Linie 11 zurück in meine Wohnung. Und ich hatte das Gefühl, dass es nur noch kälter wurde. Ich rief meinen Vermieter an und bestellte einen Techniker. Ich dachte nach und mir kam in den Sinn, dass ich bisher noch nie ein jungfräuliches Manuskript in den Händen hielt. Ohne vorheriges Lektorat, ohne vorigen Einsehens eines Verlages, ohne eine Einsicht von überhaupt einem Menschen, außer mir und eben dem Autor. Es war kein Problem, sich vorzustellen, welche Sensation das in der Literaturszene sorgen würde. Bachmanns letztes Buch. Die erste Veröffentlichung nur in der Übersetzung. Vielleicht sogar am Jahrestag des Verstorbenen? Sicher würde es ganz oben in den Bestseller-Listen stehen, es wäre Gesprächsstoff für etliche Wochen und meinem Verlag würde es sicher wieder genug Geld in die Kassen spielen. Vorausgesetzt die Schweigepflicht und Diskretion würde eingehalten werden. Aber so wie die Lage war, wussten von diesem Manuskript nur vier Menschen, Kerr, sein Chef Winter, Bachmann und mir. Und Bachmann war ja offensichtlich tot. Und die werden einen Teufel tun und irgendetwas bereits ausplaudern. 26 Ich legte mich auf die Couch uns sah nach oben. Mittagsschlaf. Und bevor ich einschlief lag ich eine Weile da und dachte darüber nach, wie schnell das Leben einfach auf ein ganz neues Gleis wechseln kann. 27 4 „Ich weiß, dass ich dir wehtue, aber ich muss meinen Weg gehen“, sagte sie und legte sich neben mich. Wir lagen zuhause auf unserem Bett und sahen uns in die Augen, während ich ihr ganz sachte eine rote Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich. Mir kam der Gedanke, dass Augen, wenn man sie länger betrachtet, den Ausdruck verlieren, ja man könnte sogar sagen, sie würden mit der Zeit immer leerer werden. Allerdings weiß ich heute, dass ich diese Zeit mit ihr dennoch genoss. Ich saugte sie förmlich ein und dachte nicht im Geringsten daran, dass sie ihre Drohungen wahr machen würde. Am Abend vorher spielten wir, wie jeden Samstagabend, noch eine Runde Schach. Ich begann wie immer sizilianisch, aber sie setzte mich nach etwa 30 Zügen matt. Ich glaube, seit ich denken kann, hatte ich noch nie so desolat gespielt. Nicht einmal während meiner Studienzeit. Wahrscheinlich waren meine Gedanken zu dem Zeitpunkt bei G. und bei gefundenen Liebesbriefen in der Kommode und bei leeren Weinflaschen im Abstellraum und bei fadenscheinigen Ausreden Katharinas. Wer konnte in so einer Situation auch nur gedanklich ein Schachspiel spielen, geschweige denn gewinnen? Wer? 28 Mir war klar, dass sie „auf eigene Faust“ nicht zurecht käme, aber der Gedanke, sie einfach laufen zu lassen, war sehr verlockend, dass muss ich zugeben. Den Vogel einfach fliegen lassen. Dieser Satz fiel mir später dazu ein. Er beschrieb das ganze sehr gut. Katharina war mein Vogel. „Soll ich Frühstück machen“, fragte ich sie, nachdem ich mich aus unserem Bett erhob. „Ja, gern“, nuschelte sie, mit dem Gesicht im Kopf vergraben, während ich die Jalousie nach oben zog. „Fahren wir morgen?“, fragte ich. Darauf erhielt ich keine Antwort und ich verschwand in die Küche und schlug zwei Eier in die Pfanne. ~ Ich erwachte mit Kopfschmerzen und einem Riesendurst. Ich nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und trank sie mit einem Zug halb leer, ich rülpste und suchte meine Zigaretten. Auf dem Balkon mit einem schwarzen Kaffee in der Hand merkte ich, wie es mir langsam immer besser ging. Die Kälte war mir an diesem Morgen egal. Die Sonne ging gerade auf und ich dachte nochmals über Bachmann nach. Bachmann, der Schriftsteller. Bachmann, der Geschichtenschreiber. Bachmann, der Mensch der jetzt tot ist. Bachmann, der jetzt auf dem 29 Boden eines Sees liegt und von Fischen angeknabbert wird. Marlene, Kerr und Katharina. Ich griff zum Hörer, wählte Kerrs Nummer und wartete. „Kerr.“ „Ja, hier Mertens.“ „Ah, Guten Morgen Mertens, haben Sie sich entschieden?“ Ich räusperte mich, „Ja, ich mach’s.“ Ich spürte förmlich wie erleichtert Kerr war, und wie ihm gleichzeitig die Dollarzeichen in den Augen leuchteten. „Aber ich fahre dazu nach Berlin.“ „Wieso?“ fragte Kerr. „Weil Bachmann dort zuletzt wohnte und seine Frau ebenfalls, vielleicht statte ich ihr dort mal einen Besuch ab, ich bin dort näher dran, sie verstehen sicher.“ „Klar, wissen sie schon wo sie wohnen werden?“ „Ich dachte an eine Pension, etwas außerhalb der Stadt.“ „Wir suchen ihnen was aus. Das Manuskript schicke ich ihnen mit der Post. Natürlich per Einschreiben“ „Danke.“ 30 5 Kreta ist im Oktober am Schönsten. Den Satz schreibe ich auf ein Blatt Papier, das neben meinem Bett liegt. Mein Wecker zeigt 06:14 an. Vielleicht, so denke ich mir, schreibe ich selbst mal ein Buch oder eine Novelle und benutze diese Zeile als Anfangssatz. Anfangssätze sind wichtig, erzählte man mir immer. „Mertens, wenn sie Bücher übersetzen, achten sie auf den Anfangssatz. Meist können sie daraus schon schließen ob das Buch gut wird oder nicht“, sagte Professor Weimar während meiner Studienzeit einmal zu mir. Und während ich bemerke, dass gerade die Sonne aufgeht, fällt mir ein dass ich keinen Rasierer auf meine Reise mitgenommen habe. ~ Am 3. Januar fuhr ich mit dem Zug nach Berlin. Genauer gesagt in den Stadtteil Köpenick. In eine schöne, saubere und geräumige Privatpension mit Blick auf den Müggelsee. Zumindest hatte Kerr das so gesagt. Ich hatte einen Koffer mit Kleidung dabei und eine Aktentasche mit meinem Laptop und etlichen Fotos von Katharina und natürlich, in einem extra Koffer das Manuskript Bachmanns, dass immer noch verschlossen war. Berlin war bedeckt mit einer leichten Schneeschicht, einem Puderzuckerüberzug sozusagen, aber wahrschein31 lich kümmert das in der Stadt eh keinen, dachte ich mir. Und während ich das dachte, fiel mir ein, dass ich mich kaum noch an meinen letzten Berlinbesuch erinnern kann. Frau Fink, so sagte mir Kerr, erwartete mich schon. Und tatsächlich. Eine ältere, vielleicht 70- jährige gut gelaunte Frau nahm mich in ihrem noch weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer in Empfang. „Ach, sie sind sicher Herr Mertens, nicht wahr?“, sprach sie mich an. „Ja, guten Tag, Edgar Mertens, ich komme aus Hamburg, sie hatten mit meinem Chef, Herrn Kerr telefoniert“. „Sicher, sicher, kommen sie rein“. Ich bedankte mich und trat ein. Ihr Berliner Dialekt war nicht so ausgeprägt, wie ich erwartet hatte. „Oh ja, ein sehr netter Herr, der Kerr, August, nicht wahr? Ich kenne ihn noch von früher. Er war fast ein Jahr hier. Bis seine Frau diesen schrecklichen Unfall hatte.“ „Ja, ich weiß“, antwortete ich. „Wie geht’s ihm denn? Dem August.“ „Wem?“ „Na Kerr.“ „Ich denke ganz gut.“ „Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee oder einen Tee?“ „Gerne einen Kaffee“ 32 „Zucker, Milch?“ „Nein, danke.“ „Setzen sie sich doch.“ „Danke.“ Während sie in der Küche stand und alles zubereitete schnaufte ich durch, befreite mich von meinem schweren Wintermantel und musterte ein wenig die Wohnung. Auf jeder freien Fläche standen kleine geschnitzte Holzfiguren - wahrscheinlich eine Sammelleidenschaft. An den Wänden hingen alte Zeichnungen des Hamburger Hafens, das erkannte ich als Hamburger natürlich sofort. Ich wollte gerade aufstehen und zu einem Bild gehen, was Frau Fink wohl in früheren Jahren mit einem wohl gleich alten Mann im Arm zeigt, als auf einmal eine schwarze Katze hinter dem Vorhang auf mich zu kam und sich an meinem Bein strich. „Oh“, erschrak ich leicht. „Ach, das ist nur Matthias, mein Kater“, sagte Frau Fink. „Na, so was“, sagte ich und strich ihm übers Fell. „Ich hab‘ ihn schon seit ein paar Jahren. Ein Gast hat ihn mir quasi vererbt, kurz bevor er starb. Eigentlich hat er mir sogar zwei Katzen geschenkt, Claudius war der andere Kater, aber der ist mit letzten Sommer entlaufen. Is‘n guter Kater, leistet mir Gesellschaft, wissen sie. Wenn sie ihr Zimmer nicht abschließen landet er vielleicht auch mal in ihrem, also seien sie vorsichtig. Aber keine Angst, 33 der ist stubenrein“, sagte sie und stieß dabei einen kleinen Lachlaut aus. „Glaub ich gern, ich hatte mal als kleines Kind eine kleine Katze, ich habe aber den Namen vergessen.“ „War’n sie schon mal in Berlin?“ „Vor ein paar Jahren, aber nur privat.“ „Wie gefällt ihnen die Stadt?“ „Ich kann mich manchmal nicht wirklich entscheiden zwischen Ekel und Bewunderung. Da dazwischen irgendwo ist meine Meinung.“ „Ich verstehe sie sehr gut. Mir ging das Ganze auch so, und ich kam während der 70er hier her, da war das noch etwas schlimmer. Aufgewachsen bin ich ja in Dresden. Mein erster Mann, Gottfried, hat hier gearbeitet, ihm zu liebe bin ich hier her gezogen. Aber ich wollte die ersten fünf Jahre lang, jeden Tag wieder zurück, so schlimm war das. Bis ich mich daran gewöhnt hatte. An die Menschen, an die Atmosphäre und jetzt möchte ich hier nie wieder weg.“ Ich nickte. Ich ließ wieder meinen Blick schweifen. Die Wohnung war altmodisch eingerichtet. In der Mitte des Wohnzimmers stand ein gedeckter Tisch mit vier alten Holzstühlen. Zudem ein Sofa und ein Fernseher im klassischen Format der fünfziger Jahre und ein baufälliges Bücherregal mit anderthalb Metern Bücher, die ich 34 jedoch nicht erkennen konnte. Rechts neben dem offenen Kamin hingen ein Spiegel und ein gerahmtes Schwarzweiß-Foto eines Läufers, der über die Ziellinie rennt und das Gesicht verzerrt, fast schon leidend sieht er aus. Zuerst hielt ich diesen Mann für den Ehegatten von Frau Fink, doch als ich mir das Bild genauer ansah, sah ich den Namenszug und erkannte ihn dann auch: Emil Zatopek. Die tschechische Lokomotive. Den Selbstquäler. Den Bezwinger der Schmerzgrenze. Ein Ideal? Oder einfach nur ein Zeichen der Zeit? Aus längst vergangenen Tagen? Zatopek war der Läuferkönig der fünfziger Jahre, wenn ich das nicht falsch in Erinnerung hatte. Oder einer von den Königen zumindest. Sie kam wieder mit einem Tablett mit zwei Tassen. „Sie sind also geschäftlich hier?“, fuhr Frau Fink fort. „Ja, ich bin freier Übersetzer. Ich übersetze verschiedenste Bücher, Zeitschriften oder Manuskripte. Hauptsächlich aus dem Osteuropäischen und skandinavischen Sprachraum.“ „Klingt interessant. Ich les‘ auch gern. Aber meistens nur Krimis.“ Sie deutete mir ihrer Hand auf das Regal und fuhr fort. „Agatha Christe habe ich früher, als ich noch nicht dazu verdammt war, eine Brille zu tragen, regelrecht verschlungen. Da konnte man immer so schön miträtseln.“ 35 Sie lachte verlegen und zupfte an ihrer Spitzendecke, die auf dem Tisch lag. „Kennen sie das Buch, ‚das Alibi‘?“, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf. „Na auch egal. Aber so eine Arbeit“, fuhr sie weiter fort, „wie sie sie machen, ist sicher aufwändig, oder nicht?“ „Ja, manchmal. Im Prinzip schreibt man die Geschichte ja nochmals neu, weil die Ursprungssprache nie eins zu eins übersetzt werden kann, man wird quasi zum CoAutor.“ „Ah, ja“, sagte Frau Fink und setzte ihre Tasse ab. Wir sprachen noch eine knappe Viertelstunde über aktuelle Literatur, die Stadt Berlin und sie erzählte mir, dass ihr Mann bei Blohm und Voss in Hamburg als Schiffsbauer arbeitete. Was die Bilder an der Wand erklärten. Er starb vor drei Jahren an Krebs. „Was sind das für Plakate in ihrem Flur?“ Ich spielte auf den meterhohen Turm aus Papier im Flur an. „Ach das, das ist wegen der Wiese.“ „Welche Wiese?“ „Naja, wir haben hier in Köpenick eine Bürgerinitiative gegründet.“ „Wegen einer Wiese?“ „Wegen einer Hundewiese.“ Ich nickte. „Wissen sie, Herr Mertens, die Hunde brauchen hier eine 36 eigene Wiese.“ „Aber hat es hier nicht genug Wälder und Wiesen, sogar einen See?“, fragte ich etwas verwundert. „Ja, das ist es ja, aber keinen Platz extra für Hunde, verstehen sie?“ Ich nickte wieder. „Es gibt hier sehr viele Hundebesitzer, also dem zu folge sehr viele Hunde. Und die brauchen einfach eine Wiese wo sie frei umher rennen können und kein Jogger oder Radfahrer sich fürchten muss.“ „Ist das denn so?“ „Was?“ „Das diese Menschen sich fürchten?“ „Ja.“ Ich nickte. „Haben sie denn überhaupt einen Hund? Ich sehe nur Matthias.“ „Nein, aber ich hatte mal einen, einen Rottweiler, Lou, ein Prachtkerl. Aber er starb letztes Jahr.“ Ich nickte. „Und ich bin diejenige aus dem Team, die die ganzen Flyer und Plakate drucken ließ, mein Bruder arbeitet in einer Druckerei, wissen sie.“ „Wird bestimmt ein Erfolg“, sagte ich. Frau Fink nickte und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Sie starrte auf meinen Ring, und während ich meinen letzten Satz aussprach, dass es mir um den Tod ihres 37 Mannes leid tat und ich die Bilder auf der Kommode gefallen, hatte ich schon ihre Frage im Kopf. „Sie sind verheiratet, Herr Mertens?“ „Ja“, sagte ich. Und während ich so durch die Fenster ins Freie sah, merkte ich, dass es wieder anfing zu schneien. Der Puderzucker wurde dicker. 38 6 Es gibt bei Übersetzungen normalerweise zwei übliche Herangehensweisen. Es gibt Übersetzter – und das sind die Meisten – die das Buch drei bis fünfmal (je nach Schwere des Buches) komplett durchlesen und dann anfangen Zeile für Zeile zu übersetzen. Oder es gibt die Menschen, zu denen ich mich hinzuzähle, die das Buch vorher überhaupt nicht durchschauen und nur Zeile für Zeile lesen und diese dann übersetzen. Ohne, dass ich weiß, was als nächstes komme. Die Unvoreingenommenen, sozusagen. Ich weiß noch, dass ich schon als kleiner Junge meinen Spaß daran hatte, zu schreiben, einfach nur Geschichten nieder zu schreiben. Manchmal schrieb ich aus Langeweile einfach nur meinen Tagesablauf nieder – und dies bis ins letzte Detail (das spitzte in Mengenangaben beim täglichen Kochen mit meiner Mutter) später als Jugendlicher schrieb ich einige kurze Geschichten und Gedichte. Davon waren dann die Mädchen meist beeindruckt. Die Jungs eher nicht. Ich war als Kind sehr oft alleine zu Hause, meine Eltern waren beide voll berufstätig und meine Großeltern starben im Krieg bei einem Bombenangriff 1942 und das war die einzige Ablenkung, die mich vor der tristen Langeweile schützte. Freunde hatte ich bis auf Erik wenige, und der war leider oft krank; Sport und andere Hobbys 39 hatte ich auch nicht. Nur das Schreiben war mir wichtig geworden. Allerdings war ich in der Familie auch der einzige, der diese Leidenschaft besaß. Meine Mutter litt in ihren späteren Jahren an Narkolepsie und zwar so sehr, dass sie oftmals während des Redens einschlief und nach etwa zehn Minuten wieder aufwachte und ihre Sätze zu Ende brachte und niemand tat so, als wäre etwas in der Zwischenzeit passiert. Als Kind dachte ich immer, das sie mit mir auf diese Art spielte, bis ich es begriff. Leider steigerte sich diese Krankheit und sie musste schließlich aufhören zu arbeiten. Sie war in einer Telefonzentrale bei einer Versicherung tätig und konnte nicht mehr, dies hatte dann zur Folge, dass sie starke Depressionen bekam und Medikamentenabhängig wurde. Sie war danach sehr lange im Krankenhaus und mein Vater musste sich um mich kümmern. Allerdings arbeitete er eben auch (er hatte einen Schreinerbetrieb in der Hamburger Innenstadt) oder war alleine bei meiner Mutter (was mir auch recht war, mir gefiel der Anblick meiner kranken Mutter nicht). In dieser Zeit, ich war zwischen 14 und 16, bekam ich von meiner Schulbibliothek Zugang zu den großen Werken. Mein Deutschlehrer, Herr Seide brachte mich dazu, solche Bücher zu lesen. Und ich machte mir einen Spaß daraus, Werke von Shakespeare zu lesen, etliche Male zu lesen und fast schon auswendig zu lernen und nachdem ich sie gelesen hatte einfach zu Papier zu bringen. Quasi 40 mit meiner Erinnerung an das Buch eben dieses neu zu schreiben. Manchmal auch um zu schreiben oder eine verständlichere, moderne Sprache zu benutzen und sie so zu neuer Form zu bringen. Dies kam mir in der Oberstufe der Schule zugute, in dem es um Textverständnisse und Interpretationen ging. Nach meinem Abitur studierte ich in Münster Germanistik und Volkswirtschaftslehre. Während dieser Zeit begann ich mich für das Theater zu interessieren und spielte bei einigen Stücken mit (wobei ich hier deutlich machen muss, dass ich kein guter Schauspieler war – meist hatte ich nur kleine Komparsenrollen) und versuchte mich auch als Inszenator einiger Shakespeare-Stücke. Mein liebstes Stück – auch heute noch - war immer und immer wieder König Lear, das ich später selbst etliche Male (um)schrieb und auf die Bühne brachte. Es war ein kleiner Erfolg, der es sogar bis in den Lokalteil einiger Zeitungen brachte. Jedoch merkte ich in jener Zeit, dass es nicht meine Kunst war, Geschichten neu zu schreiben sondern vorhandene umzuschreiben. Ich begann also soweit es mir möglich war - alle großen Werke der Literatur in ihrer Originalsprache zu lesen und quasi neu zu übersetzen. Daran fand ich so sehr gefallen, dass ich mich für eine Arbeit als Übersetzer bei einem kleinen Hamburger Verlag bewarb. Und während dieser Zeit lernte ich auch Katharina kennen. 41 ~ Das Zimmer in dem ich nun die nächsten Wochen verbringen sollte war nicht gerade groß aber es war sauber und sehr hell, durch den Vorhang schien diffuses Licht, was durchaus einen Vorteil mit sich bringt, wenn man schreibt. Der Raum war weiß tapeziert, hatte ein großes gemütlich aussehendes Bett und einen breiten Fernseher an der Wand stehen. Über dem Bett hing ein Bild Berlins mit der Unterschrift „Unter den Linden 1913“. Ich schaute es eine Minute schweigend an, bis es an der Tür klopfte. „Herein“, rief ich. „Herr, äh, Mertens, ich will sie nicht stören, aber möchten sie morgens frühstücken? Ich wollte gerade einkaufen.“ „Machen sie sich keine Umstände Frau Fink, ich komme schon zurecht, wenn was ist, rufe ich“. Ich zwinkerte ihr zu und verschwand im Badezimmer. Ich duschte und dachte lange nach. Meine erste Aktivität musste nun sein, eine geeignete Lokalität zu finden, wo ich schreiben konnte. Ich konnte es zwar auch hier im Zimmer machen, denn wie schon gesagt, es war hell und freundlich aber das war nicht meine bevorzugte Art und Weise zu arbeiten. Ich ziehe es immer vor, an einem Ort 42 zu arbeiten und an einem anderen Ort zu leben, bzw. zu schlafen. Privat und Beruf müssen getrennt werden, dies war und ist mein oberstes Prinzip. Ich fragte also nach dem Duschen Frau Fink, ob es in der Nähe eine größere Bibliothek gab. Sie gab mir zwei Adressen und ich machte mich sofort auf den Weg dorthin. 43 7 In Münster lernte ich Katharina kennen. Katharina Johanna Brahms. Um genau zu sein. Ich befreundete mich dort mit einem Kommilitonen, namens Erik Meissner an. Ein oftmals etwas seltsamer, eigener Typ, aber wir hatten oft die gleichen Interessen. Wir interessierten uns für Literatur und Theater, er hegte damals eine Leidenschaft zu britischen Gegenwartsliteratur während ich zu jener Zeit eher russische und osteuropäische Bücher lesenswert fand. Aber wir befruchteten unsere gemeinsame Leidenschaft durch regen Austausch etlicher Werke. Meine erste Shakespeare-Inszenierung in der Universität schrieb ich mit zusammen - er war der bessere Übersetzter - und es endete in einem Besäufnis, mit der Schnapsidee, King Lear nur mit männlichen Akteuren auf die Bühne zu bringen. Was aber nie zustande kam. Zudem waren wir beide Anhänger des HSV, er trug sogar immer einen Pin am Revers seiner Anzüge. Obwohl ich nie Sympathien für diesen Sport hatte und erstrecht nicht für einzelne Mannschaften, konnte ich mich gegen diese Euphorie im Stadion niemals verwehren und beobachtete mich schon bald selbst, den Hamburger Stars um Magath, Hrubesch und Manni Kaltz zujubelnd. Erik war stets gut gekleidet, oft mit Hemd und perfekt sitzendem Anzug. Seine Frisur – ein rechter streng gezo44 gener Scheitel – war so akkurat, das man sich danach die Uhr hätte stellen können. Er war zu jedem Anlass passend gekleidet. Er hatte zwar wie ich in dieser Zeit wenig Geld, aber er investierte eben neben seinen Büchern alles, was er in seinem Kellnerjob verdiente, in teure Kleidung. Daher kam es manchmal vor, dass er mich um etwas zu Essen anbettelte, da er sein letztes Geld für eine Hose ausgegeben hatte. Ich hatte nichts dagegen, im Gegenteil. Ich gab ihm gerne etwas ab und genoss die Zweisamkeit immer mehr. Wir unternahmen zu dieser Zeit sehr viel, rauchten und tranken reichlich und hörten Miles Davis in meiner kleinen Wohnung. Manchmal kam er auch zu mir und wir unterhielten uns die Nacht durch über trivialste Dinge. Ich erinnere mich, dass wir auch öfters zusammen zum Eishockey gingen. Wie die Mannschaft hieß, habe ich mittlerweile aber auch wieder vergessen. Ich konnte damals den Schein nicht verwehren, dass ich mich in Eriks Nähe überaus wohl fühlte und dass es mich an manchen Tagen mehr als zu irgendwem sonst hinzog. Er weckte in mir eine bis dato unbekannte Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die ich – auch im Nachhinein – nicht genauer benennen kann. Es gab Nächte, in denen ich in meiner kleinen Münsteraner Studentenwohnung so allein und verlassen vorkam, dass ich mir nur sein Dasein wünschte. Nach unserem gemeinsamen Studium zog er mit sei45 ner Schwester Sonja nach Kopenhagen und wurde dort Fremdsprachenkorrespondent bei einem staatlichen Fernsehsender. Sein Vater war halber Däne und hatte Kontakte zur dortigen Fernsehbranche. Wir telefonierten zwar ab und zu noch und schrieben uns Briefe, aber der Kontakt wurde immer weniger, bis er irgendwann komplett erlag. Erik war zwei Jahre älter als ich und durch seinen Nebenjob in der beliebten Münsteraner Studentenbar Auerbach, kannte er jede Menge Menschen, die dort einund ausgingen. Unter anderem auch Katharina, die er mir eines Abends vorstellte. Sie studierte Kunstgeschichte. Ob sie vorher was miteinander hatten, ob er Gefühle für sie hatte, fragte ich nicht, wir redeten nie darüber, es war mir irgendwie auch egal. Sie sah umwerfend aus. Sie war groß gebaut, hatte eine schlanke Figur und dunkelrote Haare, die sie zu einem Bob geschnitten hatte. Ich verliebte mich sofort in sie, seit ich sie das erste Mal an der Bar gesehen hatte. Sie kam eigentlich irgendwo aus kleinen Kaff in Brandenburg, lebte jedoch während ihres Studiums in einer geräumigen WG außerhalb Münsters mit zwei unausstehlichen jungen, männerfeindlichen Frauen zusammen. Katharina hegte wie ich eine Leidenschaft für exzessives Schachspiel, exzessives Rauchen und sie hörte jeden Tag The Smiths auf ihrem kleinen WG-Balkon und ich fing an, mit jedem Tag, an dem wir uns näher kamen, zu 46 glauben, sie wäre von einem anderen Stern. Ich weiß noch, dass ich mir ihretwegen zwei Rothko-Kunstdrucke in mein Zimmer hängte nur um ihr zu gefallen. In Wahrheit verstand ich von abstrakter Kunst überhaupt nichts. Teilweise ekelte es mich sogar an. Allem voran Rothko. Nach ihrem Studium zog sie wieder nach Potsdam zu ihren Eltern und ehe wir uns versahen, gab ich meine WG auf und zog bei ihr ein. Das war vor genau 21 Jahren. Wie ein Vogel, genau so beschrieb sie sich damals, als wir zusammenkamen. Ein Vogel mit verletztem Flügel Bis ich geheilt bin, kann ich nicht geben, sagte sie. Nur empfangen. Das gefiel mir sehr. Das gab unserer Beziehung von Anfang an den Rahmen und ich akzeptierte ihn ohne jedes zögern. Das war die Prämisse. Es dauerte fast einen Monat bis wir uns körperlich liebten, das sagte mir zu. Es gab mir außerdem Zeit eine andere Affäre zu beenden, mit der ich noch nicht richtig fertig war. Als wir heirateten war sie immer noch mein verletzter Vogel. Dann verlor sie zwei Kinder, bevor sie reif und lebensfähig waren und das besiegelte nur noch unseren Bund. Erst lange nach der zweiten Fehlgeburt genügte meine Stärke nicht mehr, das Vakuum in ihr zu füllen. Adagio, war zu jener Zeit ihr Lieblingswort, sie musste es 47 an ihrer Kunsthochschule oft verwendet haben. Oft sagte sie Sätze wie „Im Augenblick befinden wir uns im Adagio, aber das ist nichts Besonderes.