Morgen früh, wenn Gott will – ebook

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Morgen früh, wenn Gott will – ebook
Florian Schuster
Morgen früh, wenn Gott will
Roman
1. Auflage
Copyright: © 2014 Florian Schuster
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-5056-5
www.lintonsamueldawson.de
Diese Geschichte ist frei erfunden.
Alle Namen, handelnden Personen, Orte und Begebenheiten
entspringen der Fantasie des Autors.
Jede Ähnlichkeit mit real lebenden oder toten Personen,
Ereignissen oder Schauplätzen wäre völlig unbeabsichtigt
und reiner Zufall.
Für Albertine
Die Zeit ist ein Dieb. Sie stiehlt unser Leben.
- Hakan Nesser, Schriftsteller
Wenn wir endlich finden,
was wir in der Finsternis gesucht haben,
dann stellen wir fast immer fest,
dass es genau das ist: Finsternis.
- Dr. Georg Weihrauch, Psychologe †
Und wenn man die Sache ein bisschen genauer
betrachtete, gab es genau zwei Gründe,
nach Berlin zu reisen.
Der erste Grund war Katharina.
11
1
Die Fallgeschwindigkeit des Schnees beträgt etwa
vier Stundenkilometer.
Während im Fernseher der Wetterbericht läuft, kommt
mir diese Formulierung in den Sinn. Vielleicht ist es
nicht gerade die beste Einleitung, aber ich habe schon seit
ein paar Tagen um einen Eingangssatz gerungen. Als
wenn es nur um diese simple Sache ginge - einen Schlüssel, der die Erzählung öffnet, ein Siegel, das gebrochen
werden muss, oder eine Art Zaubertrick. Wenn man ihn
erst einmal durchschaut hat, alles andere in die richtigen
Bahnen lenkt.
Aber dem ist nicht so. Erzählungen müssen auf jeder
Seite neu geboren werden, unablässig, unter Schmerzen
und manchmal auch unter Freuden, Zeile für Zeile, Zentimeter für Zentimeter, und es gibt keine Abkürzung. Und
genau so will ich vorgehen, wenn ich jetzt einen Bericht
darüber schreibe, was in den letzten Jahren passiert ist
und was genau in diesem Moment, und das wird nicht
einfach sein. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es
überhaupt irgendwohin führt, aber manchmal hat man
keine andere Wahl .
Ich gebe keinerlei Versprechen. Vielleicht wird es
eine zusammenhängende Geschichte, vielleicht auch
nicht.
Jede Geschichte sucht ihre Form und findet sie.
Oder sie stirbt.
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Die Fallgeschwindigkeit des Schnees beträgt etwa
vier Stundenkilometer, belehrte mich also der adrett angezogene Wettermoderator und erzählte seinem zusehenden Fernsehpublikum, dass heute der kälteste Tag seit
Beginn der Wetteraufzeichnungen war. Er hatte wohl
Recht behalten (obwohl ich natürlich nicht sagen kann,
wie vor 80 Jahren das Wetter war, aber ich vertraue dieser Berufsgruppe). Es war so kalt, dass selbst meine Heizungen mich nicht mehr richtig wärmen konnten. Vielleicht waren sie aber auch nur kaputt.
Ich saß also in meiner 2-Zimmer-Wohnung am nördlichen Rand Hamburgs, eingepackt mit meiner dicksten
Winterjacke und meiner Mütze auf dem Kopf und merkte, wie meine Lippen langsam blau wurden. Ich sollte den
Hausmeister rufen, dachte ich.
Im Nachhinein erinnere ich mich immer wieder an
diesen bedeutungsschwangeren Tag im Dezember. Wie
ich so versunken in meinem alten, verschlissenen Ledersofa saß und mir gerade auffiel, dass nun der erste Schnee
des Winters fiel.
Es war sozusagen die Wurzel allen Übels. Wenn ich
zurück denke, kommt es mir so vor, als sei das kalte Wetter an jenen Tagen Schuld an dem ganzen Dilemma. Man
könnte es so formulieren, dass, wenn es nicht so kalt
gewesen wäre, ich nicht den Fernseher angestellt hätte,
vielleicht wäre ich eher draußen spazieren gewesen, was
bei solchen Temperaturen natürlich einem Selbstmord13
versuch glich, oder hätte mich um meine Aquarien, die
noch bei meinem Cousin Niels in Münster standen, gekümmert, oder endlich einmal meine Steuererklärung
vom letzten Jahr fertiggestellt. Das Wetter war schuld.
Aber das sind vielleicht auch nur Ausreden. Nein,
ganz sicher sogar. Vielleicht musste es einfach so sein.
Gott, oder eine andere übernatürliche Form im Himmel,
hat gewollt, dass ich in genau diesem Moment mit einem
heißen Zitronen-Hibiskus-Tee vor dem Fernseher sitze
und mir die Übertragung des fünften BeethovenKlavierkonzertes, das bekanntlich in D-Dur gespielt wurde, ansah. Kismet also.
Ich hatte es mir mit einer warmen Decke bequem gemacht, eine Kerze dazu gestellt und eine Schale mit Nüssen war ebenfalls in Reichweite. Es war Sonntagabend
und es schneite das erste Mal.
Ich sah dieses Konzert auf Kanal 2. Oder besser gesagt, ich starrte einfach stumm und ohne jegliche Regung
auf den Bildschirm und beobachtete die Musiker bei ihrem Spiel. Die Streicher, den Dirigent. Ich bin kein Kenner klassischer Musik, ich würde mich nicht einmal
Liebhaber nennen, aber an kalten Wintertagen, wenn man
meint, die Welt würde untergehen und einen die
Schwermut packt, da helfen einem Beethoven, Bach und
die anderen alten Meister enorm, den Tag irgendwie zu
überstehen. Und heute war so ein Tag, wie erwähnt.
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Der Tag begann, wie die Tage zuvor. Mein Verlag
hatte aufgrund einiger finanzieller Probleme und schlechter Auftragslage wieder keine wirkliche Arbeit für mich,
ich hatte somit seit einigen Wochen die Wahl zwischen
meiner Couch und der Wiese vor meiner Haustür. Da es
aber Winter war und nun auch Schnee lag, bevorzugte ich
Ersteres. Tage zuvor spazierte ich hin und wieder an den
Deich, setzte mich auf eine Bank, rauchte einige Zigaretten, las schwere polnische Literatur, die mir mein Chef
empfohlen hatte und erfreute mich meines Müßigganges.
An diesen Tagen dachte ich oft darüber nach, mir
einen Hund zuzulegen.
Einen Rottweiler vielleicht.
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2
Das Husten kam ganz zum Schluss, während einer
sehr leisen Partie. Und das versetzte mir einen Schlag.
Ich habe immer wieder über das Geräusch als auch meine
Reaktion darauf nachgedacht und ich weiß, dass es eigentlich keinerlei Zweifel in irgendeiner Weiße daran
gab.
Es war ein elektrischer Stoß, ganz einfach. Elektrisch,
emotional. Ich verfiel in einen Schockzustand und er
dauerte eine ganze Weile: Während ich abgestumpft dem
Schlussakkord des Konzerts lauschte, während des folgenden, langen und absolut verdienten Applauses und bis
der Abspann des Senders kam und uns erklärte, dass wir
gerade Beethovens fünftes Klavierkonzert in einer Einspielung des Berliner Sinfonieorchesters gehört und gesehen hatten. Der Solist war Tilmann Krämer und das
Datum der Aufzeichnung war der 14. Oktober dieses
Jahres.
Das war sie gewesen.
Das war Katharinas Husten.
Meine verschwundene Ehefrau hatte während dieser
alten Aufnahme irgendwo im Publikum gesessen und auf
Grund einen leichten Kratzens im Hals, das zu unterdrücken ihr nicht gelungen war, erhielt ich das erste Lebenszeichen von ihr seit mehr als drei Jahren. Ein Husten aus
Berlin. Eineinhalb Minuten vor Ende des Stücks, in ei16
nem Moment, als es gerade eine kurze Pause gab. Natürlich mag es sonderbar klingen, aber im Lichte von vielem
anderen, was mir früher oder später noch zustieß, erscheint es wiederrum gar nicht mehr so aufregend.
Ich notierte mir auf einem Papierfetzen den Spielort
und die Zeit des Konzertes, goss den schon kalt gewordenen Tee ins Spülbecken und steckte mir eine Zigarette
an. Meine Gedanken fingen an zu arbeiten und ich merkte, dass ich davon leichte Kopfschmerzen bekam. Mir
kam zudem in den Sinn, dass an jenem 14. Oktober, an
dem dieses Konzert stattfand, jemand mir Bekanntes
Geburtstag hatte, aber mir fiel es auf Biegen und Brechen
nicht ein, wer es war.
Es kostete mich über eine Woche – acht Tage um
genau zu sein – um eine DVD dieses Konzertes beim
Sender zu bekommen.
Als ich sie dann endlich im Briefkasten vorfand, fingen meine Hände leicht zu zittern an und ich merkte an
meinen Fingerkuppen eine Kälte, wie ich sie nur bei großer Angst verspüre. Ich nahm die DVD aus der Hülle und
ließ sie abspielen. Das Publikum sah man nur ganz kurz
am Anfang. Ich spulte vor bis zu dem Punkt als es diese
Pause gab und hörte es mir neun, zehn Mal an und jedes
Mal versuchte ich absolut unvoreingenommen und
gleichzeitig besonders aufmerksam zuzuhören. Ich stellte
den Tonregler auf Anschlag, hörte es mit meinen Kopf17
hörern, machte es leiser und versuchte selbst zu husten
und dabei zu achten, wie so etwas denn klingt.
Ich kann es natürlich nicht beschreiben. Gibt es überhaupt Worte für so etwas wie ein Husten? Mir kommt der
Gedanke, wie wenig von unserer Wirklichkeit und unseren Vorstellungen von ihr eigentlich in den Bereich der
Sprache fällt. Während es also kein Problem für mich
darstellt, mit Hilfe eines ganz kurzen Höreindrucks das
Charakteristische an dem spezifischen Husten eines Menschen herauszufiltern – unter dem von hundert oder tausend anderen, besitze ich kaum ein adäquates Wort oder
einen Ausdruck, um dieses Geräusch zu beschreiben. Ich
nehme an, dass eine genaue Unterscheidung mit Hilfe
von Luftfrequenzkurven und ähnlicher Techniken zu
Stande kommen könnte. Aber was mich betrifft, war
dieser Aspekt von Anfang an überflüssig und uninteressant.
Es war Katharina, die da hustete. Am 14. Oktober
hatte sie in Berlin gesessen und Beethovens fünftes Klavierkonzert gehört. Und ich hatte es sofort gewusst als
ich es hörte und ich wusste es immer noch genau nachdem ich es mir wieder und wieder angehört und angesehen hatte. Sie lebte.
Und es gab sie.
Zumindest vor knapp fünf Wochen.
Und das versetzte mir einen Schlag – wie schon gesagt..
18
3
Der zweite Grund nach Berlin zu reisen, kam drei
Tage vor Heiligabend. Ich musste am Abend davor spät
ins Bett gegangen sein, denn als mich das Telefon gegen
11 Uhr morgens wachklingelte, fiel ich fast vor
Schreck aus dem Bett.
Der Verleger Kerr rief mich an und teilte mir mit, dass
Bachmann tot sei und dass er soeben dessen neues Manuskript erhalten habe.
Ich wusste im ersten Moment überhaupt nicht, von
was er sprach. Too much information, hätte Erik früher
dazu gesagt und dabei fällt mir ein, dass ich Erik sehr
vermisse. Und Sonny. Ich sollte ihn mal wieder anrufen.
Es gäbe einen neuen Job für mich, sagte Kerr, trocken
wie eh und je. Einen wichtigen, vielleicht der wichtigste
meines Lebens, meinte er, ohne Regung in der Stimme.
Und ich solle doch bitte schleunigst in den Klosterkeller
kommen um das Ganze mit ihm bei einem Teller Pasta
und einem Glas Rotwein zu besprechen. Ich fühlte mich
leicht überrumpelt, wusste nicht, von was er sprach, aber
nahm die Einladung an, zog mich um und stieg in die
erste Bahn Richtung Klosterkeller.
„Bachmann ist tot“, sagte Kerr und stocherte ein wenig lustlos mit der Gabel in seinen gefüllten Cannelloni
herum. „Die genauen Umstände sind bisher noch nicht
bekannt. Jedoch – und das wissen sie auch, Mertens –
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war er gesundheitlich schon seit Jahren angeschlagen.
Man kennt doch die Geschichten, Alkohol, Drogen, Tabletten. Also keine große Überraschung“, führte er das
ganze weiter aus.
„Ach“, bekam ich nur heraus. Ich war überrascht.
Bachmann, Richard Cornelius Bachmann der Schriftsteller, war also tot.
Allerdings dachte ich nicht, dass Kerr mich nur deshalb
hier antanzen ließ. Das hätte er mir sicher auch am Telefon sagen können oder per E-Mail.
„Davon wusste ich nichts“, fuhr ich fort.
„Wie ist es passiert?“, fragte ich Kerr, der mir während
dieses Gespräches noch nicht ein Mal in die Augen gesehen hat.
“Naja, die Gerüchteküche in der Verlagswelt brodelt
natürlich. Einige sagen Selbstmord, er nahm ja viele Antidepressiva. Manche vermuten auch Drogen oder starke
Tabletten. Manche sagen, er hinge an der Nadel. Aber er
hat sich wohl im See ertränkt – an seinem Geburtstag“,
antwortete Kerr kurz und knapp.
„Wohnte er noch in Berlin? Charlottenburg, wenn ich
mich recht erinnere?“, fragte ich.
„Ja, bis zuletzt mit seiner Frau, da soll es aber auch
lange schon gekriselt haben, erzählt man sich.“
Ich nickte.
„Und die offizielle Meldung?“, fragte ich.
„Es gab eine knappe Pressemitteilung. Man fand nur sein
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Boot auf dem See. Keine Leiche. Aber einen Abschiedsbrief. Der wird aber gerade noch untersucht. Genaueres
wird man wohl erst in den nächsten Tagen erfahren.
Sein Verleger, Herr Büchner, schweigt noch.“
Ich nickte.
Ich erinnere mich, wie ich zwei seiner Bücher vor
längerer Zeit einmal übersetzt hatte. Einmal Der schwarze Brief, eine groteske Liebeskomödie, angesiedelt im
Tokio der Achtziger-Jahre und Glücklos in den Fliederbüschen, eine seltsam geschriebene Erzählung über eine
verlorene Kindheit in den Weltkriegsjahren 1914-1918.
Es war generell keine leichte Kost. Oft benutzte er eine
sehr subtile Sprache und versuchte mit langen Schachtelsätzen und Andeutungen anscheinend den Intellekt des
Lesers herauszufordern. Das Feuilleton liebte ihn und
seine Bücher, auch weil er anders war als die meisten
Autoren der Gegenwart. Mir gefielen die Bücher, die ich
von ihm kannte nicht sonderlich aber es war eben mein
Job, sie zu übersetzen. Nicht mehr aber eben auch nicht
weniger.
Ich hatte ihn auch einmal eher zufällig bei einer Vorlesung eines seiner Bücher in einem kleinen Szenelokal
in Sankt Pauli persönlich getroffen. Bachmann saß an
diesem Abend an einem für ihn, zu groß geratenen Tisch
und lies Gedichte vor, die er während seiner Jugend
schrieb. Es war ihm allerdings anzusehen, dass er solche
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Veranstaltungen hasste und das einzige Gefühl, dass man
aus seinem Verhalten lesen konnte war pure Verachtung.
Auf alles und jeden.
Jedoch fiel mir damals schon seine wunderschöne Ehefrau auf. Marlene Bachmann. Eingehüllt in ein enganliegendes schwarzes Samtkleid zog sie wohl nicht nur meine Blicke an diesem Abend auf sich.
Sie war etwas größer als er, hatte lange dunkelbraune
Haare, die sie hochgesteckt trug. Irgendwie passte sie
rein äußerlich nicht richtig zu ihm, aber warum sollte das
eine Rolle spielen? Ich war Bachmann danach nur noch
bei zwei oder drei Gelegenheiten begegnet aber unweigerlich war mir etwas schwer zu akzeptierendes an ihm
aufgefallen. Ich habe nie wirklich sagen können, worauf
es eigentlich beruhte aber nichtsdestotrotz war dieses
Gefühl vorhanden. Als ob er nicht hier her gehörte.
„Aber naja, es gibt da noch etwas, und da kommen sie
ins Spiel, lieber Herr Mertens“, fuhr Kerr weiter fort
während er einen großen Schluck Rotwein zu sich nahm,
„einen Tag zuvor, also gestern, hat er uns das hier zukommen lassen.“
Kerr öffnete seine Aktentasche und zog ein mit einem
einfachen Schnellhefter zusammengebundenes Manuskript heraus. Zudem legte er mir noch einen Brief dazu.
Der Umschlag des Manuskriptes war noch verschlossen,
was einen irritierenden Blick meinerseits hervorrief.
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„Noch zu? Dachte, es wäre so wichtig“, sagte ich unsicher.
„Lesen sie erst mal“, forderte er mich auf und überreichte mir den Umschlag.
Ich nahm den Brief sorgfältig aus dem Kuvert und erkannte Bachmanns Handschrift sofort. Die gleichen überschwänglichen Serifen wie immer. Aufdringliche, arrogante Type.
Berlin, 19. Dezember
Ich schicke Ihnen mein letztes Manuskript zur Übersetzung und Veröffentlichung. Verboten ist jeglicher Kontakt
mit meinen Verlegern und Anderen. Das Buch darf unter
keinen Umständen in meiner Muttersprache erscheinen.
Höchste Diskretion ist notwendig.
Hochachtungsvoll
Richard C. Bachmann.
PS. Das ist die einzige Kopie. Ich gehe davon aus, dass
ich mich auf Sie verlassen kann, E. M.
Ich schluckte und faltete den Brief wieder zusammen.
„Na, zu viel versprochen?“, sagte Kerr, nach dem er
beim Kellner mit dem Namen Giovanni, sein zweites
Glas Pinot Grigio bestellte.
„Hm, und was bedeutet das?“, fragte ich.
„Keine Ahnung“, wir haben das Paket gestern bekom23
men. Ich habe daraufhin sofort bei Bachmann zuhause
angerufen, aber keiner ging ran, ebenso bei seinem Verlag in Dresden, Büchner ging nicht ran. Bis ich gestern
Abend die Pressemitteilung las, dass er wohl verstorben
sei.“
Ich nickte und wir widmeten uns nach dieser Erläuterung schweigend dem Essen und ich erinnere mich daran,
dass ich meinen Blick nicht von dem verschlossenen
Manuskript wenden konnte, dass neben Kerr auf dem
Tisch lag. Ich spürte eine enorme Neugier auf das Geschriebene aber auch eine Form von Verachtung. Und
dann dachte ich an Marlene Bachmann und ihr schwarzes
Kleid.
„Mit E.M. meint er wohl sie, Edgar Mertens“, begann
Kerr wieder und deutete mit seinem Zeigefinger auf
mich.
„Ja, sieht so aus, dann habe ich wohl keine andere
Wahl, was?“ meinte ich und putze mir meinen Mund mit
einer Serviette ab.
„Genau“, meinte Kerr, „ich habe heute Morgen mit
Winter, unserem Verlagsleiter, gesprochen und ihm alles
erklärt.“
Er faltete die Hände, drehte seinen Kopf in Richtung
Fenster und sah raus auf den Marktplatz, sah auf die
kommenden Straßenbahnen und den starken Verkehr. Ich
kenne Kerr lange genug und ich weiß, dass er mit genau
solchen Gesten seinen Worten immer mehr Gewicht zu24
fügen will. Was auch jedes Mal wirkt.
„Wir sind der Meinung, dass sie es sofort übersetzen
sollten. Nehmen sie das Manuskript, gehen sie damit
wohin wie wollen, wir zahlen ihnen jedes Hotel, jedes
Essen, bereiten sie das auf. Das wird der Knüller, der
Beststeller des Jahres, vielleicht sogar noch mehr.“ Kerr,
Meister der Übersprungsbewegungen, strich sich pathetisch durch sein dichtes Haar, als er weiter sprach.
„Er ist gestern oder vorgestern verstorben und heute
haben wir sein Buch in der Hand. Wie lange würden sie
dafür brauchen, Mertens, wie lange?“
„Wie viele Seiten sind es?“, fragte ich vorsichtig.
„An die 350.“
„Vier Monate, vielleicht auch etwas länger, bei
Bachmann ist das immer so eine Sache. Für sein letztes
Buch hatte ich fast ein Jahr gebraucht, wissen sie noch?
Das war voll mit Anspielungen, Wortspielen, die sich
nicht einfach übersetzen ließen, und so weiter, sehr
schwierig und aufwändig“, erklärte ich ihm.
„Verstehe. Meinen Sie es langt noch vor dem Sommer?“
Ich blickte auf meine Uhr.
„Ich denke schon.“
„Also?“, fragte mich Kerr mit hochgezogener Stirn.
„Ich schlafe eine Nacht drüber und melde mich morgen früh, ja?“, gab ich ihm als Antwort, was ihm sichtlich
gefiel.
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Mir war es natürlich klar, und Kerr auch, dass ich die
Arbeit annahm, aber ich wollte die Verlagsleute ein wenig zappeln lassen, Stärke zeigen. Danach verabschiedeten wir uns und ich fuhr mit der S-Bahn-Linie 11 zurück
in meine Wohnung. Und ich hatte das Gefühl, dass es nur
noch kälter wurde. Ich rief meinen Vermieter an und
bestellte einen Techniker.
Ich dachte nach und mir kam in den Sinn, dass ich
bisher noch nie ein jungfräuliches Manuskript in den
Händen hielt. Ohne vorheriges Lektorat, ohne vorigen
Einsehens eines Verlages, ohne eine Einsicht von überhaupt einem Menschen, außer mir und eben dem Autor.
Es war kein Problem, sich vorzustellen, welche Sensation
das in der Literaturszene sorgen würde. Bachmanns letztes Buch. Die erste Veröffentlichung nur in der Übersetzung. Vielleicht sogar am Jahrestag des Verstorbenen?
Sicher würde es ganz oben in den Bestseller-Listen
stehen, es wäre Gesprächsstoff für etliche Wochen und
meinem Verlag würde es sicher wieder genug Geld in die
Kassen spielen. Vorausgesetzt die Schweigepflicht und
Diskretion würde eingehalten werden. Aber so wie die
Lage war, wussten von diesem Manuskript nur vier Menschen, Kerr, sein Chef Winter, Bachmann und mir. Und
Bachmann war ja offensichtlich tot.
Und die werden einen Teufel tun und irgendetwas bereits
ausplaudern.
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Ich legte mich auf die Couch uns sah nach oben. Mittagsschlaf. Und bevor ich einschlief lag ich eine Weile da
und dachte darüber nach, wie schnell das Leben einfach
auf ein ganz neues Gleis wechseln kann.
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4
„Ich weiß, dass ich dir wehtue, aber ich muss meinen
Weg gehen“, sagte sie und legte sich neben mich. Wir
lagen zuhause auf unserem Bett und sahen uns in die
Augen, während ich ihr ganz sachte eine rote Haarsträhne
aus ihrem Gesicht strich.
Mir kam der Gedanke, dass Augen, wenn man sie
länger betrachtet, den Ausdruck verlieren, ja man könnte
sogar sagen, sie würden mit der Zeit immer leerer werden.
Allerdings weiß ich heute, dass ich diese Zeit mit ihr
dennoch genoss. Ich saugte sie förmlich ein und dachte
nicht im Geringsten daran, dass sie ihre Drohungen wahr
machen würde.
Am Abend vorher spielten wir, wie jeden Samstagabend, noch eine Runde Schach.
Ich begann wie immer sizilianisch, aber sie setzte mich
nach etwa 30 Zügen matt. Ich glaube, seit ich denken
kann, hatte ich noch nie so desolat gespielt. Nicht einmal
während meiner Studienzeit. Wahrscheinlich waren meine Gedanken zu dem Zeitpunkt bei G. und bei gefundenen Liebesbriefen in der Kommode und bei leeren Weinflaschen im Abstellraum und bei fadenscheinigen Ausreden Katharinas. Wer konnte in so einer Situation auch
nur gedanklich ein Schachspiel spielen, geschweige denn
gewinnen? Wer?
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Mir war klar, dass sie „auf eigene Faust“ nicht zurecht
käme, aber der Gedanke, sie einfach laufen zu lassen, war
sehr verlockend, dass muss ich zugeben. Den Vogel einfach fliegen lassen. Dieser Satz fiel mir später dazu ein.
Er beschrieb das ganze sehr gut. Katharina war mein
Vogel.
„Soll ich Frühstück machen“, fragte ich sie, nachdem
ich mich aus unserem Bett erhob.
„Ja, gern“, nuschelte sie, mit dem Gesicht im Kopf vergraben, während ich die Jalousie nach oben zog.
„Fahren wir morgen?“, fragte ich.
Darauf erhielt ich keine Antwort und ich verschwand in
die Küche und schlug zwei Eier in die Pfanne.
~
Ich erwachte mit Kopfschmerzen und einem Riesendurst. Ich nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und trank sie mit einem Zug halb leer, ich rülpste
und suchte meine Zigaretten. Auf dem Balkon mit einem
schwarzen Kaffee in der Hand merkte ich, wie es mir
langsam immer besser ging. Die Kälte war mir an diesem
Morgen egal. Die Sonne ging gerade auf und ich dachte
nochmals über Bachmann nach. Bachmann, der Schriftsteller. Bachmann, der Geschichtenschreiber. Bachmann,
der Mensch der jetzt tot ist. Bachmann, der jetzt auf dem
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Boden eines Sees liegt und von Fischen angeknabbert
wird. Marlene, Kerr und Katharina.
Ich griff zum Hörer, wählte Kerrs Nummer und wartete.
„Kerr.“
„Ja, hier Mertens.“
„Ah, Guten Morgen Mertens, haben Sie sich entschieden?“
Ich räusperte mich, „Ja, ich mach’s.“
Ich spürte förmlich wie erleichtert Kerr war, und wie ihm
gleichzeitig die Dollarzeichen in den Augen leuchteten.
„Aber ich fahre dazu nach Berlin.“
„Wieso?“ fragte Kerr.
„Weil Bachmann dort zuletzt wohnte und seine Frau
ebenfalls, vielleicht statte ich ihr dort mal einen Besuch
ab, ich bin dort näher dran, sie verstehen sicher.“
„Klar, wissen sie schon wo sie wohnen werden?“
„Ich dachte an eine Pension, etwas außerhalb der Stadt.“
„Wir suchen ihnen was aus. Das Manuskript schicke
ich ihnen mit der Post. Natürlich per Einschreiben“
„Danke.“
30
5
Kreta ist im Oktober am Schönsten.
Den Satz schreibe ich auf ein Blatt Papier, das neben
meinem Bett liegt. Mein Wecker zeigt 06:14 an. Vielleicht, so denke ich mir, schreibe ich selbst mal ein Buch
oder eine Novelle und benutze diese Zeile als Anfangssatz. Anfangssätze sind wichtig, erzählte man mir immer.
„Mertens, wenn sie Bücher übersetzen, achten sie auf den
Anfangssatz. Meist können sie daraus schon schließen ob
das Buch gut wird oder nicht“, sagte Professor Weimar
während meiner Studienzeit einmal zu mir. Und während
ich bemerke, dass gerade die Sonne aufgeht, fällt mir ein
dass ich keinen Rasierer auf meine Reise mitgenommen
habe.
~
Am 3. Januar fuhr ich mit dem Zug nach Berlin. Genauer gesagt in den Stadtteil Köpenick. In eine schöne,
saubere und geräumige Privatpension mit Blick auf den
Müggelsee. Zumindest hatte Kerr das so gesagt.
Ich hatte einen Koffer mit Kleidung dabei und eine Aktentasche mit meinem Laptop und etlichen Fotos von
Katharina und natürlich, in einem extra Koffer das Manuskript Bachmanns, dass immer noch verschlossen war.
Berlin war bedeckt mit einer leichten Schneeschicht,
einem Puderzuckerüberzug sozusagen, aber wahrschein31
lich kümmert das in der Stadt eh keinen, dachte ich mir.
Und während ich das dachte, fiel mir ein, dass ich mich
kaum noch an meinen letzten Berlinbesuch erinnern
kann.
Frau Fink, so sagte mir Kerr, erwartete mich schon.
Und tatsächlich. Eine ältere, vielleicht 70- jährige gut
gelaunte Frau nahm mich in ihrem noch weihnachtlich
geschmückten Wohnzimmer in Empfang.
„Ach, sie sind sicher Herr Mertens, nicht wahr?“,
sprach sie mich an.
„Ja, guten Tag, Edgar Mertens, ich komme aus Hamburg,
sie hatten mit meinem Chef, Herrn Kerr telefoniert“.
„Sicher, sicher, kommen sie rein“.
Ich bedankte mich und trat ein. Ihr Berliner Dialekt war
nicht so ausgeprägt, wie ich erwartet hatte.
„Oh ja, ein sehr netter Herr, der Kerr, August, nicht
wahr? Ich kenne ihn noch von früher. Er war fast ein Jahr
hier. Bis seine Frau diesen schrecklichen Unfall hatte.“
„Ja, ich weiß“, antwortete ich.
„Wie geht’s ihm denn? Dem August.“
„Wem?“
„Na Kerr.“
„Ich denke ganz gut.“
„Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee oder einen
Tee?“
„Gerne einen Kaffee“
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„Zucker, Milch?“
„Nein, danke.“
„Setzen sie sich doch.“
„Danke.“
Während sie in der Küche stand und alles zubereitete
schnaufte ich durch, befreite mich von meinem schweren
Wintermantel und musterte ein wenig die Wohnung. Auf
jeder freien Fläche standen kleine geschnitzte Holzfiguren - wahrscheinlich eine Sammelleidenschaft.
An den Wänden hingen alte Zeichnungen des Hamburger Hafens, das erkannte ich als Hamburger natürlich
sofort. Ich wollte gerade aufstehen und zu einem Bild
gehen, was Frau Fink wohl in früheren Jahren mit einem
wohl gleich alten Mann im Arm zeigt, als auf einmal eine
schwarze Katze hinter dem Vorhang auf mich zu kam
und sich an meinem Bein strich.
„Oh“, erschrak ich leicht.
„Ach, das ist nur Matthias, mein Kater“, sagte Frau Fink.
„Na, so was“, sagte ich und strich ihm übers Fell.
„Ich hab‘ ihn schon seit ein paar Jahren. Ein Gast hat ihn
mir quasi vererbt, kurz bevor er starb. Eigentlich hat er
mir sogar zwei Katzen geschenkt, Claudius war der andere Kater, aber der ist mit letzten Sommer entlaufen. Is‘n
guter Kater, leistet mir Gesellschaft, wissen sie. Wenn sie
ihr Zimmer nicht abschließen landet er vielleicht auch
mal in ihrem, also seien sie vorsichtig. Aber keine Angst,
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der ist stubenrein“, sagte sie und stieß dabei einen kleinen
Lachlaut aus.
„Glaub ich gern, ich hatte mal als kleines Kind eine
kleine Katze, ich habe aber den Namen vergessen.“
„War’n sie schon mal in Berlin?“
„Vor ein paar Jahren, aber nur privat.“
„Wie gefällt ihnen die Stadt?“
„Ich kann mich manchmal nicht wirklich entscheiden
zwischen Ekel und Bewunderung. Da dazwischen irgendwo ist meine Meinung.“
„Ich verstehe sie sehr gut. Mir ging das Ganze auch
so, und ich kam während der 70er hier her, da war das
noch etwas schlimmer. Aufgewachsen bin ich ja in Dresden. Mein erster Mann, Gottfried, hat hier gearbeitet, ihm
zu liebe bin ich hier her gezogen. Aber ich wollte die
ersten fünf Jahre lang, jeden Tag wieder zurück, so
schlimm war das. Bis ich mich daran gewöhnt hatte. An
die Menschen, an die Atmosphäre und jetzt möchte ich
hier nie wieder weg.“
Ich nickte.
Ich ließ wieder meinen Blick schweifen.
Die Wohnung war altmodisch eingerichtet. In der Mitte
des Wohnzimmers stand ein gedeckter Tisch mit vier
alten Holzstühlen. Zudem ein Sofa und ein Fernseher im
klassischen Format der fünfziger Jahre und ein baufälliges Bücherregal mit anderthalb Metern Bücher, die ich
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jedoch nicht erkennen konnte. Rechts neben dem offenen
Kamin hingen ein Spiegel und ein gerahmtes Schwarzweiß-Foto eines Läufers, der über die Ziellinie rennt und
das Gesicht verzerrt, fast schon leidend sieht er aus. Zuerst hielt ich diesen Mann für den Ehegatten von Frau
Fink, doch als ich mir das Bild genauer ansah, sah ich
den Namenszug und erkannte ihn dann auch: Emil Zatopek. Die tschechische Lokomotive. Den Selbstquäler.
Den Bezwinger der Schmerzgrenze.
Ein Ideal?
Oder einfach nur ein Zeichen der Zeit? Aus längst
vergangenen Tagen? Zatopek war der Läuferkönig der
fünfziger Jahre, wenn ich das nicht falsch in Erinnerung
hatte. Oder einer von den Königen zumindest.
Sie kam wieder mit einem Tablett mit zwei Tassen.
„Sie sind also geschäftlich hier?“, fuhr Frau Fink fort.
„Ja, ich bin freier Übersetzer. Ich übersetze verschiedenste Bücher, Zeitschriften oder Manuskripte. Hauptsächlich
aus dem Osteuropäischen und skandinavischen Sprachraum.“
„Klingt interessant. Ich les‘ auch gern. Aber meistens
nur Krimis.“
Sie deutete mir ihrer Hand auf das Regal und fuhr fort.
„Agatha Christe habe ich früher, als ich noch nicht
dazu verdammt war, eine Brille zu tragen, regelrecht
verschlungen. Da konnte man immer so schön miträtseln.“
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Sie lachte verlegen und zupfte an ihrer Spitzendecke,
die auf dem Tisch lag.
„Kennen sie das Buch, ‚das Alibi‘?“, fragte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf.
„Na auch egal. Aber so eine Arbeit“, fuhr sie weiter
fort, „wie sie sie machen, ist sicher aufwändig, oder
nicht?“
„Ja, manchmal. Im Prinzip schreibt man die Geschichte
ja nochmals neu, weil die Ursprungssprache nie eins zu
eins übersetzt werden kann, man wird quasi zum CoAutor.“
„Ah, ja“, sagte Frau Fink und setzte ihre Tasse ab.
Wir sprachen noch eine knappe Viertelstunde über aktuelle Literatur, die Stadt Berlin und sie erzählte mir, dass
ihr Mann bei Blohm und Voss in Hamburg als Schiffsbauer arbeitete. Was die Bilder an der Wand erklärten. Er
starb vor drei Jahren an Krebs.
„Was sind das für Plakate in ihrem Flur?“ Ich spielte
auf den meterhohen Turm aus Papier im Flur an.
„Ach das, das ist wegen der Wiese.“
„Welche Wiese?“
„Naja, wir haben hier in Köpenick eine Bürgerinitiative
gegründet.“
„Wegen einer Wiese?“
„Wegen einer Hundewiese.“
Ich nickte.
„Wissen sie, Herr Mertens, die Hunde brauchen hier eine
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eigene Wiese.“
„Aber hat es hier nicht genug Wälder und Wiesen,
sogar einen See?“, fragte ich etwas verwundert.
„Ja, das ist es ja, aber keinen Platz extra für Hunde, verstehen sie?“
Ich nickte wieder.
„Es gibt hier sehr viele Hundebesitzer, also dem zu
folge sehr viele Hunde. Und die brauchen einfach eine
Wiese wo sie frei umher rennen können und kein Jogger
oder Radfahrer sich fürchten muss.“
„Ist das denn so?“
„Was?“
„Das diese Menschen sich fürchten?“
„Ja.“
Ich nickte.
„Haben sie denn überhaupt einen Hund? Ich sehe nur
Matthias.“
„Nein, aber ich hatte mal einen, einen Rottweiler, Lou,
ein Prachtkerl. Aber er starb letztes Jahr.“
Ich nickte.
„Und ich bin diejenige aus dem Team, die die ganzen
Flyer und Plakate drucken ließ, mein Bruder arbeitet in
einer Druckerei, wissen sie.“
„Wird bestimmt ein Erfolg“, sagte ich.
Frau Fink nickte und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
Sie starrte auf meinen Ring, und während ich meinen
letzten Satz aussprach, dass es mir um den Tod ihres
37
Mannes leid tat und ich die Bilder auf der Kommode
gefallen, hatte ich schon ihre Frage im Kopf.
„Sie sind verheiratet, Herr Mertens?“
„Ja“, sagte ich.
Und während ich so durch die Fenster ins Freie sah,
merkte ich, dass es wieder anfing zu schneien.
Der Puderzucker wurde dicker.
38
6
Es gibt bei Übersetzungen normalerweise zwei übliche Herangehensweisen. Es gibt Übersetzter – und das
sind die Meisten – die das Buch drei bis fünfmal (je nach
Schwere des Buches) komplett durchlesen und dann anfangen Zeile für Zeile zu übersetzen.
Oder es gibt die Menschen, zu denen ich mich hinzuzähle, die das Buch vorher überhaupt nicht durchschauen
und nur Zeile für Zeile lesen und diese dann übersetzen.
Ohne, dass ich weiß, was als nächstes komme. Die Unvoreingenommenen, sozusagen.
Ich weiß noch, dass ich schon als kleiner Junge meinen Spaß daran hatte, zu schreiben, einfach nur Geschichten nieder zu schreiben. Manchmal schrieb ich aus
Langeweile einfach nur meinen Tagesablauf nieder – und
dies bis ins letzte Detail (das spitzte in Mengenangaben
beim täglichen Kochen mit meiner Mutter) später als
Jugendlicher schrieb ich einige kurze Geschichten und
Gedichte. Davon waren dann die Mädchen meist beeindruckt. Die Jungs eher nicht.
Ich war als Kind sehr oft alleine zu Hause, meine Eltern waren beide voll berufstätig und meine Großeltern
starben im Krieg bei einem Bombenangriff 1942 und das
war die einzige Ablenkung, die mich vor der tristen Langeweile schützte. Freunde hatte ich bis auf Erik wenige,
und der war leider oft krank; Sport und andere Hobbys
39
hatte ich auch nicht. Nur das Schreiben war mir wichtig
geworden. Allerdings war ich in der Familie auch der
einzige, der diese Leidenschaft besaß.
Meine Mutter litt in ihren späteren Jahren an Narkolepsie und zwar so sehr, dass sie oftmals während des
Redens einschlief und nach etwa zehn Minuten wieder
aufwachte und ihre Sätze zu Ende brachte und niemand
tat so, als wäre etwas in der Zwischenzeit passiert. Als
Kind dachte ich immer, das sie mit mir auf diese Art
spielte, bis ich es begriff. Leider steigerte sich diese
Krankheit und sie musste schließlich aufhören zu arbeiten. Sie war in einer Telefonzentrale bei einer Versicherung tätig und konnte nicht mehr, dies hatte dann zur
Folge, dass sie starke Depressionen bekam und Medikamentenabhängig wurde. Sie war danach sehr lange im
Krankenhaus und mein Vater musste sich um mich
kümmern. Allerdings arbeitete er eben auch (er hatte
einen Schreinerbetrieb in der Hamburger Innenstadt) oder
war alleine bei meiner Mutter (was mir auch recht war,
mir gefiel der Anblick meiner kranken Mutter nicht).
In dieser Zeit, ich war zwischen 14 und 16, bekam ich
von meiner Schulbibliothek Zugang zu den großen Werken. Mein Deutschlehrer, Herr Seide brachte mich dazu,
solche Bücher zu lesen. Und ich machte mir einen Spaß
daraus, Werke von Shakespeare zu lesen, etliche Male zu
lesen und fast schon auswendig zu lernen und nachdem
ich sie gelesen hatte einfach zu Papier zu bringen. Quasi
40
mit meiner Erinnerung an das Buch eben dieses neu zu
schreiben. Manchmal auch um zu schreiben oder eine
verständlichere, moderne Sprache zu benutzen und sie so
zu neuer Form zu bringen. Dies kam mir in der Oberstufe
der Schule zugute, in dem es um Textverständnisse und
Interpretationen ging.
Nach meinem Abitur studierte ich in Münster Germanistik und Volkswirtschaftslehre. Während dieser Zeit
begann ich mich für das Theater zu interessieren und
spielte bei einigen Stücken mit (wobei ich hier deutlich
machen muss, dass ich kein guter Schauspieler war –
meist hatte ich nur kleine Komparsenrollen) und versuchte mich auch als Inszenator einiger Shakespeare-Stücke.
Mein liebstes Stück – auch heute noch - war immer und
immer wieder König Lear, das ich später selbst etliche
Male (um)schrieb und auf die Bühne brachte. Es war ein
kleiner Erfolg, der es sogar bis in den Lokalteil einiger
Zeitungen brachte. Jedoch merkte ich in jener Zeit, dass
es nicht meine Kunst war, Geschichten neu zu schreiben
sondern vorhandene umzuschreiben. Ich begann also soweit es mir möglich war - alle großen Werke der Literatur in ihrer Originalsprache zu lesen und quasi neu zu
übersetzen. Daran fand ich so sehr gefallen, dass ich mich
für eine Arbeit als Übersetzer bei einem kleinen Hamburger Verlag bewarb.
Und während dieser Zeit lernte ich auch Katharina
kennen.
41
~
Das Zimmer in dem ich nun die nächsten Wochen
verbringen sollte war nicht gerade groß aber es war sauber und sehr hell, durch den Vorhang schien diffuses
Licht, was durchaus einen Vorteil mit sich bringt, wenn
man schreibt. Der Raum war weiß tapeziert, hatte ein
großes gemütlich aussehendes Bett und einen breiten
Fernseher an der Wand stehen. Über dem Bett hing ein
Bild Berlins mit der Unterschrift „Unter den Linden
1913“. Ich schaute es eine Minute schweigend an, bis es
an der Tür klopfte.
„Herein“, rief ich.
„Herr, äh, Mertens, ich will sie nicht stören, aber möchten sie morgens frühstücken? Ich wollte gerade einkaufen.“
„Machen sie sich keine Umstände Frau Fink, ich
komme schon zurecht, wenn was ist, rufe ich“. Ich zwinkerte ihr zu und verschwand im Badezimmer.
Ich duschte und dachte lange nach. Meine erste Aktivität musste nun sein, eine geeignete Lokalität zu finden,
wo ich schreiben konnte. Ich konnte es zwar auch hier im
Zimmer machen, denn wie schon gesagt, es war hell und
freundlich aber das war nicht meine bevorzugte Art und
Weise zu arbeiten. Ich ziehe es immer vor, an einem Ort
42
zu arbeiten und an einem anderen Ort zu leben, bzw. zu
schlafen. Privat und Beruf müssen getrennt werden, dies
war und ist mein oberstes Prinzip. Ich fragte also nach
dem Duschen Frau Fink, ob es in der Nähe eine größere
Bibliothek gab. Sie gab mir zwei Adressen und ich machte mich sofort auf den Weg dorthin.
43
7
In Münster lernte ich Katharina kennen.
Katharina Johanna Brahms. Um genau zu sein.
Ich befreundete mich dort mit einem Kommilitonen,
namens Erik Meissner an. Ein oftmals etwas seltsamer,
eigener Typ, aber wir hatten oft die gleichen Interessen.
Wir interessierten uns für Literatur und Theater, er hegte
damals eine Leidenschaft zu britischen Gegenwartsliteratur während ich zu jener Zeit eher russische und osteuropäische Bücher lesenswert fand. Aber wir befruchteten
unsere gemeinsame Leidenschaft durch regen Austausch
etlicher Werke. Meine erste Shakespeare-Inszenierung in
der Universität schrieb ich mit zusammen - er war der
bessere Übersetzter - und es endete in einem Besäufnis,
mit der Schnapsidee, King Lear nur mit männlichen Akteuren auf die Bühne zu bringen. Was aber nie zustande
kam. Zudem waren wir beide Anhänger des HSV, er trug
sogar immer einen Pin am Revers seiner Anzüge. Obwohl ich nie Sympathien für diesen Sport hatte und erstrecht nicht für einzelne Mannschaften, konnte ich mich
gegen diese Euphorie im Stadion niemals verwehren und
beobachtete mich schon bald selbst, den Hamburger Stars
um Magath, Hrubesch und Manni Kaltz zujubelnd.
Erik war stets gut gekleidet, oft mit Hemd und perfekt
sitzendem Anzug. Seine Frisur – ein rechter streng gezo44
gener Scheitel – war so akkurat, das man sich danach die
Uhr hätte stellen können. Er war zu jedem Anlass passend gekleidet. Er hatte zwar wie ich in dieser Zeit wenig
Geld, aber er investierte eben neben seinen Büchern alles,
was er in seinem Kellnerjob verdiente, in teure Kleidung.
Daher kam es manchmal vor, dass er mich um etwas zu
Essen anbettelte, da er sein letztes Geld für eine Hose
ausgegeben hatte. Ich hatte nichts dagegen, im Gegenteil.
Ich gab ihm gerne etwas ab und genoss die Zweisamkeit
immer mehr.
Wir unternahmen zu dieser Zeit sehr viel, rauchten
und tranken reichlich und hörten Miles Davis in meiner
kleinen Wohnung. Manchmal kam er auch zu mir und
wir unterhielten uns die Nacht durch über trivialste Dinge. Ich erinnere mich, dass wir auch öfters zusammen
zum Eishockey gingen. Wie die Mannschaft hieß, habe
ich mittlerweile aber auch wieder vergessen.
Ich konnte damals den Schein nicht verwehren, dass
ich mich in Eriks Nähe überaus wohl fühlte und dass es
mich an manchen Tagen mehr als zu irgendwem sonst
hinzog. Er weckte in mir eine bis dato unbekannte Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die ich – auch im Nachhinein –
nicht genauer benennen kann. Es gab Nächte, in denen
ich in meiner kleinen Münsteraner Studentenwohnung so
allein und verlassen vorkam, dass ich mir nur sein Dasein
wünschte.
Nach unserem gemeinsamen Studium zog er mit sei45
ner Schwester Sonja nach Kopenhagen und wurde dort
Fremdsprachenkorrespondent bei einem staatlichen Fernsehsender. Sein Vater war halber Däne und hatte Kontakte zur dortigen Fernsehbranche. Wir telefonierten zwar ab
und zu noch und schrieben uns Briefe, aber der Kontakt
wurde immer weniger, bis er irgendwann komplett erlag.
Erik war zwei Jahre älter als ich und durch seinen
Nebenjob in der beliebten Münsteraner Studentenbar
Auerbach, kannte er jede Menge Menschen, die dort einund ausgingen. Unter anderem auch Katharina, die er mir
eines Abends vorstellte. Sie studierte Kunstgeschichte.
Ob sie vorher was miteinander hatten, ob er Gefühle für
sie hatte, fragte ich nicht, wir redeten nie darüber, es war
mir irgendwie auch egal.
Sie sah umwerfend aus. Sie war groß gebaut, hatte
eine schlanke Figur und dunkelrote Haare, die sie zu
einem Bob geschnitten hatte. Ich verliebte mich sofort in
sie, seit ich sie das erste Mal an der Bar gesehen hatte.
Sie kam eigentlich irgendwo aus kleinen Kaff in Brandenburg, lebte jedoch während ihres Studiums in einer
geräumigen WG außerhalb Münsters mit zwei unausstehlichen jungen, männerfeindlichen Frauen zusammen.
Katharina hegte wie ich eine Leidenschaft für exzessives
Schachspiel, exzessives Rauchen und sie hörte jeden Tag
The Smiths auf ihrem kleinen WG-Balkon und ich fing
an, mit jedem Tag, an dem wir uns näher kamen, zu
46
glauben, sie wäre von einem anderen Stern. Ich weiß
noch, dass ich mir ihretwegen zwei Rothko-Kunstdrucke
in mein Zimmer hängte nur um ihr zu gefallen. In Wahrheit verstand ich von abstrakter Kunst überhaupt nichts.
Teilweise ekelte es mich sogar an. Allem voran Rothko.
Nach ihrem Studium zog sie wieder nach Potsdam zu
ihren Eltern und ehe wir uns versahen, gab ich meine WG
auf und zog bei ihr ein.
Das war vor genau 21 Jahren.
Wie ein Vogel, genau so beschrieb sie sich damals, als
wir zusammenkamen. Ein Vogel mit verletztem Flügel
Bis ich geheilt bin, kann ich nicht geben, sagte sie.
Nur empfangen.
Das gefiel mir sehr. Das gab unserer Beziehung von Anfang an den Rahmen und ich akzeptierte ihn ohne jedes
zögern. Das war die Prämisse. Es dauerte fast einen Monat bis wir uns körperlich liebten, das sagte mir zu. Es
gab mir außerdem Zeit eine andere Affäre zu beenden,
mit der ich noch nicht richtig fertig war.
Als wir heirateten war sie immer noch mein verletzter
Vogel. Dann verlor sie zwei Kinder, bevor sie reif und
lebensfähig waren und das besiegelte nur noch unseren
Bund.