“ Aber das war natürlich nicht so. In dieser Zeit begann der Kontakt mit Georg Weith. Als Katharina, in einer der ersten Therapiestunde von ihm erzählte fiel es mir schon auf, dass er die Moral von dem verletzten Vogel und des stärkeren Mannes und seinen Pflichten nicht verstand. Ich fing an ihn zu verachten. Von Anfang an. Lange Zeit bevor er der Liebhaber meiner Frau wurde. 48 8 Die erste Adresse, die Frau Fink mit gab, war mehr oder weniger ein kleiner Bücherclub in der Osloer Straße im Bezirk Mitte, es gab zwar alles, es war geräumig aber es war nicht schön, es war kalt, der Wind zog durch die Tür und die Menschen die dort verkehrten, passten mir nicht. Es waren zu viele junge Menschen dort, wahrscheinlich Studenten, deren Anwesenheit mich einfach störte. Dafür war die zweite Adresse in der Grunewaldstraße um einiges besser. Stadtbibliothek Steglitz, stand in dunkelgrünen Lettern vor dem Eingangstor. Es roch in der Eingangshalle ein wenig nach frisch gebrühtem Kaffee, was in mir gleich ein wohliges und zugleich heimeliges Gefühl vermittelte. Es war mit öffentlichen Verkehrsmitteln etwa eine Stunde von meiner Pension in Köpenick entfernt. Die Räume waren mit dunkelgrünen, schallschluckenden Teppichen ausgestattet. Überall standen Regale mit Büchern, Schreibtische mit Art Deco Bankerlampen, die allesamt eingeschaltet waren. Und vor allem – es war ruhig. Ich entschied mich hier zu bleiben und holte mir einen Milchkaffee am Automaten, der neben der Eingangstür stand. Dann drehte ich mich um und begrüßte die Biblio49 thekarinnen, stellte mich vor und erklärte ihnen, dass ich von nun an, jeden Tag zwischen 9 Uhr und 16 Uhr hier sein werde. Ich mache das so, seit ich vor vielen Jahren einmal ein Interview mit Nick Cave in einem Musikmagazin las. Er erzählte über seinen strengen Tagesablauf und dass er jeden Morgen um 7 Uhr aufstehe, seine Kinder in die Schule fahre, danach in sein eigenes Büro in der New Yorker Innenstadt gehe, seine Texte schreibe und dann um 16 Uhr wieder zurückfahre und seine Kinder abhole und mit ihnen zu Abend esse. Ein Ritual, welches ich mir auch zu Eigen machte. Alles sollte seine Ordnung haben und irgendwann würden sie vielleicht eh danach fragen, warum ich jeden Tag in ihre Bücherei gehe und ob ich denn was Bestimmtes suche und bloß nicht finde. Die Bibliothekarin, Frau Enger, klein, kräftig gebaut, kurze schwarze Haare und eine Nickelbrille, begrüßte mich, führte mich kurz herum, zeigte mir die Toiletten und bot mir an, wenn ich Kaffee wolle, mich einfach im Aufenthaltsraum ihrer Kollegen zu bedienen. „Der Kaffee im Automaten ist doch schrecklich“, sagte sie. Ich nickte, bedankte mich und suchte mir einen Platz. In der Biologie-Abteilung (Abt. IV Meeresbiologie | F-L) ließ ich mich an einen Tisch nieder. Hinter mir war an der Wand hing ein Poster von einem großen Hammerhai. 50 Die Sonne schien durch das große Fenster seitlich herein und wärmte mich, während ich meinen Mantel über die Stuhllehne warf und meine Ledertasche auf den Tisch legte. Ich nahm das Manuskript, das immer noch ungelesen war, aus der Tasche und breitete es vor dem Tisch aus. Ich nahm einen letzten Schluck aus dem Pappbecher und freute mich, dass es morgen frisch Gebrühten gäbe, dieser aus dem Automaten war wirklich fürchterlich. Eine Zumutung. Aber vielleicht war man in Berlin auch nichts Besseres gewohnt und es herrschte allgemeine Gleichgültigkeit. Draußen fuhren Doppeldecker-Touristenbusse vorbei, vor der Hausfassade stand ein Asiate, der ein Foto eines Sophie-Scholl-Gedenksteines machte, der vor der Bibliothek stand. Ich sollte ihn mir mal genauer ansehen, dachte ich im Stillen, hatte aber eigentlich keine Lust darauf. Ich muss zugeben, dass meine Hand ein wenig zitterte, als ich die erste Seite aufschlug. ~ Es war der 11. August, an dem wir zur neunstündigen Autofahrt losfuhren. Da Katharina Flugangst hatte und ich aufgrund der Flexi51 bilität sowieso ein Auto als Reisemittel vorziehe, fuhren wir – wie in den meisten Urlauben – die Strecke mit unserem Auto. Ich hatte tags zuvor mein letztes Buch „Der Reiher“ eine kleine Novelle eines jungen dänischen Schriftstellers - gerade fertig übersetzt und Kerr auf den Bürotisch gelegt. Er war zufrieden und ich nahm daraufhin zwei Wochen Urlaub. Das war auch bitter nötig. Meine Frau war zu diesem Zeitpunkt seit sieben Jahren Lehrerin in der Eichendorff-Grundschule in Hamburg, hatte Ferien und es war Sommer. Über Hamburg lag wie eigentlich nur im Sommer zu beobachten ist, eine gewisse Heiterkeit, es war warm, stellenweiße richtig heiß und die Menschen waren allesamt voll verzauberter Fröhlichkeit. Kein Vergleich zu den anderen Jahreszeiten, in denen Hamburg oftmals im Nebel oder im lang anhaltenden Regen zu versinken droht. Wir saßen den Abend vor der Abfahrt auf unserem Balkon, betrachteten den Ausblick auf die Wiese in Richtung Pinneberg und checkten nochmal, dass wir alles eingepackt und nichts vergessen hatten. Ich hatte einen Zettel mit Notizen gemacht, die ich Katharina in die Hand gab, während ich eine Flasche Rotwein köpfte und uns einschenkte. An diesem Abend fragte ich zum ersten Mal, um wen es sich handelte. „Georg.“ „Georg Weith?“ 52 „Ja“ „Dein Therapeut?“ „Ja“ Ich bekam einen Lachanfall an dem ich mich fast am Rotwein verschluckte. „Alle Frauen verlieben sich früher oder später in ihren Therapeuten, das kannst du vergessen, Kat“, warf ich ihr erbost zu. „Du gehörst mir“, fuhr ich weiter fort, „und das weißt du!“ Katharina trank einen Schluck ihres Weines, stellte das Glas vor sich auf den kleinen Holztisch und drehte sich mir zu. „Edgar, nochmal, ich weiß, dass ich dir wehtue, aber meine Ehrlichkeit ist das Einzige, was ich noch habe. Bitte akzeptiere das.“ Ich schwieg und schaute gedankenverloren auf den Boden. „Er wird mich ab und zu unten in Luzern treffen. So haben wir es abgemacht.“ Da schlug ich sie. Und danach redeten wir nicht mehr darüber. 53 9 GRAU – Das erste Kapitel. (So fing es an). Viel zu viele Menschen auf dieser Welt, die, wenn sie doch nur fähig und verbissen an den Zeigern der Zeit hängenblieben, sogleich und ungewiss... Ich machte eine Pause. Es war so wie die Bücher vorher, das fiel mir schon nach einem ersten halben Satz auf. Es war furchtbar. Es gab „den wichtigen ersten Satz“, wie es Professor Weimar beschrieb, nicht, bzw. er war ein Satz unter vielen anderen Schachtelsätzen, denen man nur hochkonzentriert folgen könnte. Teilweise unübersetzbar. Der Teufel höchstpersönlich würde nicht so schrecklich schreiben. Aber es war meine Aufgabe, dafür wurde ich schließlich bezahlt und es war Bachmanns letztes Buch. Und Bachmann ist tot. Also hatte ich die Verantwortung. Die ganze, verdammte Verantwortung lastete auf meinen Schultern. Vielleicht standen ja Hinweise, Vorahnungen auf seinen Tod darin. Vielleicht gab es irgendwelche chiffrierten Hinweise. Es muss ja einen Sinn haben, dass er es nicht in seiner Muttersprache veröffentlich haben will. Oder wollte. Ich arbeitete mich noch fünf Sätze weiter, ehe ich auf die Uhr sah. Es war gerade 16 Uhr und ich beschloss, für den ersten Tag genug getan zu haben. Auch wenn es nicht viel war. Aber ich hatte es geschafft, mich den ersten Zeilen des Buches zu widmen. Auch wenn sie bisher noch kei54 nen richtigen Sinn gaben. Das war mehr als genug. Ich verabschiedete mich von Frau Enger und ging ins Grillstübchen gegenüber. Ein kleines Restaurant mit günstigen lokalen Gerichten. Ich aß einen kleinen Braten mit Kartoffeln und bereitete mich auf den nächsten Tag vor. Mich bediente eine junge blonde Frau mit abgeblättertem rotem Nagellack. Eine der wohl besten Metaphern über diese Stadt: eine schöne Frau mit abgeblättertem Nagellack. An Berlin, seinen Gaststätten und deren Personal hatte sich also seit meinem letzten Besuch vor einigen Jahren nichts geändert, musste ich sobald feststellen, dabei grinste ich still meine etwas zu lang gekochten Kartoffeln an. Der Wecker klingelte um 7:30 Uhr. Ich trank einen Schluck Wasser, ging auf den Flur ans dort stehende Telefon und rief die Nummer an, die ich am Vortag im Telefonbuch im Grillstübchen fand. Es meldete sich eine Frau mit ungewohnt tiefer Stimme: „Privatdetektiv Nowak, Müller am Apparat. Was kann ich für sie tun?“ „Guten Tag, Mertens ist mein Name, könnte ich vielleicht Herrn Nowak sprechen?“ „Der ist zurzeit leider außer Haus, kann ich ihm was ausrichten?“ „Nun ja, ich weiß nicht. Das ist… vertraulich.“ 55 „Herr Mertens, so war doch ihr Name, oder?“ „Ja.“ „Also Herr Mertens, sie rufen gerade in einer Privatdetektei an, hier ist alles diskret, oder wie sie sagen vertraulich, wissen sie.“ „Ja, klar“, sagte ich unsicher. Natürlich hatte sie Recht. „Also, ich hätte da einen Fall für ihn“, fuhr ich weiter fort. „Na also, dann kommen sie doch am besten hier vorbei, wenn es keine Umstände macht. Herr Nowak müsste gegen 15 Uhr wieder hier im Büro sein.“ „Ja gern.“ „Haben sie die Adresse?“ „Ja.“ „Gut, dann trage ich sie ein. Bis später, Herr Mertens“ „Danke. Auf wieder hören“ „Auf wieder hören.“ ~ Die Idee, in der Schweiz Urlaub zu machen, kam von meiner Frau. Mir persönlich sind die südlichen Mittelmeerländer eigentlich lieber. Ich genieße die Wärme, die dortige Lebensfreude der Menschen und finde somit auch Erholsamkeit. Aber meiner Frau machte seit zwei Jahren ihr Asthma immer mehr Probleme und ihr Therapeut, Herr Weith aus Hamburg-Reinbek (er wohnte früher in 56 Lübeck, zog aber später aufgrund der Scheidung mit seiner Frau nach Hamburg und bezog dort eine Praxis) empfahl ihr die Schweiz. Das Tessin um genau zu sein. Dort soll es - laut Herrn Weith - die beste Luft für Asthma Patienten geben und er kenne da ein Hotel in Familienbetrieb, das nicht so teuer sein soll und speziell für AsthmaPatienten sein soll – was auch immer das hieß. Er mache dort selbst hin und wieder Urlaub, wenn es die Arbeit zuließe, natürlich. Ich ließ mich dazu breitschlagen. Für die Gesundheit meiner Frau. Mir kam natürlich in den Sinn, warum wir nicht auf einer Nord – oder Ostfriesischen Insel Urlaub machten, oder in Dänemark oder in Schweden - die Luft sollte ja Ratgebern zufolge dort auch sehr gut sein, und da es wäre fast tausend Kilometer Anfahrtsweg weniger, aber ich verwarf diese Frage gleich wieder. Vielleicht ist es auch nur der Reiz des Auslandes, dachte ich damals. Jetzt, wenn ich darüber nachdenke, weiß ich natürlich weshalb wir ins Tessin fuhren, und nicht an den Strand von Sylt. 57 10 Es war an diesem Morgen ein kleines bisschen wärmer als die Tage zuvor, zumindest bildete ich mir das ein. Der Wind blies nicht so heftig wie zuvor und ich ging sogar ohne meinen Schal aus dem Haus. Ich lief in die Bibliothek, nahm einen Kaffee aus dem Büro, machte ein wenig Smalltalk mit Frau Enger - wir sprachen über das Wetter und verschiedene Kaffeesorten Arabiens - und verschwand in meiner Ecke und tauchte wieder in Bachmanns Buch ab. Ich kam voran. Immerhin hatte ich bis 12 Uhr, als ich meine erste Pause machte, schon drei Seiten geschafft. Aber es ging ähnlich kryptisch wie am Vortag weiter. […] dennoch, obwohl es manchmal nicht so sehr den Schatten auf unser aller Verlangen legt, war es M die B begehrte, ihr lüsterner Mund, ihre Beine, die bis zum Mond und zurück ragten, ihre kastanienbraunen Haare aus Samt und den zarten Händen einer Frau, die nie etwas Böses anstellen würden. In ihr sah B all den Reichtum der Erde. Alle Götter dieser Welt würden ihm zustimmen […] Wie gesagt, es war eine Tortur und ich begriff noch nicht, in welche Richtung das Ganze sich zu drehen schien. Aber scheinbar gab es eine Person namens B und eine Frau mit dem Namen M. 58 Zur Pause aß ich mein mitgebrachtes Brot und trank noch einen weiteren Kaffee vom Büro. Ich schlenderte ein wenig durch die vielen Regale und sah mich ein wenig um. Ich ging zur Belletristik und dort zur Kategorie B. Ich lief umher und suchte, aber ich fand keinen Bachmann dort stehen. Ich zuckte mit den Schultern und begab mich zurück an meinen Tisch und schlug die vierte Seite des Buches auf. Mit fiel auf, dass das Buch bisher noch keinen Titel trug, ebenso, dass es zwischen einem unbenannten allwissenden Erzähler und einem IchErzähler hin und her wechselte. […] M die widerspenstige, M die ich nie zu fassen bekam ob ihrer Kühnheit. Ihre Güte und ihre Brüste. Ihre festen aber nicht zu großen Brüste waren jede Mühe wert. Sie war die Göttin Persephone, Selene und Nike in einem. Sie sollte mir gehören. Doch die Götter waren sich uneins darüber. Und es gab noch Andere […] Gegen 14:30 packte ich zusammen und machte mich auf den Weg zu Herrn Nowak in die Willy-Brandt-Allee, nahe des Westbahnhofes. Ich war noch ein wenig zu früh dran, also kaufte ich mir am Bahnhofskiosk ein Päckchen Zigaretten und die aktuelle Tageszeitung und setzte mich auf eine Bank und schlug so die Zeit tot. Ich klingelte an der Tür und mir wurde, ohne Anmeldung die Tür geöffnet. Ich sah eine Frau, wahrscheinlich seine Sekretärin, etwas rundlich im Gesicht, braune, 59 schulterlange Haare, am PC tippen. Sie schielte durch ihre Brille nach mir. „Mertens, richtig?“ „Ja, genau, ich habe…“ „Gehen sie rein, er wartet schon auf sie“. Sie deutete auf die Tür neben sich auf der P.N. stand. Ich ging durch die Glastür in das Büro. Nowak stand gerade am Fenster und rauchte. Er sah mich und schnippte die Zigarette mit einem Schnalzer nach draußen. Die Fenster waren geöffnet. Es war eiskalt. Draußen schneite es. „Ah, Mertens, ja? Entschuldigung, dass es hier so kalt ist, aber ich darf eigentlich nicht mehr rauchen. Brigitte.. also ich meine Frau Müller…“ – er zeigte zur Tür – „…hat es mir verboten. Meine Lungen, naja egal, was führt sie zu mir? Was kann ich für sie tun? Möchten sie etwas zu trinken? Kaffee? Wasser? Orangensaft? Vielleicht einen guten Rum? Ich habe einen guten Doorly’s.“ Und ehe ich überhaupt den Mund aufmachen konnte, drückte er eine Taste an seinem Laptop und sprach in diesen. Es ertönte ein kurzes Piepsen. „Brigitte, bringen sie dem guten Herr Mertens doch bitte einen Kaffee und Kekse. Möchten Sie Zucker und Milch? „Äh was?“ „Brauchen sie Zucker zum Kaffee, ach egal. Gitte, das 60 gesamte Paket einfach.“ Er sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick und wir schwiegen uns ein paar Sekunden an. „Zigarette?“ „Gerne“. Ich nahm eine aus seiner Schachtel, ließ sie mir anzünden, inhalierte kräftig und blies den Rauch über den Schreibtisch, in dem Moment kam Frau Müller zur Tür herein, in der Hand ein Tablett mit einer Kanne Kaffee, einer Dose Keks, Milch und Zucker. „Danke Brigitte, sie können nach Hause gehen, ich benötige ihre Dienste heute nicht mehr“. „Danke, Chef“, antwortete sie und drehte sich weg. „Sie ist einfach ein Schatz, nicht wahr?“ Ich nickte. „Also, gehen wir nun mal in medias res. Womit kann ich Ihnen helfen, Herr Mertens? Ach so, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Also ich bin Peter Nowak, Privatdetektiv.“ Ich blies die Backen auf und war sichtlich froh, dass ich nun endlich erzählen konnte, weswegen ich hier war. 61 ~ In Hamburg fuhren wir gegen 20 Uhr los. Wir wechselten uns zwar mit dem Fahren ab, aber während die Sonne um halb fünf Uhr morgens langsam über den Schweizer Horizont stieg, schlief Katharina tief und fest. Sie sagte zwar, ich solle sie auf jeden Fall wecken, wenn die Sonne aufginge, aber als ich gerade meine Hand auf ihre Schulter legen wollte, fiel mir ihre Seelenruhe in ihrem Gesicht auf. Der schlafende Vogel. Ich brachte es nicht übers Herz, sie aufzuwecken. Im Autoradio lief Sigur-Rós und ich spürte wie sich meine Augen leicht mit Tränen füllten. Wir kamen um 7 Uhr morgens an unserem Hotel in Luzern an. Es lag ca. einen Kilometer Luftlinie vom Vierwaldstätter See entfernt und trug den Namen „Weißes Kreuz“. Es war gemütlich eingerichtet. Es war modern, hatte aber hie und da Elemente einer Almhütte aus Holz. Ich glaube, das war zu dieser Zeit sehr modern. Nachdem wir unser Zimmer bezogen und uns im Hotel ein wenig zurecht gefunden hatte, gingen wir im hoteleigenen Restaurant etwas essen. Zuvor telefonierte Katharina noch eine halbe Stunde. Ihr tat es leid, dass wir nicht mehr zusammen sein können, sagte sie andauernd. Es würde unser letzter ge62 meinsamer Urlaub sein. Mir stieg das Ganze zu sehr in den Kopf, ließ es mir aber nicht anmerken und bestellte noch eine Flasche Rotwein und ein Glas hauseigenen Cognac. Ich versuchte das Gesagte von ihr zu verdrängen, zu vergessen. Ich nahm es, um ehrlich zu sein, auch nicht für realistisch, konnte es aber dennoch nicht mehr ertragen. Nach dem üppigen Essen - es gab Ente mit frischem Bohnengemüse - gingen wir beide ein bisschen angetrunken in unser Zimmer und schliefen miteinander. Kurz danach, ich war gerade aufgestanden um mich zu duschen, hörte ich sie folgenden Satz sagen: „Das war das letzte Mal, ich weiß, dass ich dir sehr wehtue, Edgar, aber das war das letzte Mal das wir uns geliebt haben.“ Ihre Stimme klang brüchig und ein wenig traurig, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen, aber vielleicht hatte ich mir das nur gewünscht. Ich drehte mich um und stellte mich vor ihr auf. „Du gehörst mir, bilde dir nur nichts anderes ein.“ Sie gab keine Antwort und ich ging unter die Dusche und während das warme Wasser aus der Brause auf meine Schulter traf, rammte ich ein paar Mal meinen Kopf gegen die Fließen der Wand. Wir schliefen ein. Vielleicht ahnte ich schon da, dass sie wirklich das meinte, wie sie sagte und das ich bereits der eigentliche Verlierer dieser Geschichte war. 63 11 Das Gespräch bei Nowak war im Großen und Ganzen zufriedenstellend, auch wenn er sich – da war er ehrlich keine großen Hoffnungen machte, Katharina zu finden, aber er gehe der Sache nach und würde sich melden, wenn er etwas fände. Bezahlt wurde Voraus, mit anschließender „Siegesprämie“. Ich hielt ihn zu dem Zeitpunkt für einen seriösen Detektiv, der auch über immense Kompetenzen in seinem Beruf verfügte und sehr ehrgeizig wirkte. Außerdem erschien er mir, aufgrund meiner eigenartigen Vermutung, dass nur durch ein Husten zustande kam sehr gewillt, Katharina zu finden. Wir vereinbarten eine sogenannte Suchzeit von drei Monaten. Also bis Ende April. In dieser Zeit würde ich auf jeden Fall noch hier sein. Nach dem Gespräch genehmigte ich mir ein Sandwich beim Bäcker nebenan und fuhr zurück zur Pension. Auf dem Weg dorthin fiel mir ein großer Mann in einem schwarzen Mantel auf, dem ich irgendwann schon ein Mal begegnet war. Ich hatte allerdings keine große Erinnerung daran. Zuhause in der Pension, erwartete mich Matthias, Frau Finks Kater, schon freudig. Ich gab ihm ein wenig Futter aus der Box im Flur und streifte meine Klamotten ab. Er schnurrte. Ich war mir natürlich bewusst, dass ich noch keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, falls Nowak Katharina 64 aufspüren sollte. Sollte ich einfach klingeln und Hallo sagen, so als ob damals in Luzern nichts passiert wäre? Oder ihr nachspüren? Ich war ein wenig überfordert. Ich schaltete den Fernseher an und sah die Nachrichten. Dabei musste ich eingeschlafen sein. ~ Man kann es nicht leugnen. Die Luft über Luzern ist wahrlich zu empfehlen. Vor allem dann, wenn man aus dem eher trüben Hamburg kommt. Ich stand auf und ging ins Bad, als ich merkte, dass Katarina ebenfalls wach war und mit dem Telefon auf den Balkon ging und die Tür hinter sich schloss. Ich ließ mich davon nicht irritieren und rasierte mich so gründlich wie möglich. Danach gingen wir runter zum Frühstücksbuffet. Katharina aß nur ein gekochtes Ei, während ich mich ein Teller Müsli, eine Banane und einen Obstsalat schmecken ließ. „Ich fahre heute zu ihm“, sagte sie. Ich biss den Kopf der Banane ab. „So?“, fragte ich, und hob meine linke Augenbraue. „Ja, jetzt, nach dem Frühstück. ich weiß nicht wann ich wieder komme.“ „Vielleicht heute Abend?“, entgegnete ich ihr in fragen65 dem Ton, sah sie dabei aber nicht an. „Setz mich nicht unter Druck, Edgar. Du weißt ich kann das nicht aushalten. Du weißt, ich will es auch schön haben“, antwortete sie mir mit leicht genervtem Ton. „Sicher“, sagte ich und stopfte den Rest der Banane in den Mund. Ich stand auf, wusch meine Hände an der Serviette ab und ging ohne ein Wort zu sagen angewidert ins Zimmer zurück. Ich legte mich ins Bett und starrte auf die Decke, während sich Katharina umzog. „Draußen ist‘s so frisch, ich glaub ich nehme heute die Stiefel, was meinst du?“ „Hm“ raunte ich. „Wie bitte?“, fragte sie. „In den Stiefeln siehst du aus wie eine Göttin, das weißt du.“ „Du bist süß.“ „Hm.“ „Was hast du gesagt?“ „Nichts.“ Nach ein paar Minuten stand sie mit einem kurzen schwarzen Rock, einer weißen enganliegenden Bluse, unter der sich deutlich ihr BH abzeichnete, ihren Stiefeln und einem Sommerhut vor mir. „Also, ich denke nicht, dass ich später als morgen Mittag weg sein werde, OK?“ 66 „Hm“, ich nickte. „Tschüss, Edgar.“ Ich erwiderte nichts und die Tür fiel ins Schloss. Ich machte meine Augen zu und versuchte mich an die Zeit zurück zu erinnern, als ich Katharina das erste Mal traf. Ihre Statur, ihre Haare, der Tipp von Erik, ihr The Smiths Platten vorzuspielen, da sie die Musik so gern hörte (was mich zugegebener Maßen auch zu einem Smiths-Fan machte), die Urlaube auf Kos, den Azoren oder Italien, kamen mir hoch, als ich durch den offenen Fensterschlitz unser Auto wegfahren hörte. Ich öffnete meine Augen, sprang vom Bett und sah dem weißen Audi hinterher, bis er hinter all den Kurven nicht mehr zu sehen war. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Ich nahm die nun gewonnene Freizeit für das, was ich eh vorhatte, allein oder zu zweit, war mir nun auch egal. Ich wanderte. Den Energieeffekt für etwas Sinnvolles nutzen, dachte ich mir. Ich packte meinen Koffer mit zwei Flaschen Bier, einem großen Salamistück, und ein paar Keksen. Da das Hotel eh an einem Hang stand und es nur etwa eine Viertelstunde Fußmarsch war, bis zu den Wanderwegen, kam mir das alles sehr gelegen. Nach etwa einer Stunde machte ich an einer Almhütte Rast, trank ein mittlerweile warmgewordenes Bier und überlegte, verwarf Pläne und dachte immerzu an die sonderbar glatten Innenseiten der Oberschenkel Katharinas. 67 Ich lief bis zu einem Punkt an dem ich die Straße zum oder vom Hotel (je nach Perspektive) sehen konnte. Einige Ideen gingen mir durch den Kopf, als ich so da saß und hinunterstarrte. Vielleicht nicht die schlechtesten an diesem Tag. Aber ich musste abwägen. Doch ich hatte das Gefühl, dass sich im Laufe dieses Tages eine großartige Idee sich in meinem Gehirn eingenistet hatte. Als ich wieder heimkam - ich war fast sechs Stunden unterwegs und ich merkte, wie sich an meinem großen Zeh eine Blase bildete - war es fast dunkel. Ich ging unten im Restaurant essen; bestellte mir Lachs und Kartoffeln und trank dazu ein kleines Bier. Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer, schaltete den Fernseher an, machte den Ton aus, und schlief während eines anscheinend bedeutenden Fußballspieles zwischen rot-weißen und blauen Trikots ein. Mein Blick auf den Wecker sagte mir, dass es fast 3 Uhr nachts war, als ich hörte wie die Tür langsam aufging, ein bekannter Geruch von kaltem Rauch selbstgedrehter Zigaretten und teurem Parfum drang durchs Zimmer. Katharina war wieder hier. Sie schaltete den Fernseher aus, zog sich rasch und leise ihre Kleider aus und legte sich ins Bett. Ich tat so als ob ich schlief, aber ich war ziemlich überzeugt davon, dass ihr klar war, dass ich nur simulierte. Aber sie spielte ihre Rolle gut und löschte sogleich dann das Licht. 68 12 Heute ging ich erst nachmittags zur Arbeit, den Vormittag verbrachte ich unter anderem in eigener Recherche und dem Anruf bei Marlene Bachmann. Ihre Nummer hatte ich aus dem Telefonbuch von Frau Fink. Ich stellte mich als der Übersetzer ihres verstorbenen Gatten vor. Sie war sehr überrascht, denn sie wusste nicht, dass es ein fertiges Manuskript für ein neues Buch gab. Sie war davon überzeugt, dass er zwar etwas geschrieben hätte, aber nicht einen Roman oder einen langen Text und vor allem nicht, dass es noch fertig wurde. Sie war bereit, sich mit mir auf einen Kaffee zu treffen und wir verabredeten uns am nächsten Tag um 17 Uhr bei ihr Zuhause. Sie brauchte noch einige Zeit wegen der Beerdigung ihres Mannes, sonst hätten wir uns auch früher treffen können, meinte sie. Ich fragte nicht näher nach und wir legten auf. Ich schrieb mir eine Notiz mit der Uhrzeit auf einen Zettel und schlug das Telefonbuch auf. Ich suchte nach Mertens. Es gab in ganz Berlin sage und schreibe sieben Mal den Namen. Und drei davon mit einem Vornamen mit K. Ich notierte mir die Namen und die dazugehörigen Nummern mitsamt der Straße auf die Rückseite einer Zeitung und zog an meiner Zigarette. Ich schloss die Augen und dachte an Luzern, dachte an Katharina, an Marlene und auf einmal klingelte mein Handy. 69 Kerrs Nummer erschien. Ich ging nicht dran, wartete bis es ausgeklingelt hatte und rief dann zurück. „Kerr.“ „Mertens. Sie hatten angerufen?“ „Ja, wie geht’s ihnen, kommen sie voran?“, fragte er, ohne es wissen zu wollen. Ich erkannte sein Desinteresse an der Intonation sofort. „Ja gut, ich komme voran, alles bestens“, antwortete ich ihm ohne die Lust zu haben ihm etwas erklären zu wollen. „Wie ist der Text?“, fragte er. „Schwierig, typisch Bachmann, ich kann noch keinen roten Faden erkennen, aber ich bin ja noch am Anfang.“ „Gut gut, aber der eigentliche Grund ist eigentlich ein anderer. Und ich finde, das sollten sie wissen.“ Ich hatte ja damit gerechnet, wie gesagt. „Und der wäre?“ „Es gibt eine offizielle Todesursache.“ „Ja, und?“ Man hörte wie Kerr, dieser Teufelskerl, an seiner Zigarette zog und lange inhalierte. Es war wie immer. Alles musste bedeutungsschwanger gesagt werden. Nichts war normal, nichts war nur beiläufig. „Nun, es ist so wie vermutet. Es hat sich das Leben genommen. Es gibt zwar noch keine Leiche, aber der Abschiedsbrief ist von ihm. Auch wenn seine Frau… wie heißt sie noch... Marianne…?“ 70 „Marlene“ „Ja genau, auf jeden Fall bestreitet sie dies und behauptet, dass dieser nicht echt sei. Ich denke, das sollten sie wissen, Mertens. Die Hinweise sind aber eindeutig. Er fuhr mit seinem Boot auf den See hinaus, band sich mit einem Seil fest und band obendrein eine schwere Steinstatue - eine Phönixfigur - aus Granit aus seinem Garten - an sein Bein, als Beschwerung. Die Steinfigur wurde mittlerweile wieder gefunden und darauf wurden DNA Reste von ihm entdeckt, auch kleine Blutflecken und Hautabschürfungen wurden im Labor festgestellt. Sogar Fasern seiner Kleidung waren darauf zu finden“. „Danke für diese Information, das ist gut. Ich wollte morgen eh Frau Bachmann besuchen.“ „Marlene? Wegen des Buches?“ „Ja, ich habe ein paar Fragen an sie, bezüglich der Übersetzung.“ „Verstehe, sagen sie ihr einen schönen Gruß. Vielleicht kennt sie mich noch.“ Wir verabschiedeten uns und legten auf. Ich dachte nach, warum sich so ein Mensch wie Bachmann sich wohl umbringen würde und dann auf so eine Art. Im Wasser, durch Ertrinken, mit einer Steinfigur einer Phönix. Wie theatralisch. Unwürdig kam mir in den Kopf. Eines Schriftstellers unwürdig. Gegen Mittag, nach einer wärmenden Gulaschsuppe von Frau Fink, die sie übrig hatte, übersetzte ich noch ein 71 paar Seiten (insgesamt war ich bis Seite 12 gekommen). Von dieser M, die anfangs erwähnt wurde, schrieb er jetzt nicht mehr, es war eher sehr zusammenhangsloses Zeug und an einem Absatz am Ende der elften Seite fiel mir etwas Besonderes auf. [...] Es war nicht immer das Leichteste und Praktikabelste, aus dem Leben das Notwendige zu ziehen. Oft war es einfach nur die Erscheinung einer Notwendigkeit die, wie eine andere Welt auszusehen versuchte […] Das Wort „wie“ war unterstrichen. Anfangs fiel es mir wegen Bachmanns ohnehin schon sehr theatralischer Handschrift gar nicht auf, erst als ich die Zeile nochmals las bemerkte ich es. Irgendwie erinnerte ich mich an etwas. Ich dachte, dass ich in diesem Buch schon Mal so eine Auffälligkeit erkannte, aber nichts dabei dachte. Ich blätterte einige Seiten zurück und tatsächlich, es war auf Seite 6 in mitten eines wirren Nominalsatzes. Das Wörtchen „in“. Es war ebenfalls unterstrichen. Ich notierte mir auf meinem Notizzettel diese zwei Wörter. In und wie. In wie, wie in. 72 ~ Den Morgen nach meinem alleinigen Ausflug verbrachten wir zusammen am Luzerner See. Spazierten einige Male an ihm herum, aßen dort in einem Lokal zu Mittag und besuchten am späten Nachmittag noch einen Wildtierpark in der Nähe. Katharina war enorm tierlieb und brachte es wahrscheinlich als erster Gast fertig, jedes Tier im ganzen Park mindestens einmal über den Kopf zu streicheln. Auf dem Heimweg meinte sie, dass sie am nächsten Morgen mit ihm frühstücken wolle, ob das OK für mich wäre. Ich sprach an diesem Abend kein Wort mehr zu ihr. Als ich am nächsten Morgen aufwachte war sie gerade dabei, sich fertig zu machen. „Aber begreifst du denn nicht, dass das ein Irrtum ist?“ „Das ist kein Irrtum“, entgegnete mir Katharina. Weiter kamen wir nicht. Ich spürte, dass die Sprache und die Worte plötzlich bleischwer geworden waren und dass keiner von uns in der Lage wäre, uns aus dem tiefen Sumpf herauszuziehen, in dem wir gelandet waren. „Ich hatte schließlich auch schon andere Frauen“, sagte ich. Katharina sagte nichts. „Das bedeutet doch gar nichts“, fügte ich hinterher. 73 Sie holte tief Luft. „Genau das ist der Unterschied, Edgar.“ „Was?“ „Ich habe nur einen gehabt, und das bedeutet alles.“ Ich gab keine Antwort. „Den Wagen brauch ich aber heute, ich wollte raus nach Kriens fahren und ein wenig wandern.“ „Passt gut, Georg wollte mich eh abholen“. „Gut.“ „Ich wünsch‘ dir einen schönen Tag. Heute Abend essen wir zusammen was Feines, OK?“ „Ja, Katharina“, sagte ich und ging steckte mir eine Zigarette an. Ich sah vom Balkon aus einen dunklen Jaguar mit deutschem Kennzeichen auf unser Hotel zu fahren, mit einem scharfen Bremsmanöver hielt er vor dem Eingang und ich konnte beobachten, wie Katharina, meine Frau, Georg Weith, ihrem Therapeuten, mit einem Kuss begrüßte. Es war draußen so still, dass ich hören konnte, wie er den ersten Gang einlegte, da begannen meine Fingerspitzen zu schmerzen, ich drückte meine Zigarette aus, warf sie vom Balkon, schloss die Tür und ging ins Zimmer. Ich musste etwa eine Minute lang husten. 74 13 Gleich nach dem Frühstück verabschiedete ich mich von Katharina, machte ich mich auf den Weg und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf alle Details der Fahrt den Pass hinauf. Es war ein klarer Tag mit vereinzelten Wolkenstreifen am Himmel und als ich oben angekommen war, konnte ich feststellen, dass es sich wirklich so verhielt, wie ich es mir ausgerechnet hatte. Der einzig kritische Punkt dieser Abfahrt, schien genau an der Ausfahrt vom Hotel zu liegen, aber gesetzt den Fall, dass man nicht wegen eines Fahrzeugs draußen auf der Straße anhalten musste, gab es auch hier keinen Grund, auf die Bremse zu treten. Die Fahrt den Pass hinauf, enthielt ein paar Haarnadelkurven, aber die Steigung war teilweise so steil, dass ich nicht einmal darüber nachdachte, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Ich fuhr weiter und hielt an einer kleinen Parkbucht mit kilometerweiter Sicht über die Landschaft auf der anderen Seite. Eine Touristentafel informierte darüber, dass die Höhe über dem Meeresspiegel genau 1798 Meter betrug und dass die umgebenen Gipfel bei fast 3000 Metern lagen. Ich setzte mich auf die Absperrung, rauchte eine Zigarette und versuchte dem sich windenden Asphaltband hinauf zum Ort zu folgen, das ich eher erahnen als sehen konnte. Der Weg tauchte auf, verschwand dann wieder hinter Klippen und Felsvorsprüngen. Ein Stück unter mir, nur wenige Kilometer entfernt, konnte ich die 75 künstlich wirkende glatte Oberfläche eines gigantischen Staudammes sehen, über die ich in den Touristenbroschüren, die im Hotel auslagen, gelesen hatte. Ich glaube gelesen zu haben, dass sie bis zu einer Milliarde Kubikmeter Wasser fassen konnte. Ich drückte meine Zigarette aus und fuhr weiter. Statt weiter zum Staudamm und zum nächsten Ort zu fahren, beschloss ich, zunächst noch einmal die Ausfahrt zu überprüfen. Ich bekam ein Hungergefühl und beschloss erst mal eine Pause zu machen. Ich fuhr zurück nach Luzern, trank an einem Café am Marktplatz ein Bier und machte mich wieder auf den Weg nach oben. Auf diese Weiße passierte ich unser Hotel zweimal, hielt aber nicht an, um den kritischen Punkt an der Ausfahrt zu untersuchen. Ich wusste schließlich nicht, ob Katharina immer noch in unserem Zimmer war oder ob sie schon irgendwo in den Armen von Georg Weith lag. Und es gab nichts, was dagegen gesprochen hätte, dass sie beides tat. Dass sie in seinen Armen in unserem Zimmer lag. Mein zweiter Versuch bestätigte die Schlussfolgerungen aus dem ersten. Von Hotel bis zum Pass zwischen dem Bergmassiv waren es knapp elf Minuten und ich war kein einziges Mal auch nur in die Nähe des Bremspedals gekommen. Soweit war alles in Ordnung, aber es blieb natürlich noch der entscheidende Teil. Die Abfahrt. 76 Ich brauchte fast drei Stunden um das wahrscheinliche Szenario herauszufinden, und während dieser Zeit fuhr ich nicht weniger als acht Mal die gleiche Wegstrecke in jede Richtung. Ich saß mehrere Male oben auf dem Parkplatz, rauchte und überlegte. Um ein so realistisches Bild wie möglich von dem Ganzen zu erhalten, versuchte ich wirklich, mich so weit wie möglich nach unten zu begeben, ohne die Bremsen zu benutzen, und die beiden letzten Male riskierte ich offensichtlich mein eigenes Leben als ich im niedrigsten Gang durch die Kurven brauste. Ich kontrollierte außerdem, ob es nicht irgendwelche Haltestreifen oder andere denkbare Rettungsinseln auf der Strecke gab, und mit verbissener Zufriedenheit konnte ich alle derartigen Möglichkeiten ausschließen. Als Längstes gelang es mir die Straße gut einen Kilometer hinunter zu gelangen, aber das setzte auch allerhöchste Bereitschaft und den ersten Gang von Anfang an voraus. Die vier ersten Kurven zu meistern, war nicht unmöglich. Ich kam zu dem Schluss, dass sogar ein Fahrer unter Schock sie würde meistern können, und es war auch gar nicht die Frage, ob irgendwelche Haarnadelkurven mit ein wenig Glück einen relativ sanften Stopp an der Bergwand ermöglichten könnten. Was danach folgte war umso schlimmer – eine bis zu hundert Meter lange, sich kräftig neigende gerade Strecke mit einer ebenso senkrechten Bergwand zur rechten Seite 77 und einem ebenso senkrechten Abgrund zur linken. Wie ich es auch anstellte, es war unmöglich, die Geschwindigkeit vor der Rechtskurve, die am Ende der geraden Strecke folgte, ausreichend zu drosseln, ohne die Bremsen zu benutzen. Als ich sie trat wurde der Wagen unhaltbar nach links gezogen, an eine streckenweise zerbröckelte, ungefähr dreißig Zentimeter hohe Steinmauer, den einzigen Schutz hier, und ich zog schließlich die Schlussfolgerung, daraus, dass es hier, genau hier geschehen würde. Es ging hier wie gesagt, fast senkrecht nach unten, und zwar ungefähr 80 Meter tief. Am Abgrund folgten eine leichte Neigung, spitze Klippen, und Felsbrocken, aber keine Vegetation – und anschließend das Beste von allem: die bewegungslose, matte Oberfläche des Stausees. Insgesamt also eine Fallhöhe von insgesamt einhundert Metern. Der eine oder andere Stoß gegen die Steine und dann platsch hinein, in eine Milliarde Kubikmeter grünen Schmelzwassers. Nein, es war absolut kein Problem sich das vorzustellen. Ich aß in Luzern zu Abend, schrieb ein paar Postkarten an Freunde und Bekannte und erzählte ihnen wie herrlich wir es in unserem Urlaub hatten. Als ich zum letzten Mal über den Pass fuhr, hatte ich bereits damit begonnen, über die technischen Aspekte des Unternehmens nachzudenken, mit Maschinen und Autos hatte ich 78 immer schon und umgehen können, und ich wusste, dass es mir kaum größere Mühe bereiten würde. Das einzige was vielleicht ein wenig Köpfchen und Planung erforderte, war die Frage wo ich es machen konnte. Trotz allem brauchte ich ein paar Minuten Zeit um ungestört arbeiten zu können, aber ich war überzeugt davon, dass auch dieses Detail geklärt werden würde. 79 14 Es wurde mit jedem Tag spürbar kälter. Kein Monat kann sich wie der Januar bis in alle Ewigkeit erstrecken. Meine Tage glichen sich bis auf das Abendessen. Ich stand gegen 8 Uhr auf. Frühstückte nichts, ging um 9 in die Bibliothek, aß um 12 Uhr ein Brot zu Mittag und verlies gegen 16 Uhr meine Arbeitsstätte wieder. Auf der Heimfahrt mit der U-Bahn versuchte ich an Katharina zu denken. Jedoch kamen mir immer wieder die einzelnen Zeilen und Abschnitte in Bachmanns Buch in den Kopf. Diese Irrungen, diese Verwirrungen. Ich bekam davon keine gute Laune und war meistens sichtlich erschöpft als ich zurück in die Pension kam und Frau Fink begrüßte. Ich streichelte Matthias über den Rücken und duschte mich ausgiebig. Ich nahm meinen Zettel mit den Adressen und Nummern, die ich aufgeschrieben hatte und rief bei allen drei vorher an. Beim Ersten war besetzt, ich markierte die Nummer mit meinem Stift, beim zweiten meldete sich eine Frau Karoline Mertens und beim Zweiten eine ältere Frau, die ich kaum verstand. Ratlos sank ich im Sessel ein. Ich nahm mir vor, zur ersten Adresse zu fahren. Ich musste der Sache auf den Grund gehen. Ich bestellte mir ein Taxi und fuhr in die Baumstraße. Es war ein Häuserblock, wahrscheinlich in den 80ern gebaut. Keine großen 80 Schönheiten. Berliner Tristesse. Ich ging an das Haus mit der Nummer 17 und schaute mir die Klingelschilder an. Pauline und Eduard Reus René Schwakowiak Sophia A. Arnheim K. Mertens Ich klingelte und mir wurde geöffnet. Ich lief und blieb vor der Tür stehen. Drinnen hörte man Kinder spielen. Es wurde mir aufgemacht. Ein Mann, etwa Mitte Zwanzig und eine Frau, wahrscheinlich gleichen Alters öffneten mir. Mein Plan war nicht unbedingt gut. Ich gab mich als Holger Steinsen zu erkennen und gab an, von der GEZ zu sein. Die Tür wurde mir wieder zugeschlagen, was auch nicht schlimm war, ich hatte meine Informationen ja bekommen. Und diese war negativ. Als ich aus dem Haus stieg fing es an zu regnen und ich lief ca. 20 Minuten bis zur nächsten Bushaltestelle. Nach ein paar Metern fiel mir jedoch ein Mann hinter mir auf, den ich am Tag vorher schon gesehen hatte. Er war etwa zwei Meter groß, breite Schultern trug einen schwarzen Mantel, eine schwarze Hose und Stiefel, sein Auftreten erinnerte mich ein bisschen an Gert Fröbe in seinen späteren Filmen. Ich lief weiter, hielt jedoch hier und da vor einigen Schaufenstern, und bemerkte, dass auch er stehen blieb. Ich lief schneller und erwischte den Bus gerade noch so. Der Mann drehte sich beim vorbei 81 fahren weg. Ich konnte ihm leider nicht ins Gesicht sehen. Den Abend ließ ich bei einer Flasche Wein und Nüssen ausklingen. Ich war jetzt schon über eine Woche hier, von Katharina fehlt noch immer jede Spur, ich werde morgen Nowak anrufen und das ganze abblasen. So hatte ich es vor. ~ Die letzten Tage in Luzern vergingen wie im Flug. Am Abend vor dem Unfall, gleichzeitig der vorletzte Tag des Urlaubes, blieben wir noch lange wach und saßen auf dem Balkon, beobachteten den Sonnenuntergang und genossen die angenehme Wärme des Schweizer Sommers. Ich hatte vorgeschlagen noch eine Runde Schach zu spielen, doch sie wollte nicht. Sie wollte die letzten Tage nicht mit Denken verbringen, sagte sie. Sie trank ein Glas Wein, griff nach ihrem Handy und verschwand lautlos durch die Tür nah draußen. Die letzten Tage. Vom Balkon aus konnte ich sie beobachten. Sie wusste, dass ich sie sehe, sie lief schließlich am Haus und unserem Zimmer vorbei. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht. Ein Lächeln, das ich an Katharina schon lange vermisst hatte. Sie gestikulierte mit den Händen und 82 plötzlich, ich nahm gerade an einem der hölzernen Gartenstühle Platz als sie ein gewaltiges Lachen hervorstieß. Ich spürte mein Herz brennen und ging ins Bad, wusch mir die Hände und klatschte mir einige Ladungen Wasser ins Gesicht. Danach schlug ich einige Male mit der flachen Hand gegen die Fliesen. Als sie wieder hoch kam, erzählte sie mir, dass sie den letzten Tag noch mit Georg verbringen will. „Ich werde recht früh losfahren, damit ich auch recht früh wieder hier sein kann, damit wir noch gemeinsam zu Abend essen können“, sagte sie. Wie löblich von ihr, dachte ich. „Ist OK, ich geh noch ein bisschen spazieren. Bisschen Gedanken fliegen lassen.“ „Ja, tu das, du wirkst heute sehr reizbar, rauch eine, dann geht’s dir besser, Eddy.“ Ich erinnere mich auch noch, dass sie zu mir kam und mir für eine Sekunde die Hand auf die Schulter legte, doch das war ein flüchtiges vorübergehendes Phänomen, und mein Blick blieb weiter gesenkt. „Bis später“ „Gute Nacht.“ Ich ging aus der Tür, zog mir die Schuhe aus, so dass ich nur mit den Socken über den Flur huschen konnte. Ich musste jetzt so leise wie möglich sein. Ich nahm statt dem Fahrstuhl die Treppe und ging unbemerkt zu meinem 83 Auto, das glücklicherweise hinter dem Hotel stand, wo kein Licht brannte. Die Fenster waren alle dunkel. Das Abklemmen eines Bremskabels ist keine große Sache. Es ist sogar ziemlich einfach. Ich wusste, dass der Hausmeister seine Werkzeugkammer immer offen stehen ließ, so hatte ich Zugang zu allen möglichen Zangen und Messern. Als ich wieder schweißgebadet in unser Zimmer zurückkam, schlief wie erwartet Katharina schon tief und fest. Ich ging ins Bad, trocknete mein verschwitztes Gesicht ab und legte mich zu ihr. Sie wachte kurz auf und schmiegte ihren Rücken an meine Brust. Ich bekam eine starke Erektion und legte meinen Arm um sie. Morgen, dachte ich. Morgen früh ist es soweit. 