Erst lange nach der zweiten Fehlgeburt genügte meine
Stärke nicht mehr, das Vakuum in ihr zu füllen.
Adagio, war zu jener Zeit ihr Lieblingswort, sie musste es
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an ihrer Kunsthochschule oft verwendet haben. Oft sagte
sie Sätze wie „Im Augenblick befinden wir uns im
Adagio, aber das ist nichts Besonderes.“
Aber das war natürlich nicht so.
In dieser Zeit begann der Kontakt mit Georg Weith.
Als Katharina, in einer der ersten Therapiestunde von
ihm erzählte fiel es mir schon auf, dass er die Moral von
dem verletzten Vogel und des stärkeren Mannes und
seinen Pflichten nicht verstand.
Ich fing an ihn zu verachten. Von Anfang an.
Lange Zeit bevor er der Liebhaber meiner Frau wurde.
48
8
Die erste Adresse, die Frau Fink mit gab, war mehr
oder weniger ein kleiner Bücherclub in der Osloer Straße
im Bezirk Mitte, es gab zwar alles, es war geräumig aber
es war nicht schön, es war kalt, der Wind zog durch die
Tür und die Menschen die dort verkehrten, passten mir
nicht. Es waren zu viele junge Menschen dort, wahrscheinlich Studenten, deren Anwesenheit mich einfach
störte.
Dafür war die zweite Adresse in der Grunewaldstraße
um einiges besser. Stadtbibliothek Steglitz, stand in dunkelgrünen Lettern vor dem Eingangstor. Es roch in der
Eingangshalle ein wenig nach frisch gebrühtem Kaffee,
was in mir gleich ein wohliges und zugleich heimeliges
Gefühl vermittelte. Es war mit öffentlichen Verkehrsmitteln etwa eine Stunde von meiner Pension in Köpenick
entfernt.
Die Räume waren mit dunkelgrünen, schallschluckenden Teppichen ausgestattet. Überall standen Regale mit
Büchern, Schreibtische mit Art Deco Bankerlampen, die
allesamt eingeschaltet waren. Und vor allem – es war
ruhig.
Ich entschied mich hier zu bleiben und holte mir einen
Milchkaffee am Automaten, der neben der Eingangstür
stand. Dann drehte ich mich um und begrüßte die Biblio49
thekarinnen, stellte mich vor und erklärte ihnen, dass ich
von nun an, jeden Tag zwischen 9 Uhr und 16 Uhr hier
sein werde. Ich mache das so, seit ich vor vielen Jahren
einmal ein Interview mit Nick Cave in einem Musikmagazin las. Er erzählte über seinen strengen Tagesablauf
und dass er jeden Morgen um 7 Uhr aufstehe, seine Kinder in die Schule fahre, danach in sein eigenes Büro in
der New Yorker Innenstadt gehe, seine Texte schreibe
und dann um 16 Uhr wieder zurückfahre und seine Kinder abhole und mit ihnen zu Abend esse.
Ein Ritual, welches ich mir auch zu Eigen machte.
Alles sollte seine Ordnung haben und irgendwann würden sie vielleicht eh danach fragen, warum ich jeden Tag
in ihre Bücherei gehe und ob ich denn was Bestimmtes
suche und bloß nicht finde.
Die Bibliothekarin, Frau Enger, klein, kräftig gebaut,
kurze schwarze Haare und eine Nickelbrille, begrüßte
mich, führte mich kurz herum, zeigte mir die Toiletten
und bot mir an, wenn ich Kaffee wolle, mich einfach im
Aufenthaltsraum ihrer Kollegen zu bedienen.
„Der Kaffee im Automaten ist doch schrecklich“,
sagte sie.
Ich nickte, bedankte mich und suchte mir einen Platz.
In der Biologie-Abteilung (Abt. IV Meeresbiologie |
F-L) ließ ich mich an einen Tisch nieder. Hinter mir war
an der Wand hing ein Poster von einem großen Hammerhai.
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Die Sonne schien durch das große Fenster seitlich
herein und wärmte mich, während ich meinen Mantel
über die Stuhllehne warf und meine Ledertasche auf den
Tisch legte.
Ich nahm das Manuskript, das immer noch ungelesen
war, aus der Tasche und breitete es vor dem Tisch aus.
Ich nahm einen letzten Schluck aus dem Pappbecher und
freute mich, dass es morgen frisch Gebrühten gäbe, dieser aus dem Automaten war wirklich fürchterlich. Eine
Zumutung. Aber vielleicht war man in Berlin auch nichts
Besseres gewohnt und es herrschte allgemeine Gleichgültigkeit.
Draußen fuhren Doppeldecker-Touristenbusse vorbei,
vor der Hausfassade stand ein Asiate, der ein Foto eines
Sophie-Scholl-Gedenksteines machte, der vor der Bibliothek stand. Ich sollte ihn mir mal genauer ansehen, dachte
ich im Stillen, hatte aber eigentlich keine Lust darauf.
Ich muss zugeben, dass meine Hand ein wenig zitterte, als ich die erste Seite aufschlug.
~
Es war der 11. August, an dem wir zur neunstündigen
Autofahrt losfuhren.
Da Katharina Flugangst hatte und ich aufgrund der Flexi51
bilität sowieso ein Auto als Reisemittel vorziehe, fuhren
wir – wie in den meisten Urlauben – die Strecke mit unserem Auto.
Ich hatte tags zuvor mein letztes Buch „Der Reiher“ eine kleine Novelle eines jungen dänischen Schriftstellers
- gerade fertig übersetzt und Kerr auf den Bürotisch gelegt. Er war zufrieden und ich nahm daraufhin zwei Wochen Urlaub. Das war auch bitter nötig.
Meine Frau war zu diesem Zeitpunkt seit sieben Jahren Lehrerin in der Eichendorff-Grundschule in Hamburg, hatte Ferien und es war Sommer. Über Hamburg
lag wie eigentlich nur im Sommer zu beobachten ist, eine
gewisse Heiterkeit, es war warm, stellenweiße richtig
heiß und die Menschen waren allesamt voll verzauberter
Fröhlichkeit. Kein Vergleich zu den anderen Jahreszeiten, in denen Hamburg oftmals im Nebel oder im lang
anhaltenden Regen zu versinken droht.
Wir saßen den Abend vor der Abfahrt auf unserem
Balkon, betrachteten den Ausblick auf die Wiese in Richtung Pinneberg und checkten nochmal, dass wir alles
eingepackt und nichts vergessen hatten.
Ich hatte einen Zettel mit Notizen gemacht, die ich
Katharina in die Hand gab, während ich eine Flasche
Rotwein
köpfte
und
uns
einschenkte.
An diesem Abend fragte ich zum ersten Mal, um wen
es sich handelte.
„Georg.“
„Georg Weith?“
52
„Ja“
„Dein Therapeut?“
„Ja“
Ich bekam einen Lachanfall an dem ich mich fast am
Rotwein verschluckte.
„Alle Frauen verlieben sich früher oder später in ihren
Therapeuten, das kannst du vergessen, Kat“, warf ich ihr
erbost zu.
„Du gehörst mir“, fuhr ich weiter fort, „und das weißt
du!“
Katharina trank einen Schluck ihres Weines, stellte das
Glas vor sich auf den kleinen Holztisch und drehte sich
mir zu.
„Edgar, nochmal, ich weiß, dass ich dir wehtue, aber
meine Ehrlichkeit ist das Einzige, was ich noch habe.
Bitte akzeptiere das.“
Ich schwieg und schaute gedankenverloren auf den Boden.
„Er wird mich ab und zu unten in Luzern treffen. So
haben wir es abgemacht.“
Da schlug ich sie.
Und danach redeten wir nicht mehr darüber.
53
9
GRAU – Das erste Kapitel. (So fing es an).
Viel zu viele Menschen auf dieser Welt, die, wenn sie
doch nur fähig und verbissen an den Zeigern der Zeit
hängenblieben, sogleich und ungewiss...
Ich machte eine Pause. Es war so wie die Bücher vorher, das fiel mir schon nach einem ersten halben Satz auf.
Es war furchtbar. Es gab „den wichtigen ersten Satz“, wie
es Professor Weimar beschrieb, nicht, bzw. er war ein
Satz unter vielen anderen Schachtelsätzen, denen man
nur hochkonzentriert folgen könnte. Teilweise unübersetzbar. Der Teufel höchstpersönlich würde nicht so
schrecklich schreiben. Aber es war meine Aufgabe, dafür
wurde ich schließlich bezahlt und es war Bachmanns
letztes Buch. Und Bachmann ist tot. Also hatte ich die
Verantwortung. Die ganze, verdammte Verantwortung
lastete auf meinen Schultern. Vielleicht standen ja Hinweise, Vorahnungen auf seinen Tod darin. Vielleicht gab
es irgendwelche chiffrierten Hinweise. Es muss ja einen
Sinn haben, dass er es nicht in seiner Muttersprache veröffentlich haben will. Oder wollte. Ich arbeitete mich
noch fünf Sätze weiter, ehe ich auf die Uhr sah.
Es war gerade 16 Uhr und ich beschloss, für den ersten Tag genug getan zu haben. Auch wenn es nicht viel
war. Aber ich hatte es geschafft, mich den ersten Zeilen
des Buches zu widmen. Auch wenn sie bisher noch kei54
nen richtigen Sinn gaben. Das war mehr als genug.
Ich verabschiedete mich von Frau Enger und ging ins
Grillstübchen gegenüber. Ein kleines Restaurant mit
günstigen lokalen Gerichten. Ich aß einen kleinen Braten
mit Kartoffeln und bereitete mich auf den nächsten Tag
vor.
Mich bediente eine junge blonde Frau mit abgeblättertem rotem Nagellack. Eine der wohl besten Metaphern
über diese Stadt: eine schöne Frau mit abgeblättertem
Nagellack. An Berlin, seinen Gaststätten und deren Personal hatte sich also seit meinem letzten Besuch vor einigen Jahren nichts geändert, musste ich sobald feststellen,
dabei grinste ich still meine etwas zu lang gekochten
Kartoffeln an.
Der Wecker klingelte um 7:30 Uhr. Ich trank einen
Schluck Wasser, ging auf den Flur ans dort stehende
Telefon und rief die Nummer an, die ich am Vortag im
Telefonbuch im Grillstübchen fand.
Es meldete sich eine Frau mit ungewohnt tiefer Stimme:
„Privatdetektiv Nowak, Müller am Apparat. Was kann
ich für sie tun?“
„Guten Tag, Mertens ist mein Name, könnte ich vielleicht Herrn Nowak sprechen?“
„Der ist zurzeit leider außer Haus, kann ich ihm was
ausrichten?“
„Nun ja, ich weiß nicht. Das ist… vertraulich.“
55
„Herr Mertens, so war doch ihr Name, oder?“
„Ja.“
„Also Herr Mertens, sie rufen gerade in einer Privatdetektei an, hier ist alles diskret, oder wie sie sagen vertraulich, wissen sie.“
„Ja, klar“, sagte ich unsicher. Natürlich hatte sie Recht.
„Also, ich hätte da einen Fall für ihn“, fuhr ich weiter
fort.
„Na also, dann kommen sie doch am besten hier vorbei,
wenn es keine Umstände macht. Herr Nowak müsste
gegen 15 Uhr wieder hier im Büro sein.“
„Ja gern.“
„Haben sie die Adresse?“
„Ja.“
„Gut, dann trage ich sie ein. Bis später, Herr Mertens“
„Danke. Auf wieder hören“
„Auf wieder hören.“
~
Die Idee, in der Schweiz Urlaub zu machen, kam von
meiner Frau. Mir persönlich sind die südlichen Mittelmeerländer eigentlich lieber. Ich genieße die Wärme, die
dortige Lebensfreude der Menschen und finde somit auch
Erholsamkeit. Aber meiner Frau machte seit zwei Jahren
ihr Asthma immer mehr Probleme und ihr Therapeut,
Herr Weith aus Hamburg-Reinbek (er wohnte früher in
56
Lübeck, zog aber später aufgrund der Scheidung mit seiner Frau nach Hamburg und bezog dort eine Praxis) empfahl ihr die Schweiz. Das Tessin um genau zu sein. Dort
soll es - laut Herrn Weith - die beste Luft für Asthma
Patienten geben und er kenne da ein Hotel in Familienbetrieb, das nicht so teuer sein soll und speziell für AsthmaPatienten sein soll – was auch immer das hieß. Er mache
dort selbst hin und wieder Urlaub, wenn es die Arbeit
zuließe, natürlich. Ich ließ mich dazu breitschlagen. Für
die Gesundheit meiner Frau.
Mir kam natürlich in den Sinn, warum wir nicht auf
einer Nord – oder Ostfriesischen Insel Urlaub machten,
oder in Dänemark oder in Schweden - die Luft sollte ja
Ratgebern zufolge dort auch sehr gut sein, und da es wäre
fast tausend Kilometer Anfahrtsweg weniger, aber ich
verwarf diese Frage gleich wieder. Vielleicht ist es auch
nur der Reiz des Auslandes, dachte ich damals.
Jetzt, wenn ich darüber nachdenke, weiß ich natürlich
weshalb wir ins Tessin fuhren, und nicht an den Strand
von Sylt.
57
10
Es war an diesem Morgen ein kleines bisschen wärmer als die Tage zuvor, zumindest bildete ich mir das ein.
Der Wind blies nicht so heftig wie zuvor und ich ging
sogar ohne meinen Schal aus dem Haus. Ich lief in die
Bibliothek, nahm einen Kaffee aus dem Büro, machte ein
wenig Smalltalk mit Frau Enger - wir sprachen über das
Wetter und verschiedene Kaffeesorten Arabiens - und
verschwand in meiner Ecke und tauchte wieder in Bachmanns Buch ab.
Ich kam voran. Immerhin hatte ich bis 12 Uhr, als ich
meine erste Pause machte, schon drei Seiten geschafft.
Aber es ging ähnlich kryptisch wie am Vortag weiter.
[…] dennoch, obwohl es manchmal nicht so sehr den
Schatten auf unser aller Verlangen legt, war es M die B
begehrte, ihr lüsterner Mund, ihre Beine, die bis zum
Mond und zurück ragten, ihre kastanienbraunen Haare
aus Samt und den zarten Händen einer Frau, die nie etwas Böses anstellen würden. In ihr sah B all den Reichtum der Erde. Alle Götter dieser Welt würden ihm zustimmen […]
Wie gesagt, es war eine Tortur und ich begriff noch
nicht, in welche Richtung das Ganze sich zu drehen
schien. Aber scheinbar gab es eine Person namens B und
eine Frau mit dem Namen M.
58
Zur Pause aß ich mein mitgebrachtes Brot und trank
noch einen weiteren Kaffee vom Büro. Ich schlenderte
ein wenig durch die vielen Regale und sah mich ein wenig um. Ich ging zur Belletristik und dort zur Kategorie
B. Ich lief umher und suchte, aber ich fand keinen Bachmann dort stehen. Ich zuckte mit den Schultern und begab mich zurück an meinen Tisch und schlug die vierte
Seite des Buches auf. Mit fiel auf, dass das Buch bisher
noch keinen Titel trug, ebenso, dass es zwischen einem
unbenannten allwissenden Erzähler und einem IchErzähler hin und her wechselte.
[…] M die widerspenstige, M die ich nie zu fassen
bekam ob ihrer Kühnheit. Ihre Güte und ihre Brüste. Ihre
festen aber nicht zu großen Brüste waren jede Mühe
wert. Sie war die Göttin Persephone, Selene und Nike in
einem. Sie sollte mir gehören. Doch die Götter waren
sich uneins darüber. Und es gab noch Andere […]
Gegen 14:30 packte ich zusammen und machte mich
auf den Weg zu Herrn Nowak in die Willy-Brandt-Allee,
nahe des Westbahnhofes. Ich war noch ein wenig zu früh
dran, also kaufte ich mir am Bahnhofskiosk ein Päckchen
Zigaretten und die aktuelle Tageszeitung und setzte mich
auf eine Bank und schlug so die Zeit tot.
Ich klingelte an der Tür und mir wurde, ohne Anmeldung die Tür geöffnet. Ich sah eine Frau, wahrscheinlich
seine Sekretärin, etwas rundlich im Gesicht, braune,
59
schulterlange Haare, am PC tippen. Sie schielte durch
ihre Brille nach mir.
„Mertens, richtig?“
„Ja, genau, ich habe…“
„Gehen sie rein, er wartet schon auf sie“. Sie deutete
auf die Tür neben sich auf der P.N. stand.
Ich ging durch die Glastür in das Büro. Nowak stand
gerade am Fenster und rauchte. Er sah mich und schnippte die Zigarette mit einem Schnalzer nach draußen. Die
Fenster waren geöffnet. Es war eiskalt. Draußen schneite
es.
„Ah, Mertens, ja? Entschuldigung, dass es hier so kalt
ist, aber ich darf eigentlich nicht mehr rauchen. Brigitte..
also ich meine Frau Müller…“ – er zeigte zur Tür –
„…hat es mir verboten. Meine Lungen, naja egal, was
führt sie zu mir? Was kann ich für sie tun? Möchten sie
etwas zu trinken? Kaffee? Wasser? Orangensaft? Vielleicht einen guten Rum? Ich habe einen guten Doorly’s.“
Und ehe ich überhaupt den Mund aufmachen konnte,
drückte er eine Taste an seinem Laptop und sprach in
diesen. Es ertönte ein kurzes Piepsen.
„Brigitte, bringen sie dem guten Herr Mertens doch
bitte einen Kaffee und Kekse. Möchten Sie Zucker und
Milch?
„Äh was?“
„Brauchen sie Zucker zum Kaffee, ach egal. Gitte, das
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gesamte Paket einfach.“
Er sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick und wir
schwiegen uns ein paar Sekunden an.
„Zigarette?“
„Gerne“.
Ich nahm eine aus seiner Schachtel, ließ sie mir anzünden, inhalierte kräftig und blies den Rauch über den
Schreibtisch, in dem Moment kam Frau Müller zur Tür
herein, in der Hand ein Tablett mit einer Kanne Kaffee,
einer Dose Keks, Milch und Zucker.
„Danke Brigitte, sie können nach Hause gehen, ich
benötige ihre Dienste heute nicht mehr“.
„Danke, Chef“, antwortete sie und drehte sich weg.
„Sie ist einfach ein Schatz, nicht wahr?“
Ich nickte.
„Also, gehen wir nun mal in medias res. Womit kann
ich Ihnen helfen, Herr Mertens? Ach so, ich habe mich
noch gar nicht vorgestellt. Also ich bin Peter Nowak,
Privatdetektiv.“
Ich blies die Backen auf und war sichtlich froh, dass
ich nun endlich erzählen konnte, weswegen ich hier war.
61
~
In Hamburg fuhren wir gegen 20 Uhr los. Wir wechselten uns zwar mit dem Fahren ab, aber während die
Sonne um halb fünf Uhr morgens langsam über den
Schweizer Horizont stieg, schlief Katharina tief und fest.
Sie sagte zwar, ich solle sie auf jeden Fall wecken, wenn
die Sonne aufginge, aber als ich gerade meine Hand auf
ihre Schulter legen wollte, fiel mir ihre Seelenruhe in
ihrem Gesicht auf. Der schlafende Vogel. Ich brachte es
nicht übers Herz, sie aufzuwecken. Im Autoradio lief
Sigur-Rós und ich spürte wie sich meine Augen leicht mit
Tränen füllten.
Wir kamen um 7 Uhr morgens an unserem Hotel in
Luzern an. Es lag ca. einen Kilometer Luftlinie vom
Vierwaldstätter See entfernt und trug den Namen „Weißes Kreuz“. Es war gemütlich eingerichtet. Es war modern, hatte aber hie und da Elemente einer Almhütte aus
Holz. Ich glaube, das war zu dieser Zeit sehr modern.
Nachdem wir unser Zimmer bezogen und uns im Hotel ein wenig zurecht gefunden hatte, gingen wir im hoteleigenen Restaurant etwas essen. Zuvor telefonierte
Katharina noch eine halbe Stunde.
Ihr tat es leid, dass wir nicht mehr zusammen sein
können, sagte sie andauernd. Es würde unser letzter ge62
meinsamer Urlaub sein. Mir stieg das Ganze zu sehr in
den Kopf, ließ es mir aber nicht anmerken und bestellte
noch eine Flasche Rotwein und ein Glas hauseigenen
Cognac. Ich versuchte das Gesagte von ihr zu verdrängen, zu vergessen. Ich nahm es, um ehrlich zu sein, auch
nicht für realistisch, konnte es aber dennoch nicht mehr
ertragen.
Nach dem üppigen Essen - es gab Ente mit frischem
Bohnengemüse - gingen wir beide ein bisschen angetrunken in unser Zimmer und schliefen miteinander. Kurz
danach, ich war gerade aufgestanden um mich zu duschen, hörte ich sie folgenden Satz sagen:
„Das war das letzte Mal, ich weiß, dass ich dir sehr
wehtue, Edgar, aber das war das letzte Mal das wir uns
geliebt haben.“ Ihre Stimme klang brüchig und ein wenig
traurig, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen,
aber vielleicht hatte ich mir das nur gewünscht.
Ich drehte mich um und stellte mich vor ihr auf.
„Du gehörst mir, bilde dir nur nichts anderes ein.“
Sie gab keine Antwort und ich ging unter die Dusche und
während das warme Wasser aus der Brause auf meine
Schulter traf, rammte ich ein paar Mal meinen Kopf gegen die Fließen der Wand.
Wir schliefen ein. Vielleicht ahnte ich schon da, dass
sie wirklich das meinte, wie sie sagte und das ich bereits
der eigentliche Verlierer dieser Geschichte war.
63
11
Das Gespräch bei Nowak war im Großen und Ganzen
zufriedenstellend, auch wenn er sich – da war er ehrlich keine großen Hoffnungen machte, Katharina zu finden,
aber er gehe der Sache nach und würde sich melden,
wenn er etwas fände. Bezahlt wurde Voraus, mit anschließender „Siegesprämie“. Ich hielt ihn zu dem Zeitpunkt für einen seriösen Detektiv, der auch über immense
Kompetenzen in seinem Beruf verfügte und sehr ehrgeizig wirkte. Außerdem erschien er mir, aufgrund meiner
eigenartigen Vermutung, dass nur durch ein Husten zustande kam sehr gewillt, Katharina zu finden. Wir vereinbarten eine sogenannte Suchzeit von drei Monaten.
Also bis Ende April. In dieser Zeit würde ich auf jeden
Fall noch hier sein.
Nach dem Gespräch genehmigte ich mir ein Sandwich
beim Bäcker nebenan und fuhr zurück zur Pension. Auf
dem Weg dorthin fiel mir ein großer Mann in einem
schwarzen Mantel auf, dem ich irgendwann schon ein
Mal begegnet war. Ich hatte allerdings keine große Erinnerung daran. Zuhause in der Pension, erwartete mich
Matthias, Frau Finks Kater, schon freudig. Ich gab ihm
ein wenig Futter aus der Box im Flur und streifte meine
Klamotten ab. Er schnurrte.
Ich war mir natürlich bewusst, dass ich noch keine
Ahnung hatte, was ich tun sollte, falls Nowak Katharina
64
aufspüren sollte. Sollte ich einfach klingeln und Hallo
sagen, so als ob damals in Luzern nichts passiert wäre?
Oder ihr nachspüren? Ich war ein wenig überfordert. Ich
schaltete den Fernseher an und sah die Nachrichten.
Dabei musste ich eingeschlafen sein.
~
Man kann es nicht leugnen. Die Luft über Luzern ist
wahrlich zu empfehlen. Vor allem dann, wenn man aus
dem eher trüben Hamburg kommt. Ich stand auf und ging
ins Bad, als ich merkte, dass Katarina ebenfalls wach war
und mit dem Telefon auf den Balkon ging und die Tür
hinter sich schloss.
Ich ließ mich davon nicht irritieren und rasierte mich
so gründlich wie möglich.
Danach gingen wir runter zum Frühstücksbuffet. Katharina aß nur ein gekochtes Ei, während ich mich ein Teller
Müsli, eine Banane und einen Obstsalat schmecken ließ.
„Ich fahre heute zu ihm“, sagte sie.
Ich biss den Kopf der Banane ab.
„So?“, fragte ich, und hob meine linke Augenbraue.
„Ja, jetzt, nach dem Frühstück. ich weiß nicht wann
ich wieder komme.“
„Vielleicht heute Abend?“, entgegnete ich ihr in fragen65
dem Ton, sah sie dabei aber nicht an.
„Setz mich nicht unter Druck, Edgar. Du weißt ich
kann das nicht aushalten. Du weißt, ich will es auch
schön haben“, antwortete sie mir mit leicht genervtem
Ton.