84 15 Das Einzige was sie hinterließ, waren ein paar rote Strähnen auf dem Kopfkissen und ein schwacher Duft nach Chanel No. 5. Ich weiß noch jede Einzelheit dieses Morgens. Gegen 3 Uhr schlief ich endlich ein. Ich träumte von Erik und seiner Schwester Sonja. Sonny, wie ich sie früher immer rief. Wäre sie nicht die Schwester meines besten Freundes, hätte ich mich wohl in sie verliebt. Am nächsten Morgen war ich eine Zehntelsekunde geschockt über den Zustand, dass ich alleine im Zimmer war. Dann fiel es mir allerdings auch gleich wieder ein. Tränen fingen plötzlich an, mir übers Gesicht zu laufen. Ich stand sehr früh auf, sah dass der Audi nicht mehr auf seinem Platz stand und dachte, dass ich meiner Frau keine Worte zum Abschied sagen konnte. Ich konnte sie nicht mehr warnen. Ich ging ich wieder zu Bett. Lag eine Weile dort und versuchte in den beiden Büchern zu lesen, die ich gerade als Lektüre dabei hatte, aber es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Stattdessen, stand ich auf und nahm eine lange, heiße Dusche, während ich überlegte, wie ich diesen Tag rumkriegen sollte. Schließlich entschloss ich mich zu einem Spaziergang am Fluss entlang. Das Bedürfnis, mich zu bewegen, war überdeutlich und das Wet85 ter bedeutend besser als während meiner Exkursion vor ein paar Tagen. Ein leichter Morgennebel hing über dem merkwürdigerweise fast leeren Hotelparkplatz, die Sonne ging über der Stadt gerade auf, und das einzige Lebenszeichen stammte von den Vögeln über den Feldern, die den Ort umgaben. Der Duft eines frisch gemähten Kornfeldes stahl sich in meine Nasenlöcher. Das Licht blendete mich und zitterte über den Asphalt. Aus der Ferne, einige Kilometer weiter konnte ich das sture Summen der Autos auf der Schnellstraße hören, die die offene Landschaft durchschnitt. Die Sonne stieg höher und ich legte eine kleine Pause ein. Wollte vor mich hinpfeifen, kam aber auf keine Melodie. Das Morgenlicht, war einfach zu stark. Ich überlegte mir, dass eine dunkle Sonnenbrille eine Hilfe sein könnte, vielleicht könnte ich mir unten in der Stadt eine kaufen. Ich legte mir die Hand in die Stirn, kniff die Augen zusammen und betrachtete die Silhouetten im scharfen Licht. In diesem Moment fingen irgendwelche Kirchenglocken zu läuten an. Es wurde ein schöner Tag. Mehr als vier Stunden wanderte ich an dem viel Waser führenden Fluss entlang. Machte hin und wieder kurze Pausen, während der ich mich auf einen Stein setzte, die beeindruckende Natur betrachtete und den Anglern zuschaute, die ihre Präzisi86 onsangeln in das brausende Wasser warfen. Als ich nach etwa zweieinhalb Stunden eine Rast machte und mir eine Zigarette anzündete, sah ich, wie ein Mann, vollgepackt und mit einem langen Baumstock in der Hand auf mich zu kam. „Grüezi“, hörte ich ihn sagen, während ich gerade in mein Wurstbrot biss. „Hallo“, grüßte ich zurück und hob meine Hand. „Der HSV hatte aber auch schon bessere Tage gehabt, oder?“ Der bärtige Mann, geschätzt um die 60, erkannte den Aufnäher auf meinem Rucksack. Meine Frau schenke ihn mir, als wir noch zusammen in Hamburg wohnten. Ein Mann in Hamburg muss ja schließlich Fan des Hamburger Sportvereins sein, wahrscheinlich hatte sie dies aus einer ihrer vielzähligen Frauenzeitschriften gelesen. Ich bekam ihn zu irgendeinem Geburtstag geschenkt und ließ ihn auf meinen Wanderrucksack nähen. Das Blau hübschte den Rucksack auf. Das kann man nicht leugnen. Man kann nicht sagen, dass wirklich eine Konversation stattfand. Er sprach in seinem mit unverständlichen schweizerdeutsch, während ich nur nickte, ja sagte und mein Brot weiter aß. Ich wusste nicht ob er was fragte oder er mir nur die schönsten Wanderwege der Zentralschweiz erklärte. Ich verstand nur böhmische Dörfer und irgendwann, ich bekam es gar nicht mit, war er plötzlich verschwunden. Seinen Namen hatte ich auch sofort wie87 der vergessen. Das einzige was ich noch von ihm weiß, war sein akkurat geschnittener Bart. Insgesamt begab ich mich wohl fünf Kilometer stromaufwärts, wo ich ein kleines Café mit angeschlossenem Souvenirladen fand. Ich aß dort ein Brot und trank zwei Gläser Bier, durstig von der Anstrengung und dem heißen Wetter. Kaufte auch noch ein paar Ansichtskarten und unterhielt mich eine Weile mit dem Besitzer, einem fülligen, gemütlichen Tiroler, der ziemlich herumgekommen war, wie sich herausstellte. Wieder zurück im Tal, aß ich im Gasthof „Tannenwirt“ zu Mittag, lief eine Weile herum und schaute mir die Läden an, und als ich durch die Hoteltür ging, zeigte die Uhr bereits sieben Uhr abends. Die Frau am Empfang begrüßte mich wie üblich aus ihrer Portiersloge, fragte ob ich einen schönen Tag gehabt habe, und ich antwortete, dass er sehr anregend gewesen sei. „Ist meine Frau schon zurück?“, fragte ich. „Noch nicht.“ Sie schüttelte den Kopf, und möglicherweise gab es einen kleinen Riss in ihrem Lächeln. Vielleicht hatte sie schon registriert, dass wir ungewöhnlich viel Zeit getrennt voneinander verbrachten, ich und meine Frau. Ich nickte aber vollkommen unbeschwert und nahm den Schlüssel entgegen, den sie über den blank polierten Marmortresen schob. Doch als ich oben auf dem Zimmer ankam, platzte etwas in mir. Ohne Vorwarnung wurde ich von äußerst 88 heftigen Bauchschmerzen befallen. Wie scharfe Fleischermesser bohrten sie sich in meinen Bauch, besonders in den Bereich direkt unter dem Nabel, und dann kam die Übelkeit. Ich schleppte mich ins Bad, sank vor dem Toilettenstuhl auf die Knie, und bald hatte ich alles von mir gegeben, was ich im Laufe des Tages gegessen hatte. Anschließend wankte ich zurück ins Zimmer und fiel erschöpft auf das Bett. Durch die Balkontüren, die angelehnt waren, hörte ich die Glocke der kleinen Kapelle am Abhang unten halb acht schlagen. Zwei spröde Schläge, die fast unangenehm lange Zeit über dem Tal zu hängen schienen. Ich schloss die Augen und versuchte an gar nichts zu denken. Am Abend des folgenden Tages – es war ein Samstag – erzählte ich der Hotelmanagerin, Frau H., dass meine Ehefrau verschwunden sei. Und am nächsten Morgen, als ich vom Frühstück aufstand, kam die Polizei ins Spiel. Genau eine Woche nach diesem Gespräch ereignete sich mein Zusammenbruch. Er ereignete sich, ohne jedes Vorspiel, irgendwann zwischen drei und Vier Uhr in der Nacht auf einen Dienstag. Zur Wolfsstunde also. Ich erlebte Ihn, indem ich zunächst aufwachte und nach ein paar schwarzen Sekunden mich in einem Fall wiederfand. Ich fiel oder wurde vielmehr in ein schwarzes Loch hineingezogen. Ich fiel und fiel, die Geschwin89 digkeit war schwindelerregend, das Gefühl schrecklich. Ich habe später versucht, es zu beschreiben, aber jedes Mal haben die Worte mich im Stich gelassen. Und mit der Zeit habe ich begriffen, dass es keine dafür gibt. Man fand mich blutig und verletzt, aber immer noch bei einer Art von Bewusstsein, auf dem Bürgersteig unter meinem Schlafzimmerfenster, und es dauerte ungefähr zehn Wochen, bis ich wieder ins gleiche Bett zurückkriechen konnte. Ich möchte behaupten, dass ich zu diesem Zeitpunkt ein anderer Mensch geworden bin. 90 16 „Nowak.“ „Ja hier, Mertens“ „Hallo Herr Mertens. Nun, wie sie sich sicher denken können, habe ich bisher noch keine brauchbaren Fährten. „Dachte ich mir, ich wollte ihnen sagen, dass wir das ganze vielleicht lieber lassen sollen. Ich geben ihnen trotzdem ihr Geld, das steht ihnen ja zu.“ „Jetzt warten sie mal, Mertens. Eine kleine Spur habe ich noch, ein Strohhalm sozusagen. Ich kenne da jemanden, seinen Namen sage ich jetzt nicht übers Telefon, aber er hat wohl einige mehr Informationen als ich. Sie wissen schon.“ Ich verstand nur Bahnhof, bejahte aber. „Und dieser Herr, Mertens, ist zurzeit leider im Urlaub in Griechenland, glaube Kreta, er kommt aber noch diese Woche zurück und wird mir behilflich sein. Verstehen sie?“ Wieder bejahte ich. „Wir können es natürlich trotzdem lassen, es ist ihre Entscheidung. Aber Mertens, was haben sie zu verlieren?“ „Ja OK.“ „Gut, ich melde mich, sobald ich etwas höre“ Wir legten auf. Ich hatte aus dem Teil des Gespräches mit Katharina und einem Mann, der gerade in Griechen91 land ist, nichts aber auch gar nichts verstanden. Aber ich ließ es dabei. Ich wollte einfach nur Bachmanns dummes Buch fertig bekommen und dann nichts wie zurück nach Hamburg. Ich wollte nichts mehr von Katharina wissen, die Suche war sowieso ein Tropfen im Wind. Als ich an diesem Morgen in die Bibliothek trat – ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass es genau der 15. Februar war - da hätte ich Bachmann am liebsten zur Hölle gewünscht. Wo er sich andererseits wohl bereits aufhielt. Ich fuhr mit der Geschichte weiter fort. Nun kam ein gewisser O ins Spiel Anscheinend eine Dreiecksgeschichte. Ich hielt mir den Kopf und war erstaunt, dass Bachmann noch Geschichten mit Inhalt erzählen würde. O war ein Bekannter des Protagonisten namens B und gleichzeitig unterhielt er eine Affäre mit einer Frau namens M. so nahm ich das jedenfalls an. Ich trank meinen Kaffee weiter. […]Dokumentation. Und er selbst war es. B persönlich, der sie einander vorgestellte hatte. M und O vor vielen Jahren. Und als B am Morgen aufwacht ist er verwirrt. Seit einiger Zeit scheint alles verändert zu sein. Während der flüchtigen Augenblicke, wenn die Pein und die Wirkung des Cognacs nachlassen, beginnt B an die Dokumentation zu denken. Wenn alles vorbei ist, darf die Wunde sich nicht einfach schließen wie eine Fußspur im 92 Wasser. Jetzt. Eines Vormittags, es regnet, als sie auf dem Markt Gemüse kauft, immer dieses Gemüse, das nicht mehr als einen Tag alt sein darf, ihr Memento Mori, da durchsucht er ihre Sachen, sie weiß, dass er das niemals tun würde, und hat sich gar keine Mühe gegeben, etwas zu verstecken. Er findet Briefe, vier Briefe, drei sind schon deutlich genug, der vierte eine Verschwörung. Sie haben sich verschworen, tatsächlich, er spürt, wie ihm die Schweißtropfen auf die Stirn treten, als ihm klar wird, sie haben sie gegen sein Leben verschworen Er hat sie geschlagen, sicher er hat seine Hand erhoben. [...] Um 12 Uhr machte ich wie gewohnt meine Mittagspause. Doch irgendwas lies mich nicht los. Ich konnte diesen Gedanken nicht benennen, aber ich hatte das Gefühl, das diese Geschichte noch weit mehr erzählte als auf den ersten Blick zu sehen war. Zwischen den Zeilen. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und machte mich weiter in die Arbeit. Es kamen gerade wieder Sätze von unglaublicher Wendigkeit. Aber ich erkannte wieder was […] die helfende Hand der großen Meister[..] Wieder ein unterstrichenes Wort. Eine Seite später: […] die große majestätische Vollkommenheit des römischen Kaisers […] 93 […] vielerorts, doch auch an dem Platz des Raben, gingen sie umher […] Mir fiel mein Stift aus der Hand. Ich drehte mich um, ich war fassungslos. Es war tatsächlich eine verschlüsselte Botschaft. Das war offensichtlich. Ich spürte, wie mein Herz klopfte. Aber warum der falsche Kasus? Ich brauchte einige Sekunden, um den Zusammenhang zu verstehen. Dafür war er, als ich ihn erst einmal erkannt hatte, umso offensichtlicher. Der große Rabe, war der Name einer Novelle eines relativ unbekannten russischen Autors um die Jahrhundertwende. In mir stiegen zwei ziemlich widersprüchliche Gefühle hoch. Das erste war Wut. Oder Gereiztheit, die zumindest an Wut grenzte. Über so etwas unerhört Albernes. Warum in diesen, fürchterlich schweren, teilweise fast unlesbaren, geschweige denn unübersetzbaren Text etwas hineinschmuggeln? So etwas Billiges! Meine notdürftig unterdrückte Antipathie gegenüber Bachmann brach erneut aus und ich weiß, dass ich einige Augenblicke lang mit dem Gedanken spielte, das Manuskript einfach an Kerr zurückzuschicken und sie aufzufordern, es doch zu verbrennen. Oder sich jemand anderen suchen, einen weniger sorgsamen Übersetzer. Das andere Gefühl ist schwer zu beschreiben. Etwa in Richtung Angst vielleicht, und mir wurde schnell bewusst, dass meine Empörung und meine Wut wohl in 94 erster Linie eine Abwehrmaßnahme gegen diese ziemlich bedrohliche Empfindung waren. Eines dieser automatischen, willkürlichen Seelenpflaster. Wie in der große Rabe? Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Ich versuchte mich genau daran zu erinnern, wie die Novelle endete, schaffte es aber nicht. Erinnerte mich aber, dass in Kerrs Büro ein Exemplar davon in dessen gut sortierten Bücherregal stand. Ich packte meine Sachen zusammen, ging fast schon beleidigt aus der Bibliothek und nahm die erste Bahn Richtung Köpenick. Ich trat ans Fenster meiner Wohnung und betrachtete die Wirklichkeit dort draußen. Im Augenblick bestand sie aus einem bleigrauen Himmel, einer dunklen Häuserfassade mit einer Reihe erleuchteter Schaufenster im Erdgeschoss. Das Geräusch einer Straßenbahn, die vorbeiratterte, ein paar Radfahrer, Autos die auftauchten und wieder verschwanden und Straßenlaternen, die im Wind schaukelten. Gegenstände, die stehen blieben, und Gegenstände die sich auflösten. Ich erinnere mich an meine Gedanken, und ich erinnere mich, dass es schon damals kein Wort für diese Gedanken gab. Ich glaube, niemals war meine Verachtung der Sprache größer, als ich an diesem Abend am Fenster über Berlin stand, Bachmanns Kursivierungen im Hinterkopf rumorend. 95 Nach einer Weile ging ich zurück zum Sessel, legte mir Matthias auf den Schoss und saß eine ziemlich lange Zeit mit ihm im Dunkeln. Dann ging ich hinaus und trank mich zielstrebig in einigen der Kneipen in der nächsten Umgebung um Sinn und Verstand. Meine Unruhe lag die ganze Zeit wie ein irritierendes Flimmern unter der Haut, ein unerreichbares Jucken, und erst lange Zeit später, viel später in dieser Nacht, als ich hinauf schwankte und mich in die Toilette erbrach, da ließ das Gefühl etwas nach. Am nächsten Tag rief ich Kerr an. „Kerr?“ „Ja, hier Mertens.“ „Oh, hallo Herr Mertens, wie läuft‘s?“, fragte Kerr. „Ausgezeichnet, aber ich könnte ihre Hilfe gebrauchen.“ „Schießen sie los“ „Sie haben in ihrem Bücherregal „der große Rabe“ stehen.“ „Was habe ich?“ „Kerr, verdammt, hören sie mir zu, sie haben in ihrem Bücherregal, dieses große Ding aus massivem Eichenholz hinter ihnen, ein Buch stehen von irgendeinem Russen, mit dem Titel ‚Der große Rabe.‘“ „Was ist mit ihnen los, Mertens?“ „Wie gesagt, alles ausgezeichnet, aber um weiter zu kommen, benötige ich dieses Buch.“ „Sagt mir nichts, wie heißt das? Von wem?“ 96 „Der große Rabe“ „Von wem ist das? Noch nie gehört.“ „Ich glaube er heißt Sokorov“ „Ach, Sokolov?“ „Oder so, ja“ „Ja, Moment“ Man hörte, wie Kerr den Hörer aus der Hand nahm. Nach einigen Sekunden kam er wieder ans Telefon. „Ja, ich hab‘s.“ „Gut, schicken sie mir das bitte zu. Am besten per Express, wenn’s geht. Ich brauche das so schnell, wie möglich.“ „Kein Problem Mertens, aber warum die Hektik?“ „Ich hab nicht gut geschlafen, entschuldigen sie.“ „Sonst alles gut bei Ihnen, brauchen sie irgendwas? Sie hören sich nicht gut an.“ „Ja, einen offiziellen Bericht über Bachmanns Tod.“ „Hat das was mit dem Manuskript zu tun?“ „Nicht ausgeschlossen.“ „Ich schicke es ihnen heute noch zu, sollten sie morgen haben.“ „Danke.“ An gewissen Tagen kann es vorkommen, dass man abends als anderer Mensch ins Bett geht, als man morgens aufgestanden ist. Ich weiß, dass ich gerade noch denken konnte, bevor ich an diesem ermüdenden Tag einschlief -, dass es genau so ein Tag gewesen war. 97 17 Ich fror. Ich parkte den Wagen und kurbelte die Seitenscheibe herunter. Ich zündete mir eine Zigarette an und blieb sitzen, während ich rauchte. Ich sollte aufhören mit dem Rauchen, dachte ich. Aber in manchen Momenten, so wie diese, ist dies unumgänglich. Ich ließ den Gedanken ihren Lauf. Es war erst viertel vor, ich wollte nicht zu früh kommen. Über der Mauer waren Teile des Hauses zu sehen. Der erste Stock mit Balkon und Mansardendach. Dunkle, englische Ziegel. Hohe Fenster mit grünen Läden. Alles zusammen im tiefen Schatten des dichten Laubwerks des Parks. Zu beiden Seiten des schmalen Asphaltwegs verliefen Reitwege. Die Mauer entlang plätscherte ein Bach, auf einer Holzbrücke ein Stück entfernt saßen ein paar Saatkrähen auf einem kleineren Kadaver. Vielleicht einem Fuchsjungen. Wann verlassen junge Füchse ihren Bau? Ich hatte keine Ahnung. Sie war groß gewachsen und schlank und schien sich immer im Bewusstsein ihrer körperlichen Präsenz zu bewegen. Ihr braunes Haar lag frisch gewaschen und gekämmt auf ihren dünnen Schultern. Ihre Augen waren glasig und blutunterlaufen. Sie musste kurz vorher wohl geweint haben. Aber auch so sah sie wunderschön aus. Sie trug ein trägerloses Hemd, und eine leichte Stoffhose, man sah ihre rasierten dünnen Achseln und ich vermute98 te, dass sie Sekunden bevor ich geklingelt hatte noch splitterfasernackt gewesen war, und wahrscheinlich nach ich das Haus verlassen würde auch wieder sein würde. „Herr Mertens, kommen sie rein“. Sie lächelte gezwungen. „Hallo, Frau Bachmann“, begrüßte ich sie und gab ihr die Hand. Ihre samtweiche Hand umschloss meine mit einem festen, bestimmen Druck. „Setzen sie sich, möchten sie etwas zu trinken?“ „Eine Tasse Kaffee vielleicht, aber nur wenn es keine Umstände macht? – Draußen ist’s sehr kalt, meine Finger…“ Doch bevor ich meine Gedanken aussprechen konnte, kam sie schon mit einer Thermoskanne aus Edelstahl um die Ecke. „Gerade gekocht“, sagte sie. Ich glaube, ich konnte ein mildes Lächeln erahnen. „Mein herzliches Beileid“ „Danke“ Ich setzte mich. Überall im Raum waren Bilder von Richard aufgestellt, manche hingen an der Wand, manche gerahmt auf dem Schrank. Alles mit dem gleichen Gesichtsausdruck. „Wie geht es Ihnen, Frau Bachmann?“ „Naja, was soll ich sagen. Haben sie schon Mal jemanden verloren, der ihnen wichtig war?“, fragte sie. „Nein“, antwortete ich. 99 „Es ist furchtbar, ich habe das Gefühl, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Es zerreißt mich innerlich.“ Ich nickte und nahm einen Schluck Kaffee. „Und wissen sie was?“, fragte sie mich. „Hm?“ „Ich fühle mich dafür verantwortlich.“ „Warum? Wenn ich fragen darf.“ „Sie sind doch verheiratet, oder?“ „Ja“. „Haben sie nicht ab und an auch dieses Gefühl, ihrem Partner nicht zu genügen?“ „Ich kenne das, ja.“ „Sicher war ich ihm nicht genug.“ „Warum sollten sie?“ „Ich kann das nicht beschreiben, ich denke, er hatte eine andere.“ „Aber warum sollte er sich dann umbringen?“ „Naja, ich glaube nicht, dass er das getan hat.“ Ich runzelte meine Stirn, reflexartig. „Wieso nicht? Es gibt doch einen Abschiedsbrief, oder?“ „Naja, das schon, aber der ist maschinengeschrieben und nur seine Unterschrift ist darauf – das kann man leicht fälschen.“ „Hm.“ „Und solange diese Zweifel vorhanden sind, komme ich nicht zur Ruhe. Ich glaube, er wurde ermordet. Die Polizei geht von Selbstmord aus. Aber an seinem Ge100 burtstag?“ „Aber wer sollte es gewesen sein? Hatte er Feinde?“ „Ich weiß es nicht, vielleicht wünsche ich mir das nur.“ „Ich denke, die Wahrheit wird früher oder später ans Licht kommen, “ versuchte ich Marlene Bachmann zu beruhigen. „Ich hoffe es“. „Frau Bachmann, ich habe, wie schon erwähnt, das letzte Manuskript ihres Mannes erhalten, das ich gerade übersetze. Ich denke, das sollten sie wissen.“ „Warum übersetzen? Warum nicht einfach in der Originalsprache veröffentlichen?“ Ihre großen Augen wurden noch größer. Man merkte ihr an, dass sie es nicht verstand. Sie nahm eine Haarsträhne und wickelte sie um Zeige- und Mittelfinger. „Ich weiß es nicht, ganz ehrlich, keine Ahnung. Irgendwas will er damit bezwecken. Oder auch nicht, sie kennen ja seine Texte.“ „Zu genüge.“ „Darf ich fragen, um was es geht?“ Normalerweise bleibt das ein absolutes Tabu. Ich spreche nie mit anderen über ein unvollendetes Buch. Aber aufgrund der Besonderheit dieser Situation, dem Tod des Autors Richard Bachmann, Marlene Bachmanns verheultes Gesicht und des Textes, ließ ich mich dazu nieder, ein wenig zu erzählen. 101 „Ich bin noch nicht weit, aber es handelt sich wohl um eine Liebesgeschichte. Mehr weiß ich selbst noch nicht.“ Frau Bachmann nickte und schlürfte ihren Kaffee und ich war mit meiner Antwort sehr zufrieden. Eine Liebesgeschichte, genau. Nicht mehr aber auch nicht weniger. „Er hat sich in den letzten Jahren sehr verändert, er ist nicht mehr der Richie Boy wie damals, als ich ihn geheiratet habe.“ „Was ist passiert?“, fragte ich. „Er bekam Depressionen, aber fragen sie mich nicht woher oder warum. Ich kann es ihnen nicht erklären. Anfangs zeigte sich das nur, als er nichts zu schreiben hatte. Als er ideenlos war. Er fing an, sich zurück zu ziehen, alleine abends weg zu gehen, da dachte ich schon daran, dass er eine Andere hatte. Naja, wie auch immer, er zog sich jedenfalls immer mehr zurück, schloss sich zum Arbeiten ein und verschloss die Räume, was er früher nie gemacht hatte.“ „Hat er jemals darüber gesprochen, wie schlimm es in ihm aussieht?“ „Nein, das heißt, naja, vielleicht durch seine Bücher. Die wurden immer schwärzer, aber ich muss gestehen, ich habe seine Bücher nie zu hundert Prozent verstanden. Manche habe ich auch nicht fertig gelesen, weil sie mir zu anstrengend waren. Vielleicht war das der Fehler. Vielleicht wäre die Antwort auf seinen Charakter in seinen Büchern zu finden. Was meinen sie, Herr Mertens. 102 Sie kannten Ihn doch auch, oder?