„Sicher“, sagte ich und stopfte den Rest der Banane in
den Mund. Ich stand auf, wusch meine Hände an der
Serviette ab und ging ohne ein Wort zu sagen angewidert
ins Zimmer zurück.
Ich legte mich ins Bett und starrte auf die Decke, während sich Katharina umzog.
„Draußen ist‘s so frisch, ich glaub ich nehme heute
die Stiefel, was meinst du?“
„Hm“ raunte ich.
„Wie bitte?“, fragte sie.
„In den Stiefeln siehst du aus wie eine Göttin, das weißt
du.“
„Du bist süß.“
„Hm.“
„Was hast du gesagt?“
„Nichts.“
Nach ein paar Minuten stand sie mit einem kurzen
schwarzen Rock, einer weißen enganliegenden Bluse,
unter der sich deutlich ihr BH abzeichnete, ihren Stiefeln
und einem Sommerhut vor mir.
„Also, ich denke nicht, dass ich später als morgen
Mittag weg sein werde, OK?“
66
„Hm“, ich nickte.
„Tschüss, Edgar.“
Ich erwiderte nichts und die Tür fiel ins Schloss. Ich
machte meine Augen zu und versuchte mich an die Zeit
zurück zu erinnern, als ich Katharina das erste Mal traf.
Ihre Statur, ihre Haare, der Tipp von Erik, ihr The
Smiths Platten vorzuspielen, da sie die Musik so gern
hörte (was mich zugegebener Maßen auch zu einem
Smiths-Fan machte), die Urlaube auf Kos, den Azoren
oder Italien, kamen mir hoch, als ich durch den offenen
Fensterschlitz unser Auto wegfahren hörte. Ich öffnete
meine Augen, sprang vom Bett und sah dem weißen Audi
hinterher, bis er hinter all den Kurven nicht mehr zu sehen war. Dann zündete ich mir eine Zigarette an.
Ich nahm die nun gewonnene Freizeit für das, was ich
eh vorhatte, allein oder zu zweit, war mir nun auch egal.
Ich wanderte. Den Energieeffekt für etwas Sinnvolles
nutzen, dachte ich mir. Ich packte meinen Koffer mit
zwei Flaschen Bier, einem großen Salamistück, und ein
paar Keksen. Da das Hotel eh an einem Hang stand und
es nur etwa eine Viertelstunde Fußmarsch war, bis zu den
Wanderwegen, kam mir das alles sehr gelegen.
Nach etwa einer Stunde machte ich an einer Almhütte
Rast, trank ein mittlerweile warmgewordenes Bier und
überlegte, verwarf Pläne und dachte immerzu an die sonderbar glatten Innenseiten der Oberschenkel Katharinas.
67
Ich lief bis zu einem Punkt an dem ich die Straße zum
oder vom Hotel (je nach Perspektive) sehen konnte. Einige Ideen gingen mir durch den Kopf, als ich so da saß
und hinunterstarrte. Vielleicht nicht die schlechtesten an
diesem Tag. Aber ich musste abwägen. Doch ich hatte
das Gefühl, dass sich im Laufe dieses Tages eine großartige Idee sich in meinem Gehirn eingenistet hatte.
Als ich wieder heimkam - ich war fast sechs Stunden
unterwegs und ich merkte, wie sich an meinem großen
Zeh eine Blase bildete - war es fast dunkel. Ich ging unten im Restaurant essen; bestellte mir Lachs und Kartoffeln und trank dazu ein kleines Bier.
Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer, schaltete den
Fernseher an, machte den Ton aus, und schlief während
eines anscheinend bedeutenden Fußballspieles zwischen
rot-weißen und blauen Trikots ein.
Mein Blick auf den Wecker sagte mir, dass es fast 3
Uhr nachts war, als ich hörte wie die Tür langsam aufging, ein bekannter Geruch von kaltem Rauch selbstgedrehter Zigaretten und teurem Parfum drang durchs
Zimmer. Katharina war wieder hier. Sie schaltete den
Fernseher aus, zog sich rasch und leise ihre Kleider aus
und legte sich ins Bett. Ich tat so als ob ich schlief, aber
ich war ziemlich überzeugt davon, dass ihr klar war, dass
ich nur simulierte. Aber sie spielte ihre Rolle gut und
löschte sogleich dann das Licht.
68
12
Heute ging ich erst nachmittags zur Arbeit, den Vormittag verbrachte ich unter anderem in eigener Recherche
und dem Anruf bei Marlene Bachmann. Ihre Nummer
hatte ich aus dem Telefonbuch von Frau Fink.
Ich stellte mich als der Übersetzer ihres verstorbenen
Gatten vor. Sie war sehr überrascht, denn sie wusste
nicht, dass es ein fertiges Manuskript für ein neues Buch
gab. Sie war davon überzeugt, dass er zwar etwas geschrieben hätte, aber nicht einen Roman oder einen langen Text und vor allem nicht, dass es noch fertig wurde.
Sie war bereit, sich mit mir auf einen Kaffee zu treffen
und wir verabredeten uns am nächsten Tag um 17 Uhr
bei ihr Zuhause. Sie brauchte noch einige Zeit wegen der
Beerdigung ihres Mannes, sonst hätten wir uns auch früher treffen können, meinte sie. Ich fragte nicht näher nach
und wir legten auf.
Ich schrieb mir eine Notiz mit der Uhrzeit auf einen
Zettel und schlug das Telefonbuch auf. Ich suchte nach
Mertens. Es gab in ganz Berlin sage und schreibe sieben
Mal den Namen. Und drei davon mit einem Vornamen
mit K. Ich notierte mir die Namen und die dazugehörigen
Nummern mitsamt der Straße auf die Rückseite einer
Zeitung und zog an meiner Zigarette. Ich schloss die
Augen und dachte an Luzern, dachte an Katharina, an
Marlene und auf einmal klingelte mein Handy.
69
Kerrs Nummer erschien. Ich ging nicht dran, wartete
bis es ausgeklingelt hatte und rief dann zurück.
„Kerr.“
„Mertens. Sie hatten angerufen?“
„Ja, wie geht’s ihnen, kommen sie voran?“, fragte er,
ohne es wissen zu wollen. Ich erkannte sein Desinteresse
an der Intonation sofort.
„Ja gut, ich komme voran, alles bestens“, antwortete
ich ihm ohne die Lust zu haben ihm etwas erklären zu
wollen.
„Wie ist der Text?“, fragte er.
„Schwierig, typisch Bachmann, ich kann noch keinen
roten Faden erkennen, aber ich bin ja noch am Anfang.“
„Gut gut, aber der eigentliche Grund ist eigentlich ein
anderer. Und ich finde, das sollten sie wissen.“
Ich hatte ja damit gerechnet, wie gesagt.
„Und der wäre?“
„Es gibt eine offizielle Todesursache.“
„Ja, und?“
Man hörte wie Kerr, dieser Teufelskerl, an seiner Zigarette zog und lange inhalierte. Es war wie immer. Alles
musste bedeutungsschwanger gesagt werden. Nichts war
normal, nichts war nur beiläufig.
„Nun, es ist so wie vermutet. Es hat sich das Leben
genommen. Es gibt zwar noch keine Leiche, aber der
Abschiedsbrief ist von ihm. Auch wenn seine Frau… wie
heißt sie noch... Marianne…?“
70
„Marlene“
„Ja genau, auf jeden Fall bestreitet sie dies und behauptet, dass dieser nicht echt sei. Ich denke, das sollten
sie wissen, Mertens. Die Hinweise sind aber eindeutig. Er
fuhr mit seinem Boot auf den See hinaus, band sich mit
einem Seil fest und band obendrein eine schwere
Steinstatue - eine Phönixfigur - aus Granit aus seinem
Garten - an sein Bein, als Beschwerung. Die Steinfigur
wurde mittlerweile wieder gefunden und darauf wurden
DNA Reste von ihm entdeckt, auch kleine Blutflecken
und Hautabschürfungen wurden im Labor festgestellt.
Sogar Fasern seiner Kleidung waren darauf zu finden“.
„Danke für diese Information, das ist gut. Ich wollte
morgen eh Frau Bachmann besuchen.“
„Marlene? Wegen des Buches?“
„Ja, ich habe ein paar Fragen an sie, bezüglich der Übersetzung.“
„Verstehe, sagen sie ihr einen schönen Gruß. Vielleicht kennt sie mich noch.“
Wir verabschiedeten uns und legten auf.
Ich dachte nach, warum sich so ein Mensch wie
Bachmann sich wohl umbringen würde und dann auf so
eine Art. Im Wasser, durch Ertrinken, mit einer Steinfigur
einer Phönix. Wie theatralisch. Unwürdig kam mir in den
Kopf. Eines Schriftstellers unwürdig.
Gegen Mittag, nach einer wärmenden Gulaschsuppe
von Frau Fink, die sie übrig hatte, übersetzte ich noch ein
71
paar Seiten (insgesamt war ich bis Seite 12 gekommen).
Von dieser M, die anfangs erwähnt wurde, schrieb er jetzt
nicht mehr, es war eher sehr zusammenhangsloses Zeug
und an einem Absatz am Ende der elften Seite fiel mir
etwas Besonderes auf.
[...] Es war nicht immer das Leichteste und Praktikabelste, aus dem Leben das Notwendige zu ziehen. Oft war
es einfach nur die Erscheinung einer Notwendigkeit die,
wie eine andere Welt auszusehen versuchte […]
Das Wort „wie“ war unterstrichen. Anfangs fiel es mir
wegen Bachmanns ohnehin schon sehr theatralischer
Handschrift gar nicht auf, erst als ich die Zeile nochmals
las bemerkte ich es. Irgendwie erinnerte ich mich an etwas.
Ich dachte, dass ich in diesem Buch schon Mal so eine
Auffälligkeit erkannte, aber nichts dabei dachte.
Ich blätterte einige Seiten zurück und tatsächlich, es
war auf Seite 6 in mitten eines wirren Nominalsatzes.
Das Wörtchen „in“. Es war ebenfalls unterstrichen.
Ich notierte mir auf meinem Notizzettel diese zwei Wörter.
In und wie.
In wie, wie in.
72
~
Den Morgen nach meinem alleinigen Ausflug verbrachten wir zusammen am Luzerner See. Spazierten
einige Male an ihm herum, aßen dort in einem Lokal zu
Mittag und besuchten am späten Nachmittag noch einen
Wildtierpark in der Nähe. Katharina war enorm tierlieb
und brachte es wahrscheinlich als erster Gast fertig, jedes
Tier im ganzen Park mindestens einmal über den Kopf zu
streicheln. Auf dem Heimweg meinte sie, dass sie am
nächsten Morgen mit ihm frühstücken wolle, ob das OK
für mich wäre. Ich sprach an diesem Abend kein Wort
mehr zu ihr.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte war sie gerade
dabei, sich fertig zu machen.
„Aber begreifst du denn nicht, dass das ein Irrtum
ist?“
„Das ist kein Irrtum“, entgegnete mir Katharina.
Weiter kamen wir nicht. Ich spürte, dass die Sprache und
die Worte plötzlich bleischwer geworden waren und dass
keiner von uns in der Lage wäre, uns aus dem tiefen
Sumpf herauszuziehen, in dem wir gelandet waren.
„Ich hatte schließlich auch schon andere Frauen“,
sagte ich.
Katharina sagte nichts.
„Das bedeutet doch gar nichts“, fügte ich hinterher.
73
Sie holte tief Luft.
„Genau das ist der Unterschied, Edgar.“
„Was?“
„Ich habe nur einen gehabt, und das bedeutet alles.“
Ich gab keine Antwort.
„Den Wagen brauch ich aber heute, ich wollte raus nach
Kriens fahren und ein wenig wandern.“
„Passt gut, Georg wollte mich eh abholen“.
„Gut.“
„Ich wünsch‘ dir einen schönen Tag. Heute Abend
essen wir zusammen was Feines, OK?“
„Ja, Katharina“, sagte ich und ging steckte mir eine
Zigarette an. Ich sah vom Balkon aus einen dunklen Jaguar mit deutschem Kennzeichen auf unser Hotel zu fahren, mit einem scharfen Bremsmanöver hielt er vor dem
Eingang und ich konnte beobachten, wie Katharina, meine Frau, Georg Weith, ihrem Therapeuten, mit einem
Kuss begrüßte. Es war draußen so still, dass ich hören
konnte, wie er den ersten Gang einlegte, da begannen
meine Fingerspitzen zu schmerzen, ich drückte meine
Zigarette aus, warf sie vom Balkon, schloss die Tür und
ging ins Zimmer.
Ich musste etwa eine Minute lang husten.
74
13
Gleich nach dem Frühstück verabschiedete ich mich
von Katharina, machte ich mich auf den Weg und richtete
meine ganze Aufmerksamkeit auf alle Details der Fahrt
den Pass hinauf. Es war ein klarer Tag mit vereinzelten
Wolkenstreifen am Himmel und als ich oben angekommen war, konnte ich feststellen, dass es sich wirklich so
verhielt, wie ich es mir ausgerechnet hatte. Der einzig
kritische Punkt dieser Abfahrt, schien genau an der Ausfahrt vom Hotel zu liegen, aber gesetzt den Fall, dass
man nicht wegen eines Fahrzeugs draußen auf der Straße
anhalten musste, gab es auch hier keinen Grund, auf die
Bremse zu treten. Die Fahrt den Pass hinauf, enthielt ein
paar Haarnadelkurven, aber die Steigung war teilweise so
steil, dass ich nicht einmal darüber nachdachte, den Fuß
vom Gaspedal zu nehmen.
Ich fuhr weiter und hielt an einer kleinen Parkbucht
mit kilometerweiter Sicht über die Landschaft auf der
anderen Seite. Eine Touristentafel informierte darüber,
dass die Höhe über dem Meeresspiegel genau 1798 Meter
betrug und dass die umgebenen Gipfel bei fast 3000 Metern lagen. Ich setzte mich auf die Absperrung, rauchte
eine Zigarette und versuchte dem sich windenden Asphaltband hinauf zum Ort zu folgen, das ich eher erahnen
als sehen konnte. Der Weg tauchte auf, verschwand dann
wieder hinter Klippen und Felsvorsprüngen. Ein Stück
unter mir, nur wenige Kilometer entfernt, konnte ich die
75
künstlich wirkende glatte Oberfläche eines gigantischen
Staudammes sehen, über die ich in den Touristenbroschüren, die im Hotel auslagen, gelesen hatte. Ich glaube gelesen zu haben, dass sie bis zu einer Milliarde Kubikmeter Wasser fassen konnte. Ich drückte meine Zigarette aus
und fuhr weiter. Statt weiter zum Staudamm und zum
nächsten Ort zu fahren, beschloss ich, zunächst noch
einmal die Ausfahrt zu überprüfen. Ich bekam ein Hungergefühl und beschloss erst mal eine Pause zu machen.
Ich fuhr zurück nach Luzern, trank an einem Café am
Marktplatz ein Bier und machte mich wieder auf den
Weg nach oben. Auf diese Weiße passierte ich unser
Hotel zweimal, hielt aber nicht an, um den kritischen
Punkt an der Ausfahrt zu untersuchen. Ich wusste
schließlich nicht, ob Katharina immer noch in unserem
Zimmer war oder ob sie schon irgendwo in den Armen
von Georg Weith lag. Und es gab nichts, was dagegen
gesprochen hätte, dass sie beides tat. Dass sie in seinen
Armen in unserem Zimmer lag.
Mein zweiter Versuch bestätigte die Schlussfolgerungen aus dem ersten. Von Hotel bis zum Pass zwischen
dem Bergmassiv waren es knapp elf Minuten und ich war
kein einziges Mal auch nur in die Nähe des Bremspedals
gekommen. Soweit war alles in Ordnung, aber es blieb
natürlich noch der entscheidende Teil.
Die Abfahrt.
76
Ich brauchte fast drei Stunden um das wahrscheinliche
Szenario herauszufinden, und während dieser Zeit fuhr
ich nicht weniger als acht Mal die gleiche Wegstrecke in
jede Richtung.
Ich saß mehrere Male oben auf dem Parkplatz, rauchte
und überlegte. Um ein so realistisches Bild wie möglich
von dem Ganzen zu erhalten, versuchte ich wirklich,
mich so weit wie möglich nach unten zu begeben, ohne
die Bremsen zu benutzen, und die beiden letzten Male
riskierte ich offensichtlich mein eigenes Leben als ich im
niedrigsten Gang durch die Kurven brauste. Ich kontrollierte außerdem, ob es nicht irgendwelche Haltestreifen
oder andere denkbare Rettungsinseln auf der Strecke gab,
und mit verbissener Zufriedenheit konnte ich alle derartigen Möglichkeiten ausschließen.
Als Längstes gelang es mir die Straße gut einen Kilometer hinunter zu gelangen, aber das setzte auch allerhöchste Bereitschaft und den ersten Gang von Anfang an
voraus. Die vier ersten Kurven zu meistern, war nicht
unmöglich. Ich kam zu dem Schluss, dass sogar ein Fahrer unter Schock sie würde meistern können, und es war
auch gar nicht die Frage, ob irgendwelche Haarnadelkurven mit ein wenig Glück einen relativ sanften Stopp an
der Bergwand ermöglichten könnten.
Was danach folgte war umso schlimmer – eine bis zu
hundert Meter lange, sich kräftig neigende gerade Strecke
mit einer ebenso senkrechten Bergwand zur rechten Seite
77
und einem ebenso senkrechten Abgrund zur linken. Wie
ich es auch anstellte, es war unmöglich, die Geschwindigkeit vor der Rechtskurve, die am Ende der geraden
Strecke folgte, ausreichend zu drosseln, ohne die Bremsen zu benutzen. Als ich sie trat wurde der Wagen unhaltbar nach links gezogen, an eine streckenweise zerbröckelte, ungefähr dreißig Zentimeter hohe Steinmauer, den
einzigen Schutz hier, und ich zog schließlich die Schlussfolgerung, daraus, dass es hier, genau hier geschehen
würde.
Es ging hier wie gesagt, fast senkrecht nach unten,
und zwar ungefähr 80 Meter tief. Am Abgrund folgten
eine leichte Neigung, spitze Klippen, und Felsbrocken,
aber keine Vegetation – und anschließend das Beste von
allem: die bewegungslose, matte Oberfläche des Stausees. Insgesamt also eine Fallhöhe von insgesamt einhundert Metern. Der eine oder andere Stoß gegen die
Steine und dann platsch hinein, in eine Milliarde Kubikmeter grünen Schmelzwassers.
Nein, es war absolut kein Problem sich das vorzustellen.
Ich aß in Luzern zu Abend, schrieb ein paar Postkarten an Freunde und Bekannte und erzählte ihnen wie
herrlich wir es in unserem Urlaub hatten. Als ich zum
letzten Mal über den Pass fuhr, hatte ich bereits damit
begonnen, über die technischen Aspekte des Unternehmens nachzudenken, mit Maschinen und Autos hatte ich
78
immer schon und umgehen können, und ich wusste, dass
es mir kaum größere Mühe bereiten würde. Das einzige
was vielleicht ein wenig Köpfchen und Planung erforderte, war die Frage wo ich es machen konnte. Trotz allem
brauchte ich ein paar Minuten Zeit um ungestört arbeiten
zu können, aber ich war überzeugt davon, dass auch dieses Detail geklärt werden würde.
79
14
Es wurde mit jedem Tag spürbar kälter. Kein Monat
kann sich wie der Januar bis in alle Ewigkeit erstrecken.
Meine Tage glichen sich bis auf das Abendessen. Ich
stand gegen 8 Uhr auf. Frühstückte nichts, ging um 9 in
die Bibliothek, aß um 12 Uhr ein Brot zu Mittag und
verlies gegen 16 Uhr meine Arbeitsstätte wieder. Auf der
Heimfahrt mit der U-Bahn versuchte ich an Katharina zu
denken. Jedoch kamen mir immer wieder die einzelnen
Zeilen und Abschnitte in Bachmanns Buch in den Kopf.
Diese Irrungen, diese Verwirrungen. Ich bekam davon
keine gute Laune und war meistens sichtlich erschöpft als
ich zurück in die Pension kam und Frau Fink begrüßte.
Ich streichelte Matthias über den Rücken und duschte
mich ausgiebig.
Ich nahm meinen Zettel mit den Adressen und Nummern, die ich aufgeschrieben hatte und rief bei allen drei
vorher an. Beim Ersten war besetzt, ich markierte die
Nummer mit meinem Stift, beim zweiten meldete sich
eine Frau Karoline Mertens und beim Zweiten eine ältere
Frau, die ich kaum verstand. Ratlos sank ich im Sessel
ein. Ich nahm mir vor, zur ersten Adresse zu fahren. Ich
musste der Sache auf den Grund gehen. Ich bestellte mir
ein Taxi und fuhr in die Baumstraße. Es war ein Häuserblock, wahrscheinlich in den 80ern gebaut. Keine großen
80
Schönheiten. Berliner Tristesse. Ich ging an das Haus mit
der Nummer 17 und schaute mir die Klingelschilder an.
Pauline und Eduard Reus
René Schwakowiak
Sophia A. Arnheim
K. Mertens
Ich klingelte und mir wurde geöffnet. Ich lief und
blieb vor der Tür stehen. Drinnen hörte man Kinder spielen. Es wurde mir aufgemacht. Ein Mann, etwa Mitte
Zwanzig und eine Frau, wahrscheinlich gleichen Alters
öffneten mir. Mein Plan war nicht unbedingt gut. Ich gab
mich als Holger Steinsen zu erkennen und gab an, von
der GEZ zu sein. Die Tür wurde mir wieder zugeschlagen, was auch nicht schlimm war, ich hatte meine Informationen ja bekommen. Und diese war negativ.
Als ich aus dem Haus stieg fing es an zu regnen und
ich lief ca. 20 Minuten bis zur nächsten Bushaltestelle.
Nach ein paar Metern fiel mir jedoch ein Mann hinter mir
auf, den ich am Tag vorher schon gesehen hatte. Er war
etwa zwei Meter groß, breite Schultern trug einen
schwarzen Mantel, eine schwarze Hose und Stiefel, sein
Auftreten erinnerte mich ein bisschen an Gert Fröbe in
seinen späteren Filmen. Ich lief weiter, hielt jedoch hier
und da vor einigen Schaufenstern, und bemerkte, dass
auch er stehen blieb. Ich lief schneller und erwischte den
Bus gerade noch so. Der Mann drehte sich beim vorbei
81
fahren weg. Ich konnte ihm leider nicht ins Gesicht sehen.
Den Abend ließ ich bei einer Flasche Wein und Nüssen ausklingen. Ich war jetzt schon über eine Woche hier,
von Katharina fehlt noch immer jede Spur, ich werde
morgen Nowak anrufen und das ganze abblasen. So hatte
ich es vor.
~
Die letzten Tage in Luzern vergingen wie im Flug.
Am Abend vor dem Unfall, gleichzeitig der vorletzte Tag
des Urlaubes, blieben wir noch lange wach und saßen auf
dem Balkon, beobachteten den Sonnenuntergang und
genossen die angenehme Wärme des Schweizer Sommers. Ich hatte vorgeschlagen noch eine Runde Schach
zu spielen, doch sie wollte nicht. Sie wollte die letzten
Tage nicht mit Denken verbringen, sagte sie. Sie trank
ein Glas Wein, griff nach ihrem Handy und verschwand
lautlos durch die Tür nah draußen. Die letzten Tage.
Vom Balkon aus konnte ich sie beobachten. Sie wusste, dass ich sie sehe, sie lief schließlich am Haus und
unserem Zimmer vorbei. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht. Ein Lächeln, das ich an Katharina schon lange
vermisst hatte. Sie gestikulierte mit den Händen und
82
plötzlich, ich nahm gerade an einem der hölzernen Gartenstühle Platz als sie ein gewaltiges Lachen hervorstieß.
Ich spürte mein Herz brennen und ging ins Bad, wusch
mir die Hände und klatschte mir einige Ladungen Wasser
ins Gesicht. Danach schlug ich einige Male mit der flachen Hand gegen die Fliesen.
Als sie wieder hoch kam, erzählte sie mir, dass sie den
letzten Tag
noch mit Georg verbringen will.
„Ich werde recht früh losfahren, damit ich auch recht früh
wieder hier sein kann, damit wir noch gemeinsam zu
Abend essen können“, sagte sie. Wie löblich von ihr,
dachte ich.
„Ist OK, ich geh noch ein bisschen spazieren. Bisschen Gedanken fliegen lassen.“
„Ja, tu das, du wirkst heute sehr reizbar, rauch eine, dann
geht’s dir besser, Eddy.“
Ich erinnere mich auch noch, dass sie zu mir kam und mir
für eine Sekunde die Hand auf die Schulter legte, doch
das war ein flüchtiges vorübergehendes Phänomen, und
mein Blick blieb weiter gesenkt.