“ „Von Kennen würde ich nicht gerade sprechen. Ich habe ihn zwei bis dreimal getroffen, er wirkte immer sehr in sich gekehrt, verschlossen gar abweisend. Aber ich dachte, dass er eben immer so wäre.“ Sie nickte. „Eine schwermütige Persönlichkeit eben“, sagte Marlene Bachmann. „Hatte er zu ihnen irgendwas vor seinem Tod gesagt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Es gibt nur diesen Brief“, sagte sie, „aber wie gesagt, ich glaube nicht dass er von ihm ist. Das LKA allerdings schon.“ „Warum sollte er nicht von ihm sein?“ „Weil er so etwas nie und nimmer schreiben würde, das passt nicht zu ihm. Ich glaube, er wurde ermordet, oder es ist ihm was passiert, oder er musste diesen Brief schreiben, verstehen sie? Ich glaube nach wie vor, dass eine andere Frau damit zu tun hat.“ Ich nickte. „Vielleicht steht in seinem Buch, dass sie gerade übersetzten was, dass Klarheit darüber schaffen würde?“, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Rein fiktional“, antwortete ich. „Wann haben sie ihn zuletzt gesehen?“, fragte ich sie, dabei klang es fast ungewollt vorwurfsvoll. Ich muss mich mehr unter Kontrolle haben, dachte ich. 103 „Ach, nennen sie mich Marlene.“ „Edgar, angenehm.“ Das war mir in der Tat mehr als angenehm. „Also, Marlene, wann hast du ihn das letzte Mal gesehen? Hat er da was zu dir gesagt.“ „Hm.“ „Wir müssen nicht darüber sprechen.“ „Hm… doch… warte.“ Sie stand auf, ging an mir vorbei, ich atmete ein und vernahm ihren Duft, der mich leicht an Lavendel erinnern ließ. Ich schloss die Augen. Sie kam wieder mit einem Taschentuch, mit dem sie sich die Augen trocken gewischt hatte. „Also, Edgar, verzeih. Das letzte Mal war am Abend vor seinem…“ Ich nickte leicht und sah wie sich wieder ihre Augen mit Tränen füllten. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte sie in den Arm genommen. Aber ich musste auf Distanz bleiben. „Wir haben gefeiert und uns gestritten.“ „Um was ging es bei dem Streit, Marlene?“ „Naja, es war so.“ Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. „Wir hatten in seinen Geburtstag gefeiert. Sein Verleger, Herr Büchner war noch da und wir hatten alle sehr viel getrunken, es war ein schöner Abend.“ Ich nickte. 104 „Bis er, also Richard, so viel getrunken hatte, dass er kaum noch stehen konnte, er kam dann zu mir her, nahm mein Gesicht in beide Hände, drückte es zu und schrie mich an.“ „Was schrie er?“ „Dreckige kleine Schlampe“, hat er gesagt. „Dann ließ er mich los, ging in sein Arbeitszimmer, in dem eine Couch steht und schloss sich ein. Wir, also Herr Büchner und ich machten uns nichts daraus. Er war manchmal etwas aufbrausend, wenn er trank.“ „Was ist dann passiert“, wollte ich wissen. „Dann räumten wir ein bisschen zusammen und gingen schlafen. Ich im Schlafzimmer und Herr Büchner im Gästezimmer übrigens. Wir hatten alle sehr viel getrunken.“ Ich nickte. „Und am nächsten Morgen?“ „Am nächsten Morgen stand ich spät auf, verabschiedete mich von Herrn Büchner und klopfte an Richards Arbeitszimmer. Ich wollte wissen, ob alles wieder in Ordnung ist. Aber die Tür war offen und auf dem Schreibtisch lag nur dieser verdammte Brief.“ Sie nahm sich eine Zigarette aus der Packung und zündete sie sich an. Ich nickte und nahm einen Schluck Kaffee; ließ das ganze jedoch unkommentiert. Was sollte ich auch schon sagen. Ihr Mann ist tot, wer bitte kann da auch nur einen Ton richtig sagen. 105 Marlene Bachmann war Kettenraucherin und im Nachhinein könnte man sogar sagen, es war eine Kunst, den Rauch so auszublasen wie sie es tat. In den Sekunden, die wir uns anschwiegen musterte ich sie von oben bis unten während sie aus dem Fenster starrte und den Rauch ausblies. Wahrscheinlich wird sie zehn Sekunden, nach dem ich aus dem Haus bin, wieder nackt sein. Höchstwahrscheinlich, dachte ich. Als wir uns verabschiedeten – es gab eine kurze Umarmung -, ich in der U-Bahn saß und die Welt an mir vorbeirauschen sah, dachte ich erneut an ihre zarten Achseln, und ich sah ihr Gesicht und die dünnen Nasenflügel vor mir. Den Lavendelgeruch hatte ich immer noch in der Nase, gepaart mit dem Gestank von Zigarettenrauch. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich unter anderen Umständen problemlos in sie hätte verlieben können. Aber nur unter anderen Umständen natürlich. 106 18 Die Polizei, stellvertretend durch Herrn Wyss, ein braungebrannter hagerer, etwa 55 Jahre alter Mann und ein Kollege, der durch seine hohe Stirn aussah wie ein Käfer, mit einem unaussprechbaren osteuropäischen Namen und starken schweizerdeutschem Akzent, fragten mich an diesem heißen Augustmorgen aus. „Sie sind also Edgar Mertens.“ „Ja.“ „Der Ehemann von Katharina Mertens.“ „Ja.“ „Wann haben sie ihre Frau das letzte Mal gesehen?“ „Am Abend vor zwei Tagen.“ „So so.“ Er machte sich Notizen „Was haben sie da gemacht?“ „Naja, wir waren zusammen essen, danach bin ich noch ein wenig spazieren gewesen und etwa eine Stunde später bin ich zurück auf mein Zimmer.“ „Wo sind sie hin spaziert?“ „Ich lief ein wenig die Straße entlang und rauchte ein oder zwei Zigaretten. Einfach die Beine vertreten nach dem schweren Essen.“ „Beine vertreten, OK“. Ich beobachtete ihn, wie er etwas in seinen Block schrieb und das heftig mit seinem Stift heftig umkreiste. „Und danach sind sie wieder ins Hotel zurück?“ „Ja, wie gesagt.“ 107 „Da war ihre Frau schon im Bett, ja?“ „Ja.“ „Und es war nichts Auffälliges?“ „Nein.“ „Und dann?“ „Naja, ich bin irgendwann eingeschlafen und als ich am nächsten Tag aufwachte, war sie weg.“ „Und das Auto auch?“ „Ja, Ich dachte, vielleicht ist sie Brötchen holen gegangen oder was einkaufen…“ „Was für ein Auto war das?“ „Ein weißer Audi A5“ „Nummernschild?“ „HH – KE 7731“ „Hatte sie irgendwas gesagt, dass sie darauf schließen könnten, sie würde das Hotel verlassen?“ „Nein.“ „Gab es einen Streit vielleicht? Oder eine kleine Unstimmigkeit?“ „Ich schüttelte den Kopf.“ „Merkwürdig. Die Pförtnerin, Frau R hat sie nicht gehen sehen. Allerdings fing ihre Schicht auch erst um 7 Uhr an.“ „Dann ging sie wohl vorher.“ „Hatte ihre Frau Feinde? Gibt es jemanden der ihr etwas Böses angetan haben könnte?“ „Ich wüsste nicht.“ „Was macht ihre Frau eigentlich beruflich, Herr Mer108 tens?“ „Sie war, Entschuldigung, ist Lehrerin, aber in Hamburg, in Deutschland.“ „OK.“ Sie kopierten einige Fotos von Katharina aus meiner Brieftasche für eine Fahndung nach ihr und entließen mich wieder. Ich gab Ihnen alle Informationen, die sie benötigten. Die Sache mit Weith erwähnte ich jedoch nicht. Drei Tage später, am Donnerstag, rief ich noch einmal bei Herrn Wyss an und teilte ihm mit, dass ich nun wieder zurück fahren würde. Ich gab ihm meine Adresse und Rufnummer in Hamburg an, damit er mich erreichen konnte. ~ Einen Tag später lag ein Brief von Kerr vor meiner Pensionstür. Ich öffnete meine Tür und danach den Brief, holte das Buch heraus und fing an es zu lesen. Ich musste die genaue Geschichte kennen. Nach etwa drei Stunden und zwei deftigen Kohlrouladen später – Frau Fink hatte mir von ihrem Abendessen etwas übriggelassen - war ich ein wenig schlauer. Es war eine ziemlich kurze, tragikomische Geschichte über einen Schriftsteller, der ausgerechnet auf dem Hö109 hepunkt seiner literarischen Laufbahn von Zwangsvorstellungen heimgesucht wird und glaubt, dass seine Ehefrau ihn ermorden will. Er wird verrückt und erhängt sich im Dachboden seiner Wohnung. Ich legte das Buch zur Seite und ging ans Fenster. Sokolow, der Autor dieser Geschichte wurde einige Tage nach Fertigstellung erschossen in seiner Wohnung aufgefunden, der Mörder und die Tatwaffe wurden nie aufgefunden und der Mord wurde nie aufgeklärt. Orientierungslos wie ich war, ging ich zu Frau Fink und fragte sie, ob sie Lust hätte einen Cognac mit mir zu trinken. Sie bejahte, bestand allerdings darauf den zu trinken, den sie noch da hatte. Wir hörten BeatlesSchallplatten und sie erzählte mir Geschichten von früher, so vergaß ich das ganze Dilemma um mich herum und als ich morgens aufwachte, hatte ich vergessen, wie ich ins Zimmer gekommen war. Auf meinem Nachttisch lag ein Zettel. Ich habe ihre Kleidung in die Wäsche getan. KF 110 19 Am Strand brennt ein Lagerfeuer. Ich nehme an, dass die Jugendlichen, die drum herum sitzen singen und geharzten Wein trinken, sich nicht besonders von der Wirklichkeit geplagt fühlen. Die meisten sind nackt, wie dem auch sei, und gestern Nacht, gerade als ich zu Bett gehen wollte, konnte ich beobachten, wie sich zwei von ihnen direkt unter meinem Balkon paarten. Es geschah still und innerlich, das Mädchen saß auf dem Jungen und es fiel mir schwer, das Bild von meiner Netzhaut zu verbannen, als ich mich ins Bett legte und versuchte einzuschlafen. Wahrscheinlich verhält es sich so, dass ich nichts dagegen hätte, eine Frau im Mondlicht am Sandstrand zu lieben, oh nein. ~ Es regnete stark, als ich aus dem Haus ging und mich in die U-Bahn Richtung Innenstadt setzte. Ich lief zur der Adresse, die mir Nowak gab und sah mir die Klingelschilder an. Die kommenden Tage versuchte ich nicht meiner Arbeit nach zu gehen, auch nicht der Suche nach Katharina. Ich versuchte meinen Kopf etwas frei zu bekommen. Eine Leere einfließen lassen, wie es Erik gesagt hätte. 111 Ich stand morgens auf, frühstücke reichhaltig zusammen mit Frau Fink, während ich die Tageszeitung ließ. Danach fuhr ich entweder ins Berliner Zentrum und spazierte dort ein wenig umher, ging in Museen und besuchte ein paar Ausstellungen, einmal ging ich sogar ins Kino – oder ich lief raus zum Müggelsee und lief dort ein wenig umher. Nach vier Tagen – es war ein Donnerstag – ging ich wieder in die Bibliothek. Mein Geist war wach, meine Gedanken frei und der Kaffee in meiner Hand roch fantastisch. Ich schlug Bachmanns Manuskript auf und machte dort weiter wo ich aufgehört hatte. Nach etwa drei komisch abgedrifteten Seiten kam folgender Abschnitt, der mich fast am Kaffee verschlucken ließ. […] O hat es auf mich abgesehen. Aber nicht nur er. Auch meine neugewonnene, sogenannte Liebe meines Lebens, will mich um die Ecke bringen. Um die Ecke, genau. Sie lesen richtig. Kein Schein, kein Trug, es liegt auf der Hand. Ich habe seine ach so lieben und verständnisvollen Briefe alle gelesen. Vier Stück. Man kann es nicht leugnen. Meine über alles geliebte M wird mich ermorden. Wie sie es vollbringen wird, weiß ich noch nicht, ob sie mich erschießen, oder meinen Kopf abschlagen werden? Vielleicht ertränken sie mich ja einfach im nächst gele112 genen Tümpel. In meinem neuen Kahn. Die Gespräche darüber habe ich alle schon mitangehört. Der vierte Brief ist der Beweis. Dort steht alles drin. Der Tag, an dem sie wieder ihr verdammtes Gemüse gekauft hat. Ich kopierte die Briefe, das corpus delicti und vergrub sie unter der Sonnenuhr hinter meinem Landhaus. Man muss Beweise haben. Im Kirchgartenhof liegen sie. […] Ich ließ meinen Stift fallen und sah mich um. Versicherte mich, dass nicht zufällig ein Zaungast hinter mir stand und mit las, was ich gerade schrieb. Ich las es noch mal. Um genau zu sein, las ich es noch zehn Mal deutlich und versuchte, alles abzuwägen, es nicht doch falsch zu verstehen oder falsch übersetzt zu haben. Oder vielleicht ein Wörtchen zu überlesen. Aber es stimmte genau so. Ich muss zugeben, dass ich die Tage vorher, also bis zu meiner viertägigen Auszeit, einmal kurz genau daran denken musste. Aber ich schob das ganze schnell wieder in die hintersten Kammern meines Gehirns. Künstlerische Freiheit, was sonst. Wie ein Schauspieler, der seinen Tod auf der Bühne spielt. Ein Schauspieler. Die Bühne. Der Tod. Nun galt es Ruhe zu bewahren. Keine Panik, kein übereiltes Handeln. Ich schloss meine Augen und dachte 113 nach, während ich merkte, dass sich unter meinen Armen langsam Schweiß bildete. Meine Stirn wurde ganz warm und ich wurde unruhig, so sehr, dass ich aufstehen musste. Bachmann schrieb davon, alle Beweise unter der Sonnenuhr in seinem Ferienhaus zu hinterlegen. Ich dachte nach und ich erinnerte mich, dass ich irgendwann mal in einer Literaturzeitung eines seiner seltenen Interviews las und ich meinte mich ebenfalls zu erinnern, dass er damals erwähnte, dass er in Oranienburg ein Ferienhaus besaß. Wenn dies jetzt keine Finte von ihm war – und das wusste man bei Bachmann nie - dann lagen genau hinter diesem Haus unter Steinen oder sonst wo gut versteckt und verpackt, diese Briefe. Ich musste also schleunigst dort hin. Ich packte meine Sachen zusammen und lief runter zu Frau Enger, fragte, ob ich eben kurz telefonieren könnte, worauf mit die nette Bibliothekarin das schnurlose Telefon brachte. Ich ging ein paar Schritte vom Empfang weg, so dass ich ungestört war und wählte Kerrs Nummer in Hamburg. Es klingelte viermal. „Kerr.“ „Hier ist Mertens.“ „Hey Mertens, na wie läuft’s? Haben sie das Buch bekommen?“ „Ja, danke. Ganz gut, aber sie müssen mir noch einen Gefallen tun.“ 114 „Ja?“ „Suchen mir doch mal bitte die Adresse von Richard Bachmanns Ferienhaus in Oranienburg raus.“ „Wozu brauchen sie das?“ „Für meine Arbeit“ „So?“ „Egal, machen sie einfach. Ich muss ein bisschen recherchieren. Sie wissen doch, wie Bachmann schreibt.“ „Ich rufe zurück, ich muss erst selbst jemanden anrufen.“ Am Abend ging ich ins Kino. Sah zum vierten oder vielleicht schon zum fünften Mal Tarkowskis Nostalghia. Mit den gleichen Gefühlen der Verwunderung und Dankbarkeit wie immer. Das Meisterwerk der Meisterwerke, dachte ich, während ich in dem halbleeren Kinosaal saß und mich von den Bildern einfangen ließ, und plötzlich fielen mir ein paar Worte ein, die mein Konfirmationspfarrer einmal gesagt hatte – ein sanfter Verkünder mit großem, weißem Bart, der sicher von vielen in der Gemeinde als ein sehr enger Verwandter Gottes angesehen wurde. Es gibt das Böse auf der Welt, hatte er erklärt, aber niemals und nirgends so viel, dass es nicht noch Spielraum für gute Taten gäbe. An und für sich keine besonders beeindruckende Äußerung, aber sie hatte sich in meinem Kopf festgebissen und tauchte immer mal wieder auf. 115 Und der Spielraum für gute Taten? Gab es den wirklich immer? Wer war es eigentlich, der den Kuchen aufteilte? Und warum sollte alles irgendwie einen Sinn haben? Alle Handlungen? 116 20 Der Renault war zwar an jeder Stelle durchgerostet, aber er erfüllte seinen Zweck. Ich musste ja nur raus nach Oranienburg, was in etwa eine Stunde zu schaffen ist. Die Adresse lag auf dem Armaturenbrett eingeklemmt und die Landkarte auf dem Beifahrersitz. Kerr hatte mich etwa 10 Minuten nach unserem Gespräch zurückgerufen und mir die Adresse durchgegeben. Es war ein Zögern in seiner sonst so dominanten und kräftigen Stimme zu hören. Vielleicht sogar ein wenig Misstrauen, ich bin mir nicht sicher. Die Landkarte lieh ich mir ohne großes Nachfragen von der Bibliothek aus. Sirkow, ein russischer Autovermieter aus Köpenick, klein, mit einem Gesicht wie Peter Lorre, schaute zwar etwas verdutzt drein, warum ich um die Zeit – es war bereits nach 22 Uhr – so dringlich einen Wagen brauchte und warum es ausgerechnet diese Rostlaube sein sollte – aber ihm war jedes Mittel Recht ein paar Geldscheine zu verdienen. Und ich glaube, er erkannte, dass ich es eilig hatte und fragte nicht weiter nach sondern wünschte mir nur viel Glück und eine gute Fahrt. Bei was und wohin auch immer. Ich verfuhr mich trotz Karte dennoch zweimal, bis ich an dem Haus, das etwa 300m von der Havel entfernt lag ankam. 117 Das Haus war komplett verfallen. Es war kein schöner Anblick. Es erinnerte mich an vom Krieg verlassene Städte, in denen keiner mehr wohnte, in denen sich die Natur ihren Platz langsam aber sicher wieder zurückholte. Ja, es war alles überwuchert. Überall Unkraut, Büsche, rostige Zaunlatten, Moos. Und aufgrund der Abgeschiedenheit des Hofes, war es für andere Menschen eigentlich unmöglich, mich dort zu sichten. Die Sonnenuhr fand ich jedoch gleich und man sah, dass dieser Bereich ein wenig sauberer und aufgeräumter war als der andere Teil des großen Gartens. Hier wurde also irgendwann vor nicht allzu langer Zeit noch gearbeitet. Ich nahm die Taschenlampe aus meiner Jackentasche und leuchtete behutsam durch den Garten des Hofes. Die vier Briefe lagen fein nach Datum sortiert in einer kleinen Holzkiste versteckt unter dem besagten Stein. Ich schlich mich leise wieder aus dem Garten und fuhr zurück zu Sirkow, der sich freute, seinen Renault wieder zu haben. Die Briefe versteckte ich in meinem Zimmer in der Nachtischschublade, nicht sonderlich originell, aber es war eben nicht mein Haus und wusste kein anderes Versteck. Irgendwann lese ich sie, dachte ich mir. 118 21 Ernsthaft. Es geht doch vor allem darum, dass alles klappt und zu einer Lösung kommt, aber in schwachen Momenten habe ich das Gefühl, dass auch mein ganzes Leben nur eine Palette von Kompromissen und Entscheidungen war, die mir durch die Finger rannen. Immer. Bis zu diesem Zeitpunkt spielte ich dieses Spiel mit, es hat mich zwar nicht groß begeistert, weil ich mir veralbert vorkam, aber ich nahm es hin. Bis jetzt. Ich fing an, entgegen meiner Arbeitsweise, das Buch komplett durch zu lesen. Es waren immerhin noch knapp 100 Seiten. Aber es bestand kein Zweifel mehr daran. Richard Cornelius Bachmann wurde durch seine Frau Marlene Bachmann und deren Liebhaber und gleichzeitigen Verleger ihres Mannes, Oskar Büchner getötet. Im Meer versenkt. Er ist qualvoll erstickt. Ich musste mehrmals schlucken, meine Hände zitterten und mein Magen drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Ich packte alles zusammen und lief aus der Bibliothek, verabschiedete mich von den Damen am Empfang und erklärte meine Arbeit für beendet. Ich ging nach draußen und nahm ein Taxi zurück in meine Pension. Im Flur roch es nach gutem deftigen Essen. Ich bekam großen Hunger und beschloss, gleich etwas essen zu gehen, doch vorher musste ich Kerr anrufen. 119 „Kerr“. „Ja, hier Mertens“ „Oh was gibt‘s? Wie ist der Stand?“ „Naja, ich will darüber nicht am Telefon sprechen. Können sie herkommen?“ „Aber wieso? Was zur Hölle ist los mit ihnen? Mertens. Ich mache gar nichts, wenn sie mir nicht auf der Stelle sagen, was los ist. Herrgottnocheins.“ Seine Stimme wurde laut und aggressiv. „Kerr, ich würde sie nicht bitten, wenn es nicht so dringend wäre. Aber sie müssen kommen. Ich kann darüber nicht am Telefon sprechen. Bitte.“ „Ok, ich versuche morgen früh gleich den ersten Flug zu bekommen. Aber dann erklären sie mir alles. Jedes verdammte Detail, ja?“ „Danke, bis morgen.“ Und da waren noch die Briefe. Vier in der Anzahl. Ich holte sie aus der Schublade und legte sie offen vor mir auf den Schreibtisch. Die Sonne schien in mein Zimmer und ich musste ein Glas Single Malt aus dem Schrank zu mir nehmen, ehe ich einen Blick darauf werfen konnte. Alle Briefe waren von Büchner an Marlene geschrieben. Immer die gleiche Schreibmaschine, die gleichen Blätter. Bis auf die Unterschrift keinerlei Persönlichkeit. Der erste Brief war harmlos. Fast schon förmlich, auch wenn man hier und da – wenn man wollte – etwas 120 verdächtiges herauslesen könnte. Aber nur wenn man wollte, wie gesagt. Es war vielmehr ein nettes, freundliches Schreiben mit einer Einladung zum gemeinsamen Essen. Der zweite Brief war da schon anders. Im zweiten Brief schrieb Oskar Büchner davon, wie er seine Ehefrau verlassen hatte und wie er sich nach einer neuen Liebe sehne. Er schrieb davon, was er noch in seinem Leben vor hatte, z.B. die Besteigung einiger Gipfel der französischen Alpen, und dass er auf die einzige und wahre Frau in seinem Leben wartete. Brief Nummer drei war noch eindeutiger. Er schrieb in aller Offenheit darüber, wie er in Marlene verliebt war. Er erwähnte den Duft ihrer Haut nach dem Duschen und er schrieb mehrere Absätze über ihre großen Brustwarzen und was er mit ihnen vorhatte. Ich hörte nach der zweiten von vier Seiten auf und legte es weg. Die Affäre war nun eindeutig, da war nichts dran zu Rütteln. Brief vier, so erinnerte ich mich, sollte nun alles beweisen. Ich nahm noch einen Schluck und fing auch ihn an zu lesen. Liebe Leni, als ich gestern nach Hause fuhr und über dich und uns nachdachte, wurde es mir schlagartig klar. Es gibt kein zurück mehr. Was Du über Richard sagst, beunruhigt mich, dass er seine Hand gegenüber dir erhebt, ist unentschuldbar. Er muss weg. Er muss dringend weg. Auf die121 ser wunderschönen Welt, ist kein Platz für ihn. Wir müssen ihn uns vom Hals schaffen. Ich habe auch eine Idee. Du kennst doch diese alte Phönixfigur im Garten seines Landhauses, oder? Dieses schwere hässliche Ding?[…] Ich legte den Brief zur Seite und schaute aus dem Fenster. Der Brief war komisch geschrieben. Seltsam. Irgendwie war er anders als die anderen drei vorher. Die Sprache war viel direkter, klarer und eher auf den Punkt kommend, als ich es von Büchner vorher gewohnt war und er wiederum eher ein Meister der Subtilitäten war. Auch hat er in den vorigen Briefen nie den Namen Leni erwähnt, aber das kann natürlich alles Zufall sein, zu viel Interpretation. Das alte Leid eines Übersetzers wohl. Ich las den Brief zu Ende. Es war eindeutig. Mehr als das. Es war wirklich das Corpus Delicti, so wie es Bachmann in seinem Buch erwähnte. Es war Mord und er war von Anfang an geplant. Ich ging auf den Balkon, zündete mir eine Zigarette an und sah auf die Uhr. Bemerkte, dass es schon nach 2 Uhr in der Nacht war. Ich schaute nach oben, während ich an meiner Zigarette zog. Versuchte die Sterne zu erkennen, aber außer dem großen Wagen erkannte ich nichts. Aber das erkennt ja auch jedes Kind. 122 22 Die Glocke der naheliegenden Lutherkirche weckte mich sehr früh. Ich hatte beim Aufstehen ein kurzes Schwindelgefühl, was aber nach einem Schluck Wasser aus dem Hahn wieder verflog. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, das Kerr jeden Moment vor der Tür stehen würde. Als es schließlich klingelte, erschreckte ich mich so sehr, dass ich mich während des Rasierens am Kinnschnitt. Frau Fink klopfte an, und kündigte mir Besuch an. „Ja, soll reinkommen, Tür ist offen“, rief ich vom Badezimmer aus in Richtung Tür während ich ein Stücken Toilettenpapier nahm um damit die Rasierwunde abzudecken. „Oh, geschnitten?“, war sein erster Satz, als er durch die Tür kam. „Rasierunfall, sie kennen das.“ Ich zeigte mit der Hand auf meinen Tisch, dass er sich setzen soll. Kerr setzte sich auf den Stuhl, während ich mich, in Unterwäsche auf mein Bett ihm gegenüber setzte. Wir starrten uns eine Weile schweigend an. „Schön haben sie’s hier, Mertens. Ich hatte es nicht so schön in Erinnerung und Frau Fink ist toll, oder?“ Ich ging darauf nicht ein und versuchte meine Worte in meinen Gedanken zu ordnen. „Bachmann wurde ermordet“, platzte es aus mir heraus. 123 „Was sagen sie da?“ „Ich sagte, Bachmann wurde ermordet“, wiederholte ich mich. Sein Gesicht verdrehte sich. Sein Mund sah aus, als hätte er etwas ungenießbares gerade gegessen. Es war bizarr. „Wie kommen sie darauf?“, fragte Kerr und es war ihm anzusehen, dass ihn meine Aussage verwirrte. „Ich habe es gelesen.“ „Wo?“ „Im Manuskript.“ Ich deutete auf meine Unterlagen. „Was heißt das? Ich dachte er hätte sich umgebracht. Die Polizei sagt das auch. Alles sicher. Keine Zweifel.“ Ich schüttelte den Kopf und zog mir meine Socken an. „Sie waren es.“ „Wer?“ „Beide.“ „Marlene Bachmann und Oskar Büchner.“ „Büchner? Sein Verleger? Oskar?“ „Sein Verleger.“ „Sie meinen, sie hatten…“ „… ja genau. Sie hatten eine Affäre, vielleicht auch mehr, ich weiß es nicht.“ „Und das steht in dem Text? Sind sie sich sicher?“ „Ja.“ „Du bist dir ganz sicher?“ Er war so perplex, dass er 124 mich duzte. „Ja, Tausendprozentig.“ „Aber es gab doch einen Abschiedsbrief, der wurde als echt begutachtet.“ „Sicher, wahrscheinlich wollte er sich einfach von allen verabschieden, aber eben auf diese Art, verstehen sie? Bachmann war nicht dumm. Er wusste, was passieren würde. Er hat es kommen sehen.“ „Ich kann das nicht glauben.“ Er stand auf, lief zum Fenster und schaute hinunter. Erfuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, drehte sich danach wieder mir zu und sprach mit langsamer, ruhiger Stimme. „Kann ich ihren Text einmal lesen?“ „Bitte.“ Ich reichte ihm meine geschriebenen Seiten. Er nahm aus seinem Jackett eine Brille, setzte sie auf und legte das Manuskript vor sich auf den kleinen Holztisch neben meinem Bett. Ich ließ ihn mit dem Text alleine, zog mich fertig an und fütterte Matthias. 125 23 Es war Albrecht, der mir die Insel empfohlen hatte. Er kannte Kreta schon seit seinen ersten Semesterferien und ließ jedes Jahr nicht unversucht, mit mir den kommenden Herbst dort zu verbringen. Ich bedankte mich, wie es sich für Arbeitskollegen gehört aber lehnte doch immer wieder aufs Neue ab. Nicht wegen des Mittelmeers, der Insel oder Griechenland an sich, ja nicht einmal wegen des Geldes oder der Zeit wegen – ich war die ersten Jahre mit Katharina öfters auf Kos und genoss es sehr – es lag einfach daran, dass mich Empfehlungen, egal von welcher Person, erst einmal abschrecken. Sei es ein Urlaubsvorschlag oder ein Buchtipp oder einfach nur ein Tipp zum Benzinsparen beim Autofahren. Manche würden das ignorant nennen, ich jedoch habe die Angewohnheit, jeden Rat den ich bekomme einfach kritisch zu durchleuchten und erst einmal – auch aus reiner Gewohnheit – ab zu lehnen. So war es auch mit Kreta. Jedoch fiel mir Albrecht, Gott hab ihn selig, und seine Insel, wie er sie immer nannte, an jenen Tagen wieder ein und ich fand die Idee, einfach zu verschwinden, die beste. Vielleicht die insgesamt beste Idee meines gesamten Lebens. 126 ~ „OK.“, sagte Kerr. „Was OK?“, fragte ich ihn. Ich fahre jetzt wieder zurück nach Hamburg und spreche mit unserem Verlagsleiter. Dann melden wir das der Polizei. Sie machen einfach Garnichts. Wie lange haben sie noch gebucht?“ „Noch 15 Tage.“ „OK, bleiben sie diese Tage über hier und erzählen sie keinem davon. Ihnen geht es gut?“ Ich nickte und wir verabschiedeten uns. Zwei Tage später las ich es in den Nachrichten. Bachmann ermordet, schrieben die Zeitungen. Es war ein Spektakel. Man entschied sich im Verlag - anders als Bachmanns Wunsch, dass nur ich das Manuskript lesen sollte - dafür, den Text direkt an die Staatanwaltschaft zu geben. Um 10 Uhr rief mich Kerr an und teilte mir mit, dass der Staatsanwalt auch irgendwann auf mich zukommen wird, um mir einige Fragen zu stellen. „Ich heiße Edgar Mertens, wurde am 11.08.1960 in Schwerin geboren und lebe seit 1990 in Hamburg. Ich bin freier Übersetzer und arbeite gelegentlich für den Hanseverlag. Meine Frau gilt seit vier Jahren als vermisst, Kin127 der haben wir keine.“ „Okay, kommen wir zu dem Fall Bachmann. Erzählen sie, wie sie zu dem Auftrag gekommen sind.“ Ich erzählte dem Staatsanwalt die Geschichte, wie ich im Dezember in Hamburg das Bachmann-Manuskript erhielt, mit der Bitte, es geheim zu halten und zu übersetzen. „Nur sie durften es übersetzen?“ „Ja“ „Warum?“ „Weiß ich nicht.“ „Wann haben sie damit angefangen?“ „Anfang Januar.“ „Wann waren sie fertig?“ „Vor etwa drei Wochen.“ „Worum ging es in diesem Buch?“ „Um einen Schriftsteller, der die Affäre seiner Frau aufdeckt und glaubt, ermordet zu werden, grob gesagt, Herr Staatsanwalt.“ „Und was haben sie dann gemacht?“ „Ich bin nach Oranienburg gefahren.“ „Was haben sie dort gemacht, Herr Mertens?“ „Ich habe nachgesehen, ob das mit den Briefen stimmt.“ „Und?“ „Ja, es war, wie im Buch.“ „Und dann?“ „Ich habe mich mit Kerr in Berlin getroffen, um darüber 128 zu reden.“ Er nickte. „Und er hat es dann der Polizei gemeldet.“ „Vielen Dank Herr Mertens, sie können jetzt gehen.“ Wir gaben und uns die Hand und ich trat hinaus ins grelle Sonnenlicht. Es waren nur fünf Minuten Fußweg nach Hause zu Frau Fink, aber ich stellte fest, dass ich weder einen Grund noch viel Lust hatte mich dorthin zu begeben. Stattdessen machte ich mich auf den Weg einen Kanal entlang, dessen Namen ich nicht kannte und der an keiner einzigen Kreuzung ausgeschildert war. Wenn ich mich nicht irre war ich auf dem Weg zum Boxhagener Park, aber es konnte mir im Prinzip gleich sein, wenn ich irgendwo anders landete. Ich musste die Zeit herumbringen, das war alles. Am Tag zuvor war ich auf diese Art ziellos sechs, sieben Stunden herumgelaufen, während ich darüber nachdachte, was ich machen sollte. Nach ungefähr zwanzig Minuten kam ich zu einem großen grünen abgegrenzten Areal, von dem ich annahm dass es der Boxhagener Park war. Ich trat durch die Pforte, ging weiter zwischen Büschen, blühenden Bäumen und tosendem Vogelgesang. Hier und da hatten sich Menschen mit Picknickkörben und Decken niedergelassen, meistens Paare und Gruppen von Studenten natürlich, aber auch die eine oder andere Frau in meinem Al129 ter, und unter anderen Umständen wäre es möglich gewesen, sogar ziemlich wahrscheinlich – dass ich mich einer dieser offensichtlich suchenden genähert hätte. Aber jetzt hielt ich mich an meine eigenen Pfade. Ich durchquerte den großzügig verwachsenen Park der Länger und Breite nach und so gelang es mir, den Nachmittag herumzubringen. Als ich wieder bei Frau Fink ankam, herrschte bereits eine schmutzige Dämmerung und ich machte mir klar dass es noch sechs Tage waren, bis die Gerichtsverhandlung gegen Marlene Bachmann und Oskar Büchner beginnen würde. Der 15. März. Ich glaube, das war so ein Datum, das ich verdrängte. Ich weigerte mich, zu akzeptieren dass es immer näher kam, weil dann, wieder einmal, alles von neuen Vorzeichen und unvorhersehbaren Zufällen umgeben sein würde. Etwas das nur mich betraf und gegen das ich mich in keiner Weise schützen konnte. Wie ein Operations- oder ein Scheidungstermin. 130 24 Ganz links saß Marlene. Oskar Büchner saß ganz rechts. Tadellose Frisur und frisch rasiert. Weißes Hemd, Schlips und Zweireiher. Ein Erfolgstyp. Es war der 15. März und ich sah ihn zum ersten Mal. Links von ihm saßen zwei Anwälte. Zunächst sein eigener, daneben der von Katharina Bachmann. Und ganz Links saß Marlene Bachmann selbst. In schwarz gekleidet, so ein einfacher, schulterfreier Fetzen, den nur eine bestimmte Sorte Frauen tragen kann und der ein Monatsgehalt kostet, wie mir gesagt wurde. Während ich aufstand und den Eid schwor, hob sie den Blick und schaute mich zwei Sekunden lang mit apathisch an. Anschließend betrachtete sie eine Weile die Schuhe des Staatsanwalts. Er stand schräg vor ihr auf dem dunkeln Holzfußboden, und diese beiden Blicke unterschieden sich in nichts. In absolut nichts. Ich wurde gebeten mich wieder hinzusetzen, was ich auch tat. Der Staatsanwalt näherte sich mir vorsichtig. Er war ein hoch gewachsener Mann in den Fünfzigern. Distinguiertes Gesicht was er öffentlich gern zur Schau stellte. Er ging um die Zeugenbank herum und stellte sich so, dass ich ihn von der linken Seite sah, während die Geschworenen und der größte Teil des Publikums seine rechte Flanke betrachten konnten. Er stand absolut still 131 und ließ ein paar Sekunden verstreichen. Wahrscheinlich Teil seiner Taktik. „Edgar Mertens“, begann er. Ich nickte. „Sie heißen Edgar Mertens?“, fragte er. „Ja“, gab ich zu . „Erzählen sie uns doch mal, warum sie hier in Berlin sind.“ Ich erklärte meinen einen Grund ausführlich. Das dauerte einige Minuten. Aber er unterbrach mich kein einziges Mal. Oskar Büchner saß unbeweglich da, die Hände ruhig auf dem Tisch und ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Dennoch meinte ich, erkennen zu können, dass seine Kiefer sich ein wenig bewegten und mir wurde klar, dass er trotz seines Auftretens des Opfer widerstreitender Gefühle war. Marlene Bachmann dagegen hielt den Kopf gesenkt und erschien sehr viel entspannter als ihr Liebhaber. „Danke“, sagte der Staatsanwalt als ich fertig war. „Erzählen sie uns von ihrer Übersetzungsarbeit. Wie sie verlief und wann sie Unrat zu wittern begannen.“ Ich fuhr fort. Während ich sprach ließ ich den Blick durch den Raum schweifen. Verweilte eine Zeitlang bei den Geschworenen. Vier Männer und drei Frauen, die alle mit bedrücktem und leicht besorgtem Gesichtsausdruck dasaßen. Ich ging weiter zu den Zuhörern, sowohl zu denen, 132 die unten im Parkett saßen, als auch zu den erkennbaren ersten Reihen oben im Rang. Der Raum war voll besetzt, daran gab es keinen Zweifel. Es war der zweite Verhandlungstag, der erste wirklich ernsthafte. Der Tag zuvor war, nach dem was ich in den Zeitungen gelesen hatte, in erster Linie den technischen Daten gewidmet gewesen und dazu benutzt worden, die Anklagepunkte festzulegen. Heimtückischer Mord. Beide hatten geleugnet. Das Vorgefecht war erledigt. Die Zahl der Fragen war unendlich, laut der Presse. Einer der interessantesten Prozesse seit etlichen Jahren, schrieb die Berliner Allgemeine Zeitung. Am Abend des ersten Tages hatte ein Kriminalmagazin im Fernsehen seine ganze Sendezeit dazu genutzt, den Fall zu diskutieren. Oder besser gesagt, Fragen zu stellen. Ich hatte einen Zipfel des Spektakels in der Wohnung von Frau Fink gesehen. Würde beide verurteilt werden? Würde einer von ihnen alles auf sich nehmen? Wenn ja, wer? Welche handfesten Beweise konnte der Staatsanwalt vorweisen? Wie hatte das Liebesdreieck eigentlich ausgehen? Würden sie sich auf eine Art Verbrechen aus Leidenschaft berufen? Et cetera. 133 „Was glauben sie, warum Bachmann sein Buch auf diese Art herausgebracht haben wollte?“ fragte mich der Staatsanwalt. Büchners Anwalt protestierte und erklärte, dass der Zeuge zu Spekulationen verleitet werden sollte. Ich schwieg. „Abgelehnt“, entschied der Richter. „Die Geschworenen werden sicher davon ausgehen, dass der Zeuge sich seine eigenen Gedanken gemacht hat.“ „Nun?“, fragte der Staatsanwalt . „Können sie die Frage wiederholen?“ fragte ich zurück. Der Anwalt wiederholte seine Frage. „Das ist doch offensichtlich“, sagte ich. „Erklären sie“, sagte der Staatsanwalt. Ich schaute Marlene Bachmann an. Durch die hoch gelegenen Fenster im Rang fiel die Sonne herein und tauchte ihr Schlüsselbein in marmorweißes Licht. Ich dachte wieder an ihre Nacktheit. „Es steht im Manuskript, dass sie ihn ermorden wollten“, erklärte ich. Die Antwort löst einige Unruhe auf dem Rang aus und der Richter schlug ein paar Mal mit seinem großen Hammer auf den Tisch. „Erklären sie genauer“, wiederholte der Staatsanwalt. Ich erzählte von den Unterstreichungen und davon was Bachmann über die Briefe und die Sonnenuhr draußen im 134 Kirchgartenhof geschrieben hatte. „Können sie mir erzählen, was sie taten, als sie diese Dinge im Manuskript entdeckten?“ „Ich habe das nachgeprüft“, antwortete ich. „Und wie?“ „Ich bin raus nach Oranienburg gefahren, dort war sein Ferienhaus und habe untersucht, ob es sich wirklich so verhält, wie es geschrieben stand.“ „Sie haben also nach den vier Briefen gesucht?“, fragte er weiter. „Ja.“ „Und haben sie sie an dem Platz gefunden, den Bachmann angegeben hatte?“ „Ja.“ „Wo haben sie sie gefunden?“ „Unter einem großen Stein, in einer Schatulle, wie es im Manuskript stand.“ „Haben sie sie gelesen?“ „Später.“ „Und welchen Schluss haben sie daraus gezogen?“ Es wurde wieder protestiert, diesmal von Marlene Bachmanns Anwalt. Der Richter lehnte erneut ab. Ich nahm einen Schluck Wasser. „Welchen Schluss hätten sie daraus gezogen?“, wiederholte der Staatsanwalt. „Naja, welchen Schluss hätten Sie daraus gezogen?“, konterte ich. Der Richter griff ein und erklärte, dass es meine Auf135 gabe sei, Fragen zu beantworten, nicht, welche zu stellen. Ich nickte und trank noch einen Schluck. Ich räusperte mich. „Ich zog den Schluss, dass Oskar Büchner und Marlene Bachmann Richard Bachmann getötet haben. Die Briefe sind eindeutig.“ Nun war die aufgebrachte Menge nicht mehr zu halten, es wurde gepfiffen und gebuht und der Richter brauchte einige Minuten bis er die Gemüter wieder beruhigen konnte. Der Staatsanwalt dankte mir und setzte sich wieder hinter seinen Tisch. Der Richter erteilte Marlene Bachmanns Anwalt das Wort. Er stellte sich genauso hin, wie der Staatsanwalt es getan hatte. Wartete, bis das letzte Flüstern verklungen war, bevor er das Wort ergriff. „Herr Mertens“, sagte er. Machte eine künstlerische Pause, nahm seine Brille ab und spielte mit dem Fingern an dessen Bügeln herum. Dann fuhr er fort. „Welcher Verlag hat Ihnen den Auftrag gegeben, Bachmanns Manuskript zu übersetzen?“ Ich nannte ihn. „Wissen Sie, wann das Buch herauskommt?“, fragte er mit stechendem Blick. Ich zuckte mit den Schultern. „Jetzt in diesen Tagen, nehme ich an.“ 136 „Nach meinen Informationen“ – er schaute auf seine Uhr am Handgelenk und zog ein wenig pathetisch die linke Augenbraue hoch – „heute“, präzisierte er. „Das ich möglich“, ich nickte. „Wie groß ich die Auflage?“, fragte er mich weiter. „Keine Ahnung.“ Er zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts, faltete es auf und betrachtete es. „Fünfzigtausend“, sagte er mit gespielter Überraschung. Ich sagte nichts. „Haben sie dazu was zu sagen?“ „Nein.“ „Ist das nicht eine sehr große Auflage, unter Berücksichtigung des nicht gerade großen Sprachgebietes?“ „Möglich“, ich zuckte mit den Schultern. „Bachmann war ein bekannter Schriftsteller, Herr Anwalt.“ „Daran besteht auch kein Zweifel. Ich habe allerdings auch hier die Verkaufszahlen seiner letzten beiden Bücher in ihrem Land. Wissen sie, um welche Zahl es sich handelt?“ „Nein“, beantwortete ich ihm und verstand nun, auf was er hinaus wollte. „Zwölftausend, für beide Titel - Was sagen sie dazu?“ Ich sagte nichts. „Sagen sie, Herr Mertens, ist diese Veröffentlichung nicht ein ziemlich gutes Geschäft für ihren Verlag? Ein Coup, wie man in ihrer Szene wohl sagt, richtig? Und ihr 137 Verlag war bislang ja auch nicht gerade der reichste, wenn ich’s mal so nennen kann.“ „Kann sein, ich kenne die Zahlen nicht“, gab ich von mir. „Also, ist es nicht so, dass diese ganze Geschichte eine reine Spekulation ist um Geld mit einem außergewöhnlich einfach zu verkaufenden Bestseller zu verdienen?“, versuchte mich der Anwalt zu locken. „Quatsch“, sagte ich. „Wie bitte?“, fragte mich der Anwalt. „Quatsch“, wiederholte ich mich. „Darf ich den Zeugen bitten, seine Sprache ein wenig zu zügeln?“, rüffelte mich der Richter. „Vielen Dank. Ich habe keinen weiteren Fragen“, sagte der Anwalt. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und nun kam Oskar Büchners Anwalt an die Reihe. Ein kleiner dicklicher Mann mit gut sichtbaren Schweißflecken auf seinem Hemd, sein Kopf erinnerte mich an den einer Schildkröte. „Herr Mertens, wer bezahlt ihren Aufenthalt in Berlin?“, fing er an. „Mein Verlag natürlich.“ „Dieses Manuskript, das sie übersetzt haben…“ Er machte eine Pause, „haben sie irgendeinen Beweis dafür, dass es wirklich von Richard Bachmann stammt?“ „Wie meinen sie das?“, fragte ich nach. „Woher wissen sie, dass es Bachmann geschrieben 138 hat?“, fragte er mich konkreter. Ich wurde wütend. „Natürlich ist es von Bachmann, vom wem sollte es sonst sein?“ sagte ich ein wenig schnippisch. „Wie kam es in ihre Hände?“ „Ich habe es von Kerr bekommen.“ „Ihrem Verleger?“ „Ja.“ „Und woher hatte er es?“ „Bachmann hatte es ihm zugeschickt.“ „Woher wissen sie das?“ „Weil er es mir erzählt hat.“ „Kerr?“ „Ja.“ „Sie haben keine anderen Quellen?“ „Was denn für Quellen?“ „Die bezeugen können, dass es sich wirklich so verhalten hat? Ich kochte vor Wut, er hatte es tatsächlich geschafft, mich zu provozieren. „Wozu sollte ich die brauchen?“ „Gibt es noch etwas anderes als das Wort ihres Verlegers, das bestätigen kann, dass es tatsächlich Bachmann war, der ihm dieses Manuskript geschickt hat?“ „Nein.“ „Dann könnte es ja auch ein Bluff sein, oder?“ „Das glaube ich nicht.“ „Ich frage sie aber nicht, was sie glauben.“ 139 „Ich sehe es als vollkommen ausgeschlossen an, dass mein Verleger mit der Unwahrheit operieren würde.“ „Auch wenn das bedeuten würde, dass der Verlag auf die Füße kommt?“ „Der Verlag steht bereits auf Füßen.“ Der Anwalt lachte kurz auf. „Wenn aber jemand anderes sich als Bachmann ausgegeben hätte, könne dann nicht auch ihr ehrenwerter Herr Verleger hinters Licht geführt worden sein.“ Ich dachte nach, trank einen Schluck Wasser . „Im Prinzip schon“, musste ich zugeben, „aber ich halte das für ausgeschlossen.“ „Danke, das war alles“, sagte der Anwalt. Der Richter gab mir zu verstehen, dass ich meinen Platz auf der Zeugenbank verlassen durfte, und ich wurde von dem gleichen Wachtmeister hinausgeführt, der mich auch hereingeholt hatte. Als ich die Anklagebank passierte, versuchte ich noch einmal Augenkontakt mit Marlene herzustellen aber sie saß immer noch unbeweglich da, den Blick zu Boden gerichtet. Oskar Büchner dagegen betrachtete mich wütend und es war klar, dass sie mich am liebsten umgebracht hätte, wenn wir uns in etwas unzivilisierter Umgebung befunden hätten. Als ich die breite Treppe des Gerichtsgebäudes hinunterschritt, wurde ich von blendendem Sonnenschein empfangen. Ich schaute auf die Uhr und konnte feststellen, dass mein Auftritt weniger als eine Stunde in Anspruch 140 genommen hatte. Ich zog meine Jacke aus, hängte sie mir über eine Schulter und lief Richtung Stadtmitte. Die Übelkeit war immer noch da und ich sah ein, dass ich jetzt ein paar reelle Drinks brauchte um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ich las in der BZ vom Erscheinen von „Bachmann“, so nannten wir das Buch. Am gleichen Tag rief auch Kerr an und bestätigte, dass alle Informationen korrekt waren. Der Verkauf war an den ersten Tagen hervorragend gelaufen. Das Buch und seine Bedeutung in der soeben begonnenen Gerichtsverhandlung hatten in so gut wie jedem Medium in ganz Europa Aufsehen erregt. Die zu erwartende Klage von Oskar Büchner hatte nicht auf sich warten lassen, aber ein eventuelles Risiko, dass die Auflage eingezogen werden könnte, was Büchner umgehend gefordert hatte, lag nicht vor. Es war offenbar mit dem ein oder anderen gedroht worden, aber im Verlag lachte man nur darüber und freute sich über die Publicity. Das Einzige, was möglicherweise ein wenig beunruhigen könnte, war die Tatsache, dass der Text Beweismaterial in einem laufenden Verfahren darstellte, aber da das Ganze nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wurde, rechnete man auch hier nicht mit Problemen. „Ich habe einige Angebote hinsichtlich des Originalmanuskriptes bekommen“, erkläre Kerr aufgekratzt. „Und wie geht es ihnen?“, fragte mich Kerr. „In wie fern?“ 141 „Verdammt, was weiß ich. Mit den Journalisten zum Beispiel.“ „Kein Problem“, antwortete ich, aber das stimmte natürlich nicht. Spät am gestrigen Abend hatte ich mich einer schönen Schriftstellerein vom Brandenburger Anzeiger verkauft. Ich hatte 200 Euro für ein Interview plus Bilder bekommen, wäre aber natürlich sehr viel lieber ganz umsonst mit ihr ins Bett gegangen. Das Telefon hatte auch ein paar Mal geklingelt. Ich weiß nicht, wie man an meine Nummer gekommen war und ich erklärte jedes Mal, dass ein Edgar Mertens nicht unter dieser Adresse gewohnt habe und man sich offensichtlich verwählt hatte. Die nächsten Tage waren nicht weiter erzählenswert. 