„Bis später“
„Gute Nacht.“
Ich ging aus der Tür, zog mir die Schuhe aus, so dass
ich nur mit den Socken über den Flur huschen konnte. Ich
musste jetzt so leise wie möglich sein. Ich nahm statt dem
Fahrstuhl die Treppe und ging unbemerkt zu meinem
83
Auto, das glücklicherweise hinter dem Hotel stand, wo
kein Licht brannte. Die Fenster waren alle dunkel.
Das Abklemmen eines Bremskabels ist keine große
Sache. Es ist sogar ziemlich einfach. Ich wusste, dass der
Hausmeister seine Werkzeugkammer immer offen stehen
ließ, so hatte ich Zugang zu allen möglichen Zangen und
Messern.
Als ich wieder schweißgebadet in unser Zimmer zurückkam, schlief wie erwartet Katharina schon tief und
fest. Ich ging ins Bad, trocknete mein verschwitztes Gesicht ab und legte mich zu ihr. Sie wachte kurz auf und
schmiegte ihren Rücken an meine Brust. Ich bekam eine
starke Erektion und legte meinen Arm um sie.
Morgen, dachte ich.
Morgen früh ist es soweit.
84
15
Das Einzige was sie hinterließ, waren ein paar rote
Strähnen auf dem Kopfkissen und ein schwacher Duft
nach Chanel No. 5.
Ich weiß noch jede Einzelheit dieses Morgens.
Gegen 3 Uhr schlief ich endlich ein. Ich träumte von Erik
und seiner Schwester Sonja. Sonny, wie ich sie früher
immer rief. Wäre sie nicht die Schwester meines besten
Freundes, hätte ich mich wohl in sie verliebt.
Am nächsten Morgen war ich eine Zehntelsekunde geschockt über den Zustand, dass ich alleine im Zimmer
war. Dann fiel es mir allerdings auch gleich wieder ein.
Tränen fingen plötzlich an, mir übers Gesicht zu laufen. Ich stand sehr früh auf, sah dass der Audi nicht mehr
auf seinem Platz stand und dachte, dass ich meiner Frau
keine Worte zum Abschied sagen konnte. Ich konnte sie
nicht mehr warnen.
Ich ging ich wieder zu Bett. Lag eine Weile dort und
versuchte in den beiden Büchern zu lesen, die ich gerade
als Lektüre dabei hatte, aber es fiel mir schwer, mich zu
konzentrieren. Stattdessen, stand ich auf und nahm eine
lange, heiße Dusche, während ich überlegte, wie ich diesen Tag rumkriegen sollte. Schließlich entschloss ich
mich zu einem Spaziergang am Fluss entlang. Das Bedürfnis, mich zu bewegen, war überdeutlich und das Wet85
ter bedeutend besser als während meiner Exkursion vor
ein paar Tagen.
Ein leichter Morgennebel hing über dem merkwürdigerweise fast leeren Hotelparkplatz, die Sonne ging über
der Stadt gerade auf, und das einzige Lebenszeichen
stammte von den Vögeln über den Feldern, die den Ort
umgaben. Der Duft eines frisch gemähten Kornfeldes
stahl sich in meine Nasenlöcher. Das Licht blendete mich
und zitterte über den Asphalt. Aus der Ferne, einige Kilometer weiter konnte ich das sture Summen der Autos
auf der Schnellstraße hören, die die offene Landschaft
durchschnitt.
Die Sonne stieg höher und ich legte eine kleine Pause
ein. Wollte vor mich hinpfeifen, kam aber auf keine Melodie. Das Morgenlicht, war einfach zu stark. Ich überlegte mir, dass eine dunkle Sonnenbrille eine Hilfe sein
könnte, vielleicht könnte ich mir unten in der Stadt eine
kaufen. Ich legte mir die Hand in die Stirn, kniff die Augen zusammen und betrachtete die Silhouetten im scharfen Licht. In diesem Moment fingen irgendwelche Kirchenglocken zu läuten an.
Es wurde ein schöner Tag. Mehr als vier Stunden
wanderte ich an dem viel Waser führenden Fluss entlang.
Machte hin und wieder kurze Pausen, während der ich
mich auf einen Stein setzte, die beeindruckende Natur
betrachtete und den Anglern zuschaute, die ihre Präzisi86
onsangeln in das brausende Wasser warfen. Als ich nach
etwa zweieinhalb Stunden eine Rast machte und mir eine
Zigarette anzündete, sah ich, wie ein Mann, vollgepackt
und mit einem langen Baumstock in der Hand auf mich
zu kam.
„Grüezi“, hörte ich ihn sagen, während ich gerade in
mein Wurstbrot biss.
„Hallo“, grüßte ich zurück und hob meine Hand.
„Der HSV hatte aber auch schon bessere Tage gehabt,
oder?“
Der bärtige Mann, geschätzt um die 60, erkannte den
Aufnäher auf meinem Rucksack. Meine Frau schenke ihn
mir, als wir noch zusammen in Hamburg wohnten. Ein
Mann in Hamburg muss ja schließlich Fan des Hamburger Sportvereins sein, wahrscheinlich hatte sie dies aus
einer ihrer vielzähligen Frauenzeitschriften gelesen. Ich
bekam ihn zu irgendeinem Geburtstag geschenkt und ließ
ihn auf meinen Wanderrucksack nähen. Das Blau
hübschte den Rucksack auf. Das kann man nicht leugnen.
Man kann nicht sagen, dass wirklich eine Konversation stattfand. Er sprach in seinem mit unverständlichen
schweizerdeutsch, während ich nur nickte, ja sagte und
mein Brot weiter aß. Ich wusste nicht ob er was fragte
oder er mir nur die schönsten Wanderwege der Zentralschweiz erklärte. Ich verstand nur böhmische Dörfer und
irgendwann, ich bekam es gar nicht mit, war er plötzlich
verschwunden. Seinen Namen hatte ich auch sofort wie87
der vergessen. Das einzige was ich noch von ihm weiß,
war sein akkurat geschnittener Bart. Insgesamt begab ich
mich wohl fünf Kilometer stromaufwärts, wo ich ein
kleines Café mit angeschlossenem Souvenirladen fand.
Ich aß dort ein Brot und trank zwei Gläser Bier, durstig
von der Anstrengung und dem heißen Wetter. Kaufte
auch noch ein paar Ansichtskarten und unterhielt mich
eine Weile mit dem Besitzer, einem fülligen, gemütlichen
Tiroler, der ziemlich herumgekommen war, wie sich
herausstellte.
Wieder zurück im Tal, aß ich im Gasthof „Tannenwirt“ zu Mittag, lief eine Weile herum und schaute mir
die Läden an, und als ich durch die Hoteltür ging, zeigte
die Uhr bereits sieben Uhr abends. Die Frau am Empfang
begrüßte mich wie üblich aus ihrer Portiersloge, fragte ob
ich einen schönen Tag gehabt habe, und ich antwortete,
dass er sehr anregend gewesen sei.
„Ist meine Frau schon zurück?“, fragte ich.
„Noch nicht.“
Sie schüttelte den Kopf, und möglicherweise gab es
einen kleinen Riss in ihrem Lächeln. Vielleicht hatte sie
schon registriert, dass wir ungewöhnlich viel Zeit getrennt voneinander verbrachten, ich und meine Frau. Ich
nickte aber vollkommen unbeschwert und nahm den
Schlüssel entgegen, den sie über den blank polierten
Marmortresen schob.
Doch als ich oben auf dem Zimmer ankam, platzte
etwas in mir. Ohne Vorwarnung wurde ich von äußerst
88
heftigen Bauchschmerzen befallen. Wie scharfe Fleischermesser bohrten sie sich in meinen Bauch, besonders
in den Bereich direkt unter dem Nabel, und dann kam die
Übelkeit. Ich schleppte mich ins Bad, sank vor dem Toilettenstuhl auf die Knie, und bald hatte ich alles von mir
gegeben, was ich im Laufe des Tages gegessen hatte.
Anschließend wankte ich zurück ins Zimmer und fiel
erschöpft auf das Bett. Durch die Balkontüren, die angelehnt waren, hörte ich die Glocke der kleinen Kapelle am
Abhang unten halb acht schlagen. Zwei spröde Schläge,
die fast unangenehm lange Zeit über dem Tal zu hängen
schienen. Ich schloss die Augen und versuchte an gar
nichts zu denken.
Am Abend des folgenden Tages – es war ein Samstag
– erzählte ich der Hotelmanagerin, Frau H., dass meine
Ehefrau verschwunden sei. Und am nächsten Morgen, als
ich vom Frühstück aufstand, kam die Polizei ins Spiel.
Genau eine Woche nach diesem Gespräch ereignete
sich mein Zusammenbruch. Er ereignete sich, ohne jedes
Vorspiel, irgendwann zwischen drei und Vier Uhr in der
Nacht auf einen Dienstag. Zur Wolfsstunde also.
Ich erlebte Ihn, indem ich zunächst aufwachte und
nach ein paar schwarzen Sekunden mich in einem Fall
wiederfand. Ich fiel oder wurde vielmehr in ein schwarzes Loch hineingezogen. Ich fiel und fiel, die Geschwin89
digkeit war schwindelerregend, das Gefühl schrecklich.
Ich habe später versucht, es zu beschreiben, aber jedes
Mal haben die Worte mich im Stich gelassen. Und mit
der Zeit habe ich begriffen, dass es keine dafür gibt.
Man fand mich blutig und verletzt, aber immer noch
bei einer Art von Bewusstsein, auf dem Bürgersteig unter
meinem Schlafzimmerfenster, und es dauerte ungefähr
zehn Wochen, bis ich wieder ins gleiche Bett zurückkriechen konnte.
Ich möchte behaupten, dass ich zu diesem Zeitpunkt
ein anderer Mensch geworden bin.
90
16
„Nowak.“
„Ja hier, Mertens“
„Hallo Herr Mertens. Nun, wie sie sich sicher denken
können, habe ich bisher noch keine brauchbaren Fährten.
„Dachte ich mir, ich wollte ihnen sagen, dass wir das
ganze vielleicht lieber lassen sollen. Ich geben ihnen
trotzdem ihr Geld, das steht ihnen ja zu.“
„Jetzt warten sie mal, Mertens. Eine kleine Spur habe
ich noch, ein Strohhalm sozusagen. Ich kenne da jemanden, seinen Namen sage ich jetzt nicht übers Telefon,
aber er hat wohl einige mehr Informationen als ich. Sie
wissen schon.“
Ich verstand nur Bahnhof, bejahte aber.
„Und dieser Herr, Mertens, ist zurzeit leider im Urlaub in Griechenland, glaube Kreta, er kommt aber noch
diese Woche zurück und wird mir behilflich sein. Verstehen sie?“
Wieder bejahte ich.
„Wir können es natürlich trotzdem lassen, es ist ihre
Entscheidung. Aber Mertens, was haben sie zu verlieren?“
„Ja OK.“
„Gut, ich melde mich, sobald ich etwas höre“
Wir legten auf. Ich hatte aus dem Teil des Gespräches
mit Katharina und einem Mann, der gerade in Griechen91
land ist, nichts aber auch gar nichts verstanden. Aber ich
ließ es dabei. Ich wollte einfach nur Bachmanns dummes
Buch fertig bekommen und dann nichts wie zurück nach
Hamburg. Ich wollte nichts mehr von Katharina wissen,
die Suche war sowieso ein Tropfen im Wind.
Als ich an diesem Morgen in die Bibliothek trat – ja,
ich bin mir ziemlich sicher, dass es genau der 15. Februar
war - da hätte ich Bachmann am liebsten zur Hölle gewünscht. Wo er sich andererseits wohl bereits aufhielt.
Ich fuhr mit der Geschichte weiter fort. Nun kam ein
gewisser O ins Spiel Anscheinend eine Dreiecksgeschichte. Ich hielt mir den Kopf und war erstaunt, dass
Bachmann noch Geschichten mit Inhalt erzählen würde.
O war ein Bekannter des Protagonisten namens B und
gleichzeitig unterhielt er eine Affäre mit einer Frau namens M. so nahm ich das jedenfalls an. Ich trank meinen
Kaffee weiter.
[…]Dokumentation.
Und er selbst war es. B persönlich, der sie einander vorgestellte hatte. M und O vor vielen Jahren. Und als B am
Morgen aufwacht ist er verwirrt. Seit einiger Zeit scheint
alles verändert zu sein.
Während der flüchtigen Augenblicke, wenn die Pein und
die Wirkung des Cognacs nachlassen, beginnt B an die
Dokumentation zu denken. Wenn alles vorbei ist, darf die
Wunde sich nicht einfach schließen wie eine Fußspur im
92
Wasser. Jetzt. Eines Vormittags, es regnet, als sie auf
dem Markt Gemüse kauft, immer dieses Gemüse, das
nicht mehr als einen Tag alt sein darf, ihr Memento Mori,
da durchsucht er ihre Sachen, sie weiß, dass er das niemals tun würde, und hat sich gar keine Mühe gegeben,
etwas zu verstecken. Er findet Briefe, vier Briefe, drei
sind schon deutlich genug, der vierte eine Verschwörung.
Sie haben sich verschworen, tatsächlich, er spürt, wie
ihm die Schweißtropfen auf die Stirn treten, als ihm klar
wird, sie haben sie gegen sein Leben verschworen
Er hat sie geschlagen, sicher er hat seine Hand erhoben. [...]
Um 12 Uhr machte ich wie gewohnt meine Mittagspause. Doch irgendwas lies mich nicht los. Ich konnte
diesen Gedanken nicht benennen, aber ich hatte das Gefühl, das diese Geschichte noch weit mehr erzählte als
auf den ersten Blick zu sehen war. Zwischen den Zeilen.
Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und machte mich
weiter in die Arbeit. Es kamen gerade wieder Sätze von
unglaublicher Wendigkeit. Aber ich erkannte wieder was
[…] die helfende Hand der großen Meister[..]
Wieder ein unterstrichenes Wort.
Eine Seite später:
[…] die große majestätische Vollkommenheit des
römischen Kaisers […]
93
[…] vielerorts, doch auch an dem Platz des Raben,
gingen sie umher […]
Mir fiel mein Stift aus der Hand. Ich drehte mich um,
ich war fassungslos. Es war tatsächlich eine verschlüsselte Botschaft. Das war offensichtlich. Ich spürte, wie mein
Herz klopfte. Aber warum der falsche Kasus?
Ich brauchte einige Sekunden, um den Zusammenhang zu verstehen. Dafür war er, als ich ihn erst einmal
erkannt hatte, umso offensichtlicher. Der große Rabe,
war der Name einer Novelle eines relativ unbekannten
russischen Autors um die Jahrhundertwende. In mir stiegen zwei ziemlich widersprüchliche Gefühle hoch. Das
erste war Wut. Oder Gereiztheit, die zumindest an Wut
grenzte. Über so etwas unerhört Albernes. Warum in
diesen, fürchterlich schweren, teilweise fast unlesbaren,
geschweige denn unübersetzbaren Text etwas hineinschmuggeln? So etwas Billiges! Meine notdürftig unterdrückte Antipathie gegenüber Bachmann brach erneut
aus und ich weiß, dass ich einige Augenblicke lang mit
dem Gedanken spielte, das Manuskript einfach an Kerr
zurückzuschicken und sie aufzufordern, es doch zu verbrennen. Oder sich jemand anderen suchen, einen weniger sorgsamen Übersetzer.
Das andere Gefühl ist schwer zu beschreiben. Etwa in
Richtung Angst vielleicht, und mir wurde schnell bewusst, dass meine Empörung und meine Wut wohl in
94
erster Linie eine Abwehrmaßnahme gegen diese ziemlich
bedrohliche Empfindung waren. Eines dieser automatischen, willkürlichen Seelenpflaster.
Wie in der große Rabe?
Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Ich versuchte mich genau daran zu erinnern, wie die
Novelle endete, schaffte es aber nicht. Erinnerte mich
aber, dass in Kerrs Büro ein Exemplar davon in dessen
gut sortierten Bücherregal stand.
Ich packte meine Sachen zusammen, ging fast schon
beleidigt aus der Bibliothek und nahm die erste Bahn
Richtung Köpenick.
Ich trat ans Fenster meiner Wohnung und betrachtete
die Wirklichkeit dort draußen. Im Augenblick bestand sie
aus einem bleigrauen Himmel, einer dunklen Häuserfassade mit einer Reihe erleuchteter Schaufenster im Erdgeschoss. Das Geräusch einer Straßenbahn, die vorbeiratterte, ein paar Radfahrer, Autos die auftauchten und wieder
verschwanden und Straßenlaternen, die im Wind schaukelten. Gegenstände, die stehen blieben, und Gegenstände die sich auflösten. Ich erinnere mich an meine Gedanken, und ich erinnere mich, dass es schon damals kein
Wort für diese Gedanken gab. Ich glaube, niemals war
meine Verachtung der Sprache größer, als ich an diesem
Abend am Fenster über Berlin stand, Bachmanns Kursivierungen im Hinterkopf rumorend.
95
Nach einer Weile ging ich zurück zum Sessel, legte
mir Matthias auf den Schoss und saß eine ziemlich lange
Zeit mit ihm im Dunkeln. Dann ging ich hinaus und trank
mich zielstrebig in einigen der Kneipen in der nächsten
Umgebung um Sinn und Verstand. Meine Unruhe lag die
ganze Zeit wie ein irritierendes Flimmern unter der Haut,
ein unerreichbares Jucken, und erst lange Zeit später, viel
später in dieser Nacht, als ich hinauf schwankte und mich
in die Toilette erbrach, da ließ das Gefühl etwas nach.
Am nächsten Tag rief ich Kerr an.
„Kerr?“
„Ja, hier Mertens.“
„Oh, hallo Herr Mertens, wie läuft‘s?“, fragte Kerr.
„Ausgezeichnet, aber ich könnte ihre Hilfe gebrauchen.“
„Schießen sie los“
„Sie haben in ihrem Bücherregal „der große Rabe“
stehen.“
„Was habe ich?“
„Kerr, verdammt, hören sie mir zu, sie haben in ihrem
Bücherregal, dieses große Ding aus massivem Eichenholz
hinter ihnen, ein Buch stehen von irgendeinem Russen,
mit dem Titel ‚Der große Rabe.‘“
„Was ist mit ihnen los, Mertens?“
„Wie gesagt, alles ausgezeichnet, aber um weiter zu
kommen, benötige ich dieses Buch.“
„Sagt mir nichts, wie heißt das? Von wem?“
96
„Der große Rabe“
„Von wem ist das? Noch nie gehört.“
„Ich glaube er heißt Sokorov“
„Ach, Sokolov?“
„Oder so, ja“
„Ja, Moment“
Man hörte, wie Kerr den Hörer aus der Hand nahm.
Nach einigen Sekunden kam er wieder ans Telefon.
„Ja, ich hab‘s.“
„Gut, schicken sie mir das bitte zu. Am besten per
Express, wenn’s geht. Ich brauche das so schnell, wie
möglich.“
„Kein Problem Mertens, aber warum die Hektik?“
„Ich hab nicht gut geschlafen, entschuldigen sie.“
„Sonst alles gut bei Ihnen, brauchen sie irgendwas? Sie
hören sich nicht gut an.“
„Ja, einen offiziellen Bericht über Bachmanns Tod.“
„Hat das was mit dem Manuskript zu tun?“
„Nicht ausgeschlossen.“
„Ich schicke es ihnen heute noch zu, sollten sie morgen
haben.“
„Danke.“
An gewissen Tagen kann es vorkommen, dass man
abends als anderer Mensch ins Bett geht, als man morgens aufgestanden ist. Ich weiß, dass ich gerade noch
denken konnte, bevor ich an diesem ermüdenden Tag
einschlief -, dass es genau so ein Tag gewesen war.
97
17
Ich fror.
Ich parkte den Wagen und kurbelte die Seitenscheibe
herunter. Ich zündete mir eine Zigarette an und blieb
sitzen, während ich rauchte. Ich sollte aufhören mit dem
Rauchen, dachte ich. Aber in manchen Momenten, so wie
diese, ist dies unumgänglich. Ich ließ den Gedanken ihren
Lauf. Es war erst viertel vor, ich wollte nicht zu früh
kommen. Über der Mauer waren Teile des Hauses zu
sehen. Der erste Stock mit Balkon und Mansardendach.
Dunkle, englische Ziegel. Hohe Fenster mit grünen Läden. Alles zusammen im tiefen Schatten des dichten
Laubwerks des Parks. Zu beiden Seiten des schmalen
Asphaltwegs verliefen Reitwege. Die Mauer entlang plätscherte ein Bach, auf einer Holzbrücke ein Stück entfernt
saßen ein paar Saatkrähen auf einem kleineren Kadaver.
Vielleicht einem Fuchsjungen. Wann verlassen junge
Füchse ihren Bau? Ich hatte keine Ahnung.
Sie war groß gewachsen und schlank und schien sich
immer im Bewusstsein ihrer körperlichen Präsenz zu
bewegen. Ihr braunes Haar lag frisch gewaschen und
gekämmt auf ihren dünnen Schultern. Ihre Augen waren
glasig und blutunterlaufen. Sie musste kurz vorher wohl
geweint haben. Aber auch so sah sie wunderschön aus.
Sie trug ein trägerloses Hemd, und eine leichte Stoffhose,
man sah ihre rasierten dünnen Achseln und ich vermute98
te, dass sie Sekunden bevor ich geklingelt hatte noch
splitterfasernackt gewesen war, und wahrscheinlich nach
ich das Haus verlassen würde auch wieder sein würde.
„Herr Mertens, kommen sie rein“. Sie lächelte gezwungen.
„Hallo, Frau Bachmann“, begrüßte ich sie und gab ihr die
Hand. Ihre samtweiche Hand umschloss meine mit einem
festen, bestimmen Druck.
„Setzen sie sich, möchten sie etwas zu trinken?“
„Eine Tasse Kaffee vielleicht, aber nur wenn es keine
Umstände macht? – Draußen ist’s sehr kalt, meine Finger…“ Doch bevor ich meine Gedanken aussprechen
konnte, kam sie schon mit einer Thermoskanne aus Edelstahl um die Ecke.
„Gerade gekocht“, sagte sie. Ich glaube, ich konnte
ein mildes Lächeln erahnen.
„Mein herzliches Beileid“
„Danke“
Ich setzte mich.
Überall im Raum waren Bilder von Richard aufgestellt, manche hingen an der Wand, manche gerahmt auf
dem Schrank. Alles mit dem gleichen Gesichtsausdruck.
„Wie geht es Ihnen, Frau Bachmann?“
„Naja, was soll ich sagen. Haben sie schon Mal jemanden verloren, der ihnen wichtig war?“, fragte sie.
„Nein“, antwortete ich.
99
„Es ist furchtbar, ich habe das Gefühl, als wäre mir
der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Es zerreißt mich innerlich.“
Ich nickte und nahm einen Schluck Kaffee.
„Und wissen sie was?“, fragte sie mich.
„Hm?“
„Ich fühle mich dafür verantwortlich.“
„Warum? Wenn ich fragen darf.“
„Sie sind doch verheiratet, oder?“
„Ja“.
„Haben sie nicht ab und an auch dieses Gefühl, ihrem
Partner nicht zu genügen?“
„Ich kenne das, ja.“
„Sicher war ich ihm nicht genug.“
„Warum sollten sie?“
„Ich kann das nicht beschreiben, ich denke, er hatte
eine andere.“
„Aber warum sollte er sich dann umbringen?“
„Naja, ich glaube nicht, dass er das getan hat.“
Ich runzelte meine Stirn, reflexartig.
„Wieso nicht? Es gibt doch einen Abschiedsbrief, oder?“
„Naja, das schon, aber der ist maschinengeschrieben
und nur seine Unterschrift ist darauf – das kann man
leicht fälschen.“
„Hm.“
„Und solange diese Zweifel vorhanden sind, komme
ich nicht zur Ruhe. Ich glaube, er wurde ermordet. Die
Polizei geht von Selbstmord aus. Aber an seinem Ge100
burtstag?“
„Aber wer sollte es gewesen sein? Hatte er Feinde?“
„Ich weiß es nicht, vielleicht wünsche ich mir das
nur.“
„Ich denke, die Wahrheit wird früher oder später ans
Licht kommen, “ versuchte ich Marlene Bachmann zu
beruhigen.
„Ich hoffe es“.
„Frau Bachmann, ich habe, wie schon erwähnt, das
letzte Manuskript ihres Mannes erhalten, das ich gerade
übersetze. Ich denke, das sollten sie wissen.“
„Warum übersetzen? Warum nicht einfach in der Originalsprache veröffentlichen?“ Ihre großen Augen wurden
noch größer. Man merkte ihr an, dass sie es nicht verstand. Sie nahm eine Haarsträhne und wickelte sie um
Zeige- und Mittelfinger.
„Ich weiß es nicht, ganz ehrlich, keine Ahnung. Irgendwas will er damit bezwecken. Oder auch nicht, sie
kennen ja seine Texte.“
„Zu genüge.“
„Darf ich fragen, um was es geht?“
Normalerweise bleibt das ein absolutes Tabu. Ich
spreche nie mit anderen über ein unvollendetes Buch.
Aber aufgrund der Besonderheit dieser Situation, dem
Tod des Autors Richard Bachmann, Marlene Bachmanns
verheultes Gesicht und des Textes, ließ ich mich dazu
nieder, ein wenig zu erzählen.
101
„Ich bin noch nicht weit, aber es handelt sich wohl um
eine Liebesgeschichte. Mehr weiß ich selbst noch nicht.“
Frau Bachmann nickte und schlürfte ihren Kaffee und ich
war mit meiner Antwort sehr zufrieden. Eine Liebesgeschichte, genau. Nicht mehr aber auch nicht weniger.
„Er hat sich in den letzten Jahren sehr verändert, er ist
nicht mehr der Richie Boy wie damals, als ich ihn geheiratet habe.“
„Was ist passiert?“, fragte ich.
„Er bekam Depressionen, aber fragen sie mich nicht
woher oder warum. Ich kann es ihnen nicht erklären.
Anfangs zeigte sich das nur, als er nichts zu schreiben
hatte. Als er ideenlos war. Er fing an, sich zurück zu ziehen, alleine abends weg zu gehen, da dachte ich schon
daran,
dass
er
eine
Andere
hatte.
Naja, wie auch immer, er zog sich jedenfalls immer
mehr zurück, schloss sich zum Arbeiten ein und verschloss die Räume, was er früher nie gemacht hatte.“
„Hat er jemals darüber gesprochen, wie schlimm es in
ihm aussieht?“
„Nein, das heißt, naja, vielleicht durch seine Bücher.
Die wurden immer schwärzer, aber ich muss gestehen,
ich habe seine Bücher nie zu hundert Prozent verstanden.
Manche habe ich auch nicht fertig gelesen, weil sie mir
zu anstrengend waren. Vielleicht war das der Fehler.
Vielleicht wäre die Antwort auf seinen Charakter in seinen Büchern zu finden. Was meinen sie, Herr Mertens.
102
Sie kannten Ihn doch auch, oder?“
„Von Kennen würde ich nicht gerade sprechen. Ich
habe ihn zwei bis dreimal getroffen, er wirkte immer sehr
in sich gekehrt, verschlossen gar abweisend. Aber ich
dachte, dass er eben immer so wäre.“
Sie nickte.
„Eine schwermütige Persönlichkeit eben“, sagte Marlene
Bachmann.
„Hatte er zu ihnen irgendwas vor seinem Tod gesagt?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Es gibt nur diesen Brief“, sagte sie, „aber wie gesagt, ich
glaube nicht dass er von ihm ist. Das LKA allerdings
schon.“
„Warum sollte er nicht von ihm sein?“
„Weil er so etwas nie und nimmer schreiben würde, das
passt nicht zu ihm. Ich glaube, er wurde ermordet, oder es
ist ihm was passiert, oder er musste diesen Brief schreiben, verstehen sie? Ich glaube nach wie vor, dass eine
andere Frau damit zu tun hat.“
Ich nickte.
„Vielleicht steht in seinem Buch, dass sie gerade
übersetzten was, dass Klarheit darüber schaffen würde?“,
fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
„Rein fiktional“, antwortete ich.
„Wann haben sie ihn zuletzt gesehen?“, fragte ich sie,
dabei klang es fast ungewollt vorwurfsvoll. Ich muss
mich mehr unter Kontrolle haben, dachte ich.
103
„Ach, nennen sie mich Marlene.“
„Edgar, angenehm.“ Das war mir in der Tat mehr als
angenehm.
„Also, Marlene, wann hast du ihn das letzte Mal gesehen? Hat er da was zu dir gesagt.“
„Hm.“
„Wir müssen nicht darüber sprechen.“
„Hm… doch… warte.“
Sie stand auf, ging an mir vorbei, ich atmete ein und vernahm ihren Duft, der mich leicht an Lavendel erinnern
ließ. Ich schloss die Augen.
Sie kam wieder mit einem Taschentuch, mit dem sie sich
die Augen trocken gewischt hatte.
„Also, Edgar, verzeih. Das letzte Mal war am Abend
vor seinem…“
Ich nickte leicht und sah wie sich wieder ihre Augen mit
Tränen füllten. Am liebsten wäre ich aufgestanden und
hätte sie in den Arm genommen. Aber ich musste auf
Distanz bleiben.
„Wir haben gefeiert und uns gestritten.“
„Um was ging es bei dem Streit, Marlene?“
„Naja, es war so.“ Sie nahm einen Schluck aus ihrer
Tasse.
„Wir hatten in seinen Geburtstag gefeiert. Sein Verleger, Herr Büchner war noch da und wir hatten alle sehr
viel getrunken, es war ein schöner Abend.“
Ich nickte.
104
„Bis er, also Richard, so viel getrunken hatte, dass er
kaum noch stehen konnte, er kam dann zu mir her, nahm
mein Gesicht in beide Hände, drückte es zu und schrie
mich an.“
„Was schrie er?“
„Dreckige kleine Schlampe“, hat er gesagt. „Dann ließ er
mich los, ging in sein Arbeitszimmer, in dem eine Couch
steht und schloss sich ein. Wir, also Herr Büchner und
ich machten uns nichts daraus. Er war manchmal etwas
aufbrausend, wenn er trank.“
„Was ist dann passiert“, wollte ich wissen.
„Dann räumten wir ein bisschen zusammen und gingen
schlafen. Ich im Schlafzimmer und Herr Büchner im
Gästezimmer übrigens. Wir hatten alle sehr viel getrunken.“
Ich nickte.
„Und am nächsten Morgen?“
„Am nächsten Morgen stand ich spät auf, verabschiedete
mich von Herrn Büchner und klopfte an Richards Arbeitszimmer. Ich wollte wissen, ob alles wieder in Ordnung ist. Aber die Tür war offen und auf dem Schreibtisch lag nur dieser verdammte Brief.“ Sie nahm sich eine
Zigarette aus der Packung und zündete sie sich an.
Ich nickte und nahm einen Schluck Kaffee; ließ das ganze jedoch unkommentiert. Was sollte ich auch schon
sagen. Ihr Mann ist tot, wer bitte kann da auch nur einen
Ton richtig sagen.
105
Marlene Bachmann war Kettenraucherin und im
Nachhinein könnte man sogar sagen, es war eine Kunst,
den Rauch so auszublasen wie sie es tat. In den Sekunden, die wir uns anschwiegen musterte ich sie von oben
bis unten während sie aus dem Fenster starrte und den
Rauch ausblies. Wahrscheinlich wird sie zehn Sekunden,
nach dem ich aus dem Haus bin, wieder nackt sein.
Höchstwahrscheinlich, dachte ich.
Als wir uns verabschiedeten – es gab eine kurze Umarmung -, ich in der U-Bahn saß und die Welt an mir
vorbeirauschen sah, dachte ich erneut an ihre zarten Achseln, und ich sah ihr Gesicht und die dünnen Nasenflügel
vor mir. Den Lavendelgeruch hatte ich immer noch in der
Nase, gepaart mit dem Gestank von Zigarettenrauch.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich unter anderen
Umständen problemlos in sie hätte verlieben können.
Aber nur unter anderen Umständen natürlich.
106
18
Die Polizei, stellvertretend durch Herrn Wyss, ein
braungebrannter hagerer, etwa 55 Jahre alter Mann und
ein Kollege, der durch seine hohe Stirn aussah wie ein
Käfer, mit einem unaussprechbaren osteuropäischen Namen und starken schweizerdeutschem Akzent, fragten
mich an diesem heißen Augustmorgen aus.
„Sie sind also Edgar Mertens.“
„Ja.“
„Der Ehemann von Katharina Mertens.“
„Ja.“
„Wann haben sie ihre Frau das letzte Mal gesehen?“
„Am Abend vor zwei Tagen.“
„So so.“ Er machte sich Notizen
„Was haben sie da gemacht?“
„Naja, wir waren zusammen essen, danach bin ich
noch ein wenig spazieren gewesen und etwa eine Stunde
später bin ich zurück auf mein Zimmer.“
„Wo sind sie hin spaziert?“
„Ich lief ein wenig die Straße entlang und rauchte ein
oder zwei Zigaretten. Einfach die Beine vertreten nach
dem schweren Essen.“
„Beine vertreten, OK“.
Ich beobachtete ihn, wie er etwas in seinen Block schrieb
und das heftig mit seinem Stift heftig umkreiste.
„Und danach sind sie wieder ins Hotel zurück?“
„Ja, wie gesagt.“
107
„Da war ihre Frau schon im Bett, ja?“
„Ja.“
„Und es war nichts Auffälliges?“
„Nein.“
„Und dann?“
„Naja, ich bin irgendwann eingeschlafen und als ich am
nächsten Tag aufwachte, war sie weg.“
„Und das Auto auch?“
„Ja, Ich dachte, vielleicht ist sie Brötchen holen gegangen
oder was einkaufen…“
„Was für ein Auto war das?“
„Ein weißer Audi A5“
„Nummernschild?“
„HH – KE 7731“
„Hatte sie irgendwas gesagt, dass sie darauf schließen
könnten, sie würde das Hotel verlassen?“
„Nein.“
„Gab es einen Streit vielleicht? Oder eine kleine Unstimmigkeit?“
„Ich schüttelte den Kopf.“
„Merkwürdig. Die Pförtnerin, Frau R hat sie nicht
gehen sehen. Allerdings fing ihre Schicht auch erst um 7
Uhr
an.“
„Dann ging sie wohl vorher.“
„Hatte ihre Frau Feinde? Gibt es jemanden der ihr
etwas Böses angetan haben könnte?“
„Ich wüsste nicht.“
„Was macht ihre Frau eigentlich beruflich, Herr Mer108
tens?“
„Sie war, Entschuldigung, ist Lehrerin, aber in Hamburg,
in Deutschland.“
„OK.“
Sie kopierten einige Fotos von Katharina aus meiner
Brieftasche für eine Fahndung nach ihr und entließen
mich wieder. Ich gab Ihnen alle Informationen, die sie
benötigten. Die Sache mit Weith erwähnte ich jedoch
nicht.
Drei Tage später, am Donnerstag, rief ich noch einmal
bei Herrn Wyss an und teilte ihm mit, dass ich nun wieder zurück fahren würde. Ich gab ihm meine Adresse und
Rufnummer in Hamburg an, damit er mich erreichen
konnte.
~
Einen Tag später lag ein Brief von Kerr vor meiner
Pensionstür. Ich öffnete meine Tür und danach den Brief,
holte das Buch heraus und fing an es zu lesen. Ich musste
die genaue Geschichte kennen.
Nach etwa drei Stunden und zwei deftigen Kohlrouladen später – Frau Fink hatte mir von ihrem Abendessen
etwas übriggelassen - war ich ein wenig schlauer.
Es war eine ziemlich kurze, tragikomische Geschichte
über einen Schriftsteller, der ausgerechnet auf dem Hö109
hepunkt seiner literarischen Laufbahn von Zwangsvorstellungen heimgesucht wird und glaubt, dass seine Ehefrau ihn ermorden will. Er wird verrückt und erhängt sich
im Dachboden seiner Wohnung. Ich legte das Buch zur
Seite und ging ans Fenster. Sokolow, der Autor dieser
Geschichte wurde einige Tage nach Fertigstellung erschossen in seiner Wohnung aufgefunden, der Mörder
und die Tatwaffe wurden nie aufgefunden und der Mord
wurde nie aufgeklärt.
Orientierungslos wie ich war, ging ich zu Frau Fink
und fragte sie, ob sie Lust hätte einen Cognac mit mir zu
trinken. Sie bejahte, bestand allerdings darauf den zu
trinken, den sie noch da hatte. Wir hörten BeatlesSchallplatten und sie erzählte mir Geschichten von früher, so vergaß ich das ganze Dilemma um mich herum
und als ich morgens aufwachte, hatte ich vergessen, wie
ich ins Zimmer gekommen war.
Auf meinem Nachttisch lag ein Zettel.
Ich habe ihre Kleidung in die Wäsche getan.
KF
110
19
Am Strand brennt ein Lagerfeuer.
Ich nehme an, dass die Jugendlichen, die drum herum
sitzen singen und geharzten Wein trinken, sich nicht besonders von der Wirklichkeit geplagt fühlen. Die meisten
sind nackt, wie dem auch sei, und gestern Nacht, gerade
als ich zu Bett gehen wollte, konnte ich beobachten, wie
sich zwei von ihnen direkt unter meinem Balkon paarten.
Es geschah still und innerlich, das Mädchen saß auf dem
Jungen und es fiel mir schwer, das Bild von meiner Netzhaut zu verbannen, als ich mich ins Bett legte und versuchte einzuschlafen. Wahrscheinlich verhält es sich so,
dass ich nichts dagegen hätte, eine Frau im Mondlicht am
Sandstrand zu lieben, oh nein.
~
Es regnete stark, als ich aus dem Haus ging und mich
in die U-Bahn Richtung Innenstadt setzte. Ich lief zur der
Adresse, die mir Nowak gab und sah mir die Klingelschilder an.
Die kommenden Tage versuchte ich nicht meiner Arbeit nach zu gehen, auch nicht der Suche nach Katharina.
Ich versuchte meinen Kopf etwas frei zu bekommen.
Eine Leere einfließen lassen, wie es Erik gesagt hätte.
111
Ich stand morgens auf, frühstücke reichhaltig zusammen mit Frau Fink, während ich die Tageszeitung ließ.
Danach fuhr ich entweder ins Berliner Zentrum und spazierte dort ein wenig umher, ging in Museen und besuchte ein paar Ausstellungen, einmal ging ich sogar ins Kino
– oder ich lief raus zum Müggelsee und lief dort ein wenig umher.
Nach vier Tagen – es war ein Donnerstag – ging ich
wieder in die Bibliothek. Mein Geist war wach, meine
Gedanken frei und der Kaffee in meiner Hand roch fantastisch. Ich schlug Bachmanns Manuskript auf und
machte dort weiter wo ich aufgehört hatte.
Nach etwa drei komisch abgedrifteten Seiten kam
folgender Abschnitt, der mich fast am Kaffee verschlucken ließ.
[…]
O hat es auf mich abgesehen. Aber nicht nur er. Auch
meine neugewonnene, sogenannte Liebe meines Lebens,
will mich um die Ecke bringen. Um die Ecke, genau. Sie
lesen richtig. Kein Schein, kein Trug, es liegt auf der
Hand. Ich habe seine ach so lieben und verständnisvollen
Briefe alle gelesen. Vier Stück. Man kann es nicht leugnen. Meine über alles geliebte M wird mich ermorden.
Wie sie es vollbringen wird, weiß ich noch nicht, ob sie
mich erschießen, oder meinen Kopf abschlagen werden?
Vielleicht ertränken sie mich ja einfach im nächst gele112
genen Tümpel. In meinem neuen Kahn. Die Gespräche
darüber habe ich alle schon mitangehört. Der vierte Brief
ist der Beweis. Dort steht alles drin.
Der Tag, an dem sie wieder ihr verdammtes Gemüse
gekauft hat. Ich kopierte die Briefe, das corpus delicti
und vergrub sie unter der Sonnenuhr hinter meinem
Landhaus. Man muss Beweise haben. Im Kirchgartenhof
liegen sie.
[…]
Ich ließ meinen Stift fallen und sah mich um. Versicherte mich, dass nicht zufällig ein Zaungast hinter mir
stand und mit las, was ich gerade schrieb. Ich las es noch
mal. Um genau zu sein, las ich es noch zehn Mal deutlich
und versuchte, alles abzuwägen, es nicht doch falsch zu
verstehen oder falsch übersetzt zu haben. Oder vielleicht
ein Wörtchen zu überlesen. Aber es stimmte genau so.
Ich muss zugeben, dass ich die Tage vorher, also bis
zu meiner viertägigen Auszeit, einmal kurz genau daran
denken musste. Aber ich schob das ganze schnell wieder
in die hintersten Kammern meines Gehirns. Künstlerische
Freiheit, was sonst. Wie ein Schauspieler, der seinen Tod
auf der Bühne spielt. Ein Schauspieler.
Die Bühne.
Der Tod.
Nun galt es Ruhe zu bewahren. Keine Panik, kein
übereiltes Handeln. Ich schloss meine Augen und dachte
113
nach, während ich merkte, dass sich unter meinen Armen
langsam Schweiß bildete. Meine Stirn wurde ganz warm
und ich wurde unruhig, so sehr, dass ich aufstehen musste.
Bachmann schrieb davon, alle Beweise unter der Sonnenuhr in seinem Ferienhaus zu hinterlegen. Ich dachte
nach und ich erinnerte mich, dass ich irgendwann mal in
einer Literaturzeitung eines seiner seltenen Interviews las
und ich meinte mich ebenfalls zu erinnern, dass er damals
erwähnte, dass er in Oranienburg ein Ferienhaus besaß.
Wenn dies jetzt keine Finte von ihm war – und das wusste man bei Bachmann nie - dann lagen genau hinter diesem Haus unter Steinen oder sonst wo gut versteckt und
verpackt, diese Briefe. Ich musste also schleunigst dort
hin.
Ich packte meine Sachen zusammen und lief runter zu
Frau Enger, fragte, ob ich eben kurz telefonieren könnte,
worauf mit die nette Bibliothekarin das schnurlose Telefon brachte. Ich ging ein paar Schritte vom Empfang
weg, so dass ich ungestört war und wählte Kerrs Nummer
in Hamburg. Es klingelte viermal.
„Kerr.“
„Hier ist Mertens.“
„Hey Mertens, na wie läuft’s? Haben sie das Buch bekommen?“
„Ja, danke. Ganz gut, aber sie müssen mir noch einen
Gefallen tun.“
114
„Ja?“
„Suchen mir doch mal bitte die Adresse von Richard
Bachmanns Ferienhaus in Oranienburg raus.“
„Wozu brauchen sie das?“
„Für meine Arbeit“
„So?“
„Egal, machen sie einfach. Ich muss ein bisschen recherchieren. Sie wissen doch, wie Bachmann schreibt.“
„Ich rufe zurück, ich muss erst selbst jemanden anrufen.“
Am Abend ging ich ins Kino. Sah zum vierten oder
vielleicht schon zum fünften Mal Tarkowskis Nostalghia.
Mit den gleichen Gefühlen der Verwunderung und Dankbarkeit wie immer. Das Meisterwerk der Meisterwerke,
dachte ich, während ich in dem halbleeren Kinosaal saß
und mich von den Bildern einfangen ließ, und plötzlich
fielen mir ein paar Worte ein, die mein Konfirmationspfarrer einmal gesagt hatte – ein sanfter Verkünder mit
großem, weißem Bart, der sicher von vielen in der Gemeinde als ein sehr enger Verwandter Gottes angesehen
wurde.
Es gibt das Böse auf der Welt, hatte er erklärt, aber
niemals und nirgends so viel, dass es nicht noch Spielraum für gute Taten gäbe. An und für sich keine besonders beeindruckende Äußerung, aber sie hatte sich in
meinem Kopf festgebissen und tauchte immer mal wieder
auf.
115
Und der Spielraum für gute Taten? Gab es den wirklich immer? Wer war es eigentlich, der den Kuchen aufteilte? Und warum sollte alles irgendwie einen Sinn haben?
Alle Handlungen?
116
20
Der Renault war zwar an jeder Stelle durchgerostet,
aber er erfüllte seinen Zweck. Ich musste ja nur raus nach
Oranienburg, was in etwa eine Stunde zu schaffen ist. Die
Adresse lag auf dem Armaturenbrett eingeklemmt und
die Landkarte auf dem Beifahrersitz. Kerr hatte mich
etwa 10 Minuten nach unserem Gespräch zurückgerufen
und mir die Adresse durchgegeben. Es war ein Zögern in
seiner sonst so dominanten und kräftigen Stimme zu hören. Vielleicht sogar ein wenig Misstrauen, ich bin mir
nicht sicher. Die Landkarte lieh ich mir ohne großes
Nachfragen von der Bibliothek aus.
Sirkow, ein russischer Autovermieter aus Köpenick,
klein, mit einem Gesicht wie Peter Lorre, schaute zwar
etwas verdutzt drein, warum ich um die Zeit – es war
bereits nach 22 Uhr – so dringlich einen Wagen brauchte
und warum es ausgerechnet diese Rostlaube sein sollte –
aber ihm war jedes Mittel Recht ein paar Geldscheine zu
verdienen. Und ich glaube, er erkannte, dass ich es eilig
hatte und fragte nicht weiter nach sondern wünschte mir
nur viel Glück und eine gute Fahrt. Bei was und wohin
auch immer.
Ich verfuhr mich trotz Karte dennoch zweimal, bis ich an
dem Haus, das etwa 300m von der Havel entfernt lag
ankam.
117
Das Haus war komplett verfallen. Es war kein schöner
Anblick. Es erinnerte mich an vom Krieg verlassene
Städte, in denen keiner mehr wohnte, in denen sich die
Natur ihren Platz langsam aber sicher wieder zurückholte. Ja, es war alles überwuchert. Überall Unkraut, Büsche,
rostige Zaunlatten, Moos. Und aufgrund der Abgeschiedenheit des Hofes, war es für andere Menschen eigentlich
unmöglich, mich dort zu sichten.
Die Sonnenuhr fand ich jedoch gleich und man sah,
dass dieser Bereich ein wenig sauberer und aufgeräumter
war als der andere Teil des großen Gartens. Hier wurde
also irgendwann vor nicht allzu langer Zeit noch gearbeitet.
Ich nahm die Taschenlampe aus meiner Jackentasche
und leuchtete behutsam durch den Garten des Hofes.
Die vier Briefe lagen fein nach Datum sortiert in einer
kleinen Holzkiste versteckt unter dem besagten Stein. Ich
schlich mich leise wieder aus dem Garten und fuhr zurück zu Sirkow, der sich freute, seinen Renault wieder zu
haben.
Die Briefe versteckte ich in meinem Zimmer in der
Nachtischschublade, nicht sonderlich originell, aber es
war eben nicht mein Haus und wusste kein anderes Versteck. Irgendwann lese ich sie, dachte ich mir.
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21
Ernsthaft. Es geht doch vor allem darum, dass alles
klappt und zu einer Lösung kommt, aber in schwachen
Momenten habe ich das Gefühl, dass auch mein ganzes
Leben nur eine Palette von Kompromissen und Entscheidungen war, die mir durch die Finger rannen. Immer.
Bis zu diesem Zeitpunkt spielte ich dieses Spiel mit,
es hat mich zwar nicht groß begeistert, weil ich mir veralbert vorkam, aber ich nahm es hin. Bis jetzt. Ich fing
an, entgegen meiner Arbeitsweise, das Buch komplett
durch zu lesen. Es waren immerhin noch knapp 100 Seiten. Aber es bestand kein Zweifel mehr daran. Richard
Cornelius Bachmann wurde durch seine Frau Marlene
Bachmann und deren Liebhaber und gleichzeitigen Verleger ihres Mannes, Oskar Büchner getötet. Im Meer
versenkt. Er ist qualvoll erstickt.
Ich musste mehrmals schlucken, meine Hände zitterten und mein Magen drehte sich mehrmals um die eigene
Achse. Ich packte alles zusammen und lief aus der Bibliothek, verabschiedete mich von den Damen am Empfang
und erklärte meine Arbeit für beendet. Ich ging nach
draußen und nahm ein Taxi zurück in meine Pension. Im
Flur roch es nach gutem deftigen Essen. Ich bekam großen Hunger und beschloss, gleich etwas essen zu gehen,
doch vorher musste ich Kerr anrufen.
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„Kerr“.
„Ja, hier Mertens“
„Oh was gibt‘s? Wie ist der Stand?“
„Naja, ich will darüber nicht am Telefon sprechen.
Können sie herkommen?“
„Aber wieso? Was zur Hölle ist los mit ihnen? Mertens.
Ich mache gar nichts, wenn sie mir nicht auf der Stelle
sagen, was los ist. Herrgottnocheins.“
Seine Stimme wurde laut und aggressiv.