142 25 Die Sonne schien. Nachdem ich fertig geduscht hatte - es war immer noch dieser diese erste Verhandlungswoche - spürte ich eine unbezwingbare Lust, wieder dorthin zu gehen. Zurück ins Gerichtsgebäude, meine ich. Um zu sehen, wie sich das Ganze entwickelte, wie ich mir einzureden versuchte. Ich muss wohl die Hoffnung gehabt haben, dass Marlene Bachmann das gleiche schulterfreie Kleid tragen würde wie beim letzten Mal, das gleiche wie an dem Tag als ich in den Zeugenstand trat. Aber das tat sie nicht. Eine andere dunkle Geschichte, das schon, aber es enthüllte nicht den Schatten eines Schlüsselbeins. Es gelang mir, einen guten Platz zu ergattern, obwohl ich etwas zu spät gekommen war, ganz rechts in der ersten Reihe der Tribüne, von wo ich einen guten Überblick hatte. Eine atemlose Stille beherrschte den Saal, als sie aufstand und mit verhaltener Würde die wenigen Schritte zur Zeugenbank ging. Sie setzte sich, trank ein wenig Wasser und faltete die Hände vor sich im Schoß. Es war beeindruckend. Ich spürte wie ich auf den Unterarmen eine Gänsehaut bekam. Der Staatsanwalt ging auf sie zu, sog die Wangen ein und ließ die Zunge einige Male über die Zähne gleiten. 143 „Frau Bachmann, wie lange waren sie mit dem Schriftsteller Richard Bachmann verheiratet?“ Sie überlegte kurz, es sah so aus, als würde sie rechnen „Fünfzehn Jahre. Daran fehlen nur drei Monate.“ „Wie alt waren sie, als sie ihn geheiratet haben?“ „Vierundzwanzig.“ „Und wie alt war Herr Bachmann damals?“ „Zweiundvierzig.“ Gleich ganz rechts von mir saß ein bärtiger älterer Herr, der sich Notizen machte. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde dass er sogar stenografierte, und ganz richtig stand am nächsten Tag Marlene Bachmanns Verhör in jeder großen Tageszeitung Berlins zu lesen. Wort für Wort. „Haben sie Kinder?“ „Nein.“ „Sie waren vorher noch nie verheiratet?“ „Nein.“ „Und ihr Mann?“ „Auch nicht.“ Der Staatsanwalt machte eine kurze Pause. „Hatte Richard Bachmann Kinder aus früheren Beziehungen, Frau Bachmann?“ „Nein. Aber das wissen sie doch alles schon, wieso fragen sie mich das?“ „Natürlich, aber ich bin nicht derjenige, der ihre 144 Schuld beurteilen soll.“ Sie seufzte. „Ist es korrekt, dass sie die alleinige Erbin ihres Mannes sind?“ „Ja.“ „Wissen sie um welchen Betrag es sich dabei handelt?“ „Nicht genau.“ „Ich habe eine Aufstellung, die von 500 bis 600 Tausend Euro spricht. Kommt das hin?“ „Ja.“ „Erzählen sie uns bitte von ihrem letzten Abend mit Herrn Bachmann, ihrem Ehemann.“ „Wir hatten Herrn Büchner zum Abendessen eingeladen.“ „Gab es dafür einen Grund? Etwas zu feiern?“ „Wir wollten in Richards Geburtstag feiern.“ Ein Raunen im Publikum war nicht zu überhören. „Was gab es?“ „Russische Kohlrouladen.“ „Und was ist dann passiert?“ „Naja, wir aßen alle und amüsierten uns. Wir tranken ein paar Flaschen Wein.“ „Fahren sie fort.“ „Irgendwann, es muss schon sehr spät gewesen sein, fing Richard an, mich zu beleidigen. Er wurde ausfallend, unzurechnungsfähig.“ „Seien sie bitte genauer.“ 145 Man sah deutlich, wie Marlene Bachmann sind sträubte darüber zu reden. „Er nannte mich Schlampe, wurde aggressiv und schlug um sich herum“ „Hat er sie geschlagen?“ „Nein.“ „Nein? Sie hatten Blutergüsse am Hals.“ „Naja, er drückte mich mit dem Kopf gegen die Wand.“ „Und Herr Büchner?“ „Wie bitte?“ „Hat er auch zu Herrn Büchner was gesagt, oder wurde er auch ihm gegenüber handgreiflich?“ „Nein, er hat ihn nicht beachtet.“ „Was ist dann passiert?“ „Er warf ein paar Gläser um, fluchte irgendwas vor sich hin, und ging die Treppen hoch.“ „Das war‘s?“ „Ja, er warf die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu und das war das letzte, was ich von ihm hörte.“ „Was taten sie danach?“ „Ich und Herr Büchner räumten ein bisschen auf und gingen dann schlafen.“ „Aha“, der Staatsanwalt runzelte die Stirn. Wieder raunen im Publikum. „Also. Ich ging ins Schlafzimmer. Herr Büchner schlief im Gästezimmer.“ „Und dann?“ „Dann schlief ich ein.“ 146 „Was passierte am nächsten Morgen?“ „Ich klopfte an Richards Tür, doch er machte nicht auf. Ich wollte rein gehen, nachsehen, ob alles in Ordnung ist und bemerkte, dass die Tür offen stand. Doch im Zimmer war niemand.“ „Was haben sie dann gemacht?“ „Ich habe bei Herrn Büchner im Gästezimmer angeklopft, er war zum Glück schon wach und da habe ich ihn gefragt, ob er wüsste, wo Richard ist.“ „Und?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Natürlich wusste er es auch nicht.“ Sie musste kurz husten. „Entschuldigung. Wir dachten, er ist vielleicht draußen, im Garten. Früher hat er dass immer gemacht, wenn er entspannen wollte.“ „Was hat er früher im Garten gemacht?“ „Er war immer ein Mensch, der nach Ordnung strebte. Manchmal war er stundelang da draußen, egal bei welchem Wetter, hat Blätter gestutzt, Laub zusammengefegt, gegossen, Unkraut gejätet, was man eben so macht.“ „Aber da war er nicht?“ „Nein, ich bin später am Vormittag raus und habe ihn gesucht, aber da war er nicht, es gab auch keine Spuren.“ „Was taten sie dann?“ Sie nahm einen Schluck Wasser. „Dann ging ich in sein Arbeitszimmer und sah nach, ob es einen Hinweis gäbe, wo er sein könnte und da sah ich 147 neben seinem Bett einen Brief.“ „Diesen?“ Der Staatsanwalt zeige auf einen Brief in einer Plastiktüte. Anscheinend handelte es sich hierbei um den Abschiedsbrief. „Ja.“ „Den hatten sie morgens, als sie das erste Mal in seinem Zimmer waren nicht gesehen?“ „Nein, ich dachte, das gehöre zu seinen Unterlagen. Das geht mich ja nichts an.“ „Verstehe. Und dann?“ „Dann rief ich die Polizei.“ „Was war mit Herrn Büchner?“ „Der blieb den Tag über bei mir.“ „Als Beistand?“ „Ja.“ „Haben sie ihren Mann geliebt, Frau Bachmann?“ „Ja.“ Die Antwort kam ohne Zittern, und ich glaube nicht, dass es viele Leute im Saal gab, die daran zweifelten, dass sie die Wahrheit sagte. „Waren Sie ihrem Mann treu?“ „Ich verstehe die Frage nicht.“ Der Staatsanwalt tat überrascht. „Ich habe gefragt, ob sie ihm treu waren. Wie kann es sein, dass sie eine so einfache Frage nicht verstehen?“ „Treue ist kein eindeutiger Begriff.“ Er lachte kurz auf. 148 „Das kann schon sein. Pflegten sie Verhältnisse mit anderen Männern zu haben?“ Ihr Anwalt sprang vom Stuhl und protestierte. „Würden sie die Frage anders formulieren“, bat der Richter und der Staatsanwalt nickte gehorsam. „Stimmt es, dass sie mit dem Verleger ihres Mannes, Oskar Büchner, eine sexuelle Beziehung hatten?“ „Ja.“ Auch diesmal nicht das geringste Zögern. „Wann hat ihr Verhältnis begonnen?“ „Vor zweieinhalb Jahren.“ „Wusste ihr Mann davon?“ „Nein.“ „Sie sind sich dessen sicher?“ Sie zögerte einen Moment. „Ich glaube, zum Schluss hat er es geahnt.“ „Was meinen sie mit zum Schluss?“ „Vielleicht seit dem letzten Sommer.“ „Was bringt sie zu der Annahme?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, nur so ein Gefühl.“ „Warum waren sie Ihrem Mann untreu, wenn sie ihn doch liebten?“ „Ich wäre Ihnen dankbar wenn ich diese Frage nicht beantworten müsste.“ „Frau Bachmann“, unterbrach sie der Richter und beugte sich in ihre Richtung. „Ich möchte sie bitten, doch zu bedenken, dass wir hier versuchen, Gerechtigkeit zu 149 üben. Je mehr Informationen sie uns vorenthalten, umso größeren Spielraum geben sie den Spekulationen.“ „Soweit ich verstanden habe, habe ich das Recht, die ganze Zeit zu schweigen, wenn ich es will, oder?“ „Das ist vollkommen richtig“, gab der Richter zu. „Sie können selbst entscheiden, welche Fragen sie beantworten wollen und welche nicht. Aber wenn sie sie wirklich unschuldig sind, dann ist es fast immer am besten, zu reden, statt zu schweigen.“ „Wie lautete die letzte Frage?“ Der Staatsanwalt räusperte sich und wiederholte: „Sie behaupten, dass sie ihren Mann liebten. Warum waren sie ihm untreu wenn sie ihn doch liebten? Haben sie Oskar Büchner auch geliebt?“ Sie saß einige Sekunden schweigend da, aber es sah nicht so aus als überlegte sie. Ihr Anwalt gab ihr mit der Hand ein Zeichen – ich nahm an, dass er wissen wollte, ob er wieder protestieren sollte – aber sie schüttelte nur mit dem Kopf. „Ich möchte diese Frage nicht beantworten.“ „Warum nicht?“ „Wen ich liebe und wen ich nicht liebe, dass ist allein meine Sache.“ „Sie sind des Mordes angeklagt, Frau Bachmann.“ „Das ist mir klar.“ „Haben sie ihren Mann ermordet?“ „Ich habe meinen Mann nicht ermordet.“ „Ich habe Informationen, nach denen er sie geschla150 gen habe soll.“ „Ach.“ „Stimmt das?“ „Es ist zweimal passiert. Er war ein Trinker.“ „Wie schwer?“ „Beim zweiten Mal musste ich einen Arzt aufsuchen.“ „Wann war das?“ „Vor ungefähr einem Jahr.“ „Was war der Grund?“ „Es war mein Fehler.“ „Was meinen sie damit?“ „Einspruch!“, unterbrach ihr Anwalt, der aufgestanden war. „Der Staatsanwalt stellt die ganze Zeit suggestive und nicht die Sache betreffende Fragen. Ich beantrage, dass er zur Sache kommt oder sich setzt.“ Der Richter nickte. „Möchte der Staatsanwalt so gut sein und sich ab jetzt um das zu verhandelnde Verbrechen kümmern?“, befahl der Richter mit säuerlicher Miene. „Aber gerne doch“, lachte der Staatsanwalt. „Erzählen sie mir von der Nacht, in der ihr Mann starb, Frau Bachmann.“ Marlene Bachmann saß eine Weile schweigend da, dann wandte sie ihren Kopf dem Richter zu. „Kann ich vorher mit meinem Anwalt reden?“ Der Richter nickte und der Anwalt eilte zu ihr. Nach einer flüsternden Besprechung ging er zum Richter und teilte diesem etwas mit. Der Richter schrieb einige Zeilen 151 auf ein Stück Papier und richtete sich dann auf. „Das Gericht macht eine kurze Pause“, erklärte er und klopfte mit dem Hammer auf den Tisch. „Fünfzehn Minuten Pause.“ Ich beschloss, zu gehen. Ich verließ das Gerichtsgebäude mit einem Gefühl der Ermattung. Aber auch mit der Empfindung, dass es jetzt vorbei sei. Mit einer Art bitterer Erleichterung, ungefähr wie nach einem Zahnarztbesuch. In den folgenden Tagen hielt sich dieses Gefühl. Ich wanderte in der Stadt herum ohne Ziel und ohne Hast, saß in den Parks oder Cafés und las oder betrachtete die Menschen und erlaubte mir ziemlich unbekümmert, das schöne Wetter zu genießen. Die Zeit schien mir erneut durch die Finger zu rinnen. Es war unmöglich es nicht zu bemerken, dass ich mich wieder einmal in einer Periode der Leere und der Durchlässigkeit befand. Ein Wartesaal mit einem verspäteten Zug. Ich las natürlich die Zeitungsartikel, in denen vor Prozessende kräftig spekuliert wurde, über das Buch, die Urheberrechtsfrage aber im Großen und Ganzen berührte mich das alles herzlich wenig, ich begriff, dass meine Rolle eben hier beendet war. Die fette Lady hatte gesungen. Ich trank an diesen Tagen nicht besonders viel, sicher, ich ging abends ein paar Mal in Bars aber meistens war ich schon vor Mitternacht wieder daheim, bei Matthias und Frau Fink. 152 26 Einmal, nur ein einziges Mal kehrte ich nach Luzern zurück. Aber nicht direkt nach Luzern, ich blieb in Littau, dem Ort auf der anderen Seite des Passes, wohin ich an dem bewussten Tag gefahren und von wo aus ich Ansichtskarten geschrieben hatte und wo möglicherweise der Geliebte meiner Frau abgestiegen war. Aber das sind natürlich heute nur noch Vermutungen. Eine ganze Woche lang wohnte ich im Hotel Zum Bären und erst am vorletzten Tag fuhr ich noch einmal die gewundene Straße den Berg hinauf und überquerte den Pass. Die anderen Tage verbrachte ich im Hotel oder auf den angrenzenden Wanderwegen. Jedoch mit einem unguten Gefühl im Hinterkopf. Es war Mitte Mai, unten im Tal standen die Obstbäume in voller Blüte, weiter oben lag immer noch dichter Schnee. Die Passstraße war erst vor wenigen Tagen wieder geöffnet worden. Ein Jahr und neun Monate waren vergangen. Ich fuhr an das bis zum Rand gefüllte Reservoir des Stausees vorbei, ohne anzuhalten, weiter hinauf bis zu dem kleinen Parkplatz. Stieg aus und schaute über das Land. Nichts hatte sich seit dem Tag verändert. Überhaupt nichts. Erst nach einer ganzen Weile war ich in der Lage den Blick über den Abgrund zu senken und ihn auf der Wasserober153 fläche ruhen zu lassen. Vollkommen bewegungslos lag sie dort unter mir. Es war ein klarer Tag aber ich erinnere mich, dass die Sonne noch keine Glitzerpunkte warf und auch kein leichter Wind auch nur die geringste Kräuselung verursachte. Ich ließ den Wagen stehen und ging die Straße weiter zu Fuß hinunter. Nach einer Weile hatte ich die scharfe Rechtskurve erreicht, ich ging langsamer und auf die linke Seite hinüber. Ich sah es bereits aus einiger Entfernung. Schnee und Eis hatten zwei Winter lang gearbeitet und ausgewaschen. Aber hier klaffte ein Loch in der niedrigen Mauer aus Fels und Beton. Nicht groß und nicht ganz bis auf die Fahrbahn hinunter, es war nur ein Spalt, ein gezacktes VZeichen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, schaffte es aber nicht. Stattdessen überfielen mich ein Gefühl der Erschöpfung und eine starke Übelkeit. Ich erbrach mich am Straßenrand zur Bergseite hin und machte mich augenblicklich daran, wieder hinauf zu meinem Auto zu steigen. Anschließend fuhr ich hinunter, langsam und mit einem starken Gefühl der Verzweiflung. Am nächsten Tag verließ ich die Gegend für alle Zeit. Vielleicht war es ja auch meine Absicht gewesen, ein paar Worte mit Polizeimeister Wyss zu wechseln, aber wir gesagt, ich kam nie wieder über den Berg. 154 ~ Ich schreibe. Zwölf Tage sind nun schon seit meiner Ankunft vergangen. Ich weiß nicht, ob ich das finden werde, weshalb ich hergekommen bin. Vielleicht ist es auch gar nicht mehr so wichtig. Ich suche. Aber ich finde nicht. Es ist der Weg, der die Mühe sinnlos macht. Ich denke nach und schreibe einige Zeilen auf eine Serviette. Manche Handlungen können wir nie ganz vergessen oder uns von ihnen freikaufen. Möglicherweise können wir nicht einmal dafür um Verzeihung bitten. Gott ist mein Zeuge, wie betrunken ich bin, ich bin nicht mehr in der Lage das zu schreiben, was ich mir vor einer Stunde überlegt habe. Werde diese Seiten auf der anderen Seite der Nacht herausreißen. Meine Worte werden im hellen Tageslicht unter die Erde kriechen. Verdammter Bachmann. 155 27 Am Freitag wurde das Urteil gefällt. Frau Fink hatte die Gewohnheit – das bekam ich im Laufe meines Daseins in ihrem Hause mit – jeden Freitagnachmittag auf Radio2, einem bekannten Brandenburgischen Sender, klassische Musik zu hören. Das war ihre wöchentliche Dosis Kultur, wie sie es immer nannte. Mir gefiel das und ich setzte mich, wenn ich gerade nicht so viel tu tun hatte, oder auch der Arbeit überdrüssig wurde, gern zu ihr, und wir hörten gemeinsam zu und tranken das ein oder andere Glas Sherry. Wie auch diesen Freitag. Draußen wehte der Wind, es war ein trüber Tag und der Schnee, der die letzten Tage fiel ist zu einem Haufen schwarz-braunem Matsch verkommen. Die Suite für Varieté-Orchester von Shostakovich war gerade am Walzer Nummer 2 angelangt, als die Musik plötzlich verstumme und eine Sonder-Eilmeldung mich aus meinem gerade erlangten Seelenfrieden weckte. Ich erinnerte mich, dass in diesem Moment das Fenster durch den Wind zu ging und ich den Atem anhielt, solange der Reporter seine Meldung verließ. Marlene Bachmann schuldig. Oskar Büchner schuldig. Heimtückischer gemeinschaftlicher Mord. 156 Entschieden ohne jeden Zweifel. Einigkeit unter den Geschworenen. Die Länge der Strafe ist noch nicht festgelegt, aber es gab nichts, was darauf hindeutete, dass es auf etwas anderes als die Höchststrafe hinauslaufen würde. Lebenslänglich für beide. Keine mildernden Umstände, keiner von beiden weniger oder mehr schuldig als der andere. Kein Pardon. Ich schaltete das Radio aus und öffnete wieder das Fenster. Frau Fink stand auf und sah mir in die Augen. „War zu erwarten, hm?“ Ich nickte. Sie wusste allerdings nicht, dass ich der Kronzeuge des ganzen Falles war. „Ich brauch 'nen Schnaps, sie auch?“ „Gern.“ Sie kam aus der Küche mit einer Flasche ohne Etikett, mit durchsichtiger Flüssigkeit. Er brannte wie Feuer. Ich sprach an diesem Tag kein Wort mehr. Ging nach der Radiomeldung sofort auf mein Zimmer. Schloss mich ein, legte mich auf mein Bett und versuchte zu schlafen. Was natürlich nicht gelang. Ich versuchte nicht an Marlene zu denken und schon gar nicht an Bachmann. Ich dachte an Katharinas Lächeln. Und ich dachte daran, dass ich am nächsten Tag Nowak anrufen muss, die Sache mit 157 Katharina war ein Trugschluss. Es war wohl doch nicht ihr Husten. Katharina ist tot. Mausetot. Warum zum Teufel hatte ich nur diese dumme Idee. Warum bin ich hier? Dann schlief ich irgendwann im Sitzen ein. Ungefähr zehn Tage nach dieser Nachricht, es war ein Freitagvormittag, rief mich Kerr an und teilte mir mit, dass die Verkaufszahlen sich jetzt um die fünfundvierzigtausend bewegten und dass die zweite Auflage (noch einmal fünfzigtausend) gestartet würde. An diesem Abend betrank ich mich sinnlos. Ging anschließend mit einer schwarzhaarigen Frau, die ich an der Bar kennen lernte, mit langen Beinen und französischem Vornamen in ihre Wohnung, aber ich glaube, weder sie noch ich hatten viel von unserem Beischlaf auf ihrem Wohnzimmerfußboden. Sie jedenfalls nicht. Am nächsten Tag fing es heftig zu regnen an. ~ Es ist gerade unerträglich heiß. Der Schweiß tropft mir auf das Papier, das ich gerade beschreibe. Und Dimitrios, der alte griechische Haudegen, der mich nun auch mit Namen kennt, hat mir Eselsmilch eingeschenkt. Das 158 soll beruhigend wirken gegen das Schwitzen, hat er gesagt. Es schmeckt eher wie Eselpisse und bringt absolut nichts, um genau zu sein. Die letzten Tage waren damit erfüllt zu schreiben und Wein zu trinken. Beides exzessiv. Und ich hatte das Gefühl, all meine Erinnerungen wieder zu bekommen und aufschreiben zu können. In der Ferne sehe ich ein kleines Motorboot auf die Insel zu fahren. Sieht nach einer alten Sea Ray aus. Hat er nicht gesagt, dass er so ein Boot besäße? 159 28 Ich erfuhr auch das aus dem Radio. Frau Fink war nicht zuhause. Auf Bach, wie sie sagte, kann man gerne mal verzichten, meinte sie. Es war genau eine Woche seit der Verurteilung vergangen, als ich mir gerade das Weihnachtsoratorium im Nachmittagsprogramm des Radios anhörte – einem alten Grundig Gerät übrigens, was mich an meinen Vater erinnerte - als die schreckliche Nachricht das laufende Programm unterbrach. Eilmeldung. Schon wieder. Schon wieder am Freitag. Marlene Bachmann, vor einer Woche mit ihrem Lebensgefährten Oskar Büchner, wegen gemeinschaftlichen Mordes an ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Richard Bachmann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, nahm sich heute Morgen gegen 9 Uhr in der JVA Moabit das Leben. Sie erhängte sich mit einem Telefonkabel, das sie in ihre Zelle geschleust bekam. Sie sollte am nächsten Tag ins Frauengefängnis nach Berlin-Lichtenberg verlegt werden. Marlene Bachmann wurde 44 Jahre alt. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Keine Kinder. Ich schaltete das Radio aus und sah aus dem Fenster. Es nieselte ein wenig, am gegenüberliegenden Haus bellte ein Schäferhund einen vorbeilaufenden Jogger an. 160 Ich verließ den Aufenthaltsraum und sah gerade wie Frau Fink vom Einkaufen wieder kam. „Haben sie das eben auch im Radio gehört? Die arme Frau.“ Ich gab keine Antwort, vor allem, weil ich ihren Satz erst oben in meinem Zimmer wahrnahm. Die arme Frau. Ich setzte mich auf mein Bett, zog meine Schuhe aus und bemerkte, wie mich eine alles niederwalzende Müdigkeit auf der Stelle übermannte. Als ich wieder aufwachte, zeigten die Zeiger meiner Uhr bereits 20:00. Ich hatte Hunger, konnte mich aber nicht aufraffen, etwas zu essen. Ich griff zum Hörer und wählte Kerrs Nummer, doch es war besetzt. Dies war natürlich nach den Vorfällen meiner Erwartung entsprechend. Ich legte auf und versuchte nach zu denken. Da klingelte es und ich hob ab. „Ja.“ „Kerr hier, Mertens?“ „Ja.“ Ich wusste nicht, warum ich überhaupt mit ihm sprechen wollte. „Vielleicht sollten sie die nächsten Tage hier bleiben, Mertens. Kriegen sie den Kopf frei. In Hamburg würde sich jetzt sicher die gesamte Deutsche Presse auf sie Stürzen. Das ist sicher nicht das, was sie wollen, oder Mertens?“, frage Kerr. Ich bejahte dies. 161 Er fragte, ob ich mehr Geld brauchte, was ich ebenfalls kurz bejahte. Dann legten wir auf. Wurde dies durch mich verursacht? War ich daran schuld? Was bedeutet es eigentlich, wenn man an etwas zu schuld ist. Bin ich dann auch schuld-ig? Hätte ich das alles verhindert können? Bin ich dafür verantwortlich? Ich stand auf und nahm den Whiskey aus der Vitrine. Ich hob ihn ans Licht. Nicht mehr viel, aber es wird reichen, dachte ich. Es muss. Ich löschte das Licht und goss mir ein. Dachte an Katharina und an Marlene. Die Vorhänge waren zugezogen, von draußen vernahm ich keine Töne mehr. Alles war still. Ich nahm aus meiner Schublade einen ungespitzten Bleistift und drückte ihn mit der Spitze ganz leicht gegen mein geschlossenes Auge. Ich drückte ihn mit dem Zeigefinger ein wenig fester dagegen und spürte einen leichten aber sehr stechenden Schmerz. Es ist soweit, Edgar, dachte ich mir. Jede Geschichte muss zu Ende gehen. Doch ich nahm den Stift ab und ihn in Stift in die Ecke. Ich schlief ein. Ich träumte. Eine Serie von Telefonsignalen kommt und geht. Matthias kommt und geht. Durch die halb geöffnete Toilettentür sickert erneut Tageslicht herein. Neues Klingeln, Schmerzen in der rechten Hüfte und der Schulter, kein Wunder auf dem harten Fußboden. Ich falle. 162 29 In dieser Nacht träumte ich von Erik. Wir waren zusammen auf einem Boot und hatten gepaddelt. Er trug eine beige Schildkappe. Verkehrtherum, wie früher, als wir uns kennen lernten. Es war still und er war gerade dabei, seine Angel auszuwerfen, als es anfing zu regnen. Doch Erik ließ sich davon nicht beirren. Er stellte den Kragen seines Ralph Lauren Polohemdes auf und warf die Angel aus. Ich sagte nichts. Nach einer Weile des Schweigens kam ein Gewitter auf und als es genau über uns war blitze es. Wir schwiegen immer noch. Erik fing an trotz des Regens eine Zigarette zu rauchen. Dann geschah etwas was ich selbst heute noch nicht begreife. Ein Blitz schlug direkt auf Erik ein. Direkt auf seinem Kopf. Und auf einmal war er weg. Das Gewitter hörte auf und die Sonne kam heraus. Ich hörte wie ein schrilles Klingeln mich aufweckte aber ich konnte nicht aufstehen, geschweige denn den Wecker oder was auch immer diesen Ton angab, ausschalten. Also schlief ich wieder ein. Doch ich wachte nach einer gewissen Zeit wieder auf und schaffte es fast nicht bis zur Toilette, worin ich mich erbrach. Als ich mich wieder zurück ins Bett schleppte, klingelte es wieder, doch ich konnte es ignorieren und schlief wieder ein. Kurze danach, ich hatte einen totalen Black out, und erinnere mich nur noch an sehr wenig, klopfte es an der Tür. Ich dachte an Frau Fink, dachte, dass was passiert 163 sei und hinkte, weil mein Fuß eingeschlafen war, zur Tür, strich meine Haare glatt und machte auf. Es stand ein kleiner hagerer Mann vor mir. Da das Sonnenlicht durch den Flur genau auf mein Gesicht strahlte, konnte ich die Person allerdings kaum erkennen. Die Silhouette allerdings kannte ich von irgendwo her. Ich hustete. „Mertens!“, sagte die Silhouette. „Oh Hallo“. Es war Nowak, ich erkannte seine Stimme sofort. Rieb mir die Augen und ging ins Zimmer zurück. „Kommen sie rein, Nowak“, bat ich ihn. „Was ist los? Brauchen sie einen Arzt?“, fragte Nowak besorgt. „Eher eine Aspirin“, ich zog die Rollläden hoch und öffnete die Fenster. „Haben sie getrunken?“ „Was wollen sie? Ich dachte, wir wären fertig.“, reagierte ich genervt auf seine gespielte Besorgnis. Er räusperte sich. „Ich habe sie gefunden.“ Ich schluckte und mir wurde aufgrund dieser vier Wörter auf einmal speiübel. Ich rannte zum Klo und übergab mich noch einmal. Nowak grinste. Das war unübersehbar. „Wo?“ fragte ich, als ich mir mit einem Küchentuch den Mund abwischte. 164 Er gab mir einen abgegriffenen kleinen Zettel. Ich erkannte seine krakelige Handschrift. Kreuzberg Stresemannstraße 103a Elena Sorbonnowa. 4. Stock. „Was ist das?“, fragte ich. Obwohl ich es schon ahnte. „Die Adresse.“ „Sorbonnowa?“ „Ihr neuer Name.“ Ich nickte und verstand. „Wie haben sie sie gefunden?“, fragte ich ihn. „Wolfram, er findet jeden“. „Wer zur Hölle ist Wolfram?“ „Mein Assistent. Wie gesagt, er findet jeden, er war zurzeit nur gerade im Urlaub auf Kreta – täte ihnen auch mal gut, Mertens. Schöne Insel.“ Ich nickte, verstand jedoch nichts. „Duschen sie sich. Sie stinken wie ein Penner.“ „Ja“, mehr brachte ich nicht raus. „Viel Erfolg, Mertens“ er klopfte mir auf die Schulter und ging aus der Tür. Ich ging an‘ s Fenster, sah Nowak in seinen schwarzen CLS einsteigen und davonbrausen. Ein Rabe setzte sich auf die Straßenlaterne gegenüber und sah zu mir rüber. Ich winkte ihm zu und dachte an Katharina, ihr Husten und die Innenseiten ihrer Oberschenkel. 165 Nowak hatte Recht. Ich stank wirklich wie ein Tier, anscheinend verschüttete ich etwas auf meinem Hemd, es sah aus wie eine Mischung aus Erbrochenem und angetrocknetem Rotwein. Ich duschte mich lang und heiß, rasierte mich und machte mich auf den Weg Richtung Kreuzberg. Ich nahm die Straßenbahnlinie 4 und stieg am Lukasplatz aus, von dort waren es ca. 60 Meter zu Fuß zur Stresemannstraße mit der Nummer 103a. Mein Herz schlug mit jedem Meter, dem ich mich diesem Haus näherte schneller und als ich davor stand, hatte ich das Gefühl, als würde mich mein eigener Herzschlag erdrücken. Es war ein Mehrfamilienhaus, im alten Berliner Stil der 20er Jahre gebaut. Ich blieb vor dem Haus stehen und betrachtete es, während ich mir eine Zigarette anzündete. Ich schaute mir die Fassade an und musste dabei unweigerlich an die Musik Smetanas denken. Oder an Sinfonien von Dvořák. Ich beugte mich zu den Klingeln. Vierter Stock: Weith + Sorbonnowa stand in krakeliger Handschrift auf dem Klingelschild. Ich meinte Katharinas Schrift zu erkennen, aber da war vielleicht auch nur der Wunsch der Vater des Gedanken. Es war auf jeden Fall eine kraftvolle Frauenhandschrift. Serifenlos. Ohne Schnörkel. Ich räusperte mich, sah mich um und klingelte. Keine Sekunde später ertönte ein Brummen und mir wurde aufgemacht. Ich lief in den zweiten Stock, wobei ich nur jede zweite Stufe nahm. Ich war voller Adrenalin. Das Herz schlug mir bis zum Hals. 166 ~ Hier ist die Nacht so tief und schwarz, dass der Tag nur eine Ahnung bleibt. Die Zikaden zirpen jetzt in der Dunkelheit ein wenig mehr in Einklang. Eine ungestimmte Gitarre ist unten vom Strand zu hören und die Luft hat eine Temperatur, dass sie nicht auf der Haut zu spüren ist. Hier gibt es keinen Stress. Keine Angst und kein Leiden. Ich zünde mir die vierzigste Zigarette des Tages an und Dimitrios schenkt mir einen Mokka ein. Die Petroleumlampe rußt wie immer. Es gibt hier keine Elektrizität, nur den Mond und das Feuer. Und Petroleum. 167 30 Der Flur roch nach Zigaretten. Es öffnete ein kleines Kind. „Wer sind sie?“, sprach das Mädchen zu mir. Doch bevor ich antworten konnte, stand sie schon im Türrahmen. Die Arme verschränkt. Ich erkannte sie sofort. Sie war augenscheinlich schwanger doch sie war immer noch wunderschön. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und trug eine weiße Strickjacke. Ihr Blick sah jedoch müde aus. „Was machst du hier?“, sagte sie mit strengem Blick. Als hätte sie mich erwartet. „Naja, das Gleiche könnte ich dich auch fragen, oder“, antwortete ich. „Nein könntest du nicht, Edgar. Was zum Herrgott machst du hier?“, fragte sie unbeirrt noch einmal. Ihr Ton wurde aggressiver. „Hm….Ich habe dich gesucht, Katharina“, äußerte ich leise. Ich merkte, wie in mir der Schweiß ausbrach, meine Kehle wurde trocken und meine Beine wacklig. „Und jetzt hast du mich gefunden, ta da“, antwortete sie spöttisch und drehte sich mit einer fast schon leichtfüßig-tänzerischen Bewegung nach hinten um. Sie ging ein paar Meter in ihre Wohnung zurück. Aus dem hinteren Teil der Zimmers hörte ich näherkommende Schritte. 168 „Alles in Ordnung, Eli?“, fragte die Stimme. Es war ganz offensichtlich Georg Weith, der sich neben Katharina stellte und seine Hand auf ihren Bauch legte. Es war das erste Mal dass ich ihn real vor mir sah. Nach so vielen Jahren. Ich muss zugeben, er sah ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte immer ein Bild eines schmierigen Machos in meinem Kopf. Die Realität war aber anders. Es war ein Typ eher wie Sean Connery. Älteres Semester, wenig Haare auf dem Kopf, verschmitztes Lächeln und eindrucksvolle Statur. Er sah, so konnte ich es beurteilen, gut aus für sein Alter. „Jaja, mach dir keine Sorgen“, sagte sie zu ihm, der etwa einen Kopf größer war als sie, als sie sich zu ihm umdrehte, seinen Kopf in die rechte Hand nahm um ihn auf seine großen langen Wangen zu küssen. „Darf ich dir Georg vorstellen.“ Sie wandte sich wieder mir zu. „Edgar, das ist Georg, mein Ehemann. Georg, Edgar Mertens.“ Einfach nur Edgar, dachte ich, nicht etwa Edgar, der Mann den ich einmal geliebt hatte; Edgar, der Mann, dem ich ein Heiratsversprechen gab; Edgar, der Mann, der mich umgebracht hat. Ich war einfach nur Edgar, das stieß mir sehr auf. „Hallo Georg“, sagte ich so höflich wie möglich und gab ihm die Hand. „Freut mich, sie kennen zu lernen“, sagte Weith, mit zurückhaltender Miene. 169 „Komm rein, hier zieht’s“, sagte Katharina und winkte mich in die Wohnung. Ich machte einen Schritt in die Wohnung. „Hier, setz dich. Willst du was trinken?“, sie zeigte auf die schwarze Ledercouch. „Ein Glas Wasser, danke.“ Weith setzte sich mir gegenüber und musterte mich. „Du bist schwanger?“, fragte ich Katharina, als sie mir das Wasser brachte. „Sechster Monat“ „Junge oder Mädchen?“ „Junge.“ Sie setzte sich neben Weith auf die Couch und fing an Weiths Halbglatze zu streicheln. Ich erinnere mich an früher, als wir zusammen auf der Couch lagen und wir lange Diskussionen darüber führten, wer der bessere James Bond-Darsteller war. Ich war stets Roger Moore Fan, was Katharina absolut nicht verstand und mir immer wieder, aufgrund einiger Szenen zu verstehen gab, warum Sean Connery besser war. Es lag an den Haaren, sagte sie immer. Kein Bond hatte so schöne Haare wie Connery. Ich hatte diese These nie verstanden und auch heute verstehe ich das nicht. „Hm, “ ich nickte und starrte auf mein Glas . „Sie sind also Herr Mertens?“, fragte Weith. „Ja, der bin ich. Ich bin gerade beruflich hier, hat ge170 rade gepasst.“ Weith nickte. „Was tun sie denn beruflich?“ „Ich bin Übersetzer und bin gerade dabei, ein großes Buch zu übersetzen.“, gab ich als Antwort. „Ach, kennt man den Autor, oder gibt es da eine Art Schweigepflicht?“, fragte Weith und deutete dabei Anführungszeichen in der Luft an. Ich verachte Menschen, die so etwas tun. Dabei versuchte er zu lächeln. „Richard Bachmann.“, antwortete ich mit ruhiger Stimme. Katharina hustete, „Bachmann? Der ist doch letztens gestorben, oder? Ich hab da was in der Zeitung gelesen. Hatte sich nicht seine Frau umgebracht?“ „Ja, es war sein letztes Manuskript, das er vor seinem Tod fertiggestellt hatte, ich habe es übersetzt. Seine Frau starb im Gefängnis.“ „Alles was du anfasst, stirbt, Edgar.“ „Mami, wer ist der Mann?“ unterbrach uns das kleine Mädchen, das mir die Tür öffnete und sich anscheinend für eine Weile in ihr Zimmer verzogen hatte... „Geh auf dein Zimmer, das erklär ich dir später.“ „Ja, na gut, “ sagte das Mädchen mit trotziger Stimme und stiefelte den Flur entlang und schloss die Tür hinter sich. Ich runzelte die Stirn und sah Weith und Katharina abwechselnd an. 171 „Das ist Annika, meine Tochter“, sagte Katharina. „Wie alt ist sie?“, fragte ich. „Sie ist vier“, antwortete Georg Weith. Wieder runzelte ich die Stirn. „Ich weiß, was du jetzt denkst, “ fuhr Katharina weiter fort, „aber sie ist nicht von dir, schau dir ihre Augen an.“ Ich nickte und sagte nichts. „Eine ganz süße“, sagte Weith und küsste Katharina auf die Wange. „Und ihr lebt hier?“, fragte ich. „Ja, seit damals.“, entgegnete mir Katharina. Ich nahm einen Schluck und nickte. „Du heißt jetzt Elena? Sorbonnowa? Warum?“ „Das geht dich nichts an, Edgar.“ Ich nickte. „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“, sagte Katharina, während Georg Weith ihr zustimmend zu nickte. „Es gibt nichts mehr zu sagen, Georg.“ Ich stand auf, nahm meinen Mantel, und ging zur Tür. „Was ist damals in Luzern passiert?“, fragte ich sie und legte meine Hand auf ihre, doch sie schlug sie weg. „Du hast kein Recht, das zu erfahren“, sagte sie ruhig aber bestimmt. Ich drehte mich um, ging durch die Tür und ging ins Treppenhaus. 172 „Aber…“ „Mach’s gut, Edgar“, unterbrach mich Katharina. „War schön sie kennengelernt zu haben, Herr Mertens“, rief Weith aus dem Wohnzimmer. „Leb wohl, Katharina“, sagte ich und sah ihr dabei in ihre tiefblauen Augen. Und die Tür ging zu. Ich lief die Treppe hinunter, knöpfte meinen Mantel zu und ging aus dem Haus. Es hatte leicht angefangen zu schneien. Ich zündete mir eine Zigarette an und lief zur nächsten S-Bahn-Haltestelle. Ich dachte noch einmal an Katharina, an Georg Weith und an Annika. Ich ließ drei Straßenbahnen passieren, bevor ich die Gelegenheit nutzte. Das war an und für sich eine sehr einfache Prozedur. Zwei Schritte, schräg auf die Straße und dann hörte plötzlich alles auf. Alles. 173 174 175 Dennoch kam wieder eine Zeit, und ich begriff nicht, wozu sie gut sein sollte. 176 „Im nächsten Leben möchte ich ein Olivenbaum sein. Die können mehrere hundert Jahre alt werden. Ein beruhigender Gedanke, findest du nicht?“, sagt Dimitrios. Es ist später Abend, aber immer noch viel zu heiß und ich habe keine Lust, darauf etwas zu sagen. Ich nicke ihm zu, trinke einen Schluck aus meiner schmierigen Mokkatasse und sehe Richard Bachmann, wie er die wackligen Steintreppen hoch kommt, mich nach kurzem Umhersehen entdeckt und zu mir läuft. Dimitrios erzählte mir, dass diese Treppen ein Franzose namens Jacques vor etwa 30 Jahren gebaut haben soll. Er lebte oben bei der Kapelle, zusammen mit einer Ziege und einem Cembalo und verbrachte seine ganzen Tage damit, Steine zu schleppen und diese Treppe zu errichten. „Und sie haben sie verlassen und sind wie ein getretener Hund davon getrottet?“, begrüßt er mich. Ich antworte nicht. Schiebe mir stattdessen ein paar ölige Oliven in den Mund und schaue übers Wasser. Die Sonne ist Handbreit über dem Horizont und die Stille ist fast vollkommen. Wir sitzen draußen auf der Terrasse, jeder in einem dieser Korbsessel, die Dimitrios selbst – so behauptet er jedenfalls – selbst entworfen und von irgendeinem Handwerker in einer der Städte auf der Ostseite hat bauen lassen. Er hat auch das Haus gebaut. Teilweise, wie er sagt. Teilweise auch zusammen mit Jacques, der aber seit nunmehr drei Jahren tot ist. 177 Bachmann setzt sich und bestellt sich ebenfalls bei Dimitrios einen Mokka. „Schönes Fleckchen“, sage ich. „Finden Sie?“, fragt Bachmann „Im Gegensatz zur Westseite ist es hier nicht so touristisch. Also weniger bis gar keine dickbäuchigen sonnenbrandversehrte Menschen mit Flip Flops“, sagt er mit leichtem Grinsen im Gesicht. „Und diese Frauen hier. Ich liebe Griechinnen. Sie nicht auch, Mertens?“ Ich nicke und nehme noch eine Olive zu mir. Es ist offensichtlich, dass er keinen Umgang mit Menschen hat. Er erzählt, dass er nur jede zweite oder dritte Woche das Boot nimmt um an die Landzunge herum zum Ort zu kommen, um sich Proviant zu besorgen, aber ansonsten lebt er in totaler Abgeschiedenheit – in einer Isolation, die ihn sehr viel redseliger hat werden lassen, als ich ihn in Erinnerung habe. Er hat mir vor der Anreise viel über dieses Fleckchen erzählt, aber ich fand es uninteressant, mir zu merken. „Sie müssen mir doch zustimmen“, fährt er fort, „dass es unverzeihlich wäre, so eine Geschichte auf diese Art und Weise zu vergeuden, oder?“ „Eine Geschichte, die mit einem Niesen beginnt...“ „… Einem Husten.“ „Na dann einem Husten, ist ja das Gleiche. Nun, sie haben ihr Husten unter zig tausend 178 Menschen erkannt, sind ihr nach Berlin hinterher gereist, haben viel Geld für einen Privatdetektiv ausgegeben, haben sie erstaunlicherweise sogar gefunden - womit ich nie im Leben gerechnet hätte - und dann sind sie einfach so, mir nichts, dir nichts, wieder gegangen?“ Ich stellte meine Tasse ab, und schaute auf das azurblaue Meer. „Ja.“ „Sie wollen sie also wie verschüttete Milch im Sand verrinnen lassen…einfach liegen lassen und…“ „…Mich wie ein getretener Hund davon machen, ja genau.“ Ich warte, während er sich eine Zigarette in dem affektiert langen Mundstück anzündet. Er schnaubt, raucht und hat dabei den Blick aufs Meer gerichtet. Wahrscheinlich langweile ich ihn allmählich. „War diese ganze verzwickte Intrige eigentlich nötig?“, frage ich ihn nach einigen Sekunden des Schweigens. „Natürlich“, erklärt er mit sichtlicher Irritation. „Was zum Teufel glauben sie denn? Der Verdacht musste schließlich langsam keimen. Sie glauben doch wohl nicht, dass es funktioniert hätte, wenn sie gleich gestanden hätten. Machen sie sich doch nichts vor, sie wissen ebenso gut wie ich, dass es so arrangiert werden musste. Schließlich haben sie ja das Resultat.“ Dimitrios kommt an den Tisch. 179 „Noch Kaffee?“ „Nein“, sagte Bachmann und fuchtelt genervt mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Vielleicht später.“ Ich sehe Dimitrios mit einem entschuldigenden Blick an und schüttelte den Kopf. „Marlene ist tot“, sagte ich, und sah ihm dabei in seine grünen Augen. „Haben sie auch mit ihrem Tod gerechnet?“ Er zuckt mit den Schultern. „Das hat nichts mit der Sache zu tun. Was wollen sie damit überhaupt sagen? Ihre eigene Ehefrau lebt schließlich glücklich und zufrieden mit ihrem Rivalen zusammen. Sie sind doch wohl nicht hergekommen um zu behaupten, sie hätten alles so gemacht, wie sie es sich gedacht hatten.“ Er lacht kurz künstlich auf. „Verfluchter Dilettant. Ihnen ist es ja nicht einmal gelungen herauszufinden, was wirklich passiert ist!“ Ich betrachte ihn von der Seite, während er seinen Mokka trinkt. Einundsechzig Jahre alt, habe ich ausgerechnet, braun gebrannt, vital und rüstig. Wenn nichts Unvorhergesehenes eintrifft, dann spricht alles dafür, dass er in diesem versteckten Paradies noch ein Vierteljahrhundert leben kann. „Nein, ich weiß nicht, was damals in der Schweiz passiert ist.“ Ich habe ihm meine Geschichte in groben Zügen erzählt, 180 bin mir nicht sicher, ob er wirklich zugehört hat, aber es scheint sich doch in ihm festgesetzt zu haben. „Wie haben sie es gemacht“, frage ich. „Was?“ „Naja die Flucht.“ „Das war keine Flucht. Nur ein neuer Pass und eine einfache Verkleidung, und natürlich Geld. Ach ja, und Dimitrios natürlich“, sagt er und grinst. „Sie waren an jenem Abend in Berlin nicht betrunken?“ „Höchstens ein bisschen.“ „Trotzdem behaupte ich, dass sie Glück hatten.“ „Quatsch.“ Während unseres gesamten Gespräches, habe ich darauf gewartet, dass er mir zumindest einmal für meine Hilfe dankt, eine gewisse Anerkennung dafür zeigt, dass ich seinen Erwartungen entsprochen und meine Rolle gespielt habe, wie er es geplant hatte. Wie es auf seinen Oranienburger Anweisungen, die in seinem fünften Brief - der nur an mich gerichtet war - stand, aber jetzt wo die Sonne vollkommen verschwunden ist und die Dämmerung sich schnell auf uns senkt, da ist mir klar, dass er nicht im Traum daran denkt. Soll der Meister der Puppe dafür danken, dass sie tanzt? Natürlich nicht. 181 Ich schaue auf mein Boot hinunter, das ich auf den Strand gezogen habe. Es ist noch hell genug um ohne Licht hinunter zu gehen. Aber in einer halben Stunde wird es unmöglich sein. Bachmann ist wieder verstummt, und ich nehme an, dass seine relative Redseligkeit jetzt vollkommen erloschen ist. Ich betrachte ihn einige Sekunden lang und obwohl er meinen Blick spüren muss, dreht er nicht den Kopf. Es ist offensichtlich dass er in Ruhe gelassen werden will. Ich leere mein Glas und stehe auf. „Ich glaube es ist an der Zeit.“ Er nickt, erhebt sich aber nicht. Die Frage kommt ganz zum Schluss. „Sie haben doch wohl nicht vor, das hier in die Medien zu bringen? Meine neue Identität ist wasserdicht, das möchte ich betonen, es wäre keine gute Idee.“ „Natürlich nicht.“ „Es wäre sicher auch nicht sehr opportun, wenn sie als schlechter Verlierer auftreten würden, oder?“ „Keine Sorge.“ „Bachmann ist tot.“ „Bachmann ist tot, auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen.“ Wenn man lange genug auf der einen Seite des Flusses stand und hinüber gerufen hatte aber niemand einen hört, 182 macht es irgendwann keinen Sinn mehr. Dann hält man lieber den Mund, dreht sich rum und geht, denke ich mir in diesem Moment. Als ich das Boot erreiche ist es bereits so dunkel, dass ich ihn oben auf der Terrasse nicht mehr erkennen kann, ich will kein Licht machen und bin gezwungen eine Weile unter dem Netz, das zusammengerollt auf dem Schiffsboden liegt, nach dem Messer zu suchen. Dann finde ich es. Setze mich hin, wiege es in der Hand und fahre weitere zehn Minuten vorsichtig über die scharf geschliffene Klinge während die Dunkelheit immer dichter wird. Denke über das ein oder andere nach aber über nichts, was wichtig genug wäre um es zu erwähnen und nichts, was mir im Gedächtnis bleibt. Und als ich sehe, dass er oben ein Licht entzündet hat und ich seine Silhouette erkenne, lege ich die Leinen los und rudere heimwärts in Richtung meines Hotels. Ich denke noch einmal an das scharfe Messer, ehe ich es wieder einpacke. Morgen früh ist es soweit. Morgen früh, wenn Gott will. 183 184 Anmerkungen / Nachwort / Danksagungen Dieses Buch entstand zwischen den Monaten April 2013 und Februar 2014. Der größte Teil davon wurde während meinen Mittagspausen in der Arbeit geschrieben, oder – aber das relativ selten – in meinem Bett, wenn ich nachts nicht schlafen konnte (oder manchmal auch nicht wollte). Ein großes „Dankeschön“ geht an folgende Personen, die mir an diesem Buch in verschiedenster Art und Weiße geholfen haben: Dr. Georg Weihrauch (verstorben im November 2013 im Freitod. Möge seine Seele nun in Frieden ruhen), Luise und Otto Krämer, Beate „Bene“ Nekič, Boris G. Falkenbach (der beste Korrekturleser unserer Zeit), Fabian Edvard Erikson und Annika (denkst Du auch immer daran, die Blumen auf deines Vaters Grab zu gießen?). Zudem gab es noch Dinge, die mir enorm geholfen und mich sehr zum Schreiben inspiriert haben: Die Musik von Ludovico Einaudi und Bohren und der Club of Gore, die Spielfilme von Fritz Lang, die Kriminalliteratur von Friedrich Dürrenmatt und verschiedenster nordeuropäischer Autoren, viel Ruhe und Stille und massenhaft starker arabischer Kaffee. 185 Meine Inspiration der Thematik entnehme ich aus meinen Träumen, meinen Ängsten, innersten Befürchtungen und scheinbar banalen Alltagsbeobachtungen. Es ist die Angst, die irgendwo in den hintersten Kammern meines Hirns nistet, eines Morgens aufzuwachen und ein anderer Mensch zu sein, die Angst, auf einmal, ganz plötzlich zu merken, dass man auf einem anderen Gleis fährt; die Angst, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird; dass am Abend, wenn man ins Bett geht, nichts mehr so ist, wie es war, als man am Morgen aufstand. Oder die Angst des Kontrollverlustes oder des Verlustes anderer, wichtiger Dinge. Es geht um Abgründe und Menschen, die sich auf der Abwärtsspirale ihres Lebens wiederfinden. Um Opfer, die zum Täter werden und andersrum. Um Schuld und um Sehnsucht, Verlangen und verpasste Chancen im Leben. Was wäre wenn? All diese Gedanken habe ich versucht in diesem und meinem letzten kleinen Buch („Fahrenheit“) zu verarbeiten und mit in meine Geschichten einfließen zu lassen. Die Angst und das - zugegeben enorme - Faszinosum darüber, ist seit jeher meine Triebfeder für das Schreiben allgemein. Und nein, ich habe nie ein Buch Stephen Kings gelesen. Florian Schuster Waghäusel, den 07. Februar 2014 186 187 188