„Kerr, ich würde sie nicht bitten, wenn es nicht so
dringend wäre. Aber sie müssen kommen. Ich kann darüber nicht am Telefon sprechen. Bitte.“
„Ok, ich versuche morgen früh gleich den ersten Flug zu
bekommen. Aber dann erklären sie mir alles. Jedes verdammte Detail, ja?“
„Danke, bis morgen.“
Und da waren noch die Briefe. Vier in der Anzahl. Ich
holte sie aus der Schublade und legte sie offen vor mir
auf den Schreibtisch. Die Sonne schien in mein Zimmer
und ich musste ein Glas Single Malt aus dem Schrank zu
mir nehmen, ehe ich einen Blick darauf werfen konnte.
Alle Briefe waren von Büchner an Marlene geschrieben.
Immer die gleiche Schreibmaschine, die gleichen Blätter.
Bis auf die Unterschrift keinerlei Persönlichkeit.
Der erste Brief war harmlos. Fast schon förmlich,
auch wenn man hier und da – wenn man wollte – etwas
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verdächtiges herauslesen könnte. Aber nur wenn man
wollte, wie gesagt. Es war vielmehr ein nettes, freundliches Schreiben mit einer Einladung zum gemeinsamen
Essen.
Der zweite Brief war da schon anders. Im zweiten
Brief schrieb Oskar Büchner davon, wie er seine Ehefrau
verlassen hatte und wie er sich nach einer neuen Liebe
sehne. Er schrieb davon, was er noch in seinem Leben
vor hatte, z.B. die Besteigung einiger Gipfel der französischen Alpen, und dass er auf die einzige und wahre Frau
in seinem Leben wartete.
Brief Nummer drei war noch eindeutiger. Er schrieb
in aller Offenheit darüber, wie er in Marlene verliebt war.
Er erwähnte den Duft ihrer Haut nach dem Duschen und
er schrieb mehrere Absätze über ihre großen Brustwarzen
und was er mit ihnen vorhatte. Ich hörte nach der zweiten
von vier Seiten auf und legte es weg. Die Affäre war nun
eindeutig, da war nichts dran zu Rütteln.
Brief vier, so erinnerte ich mich, sollte nun alles beweisen. Ich nahm noch einen Schluck und fing auch ihn
an zu lesen.
Liebe Leni,
als ich gestern nach Hause fuhr und über dich und uns
nachdachte, wurde es mir schlagartig klar. Es gibt kein
zurück mehr. Was Du über Richard sagst, beunruhigt
mich, dass er seine Hand gegenüber dir erhebt, ist unentschuldbar. Er muss weg. Er muss dringend weg. Auf die121
ser wunderschönen Welt, ist kein Platz für ihn.
Wir müssen ihn uns vom Hals schaffen. Ich habe auch
eine Idee. Du kennst doch diese alte Phönixfigur im Garten seines Landhauses, oder? Dieses schwere hässliche
Ding?[…]
Ich legte den Brief zur Seite und schaute aus dem Fenster. Der Brief war komisch geschrieben. Seltsam. Irgendwie war er anders als die anderen drei vorher. Die
Sprache war viel direkter, klarer und eher auf den Punkt
kommend, als ich es von Büchner vorher gewohnt war
und er wiederum eher ein Meister der Subtilitäten war.
Auch hat er in den vorigen Briefen nie den Namen Leni
erwähnt, aber das kann natürlich alles Zufall sein, zu viel
Interpretation. Das alte Leid eines Übersetzers wohl.
Ich las den Brief zu Ende. Es war eindeutig. Mehr als
das. Es war wirklich das Corpus Delicti, so wie es Bachmann in seinem Buch erwähnte. Es war Mord und er war
von Anfang an geplant. Ich ging auf den Balkon, zündete
mir eine Zigarette an und sah auf die Uhr. Bemerkte, dass
es schon nach 2 Uhr in der Nacht war.
Ich schaute nach oben, während ich an meiner Zigarette zog. Versuchte die Sterne zu erkennen, aber außer
dem großen Wagen erkannte ich nichts. Aber das erkennt
ja auch jedes Kind.
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22
Die Glocke der naheliegenden Lutherkirche weckte mich
sehr früh. Ich hatte beim Aufstehen ein kurzes Schwindelgefühl, was aber nach einem Schluck Wasser aus dem
Hahn wieder verflog. Ich schaute auf die Uhr und stellte
fest, das Kerr jeden Moment vor der Tür stehen würde.
Als es schließlich klingelte, erschreckte ich mich so
sehr, dass ich mich während des Rasierens am Kinnschnitt. Frau Fink klopfte an, und kündigte mir Besuch
an.
„Ja, soll reinkommen, Tür ist offen“, rief ich vom
Badezimmer aus in Richtung Tür während ich ein Stücken Toilettenpapier nahm um damit die Rasierwunde
abzudecken.
„Oh, geschnitten?“, war sein erster Satz, als er durch
die Tür kam.
„Rasierunfall, sie kennen das.“ Ich zeigte mit der Hand
auf meinen Tisch, dass er sich setzen soll.
Kerr setzte sich auf den Stuhl, während ich mich, in Unterwäsche auf mein Bett ihm gegenüber setzte.
Wir starrten uns eine Weile schweigend an.
„Schön haben sie’s hier, Mertens. Ich hatte es nicht so
schön in Erinnerung und Frau Fink ist toll, oder?“
Ich ging darauf nicht ein und versuchte meine Worte in
meinen Gedanken zu ordnen.
„Bachmann wurde ermordet“, platzte es aus mir heraus.
123
„Was sagen sie da?“
„Ich sagte, Bachmann wurde ermordet“, wiederholte ich
mich.
Sein Gesicht verdrehte sich. Sein Mund sah aus, als hätte
er etwas ungenießbares gerade gegessen. Es war bizarr.
„Wie kommen sie darauf?“, fragte Kerr und es war
ihm anzusehen, dass ihn meine Aussage verwirrte.
„Ich habe es gelesen.“
„Wo?“
„Im Manuskript.“
Ich deutete auf meine Unterlagen.
„Was heißt das? Ich dachte er hätte sich umgebracht. Die
Polizei sagt das auch. Alles sicher. Keine Zweifel.“
Ich schüttelte den Kopf und zog mir meine Socken an.
„Sie waren es.“
„Wer?“
„Beide.“
„Marlene Bachmann und Oskar Büchner.“
„Büchner? Sein Verleger? Oskar?“
„Sein Verleger.“
„Sie meinen, sie hatten…“
„… ja genau. Sie hatten eine Affäre, vielleicht auch
mehr, ich weiß es nicht.“
„Und das steht in dem Text? Sind sie sich sicher?“
„Ja.“
„Du bist dir ganz sicher?“ Er war so perplex, dass er
124
mich duzte.
„Ja, Tausendprozentig.“
„Aber es gab doch einen Abschiedsbrief, der wurde als
echt begutachtet.“
„Sicher, wahrscheinlich wollte er sich einfach von
allen verabschieden, aber eben auf diese Art, verstehen
sie? Bachmann war nicht dumm. Er wusste, was passieren würde. Er hat es kommen sehen.“
„Ich kann das nicht glauben.“
Er stand auf, lief zum Fenster und schaute hinunter.
Erfuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, drehte
sich danach wieder mir zu und sprach mit langsamer,
ruhiger Stimme.
„Kann ich ihren Text einmal lesen?“
„Bitte.“
Ich reichte ihm meine geschriebenen Seiten.
Er nahm aus seinem Jackett eine Brille, setzte sie auf und
legte das Manuskript vor sich auf den kleinen Holztisch
neben meinem Bett.
Ich ließ ihn mit dem Text alleine, zog mich fertig an
und fütterte Matthias.
125
23
Es war Albrecht, der mir die Insel empfohlen hatte. Er
kannte Kreta schon seit seinen ersten Semesterferien und
ließ jedes Jahr nicht unversucht, mit mir den kommenden
Herbst dort zu verbringen. Ich bedankte mich, wie es sich
für Arbeitskollegen gehört aber lehnte doch immer wieder aufs Neue ab.
Nicht wegen des Mittelmeers, der Insel oder Griechenland an sich, ja nicht einmal wegen des Geldes oder
der Zeit wegen – ich war die ersten Jahre mit Katharina
öfters auf Kos und genoss es sehr – es lag einfach daran,
dass mich Empfehlungen, egal von welcher Person, erst
einmal abschrecken. Sei es ein Urlaubsvorschlag oder ein
Buchtipp oder einfach nur ein Tipp zum Benzinsparen
beim Autofahren. Manche würden das ignorant nennen,
ich jedoch habe die Angewohnheit, jeden Rat den ich
bekomme einfach kritisch zu durchleuchten und erst einmal – auch aus reiner Gewohnheit – ab zu lehnen.
So war es auch mit Kreta.
Jedoch fiel mir Albrecht, Gott hab ihn selig, und seine
Insel, wie er sie immer nannte, an jenen Tagen wieder ein
und ich fand die Idee, einfach zu verschwinden, die beste.
Vielleicht die insgesamt beste Idee meines gesamten
Lebens.
126
~
„OK.“, sagte Kerr.
„Was OK?“, fragte ich ihn.
Ich fahre jetzt wieder zurück nach Hamburg und spreche
mit unserem Verlagsleiter. Dann melden wir das der Polizei. Sie machen einfach Garnichts. Wie lange haben sie
noch gebucht?“
„Noch 15 Tage.“
„OK, bleiben sie diese Tage über hier und erzählen sie
keinem davon. Ihnen geht es gut?“
Ich nickte und wir verabschiedeten uns.
Zwei Tage später las ich es in den Nachrichten.
Bachmann ermordet, schrieben die Zeitungen. Es war ein
Spektakel. Man entschied sich im Verlag - anders als
Bachmanns Wunsch, dass nur ich das Manuskript lesen
sollte - dafür, den Text direkt an die Staatanwaltschaft zu
geben. Um 10 Uhr rief mich Kerr an und teilte mir mit,
dass der Staatsanwalt auch irgendwann auf mich zukommen wird, um mir einige Fragen zu stellen.
„Ich heiße Edgar Mertens, wurde am 11.08.1960 in
Schwerin geboren und lebe seit 1990 in Hamburg. Ich bin
freier Übersetzer und arbeite gelegentlich für den Hanseverlag. Meine Frau gilt seit vier Jahren als vermisst, Kin127
der haben wir keine.“
„Okay, kommen wir zu dem Fall Bachmann. Erzählen
sie, wie sie zu dem Auftrag gekommen sind.“
Ich erzählte dem Staatsanwalt die Geschichte, wie ich im
Dezember in Hamburg das Bachmann-Manuskript erhielt, mit der Bitte, es geheim zu halten und zu übersetzen.
„Nur sie durften es übersetzen?“
„Ja“
„Warum?“
„Weiß ich nicht.“
„Wann haben sie damit angefangen?“
„Anfang Januar.“
„Wann waren sie fertig?“
„Vor etwa drei Wochen.“
„Worum ging es in diesem Buch?“
„Um einen Schriftsteller, der die Affäre seiner Frau aufdeckt und glaubt, ermordet zu werden, grob gesagt, Herr
Staatsanwalt.“
„Und was haben sie dann gemacht?“
„Ich bin nach Oranienburg gefahren.“
„Was haben sie dort gemacht, Herr Mertens?“
„Ich habe nachgesehen, ob das mit den Briefen stimmt.“
„Und?“
„Ja, es war, wie im Buch.“
„Und dann?“
„Ich habe mich mit Kerr in Berlin getroffen, um darüber
128
zu reden.“
Er nickte.
„Und er hat es dann der Polizei gemeldet.“
„Vielen Dank Herr Mertens, sie können jetzt gehen.“
Wir gaben und uns die Hand und ich trat hinaus ins
grelle Sonnenlicht. Es waren nur fünf Minuten Fußweg
nach Hause zu Frau Fink, aber ich stellte fest, dass ich
weder einen Grund noch viel Lust hatte mich dorthin zu
begeben.
Stattdessen machte ich mich auf den Weg einen Kanal
entlang, dessen Namen ich nicht kannte und der an keiner
einzigen Kreuzung ausgeschildert war. Wenn ich mich
nicht irre war ich auf dem Weg zum Boxhagener Park,
aber es konnte mir im Prinzip gleich sein, wenn ich irgendwo anders landete. Ich musste die Zeit herumbringen, das war alles. Am Tag zuvor war ich auf diese Art
ziellos sechs, sieben Stunden herumgelaufen, während
ich darüber nachdachte, was ich machen sollte.
Nach ungefähr zwanzig Minuten kam ich zu einem
großen grünen abgegrenzten Areal, von dem ich annahm
dass es der Boxhagener Park war. Ich trat durch die Pforte, ging weiter zwischen Büschen, blühenden Bäumen
und tosendem Vogelgesang. Hier und da hatten sich
Menschen mit Picknickkörben und Decken niedergelassen, meistens Paare und Gruppen von Studenten natürlich, aber auch die eine oder andere Frau in meinem Al129
ter, und unter anderen Umständen wäre es möglich gewesen, sogar ziemlich wahrscheinlich – dass ich mich einer
dieser offensichtlich suchenden genähert hätte.
Aber jetzt hielt ich mich an meine eigenen Pfade.
Ich durchquerte den großzügig verwachsenen Park der
Länger und Breite nach und so gelang es mir, den Nachmittag herumzubringen. Als ich wieder bei Frau Fink
ankam, herrschte bereits eine schmutzige Dämmerung
und ich machte mir klar dass es noch sechs Tage waren,
bis die Gerichtsverhandlung gegen Marlene Bachmann
und Oskar Büchner beginnen würde.
Der 15. März. Ich glaube, das war so ein Datum, das
ich verdrängte. Ich weigerte mich, zu akzeptieren dass es
immer näher kam, weil dann, wieder einmal, alles von
neuen Vorzeichen und unvorhersehbaren Zufällen umgeben sein würde. Etwas das nur mich betraf und gegen das
ich mich in keiner Weise schützen konnte. Wie ein Operations- oder ein Scheidungstermin.
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24
Ganz links saß Marlene.
Oskar Büchner saß ganz rechts. Tadellose Frisur und
frisch rasiert. Weißes Hemd, Schlips und Zweireiher. Ein
Erfolgstyp. Es war der 15. März und ich sah ihn zum
ersten Mal. Links von ihm saßen zwei Anwälte. Zunächst
sein eigener, daneben der von Katharina Bachmann. Und
ganz Links saß Marlene Bachmann selbst. In schwarz
gekleidet, so ein einfacher, schulterfreier Fetzen, den nur
eine bestimmte Sorte Frauen tragen kann und der ein
Monatsgehalt kostet, wie mir gesagt wurde.
Während ich aufstand und den Eid schwor, hob sie
den Blick und schaute mich zwei Sekunden lang mit apathisch an. Anschließend betrachtete sie eine Weile die
Schuhe des Staatsanwalts. Er stand schräg vor ihr auf
dem dunkeln Holzfußboden, und diese beiden Blicke
unterschieden sich in nichts.
In absolut nichts.
Ich wurde gebeten mich wieder hinzusetzen, was ich
auch tat. Der Staatsanwalt näherte sich mir vorsichtig. Er
war ein hoch gewachsener Mann in den Fünfzigern. Distinguiertes Gesicht was er öffentlich gern zur Schau stellte. Er ging um die Zeugenbank herum und stellte sich so,
dass ich ihn von der linken Seite sah, während die Geschworenen und der größte Teil des Publikums seine
rechte Flanke betrachten konnten. Er stand absolut still
131
und ließ ein paar Sekunden verstreichen. Wahrscheinlich
Teil seiner Taktik.
„Edgar Mertens“, begann er.
Ich nickte.
„Sie heißen Edgar Mertens?“, fragte er.
„Ja“, gab ich zu .
„Erzählen sie uns doch mal, warum sie hier in Berlin
sind.“
Ich erklärte meinen einen Grund ausführlich. Das
dauerte einige Minuten. Aber er unterbrach mich kein
einziges Mal. Oskar Büchner saß unbeweglich da, die
Hände ruhig auf dem Tisch und ließ mich keine Sekunde
aus den Augen. Dennoch meinte ich, erkennen zu können, dass seine Kiefer sich ein wenig bewegten und mir
wurde klar, dass er trotz seines Auftretens des Opfer widerstreitender Gefühle war. Marlene Bachmann dagegen
hielt den Kopf gesenkt und erschien sehr viel entspannter
als ihr Liebhaber.
„Danke“, sagte der Staatsanwalt als ich fertig war.
„Erzählen sie uns von ihrer Übersetzungsarbeit. Wie sie
verlief und wann sie Unrat zu wittern begannen.“
Ich fuhr fort.
Während ich sprach ließ ich den Blick durch den
Raum schweifen. Verweilte eine Zeitlang bei den Geschworenen. Vier Männer und drei Frauen, die alle mit
bedrücktem und leicht besorgtem Gesichtsausdruck dasaßen. Ich ging weiter zu den Zuhörern, sowohl zu denen,
132
die unten im Parkett saßen, als auch zu den erkennbaren
ersten Reihen oben im Rang. Der Raum war voll besetzt,
daran gab es keinen Zweifel. Es war der zweite Verhandlungstag, der erste wirklich ernsthafte. Der Tag zuvor
war, nach dem was ich in den Zeitungen gelesen hatte, in
erster Linie den technischen Daten gewidmet gewesen
und dazu benutzt worden, die Anklagepunkte festzulegen.
Heimtückischer Mord.
Beide hatten geleugnet. Das Vorgefecht war erledigt.
Die Zahl der Fragen war unendlich, laut der Presse. Einer
der interessantesten Prozesse seit etlichen Jahren, schrieb
die Berliner Allgemeine Zeitung.
Am Abend des ersten Tages hatte ein Kriminalmagazin im Fernsehen seine ganze Sendezeit dazu genutzt, den
Fall zu diskutieren. Oder besser gesagt, Fragen zu stellen.
Ich hatte einen Zipfel des Spektakels in der Wohnung
von Frau Fink gesehen.
Würde beide verurteilt werden?
Würde einer von ihnen alles auf sich nehmen?
Wenn ja, wer?
Welche handfesten Beweise konnte der Staatsanwalt
vorweisen?
Wie hatte das Liebesdreieck eigentlich ausgehen?
Würden sie sich auf eine Art Verbrechen aus Leidenschaft berufen?
Et cetera.
133
„Was glauben sie, warum Bachmann sein Buch auf
diese Art herausgebracht haben wollte?“ fragte mich der
Staatsanwalt.
Büchners Anwalt protestierte und erklärte, dass der
Zeuge zu Spekulationen verleitet werden sollte. Ich
schwieg.
„Abgelehnt“, entschied der Richter. „Die Geschworenen werden sicher davon ausgehen, dass der Zeuge sich
seine eigenen Gedanken gemacht hat.“
„Nun?“, fragte der Staatsanwalt .
„Können sie die Frage wiederholen?“ fragte ich zurück.
Der Anwalt wiederholte seine Frage.
„Das ist doch offensichtlich“, sagte ich.
„Erklären sie“, sagte der Staatsanwalt.
Ich schaute Marlene Bachmann an. Durch die hoch gelegenen Fenster im Rang fiel die Sonne herein und tauchte
ihr Schlüsselbein in marmorweißes Licht. Ich dachte
wieder an ihre Nacktheit.
„Es steht im Manuskript, dass sie ihn ermorden wollten“, erklärte ich.
Die Antwort löst einige Unruhe auf dem Rang aus und
der Richter schlug ein paar Mal mit seinem großen
Hammer auf den Tisch.
„Erklären sie genauer“, wiederholte der Staatsanwalt.
Ich erzählte von den Unterstreichungen und davon was
Bachmann über die Briefe und die Sonnenuhr draußen im
134
Kirchgartenhof geschrieben hatte.
„Können sie mir erzählen, was sie taten, als sie diese
Dinge im Manuskript entdeckten?“
„Ich habe das nachgeprüft“, antwortete ich.
„Und wie?“
„Ich bin raus nach Oranienburg gefahren, dort war
sein Ferienhaus und habe untersucht, ob es sich wirklich
so verhält, wie es geschrieben stand.“
„Sie haben also nach den vier Briefen gesucht?“,
fragte er weiter.
„Ja.“
„Und haben sie sie an dem Platz gefunden, den
Bachmann angegeben hatte?“
„Ja.“
„Wo haben sie sie gefunden?“
„Unter einem großen Stein, in einer Schatulle, wie es im
Manuskript stand.“
„Haben sie sie gelesen?“
„Später.“
„Und welchen Schluss haben sie daraus gezogen?“
Es wurde wieder protestiert, diesmal von Marlene Bachmanns Anwalt. Der Richter lehnte erneut ab.
Ich nahm einen Schluck Wasser.
„Welchen Schluss hätten sie daraus gezogen?“, wiederholte der Staatsanwalt.
„Naja, welchen Schluss hätten Sie daraus gezogen?“,
konterte ich.
Der Richter griff ein und erklärte, dass es meine Auf135
gabe sei, Fragen zu beantworten, nicht, welche zu stellen.
Ich nickte und trank noch einen Schluck.
Ich räusperte mich.
„Ich zog den Schluss, dass Oskar Büchner und Marlene Bachmann Richard Bachmann getötet haben. Die
Briefe sind eindeutig.“
Nun war die aufgebrachte Menge nicht mehr zu halten, es
wurde gepfiffen und gebuht und der Richter brauchte
einige Minuten bis er die Gemüter wieder beruhigen
konnte.
Der Staatsanwalt dankte mir und setzte sich wieder
hinter seinen Tisch.
Der Richter erteilte Marlene Bachmanns Anwalt das
Wort.
Er stellte sich genauso hin, wie der Staatsanwalt es
getan hatte. Wartete, bis das letzte Flüstern verklungen
war, bevor er das Wort ergriff.
„Herr Mertens“, sagte er. Machte eine künstlerische
Pause, nahm seine Brille ab und spielte mit dem Fingern
an dessen Bügeln herum. Dann fuhr er fort.
„Welcher Verlag hat Ihnen den Auftrag gegeben, Bachmanns Manuskript zu übersetzen?“
Ich nannte ihn.
„Wissen Sie, wann das Buch herauskommt?“, fragte
er mit stechendem Blick.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Jetzt in diesen Tagen, nehme ich an.“
136
„Nach meinen Informationen“ – er schaute auf seine Uhr
am Handgelenk und zog ein wenig pathetisch die linke
Augenbraue hoch – „heute“, präzisierte er.
„Das ich möglich“, ich nickte.
„Wie groß ich die Auflage?“, fragte er mich weiter.
„Keine Ahnung.“
Er zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts, faltete es auf und betrachtete es.
„Fünfzigtausend“, sagte er mit gespielter Überraschung.
Ich sagte nichts.
„Haben sie dazu was zu sagen?“
„Nein.“
„Ist das nicht eine sehr große Auflage, unter Berücksichtigung des nicht gerade großen Sprachgebietes?“
„Möglich“, ich zuckte mit den Schultern.
„Bachmann war ein bekannter Schriftsteller, Herr Anwalt.“
„Daran besteht auch kein Zweifel. Ich habe allerdings
auch hier die Verkaufszahlen seiner letzten beiden Bücher in ihrem Land. Wissen sie, um welche Zahl es sich
handelt?“
„Nein“, beantwortete ich ihm und verstand nun, auf
was er hinaus wollte.
„Zwölftausend, für beide Titel - Was sagen sie dazu?“
Ich sagte nichts.
„Sagen sie, Herr Mertens, ist diese Veröffentlichung
nicht ein ziemlich gutes Geschäft für ihren Verlag? Ein
Coup, wie man in ihrer Szene wohl sagt, richtig? Und ihr
137
Verlag war bislang ja auch nicht gerade der reichste,
wenn ich’s mal so nennen kann.“
„Kann sein, ich kenne die Zahlen nicht“, gab ich von
mir.
„Also, ist es nicht so, dass diese ganze Geschichte eine
reine Spekulation ist um Geld mit einem außergewöhnlich einfach zu verkaufenden Bestseller zu verdienen?“,
versuchte mich der Anwalt zu locken.
„Quatsch“, sagte ich.
„Wie bitte?“, fragte mich der Anwalt.
„Quatsch“, wiederholte ich mich.
„Darf ich den Zeugen bitten, seine Sprache ein wenig
zu zügeln?“, rüffelte mich der Richter.
„Vielen Dank. Ich habe keinen weiteren Fragen“, sagte
der Anwalt.
Er setzte sich wieder auf seinen Platz und nun kam Oskar
Büchners Anwalt an die Reihe. Ein kleiner dicklicher
Mann mit gut sichtbaren Schweißflecken auf seinem
Hemd, sein Kopf erinnerte mich an den einer Schildkröte.
„Herr Mertens, wer bezahlt ihren Aufenthalt in Berlin?“, fing er an.
„Mein Verlag natürlich.“
„Dieses Manuskript, das sie übersetzt haben…“
Er machte eine Pause, „haben sie irgendeinen Beweis
dafür, dass es wirklich von Richard Bachmann stammt?“
„Wie meinen sie das?“, fragte ich nach.
„Woher wissen sie, dass es Bachmann geschrieben
138
hat?“, fragte er mich konkreter.
Ich wurde wütend.
„Natürlich ist es von Bachmann, vom wem sollte es
sonst sein?“ sagte ich ein wenig schnippisch.
„Wie kam es in ihre Hände?“
„Ich habe es von Kerr bekommen.“
„Ihrem Verleger?“
„Ja.“
„Und woher hatte er es?“
„Bachmann hatte es ihm zugeschickt.“
„Woher wissen sie das?“
„Weil er es mir erzählt hat.“
„Kerr?“
„Ja.“
„Sie haben keine anderen Quellen?“
„Was denn für Quellen?“
„Die bezeugen können, dass es sich wirklich so verhalten hat?
Ich kochte vor Wut, er hatte es tatsächlich geschafft,
mich zu provozieren.
„Wozu sollte ich die brauchen?“
„Gibt es noch etwas anderes als das Wort ihres Verlegers, das bestätigen kann, dass es tatsächlich Bachmann
war, der ihm dieses Manuskript geschickt hat?“
„Nein.“
„Dann könnte es ja auch ein Bluff sein, oder?“
„Das glaube ich nicht.“
„Ich frage sie aber nicht, was sie glauben.“
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„Ich sehe es als vollkommen ausgeschlossen an, dass
mein Verleger mit der Unwahrheit operieren würde.“
„Auch wenn das bedeuten würde, dass der Verlag auf
die Füße kommt?“
„Der Verlag steht bereits auf Füßen.“
Der Anwalt lachte kurz auf.
„Wenn aber jemand anderes sich als Bachmann ausgegeben hätte, könne dann nicht auch ihr ehrenwerter
Herr Verleger hinters Licht geführt worden sein.“
Ich dachte nach, trank einen Schluck Wasser .
„Im Prinzip schon“, musste ich zugeben, „aber ich halte
das für ausgeschlossen.“
„Danke, das war alles“, sagte der Anwalt.
Der Richter gab mir zu verstehen, dass ich meinen
Platz auf der Zeugenbank verlassen durfte, und ich wurde
von dem gleichen Wachtmeister hinausgeführt, der mich
auch hereingeholt hatte. Als ich die Anklagebank passierte, versuchte ich noch einmal Augenkontakt mit Marlene
herzustellen aber sie saß immer noch unbeweglich da,
den Blick zu Boden gerichtet. Oskar Büchner dagegen
betrachtete mich wütend und es war klar, dass sie mich
am liebsten umgebracht hätte, wenn wir uns in etwas
unzivilisierter Umgebung befunden hätten.
Als ich die breite Treppe des Gerichtsgebäudes hinunterschritt, wurde ich von blendendem Sonnenschein empfangen. Ich schaute auf die Uhr und konnte feststellen,
dass mein Auftritt weniger als eine Stunde in Anspruch
140
genommen hatte. Ich zog meine Jacke aus, hängte sie mir
über eine Schulter und lief Richtung Stadtmitte. Die
Übelkeit war immer noch da und ich sah ein, dass ich
jetzt ein paar reelle Drinks brauchte um das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Ich las in der BZ vom Erscheinen von „Bachmann“,
so nannten wir das Buch. Am gleichen Tag rief auch Kerr
an und bestätigte, dass alle Informationen korrekt waren.
Der Verkauf war an den ersten Tagen hervorragend gelaufen. Das Buch und seine Bedeutung in der soeben
begonnenen Gerichtsverhandlung hatten in so gut wie
jedem Medium in ganz Europa Aufsehen erregt. Die zu
erwartende Klage von Oskar Büchner hatte nicht auf sich
warten lassen, aber ein eventuelles Risiko, dass die Auflage eingezogen werden könnte, was Büchner umgehend
gefordert hatte, lag nicht vor. Es war offenbar mit dem
ein oder anderen gedroht worden, aber im Verlag lachte
man nur darüber und freute sich über die Publicity. Das
Einzige, was möglicherweise ein wenig beunruhigen
könnte, war die Tatsache, dass der Text Beweismaterial
in einem laufenden Verfahren darstellte, aber da das
Ganze nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wurde, rechnete man auch hier nicht mit Problemen.
„Ich habe einige Angebote hinsichtlich des Originalmanuskriptes bekommen“, erkläre Kerr aufgekratzt.
„Und wie geht es ihnen?“, fragte mich Kerr.
„In wie fern?“
141
„Verdammt, was weiß ich. Mit den Journalisten zum
Beispiel.“
„Kein Problem“, antwortete ich, aber das stimmte
natürlich nicht.
Spät am gestrigen Abend hatte ich mich einer schönen
Schriftstellerein vom Brandenburger Anzeiger verkauft.
Ich hatte 200 Euro für ein Interview plus Bilder bekommen, wäre aber natürlich sehr viel lieber ganz umsonst
mit ihr ins Bett gegangen.
Das Telefon hatte auch ein paar Mal geklingelt. Ich
weiß nicht, wie man an meine Nummer gekommen war
und ich erklärte jedes Mal, dass ein Edgar Mertens nicht
unter dieser Adresse gewohnt habe und man sich offensichtlich verwählt hatte.
Die nächsten Tage waren nicht weiter erzählenswert.
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25
Die Sonne schien.
Nachdem ich fertig geduscht hatte - es war immer noch
dieser diese erste Verhandlungswoche - spürte ich eine
unbezwingbare Lust, wieder dorthin zu gehen.
Zurück ins Gerichtsgebäude, meine ich. Um zu sehen,
wie sich das Ganze entwickelte, wie ich mir einzureden
versuchte. Ich muss wohl die Hoffnung gehabt haben,
dass Marlene Bachmann das gleiche schulterfreie Kleid
tragen würde wie beim letzten Mal, das gleiche wie an
dem Tag als ich in den Zeugenstand trat.
Aber das tat sie nicht. Eine andere dunkle Geschichte,
das schon, aber es enthüllte nicht den Schatten eines
Schlüsselbeins.
Es gelang mir, einen guten Platz zu ergattern, obwohl ich
etwas zu spät gekommen war, ganz rechts in der ersten
Reihe der Tribüne, von wo ich einen guten Überblick
hatte.
Eine atemlose Stille beherrschte den Saal, als sie aufstand und mit verhaltener Würde die wenigen Schritte zur
Zeugenbank ging. Sie setzte sich, trank ein wenig Wasser
und faltete die Hände vor sich im Schoß. Es war beeindruckend. Ich spürte wie ich auf den Unterarmen eine
Gänsehaut bekam.
Der Staatsanwalt ging auf sie zu, sog die Wangen ein
und ließ die Zunge einige Male über die Zähne gleiten.
143
„Frau Bachmann, wie lange waren sie mit dem
Schriftsteller Richard Bachmann verheiratet?“
Sie überlegte kurz, es sah so aus, als würde sie rechnen
„Fünfzehn Jahre. Daran fehlen nur drei Monate.“
„Wie alt waren sie, als sie ihn geheiratet haben?“
„Vierundzwanzig.“
„Und wie alt war Herr Bachmann damals?“
„Zweiundvierzig.“
Gleich ganz rechts von mir saß ein bärtiger älterer
Herr, der sich Notizen machte. Es dauerte eine Weile, bis
mir klar wurde dass er sogar stenografierte, und ganz
richtig stand am nächsten Tag Marlene Bachmanns Verhör in jeder großen Tageszeitung Berlins zu lesen.
Wort für Wort.
„Haben sie Kinder?“
„Nein.“
„Sie waren vorher noch nie verheiratet?“
„Nein.“
„Und ihr Mann?“
„Auch nicht.“
Der Staatsanwalt machte eine kurze Pause.
„Hatte Richard Bachmann Kinder aus früheren Beziehungen, Frau Bachmann?“
„Nein. Aber das wissen sie doch alles schon, wieso fragen sie mich das?“
„Natürlich, aber ich bin nicht derjenige, der ihre
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Schuld beurteilen soll.“
Sie seufzte.
„Ist es korrekt, dass sie die alleinige Erbin ihres Mannes sind?“
„Ja.“
„Wissen sie um welchen Betrag es sich dabei handelt?“
„Nicht genau.“
„Ich habe eine Aufstellung, die von 500 bis 600 Tausend Euro spricht. Kommt das hin?“
„Ja.“
„Erzählen sie uns bitte von ihrem letzten Abend mit
Herrn Bachmann, ihrem Ehemann.“
„Wir hatten Herrn Büchner zum Abendessen eingeladen.“
„Gab es dafür einen Grund? Etwas zu feiern?“
„Wir wollten in Richards Geburtstag feiern.“
Ein Raunen im Publikum war nicht zu überhören.
„Was gab es?“
„Russische Kohlrouladen.“
„Und was ist dann passiert?“
„Naja, wir aßen alle und amüsierten uns. Wir tranken ein
paar Flaschen Wein.“
„Fahren sie fort.“
„Irgendwann, es muss schon sehr spät gewesen sein, fing
Richard an, mich zu beleidigen. Er wurde ausfallend,
unzurechnungsfähig.“
„Seien sie bitte genauer.“
145
Man sah deutlich, wie Marlene Bachmann sind sträubte
darüber zu reden.
„Er nannte mich Schlampe, wurde aggressiv und schlug
um sich herum“
„Hat er sie geschlagen?“
„Nein.“
„Nein? Sie hatten Blutergüsse am Hals.“
„Naja, er drückte mich mit dem Kopf gegen die Wand.“
„Und Herr Büchner?“
„Wie bitte?“
„Hat er auch zu Herrn Büchner was gesagt, oder wurde er auch ihm gegenüber handgreiflich?“
„Nein, er hat ihn nicht beachtet.“
„Was ist dann passiert?“
„Er warf ein paar Gläser um, fluchte irgendwas vor sich
hin, und ging die Treppen hoch.“
„Das war‘s?“
„Ja, er warf die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu
und das war das letzte, was ich von ihm hörte.“
„Was taten sie danach?“
„Ich und Herr Büchner räumten ein bisschen auf und
gingen dann schlafen.“
„Aha“, der Staatsanwalt runzelte die Stirn.
Wieder raunen im Publikum.
„Also. Ich ging ins Schlafzimmer. Herr Büchner schlief
im Gästezimmer.“
„Und dann?“
„Dann schlief ich ein.“
146
„Was passierte am nächsten Morgen?“
„Ich klopfte an Richards Tür, doch er machte nicht auf.
Ich wollte rein gehen, nachsehen, ob alles in Ordnung ist
und bemerkte, dass die Tür offen stand. Doch im Zimmer
war niemand.“
„Was haben sie dann gemacht?“
„Ich habe bei Herrn Büchner im Gästezimmer angeklopft, er war zum Glück schon wach und da habe ich ihn
gefragt, ob er wüsste, wo Richard ist.“
„Und?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Natürlich wusste er es auch nicht.“
Sie musste kurz husten.
„Entschuldigung. Wir dachten, er ist vielleicht draußen,
im Garten. Früher hat er dass immer gemacht, wenn er
entspannen wollte.“
„Was hat er früher im Garten gemacht?“
„Er war immer ein Mensch, der nach Ordnung strebte.
Manchmal war er stundelang da draußen, egal bei welchem Wetter, hat Blätter gestutzt, Laub zusammengefegt,
gegossen, Unkraut gejätet, was man eben so macht.“
„Aber da war er nicht?“
„Nein, ich bin später am Vormittag raus und habe ihn
gesucht, aber da war er nicht, es gab auch keine Spuren.“
„Was taten sie dann?“
Sie nahm einen Schluck Wasser.
„Dann ging ich in sein Arbeitszimmer und sah nach, ob
es einen Hinweis gäbe, wo er sein könnte und da sah ich
147
neben seinem Bett einen Brief.“
„Diesen?“
Der Staatsanwalt zeige auf einen Brief in einer Plastiktüte. Anscheinend handelte es sich hierbei um den Abschiedsbrief.
„Ja.“
„Den hatten sie morgens, als sie das erste Mal in seinem Zimmer waren nicht gesehen?“
„Nein, ich dachte, das gehöre zu seinen Unterlagen. Das
geht mich ja nichts an.“
„Verstehe. Und dann?“
„Dann rief ich die Polizei.“
„Was war mit Herrn Büchner?“
„Der blieb den Tag über bei mir.“
„Als Beistand?“
„Ja.“
„Haben sie ihren Mann geliebt, Frau Bachmann?“
„Ja.“
Die Antwort kam ohne Zittern, und ich glaube nicht, dass
es viele Leute im Saal gab, die daran zweifelten, dass sie
die Wahrheit sagte.
„Waren Sie ihrem Mann treu?“
„Ich verstehe die Frage nicht.“
Der Staatsanwalt tat überrascht.
„Ich habe gefragt, ob sie ihm treu waren. Wie kann es
sein, dass sie eine so einfache Frage nicht verstehen?“
„Treue ist kein eindeutiger Begriff.“
Er lachte kurz auf.
148
„Das kann schon sein. Pflegten sie Verhältnisse mit
anderen Männern zu haben?“
Ihr Anwalt sprang vom Stuhl und protestierte.
„Würden sie die Frage anders formulieren“, bat der
Richter und der Staatsanwalt nickte gehorsam.
„Stimmt es, dass sie mit dem Verleger ihres Mannes,
Oskar Büchner, eine sexuelle Beziehung hatten?“
„Ja.“
Auch diesmal nicht das geringste Zögern.
„Wann hat ihr Verhältnis begonnen?“
„Vor zweieinhalb Jahren.“
„Wusste ihr Mann davon?“
„Nein.“
„Sie sind sich dessen sicher?“
Sie zögerte einen Moment.
„Ich glaube, zum Schluss hat er es geahnt.“
„Was meinen sie mit zum Schluss?“
„Vielleicht seit dem letzten Sommer.“
„Was bringt sie zu der Annahme?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht, nur so ein Gefühl.“
„Warum waren sie Ihrem Mann untreu, wenn sie ihn
doch liebten?“
„Ich wäre Ihnen dankbar wenn ich diese Frage nicht beantworten müsste.“
„Frau Bachmann“, unterbrach sie der Richter und
beugte sich in ihre Richtung. „Ich möchte sie bitten, doch
zu bedenken, dass wir hier versuchen, Gerechtigkeit zu
149
üben. Je mehr Informationen sie uns vorenthalten, umso
größeren Spielraum geben sie den Spekulationen.“
„Soweit ich verstanden habe, habe ich das Recht, die
ganze Zeit zu schweigen, wenn ich es will, oder?“
„Das ist vollkommen richtig“, gab der Richter zu. „Sie
können selbst entscheiden, welche Fragen sie beantworten wollen und welche nicht. Aber wenn sie sie wirklich
unschuldig sind, dann ist es fast immer am besten, zu
reden, statt zu schweigen.“
„Wie lautete die letzte Frage?“
Der Staatsanwalt räusperte sich und wiederholte:
„Sie behaupten, dass sie ihren Mann liebten. Warum
waren sie ihm untreu wenn sie ihn doch liebten?
Haben sie Oskar Büchner auch geliebt?“
Sie saß einige Sekunden schweigend da, aber es sah
nicht so aus als überlegte sie. Ihr Anwalt gab ihr mit der
Hand ein Zeichen – ich nahm an, dass er wissen wollte,
ob er wieder protestieren sollte – aber sie schüttelte nur
mit dem Kopf.
„Ich möchte diese Frage nicht beantworten.“
„Warum nicht?“
„Wen ich liebe und wen ich nicht liebe, dass ist allein
meine Sache.“
„Sie sind des Mordes angeklagt, Frau Bachmann.“
„Das ist mir klar.“
„Haben sie ihren Mann ermordet?“
„Ich habe meinen Mann nicht ermordet.“
„Ich habe Informationen, nach denen er sie geschla150
gen habe soll.“
„Ach.“
„Stimmt das?“
„Es ist zweimal passiert. Er war ein Trinker.“
„Wie schwer?“
„Beim zweiten Mal musste ich einen Arzt aufsuchen.“
„Wann war das?“
„Vor ungefähr einem Jahr.“
„Was war der Grund?“
„Es war mein Fehler.“
„Was meinen sie damit?“
„Einspruch!“, unterbrach ihr Anwalt, der aufgestanden
war. „Der Staatsanwalt stellt die ganze Zeit suggestive
und nicht die Sache betreffende Fragen. Ich beantrage,
dass er zur Sache kommt oder sich setzt.“
Der Richter nickte.
„Möchte der Staatsanwalt so gut sein und sich ab jetzt
um das zu verhandelnde Verbrechen kümmern?“, befahl
der Richter mit säuerlicher Miene.
„Aber gerne doch“, lachte der Staatsanwalt.
„Erzählen sie mir von der Nacht, in der ihr Mann
starb, Frau Bachmann.“
Marlene Bachmann saß eine Weile schweigend da,
dann wandte sie ihren Kopf dem Richter zu.
„Kann ich vorher mit meinem Anwalt reden?“
Der Richter nickte und der Anwalt eilte zu ihr. Nach einer flüsternden Besprechung ging er zum Richter und
teilte diesem etwas mit. Der Richter schrieb einige Zeilen
151
auf ein Stück Papier und richtete sich dann auf.
„Das Gericht macht eine kurze Pause“, erklärte er und
klopfte mit dem Hammer auf den Tisch.
„Fünfzehn Minuten Pause.“
Ich beschloss, zu gehen. Ich verließ das Gerichtsgebäude mit einem Gefühl der Ermattung. Aber auch mit
der Empfindung, dass es jetzt vorbei sei. Mit einer Art
bitterer Erleichterung, ungefähr wie nach einem Zahnarztbesuch.
In den folgenden Tagen hielt sich dieses Gefühl. Ich
wanderte in der Stadt herum ohne Ziel und ohne Hast,
saß in den Parks oder Cafés und las oder betrachtete die
Menschen und erlaubte mir ziemlich unbekümmert, das
schöne Wetter zu genießen. Die Zeit schien mir erneut
durch die Finger zu rinnen. Es war unmöglich es nicht zu
bemerken, dass ich mich wieder einmal in einer Periode
der Leere und der Durchlässigkeit befand. Ein Wartesaal
mit einem verspäteten Zug.
Ich las natürlich die Zeitungsartikel, in denen vor Prozessende kräftig spekuliert wurde, über das Buch, die
Urheberrechtsfrage aber im Großen und Ganzen berührte
mich das alles herzlich wenig, ich begriff, dass meine
Rolle eben hier beendet war. Die fette Lady hatte gesungen.
Ich trank an diesen Tagen nicht besonders viel, sicher,
ich ging abends ein paar Mal in Bars aber meistens war
ich schon vor Mitternacht wieder daheim, bei Matthias
und Frau Fink.
152
26
Einmal, nur ein einziges Mal kehrte ich nach Luzern
zurück.
Aber nicht direkt nach Luzern, ich blieb in Littau, dem
Ort auf der anderen Seite des Passes, wohin ich an dem
bewussten Tag gefahren und von wo aus ich Ansichtskarten geschrieben hatte und wo möglicherweise der Geliebte meiner Frau abgestiegen war. Aber das sind natürlich
heute nur noch Vermutungen.
Eine ganze Woche lang wohnte ich im Hotel Zum
Bären und erst am vorletzten Tag fuhr ich noch einmal
die gewundene Straße den Berg hinauf und überquerte
den Pass. Die anderen Tage verbrachte ich im Hotel oder
auf den angrenzenden Wanderwegen. Jedoch mit einem
unguten Gefühl im Hinterkopf.
Es war Mitte Mai, unten im Tal standen die Obstbäume in voller Blüte, weiter oben lag immer noch dichter
Schnee. Die Passstraße war erst vor wenigen Tagen wieder geöffnet worden.
Ein Jahr und neun Monate waren vergangen. Ich fuhr
an das bis zum Rand gefüllte Reservoir des Stausees vorbei, ohne anzuhalten, weiter hinauf bis zu dem kleinen
Parkplatz. Stieg aus und schaute über das Land. Nichts
hatte sich seit dem Tag verändert. Überhaupt nichts. Erst
nach einer ganzen Weile war ich in der Lage den Blick
über den Abgrund zu senken und ihn auf der Wasserober153
fläche ruhen zu lassen. Vollkommen bewegungslos lag
sie dort unter mir. Es war ein klarer Tag aber ich erinnere
mich, dass die Sonne noch keine Glitzerpunkte warf und
auch kein leichter Wind auch nur die geringste Kräuselung verursachte.
Ich ließ den Wagen stehen und ging die Straße weiter
zu Fuß hinunter. Nach einer Weile hatte ich die scharfe
Rechtskurve erreicht, ich ging langsamer und auf die
linke Seite hinüber.
Ich sah es bereits aus einiger Entfernung. Schnee und
Eis hatten zwei Winter lang gearbeitet und ausgewaschen. Aber hier klaffte ein Loch in der niedrigen Mauer
aus Fels und Beton. Nicht groß und nicht ganz bis auf die
Fahrbahn hinunter, es war nur ein Spalt, ein gezacktes VZeichen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, schaffte
es aber nicht.
Stattdessen überfielen mich ein Gefühl der Erschöpfung und eine starke Übelkeit. Ich erbrach mich am Straßenrand zur Bergseite hin und machte mich augenblicklich daran, wieder hinauf zu meinem Auto zu steigen.
Anschließend fuhr ich hinunter, langsam und mit einem
starken Gefühl der Verzweiflung. Am nächsten Tag verließ ich die Gegend für alle Zeit.
Vielleicht war es ja auch meine Absicht gewesen, ein
paar Worte mit Polizeimeister Wyss zu wechseln, aber
wir gesagt, ich kam nie wieder über den Berg.
154
~
Ich schreibe.
Zwölf Tage sind nun schon seit meiner Ankunft vergangen. Ich weiß nicht, ob ich das finden werde, weshalb ich
hergekommen bin. Vielleicht ist es auch gar nicht mehr
so wichtig.
Ich suche. Aber ich finde nicht.
Es ist der Weg, der die Mühe sinnlos macht. Ich denke
nach und schreibe einige Zeilen auf eine Serviette. Manche Handlungen können wir nie ganz vergessen oder uns
von ihnen freikaufen. Möglicherweise können wir nicht
einmal dafür um Verzeihung bitten. Gott ist mein Zeuge,
wie betrunken ich bin, ich bin nicht mehr in der Lage das
zu schreiben, was ich mir vor einer Stunde überlegt habe.
Werde diese Seiten auf der anderen Seite der Nacht herausreißen. Meine Worte werden im hellen Tageslicht
unter die Erde kriechen.
Verdammter Bachmann.
155
27
Am Freitag wurde das Urteil gefällt.
Frau Fink hatte die Gewohnheit – das bekam ich im Laufe meines Daseins in ihrem Hause mit – jeden Freitagnachmittag auf Radio2, einem bekannten Brandenburgischen Sender, klassische Musik zu hören. Das war ihre
wöchentliche Dosis Kultur, wie sie es immer nannte. Mir
gefiel das und ich setzte mich, wenn ich gerade nicht so
viel tu tun hatte, oder auch der Arbeit überdrüssig wurde,
gern zu ihr, und wir hörten gemeinsam zu und tranken
das ein oder andere Glas Sherry.
Wie auch diesen Freitag. Draußen wehte der Wind, es
war ein trüber Tag und der Schnee, der die letzten Tage
fiel ist zu einem Haufen schwarz-braunem Matsch verkommen.
Die Suite für Varieté-Orchester von Shostakovich war
gerade am Walzer Nummer 2 angelangt, als die Musik
plötzlich verstumme und eine Sonder-Eilmeldung mich
aus meinem gerade erlangten Seelenfrieden weckte.
Ich erinnerte mich, dass in diesem Moment das Fenster
durch den Wind zu ging und ich den Atem anhielt, solange der Reporter seine Meldung verließ.
Marlene Bachmann schuldig.
Oskar Büchner schuldig.
Heimtückischer gemeinschaftlicher Mord.
156
Entschieden ohne jeden Zweifel. Einigkeit unter den
Geschworenen. Die Länge der Strafe ist noch nicht festgelegt, aber es gab nichts, was darauf hindeutete, dass es
auf etwas anderes als die Höchststrafe hinauslaufen würde. Lebenslänglich für beide.
Keine mildernden Umstände, keiner von beiden weniger oder mehr schuldig als der andere. Kein Pardon. Ich
schaltete das Radio aus und öffnete wieder das Fenster.
Frau Fink stand auf und sah mir in die Augen.
„War zu erwarten, hm?“
Ich nickte.
Sie wusste allerdings nicht, dass ich der Kronzeuge des
ganzen Falles war.
„Ich brauch 'nen Schnaps, sie auch?“
„Gern.“
Sie kam aus der Küche mit einer Flasche ohne Etikett,
mit durchsichtiger Flüssigkeit.
Er brannte wie Feuer.
Ich sprach an diesem Tag kein Wort mehr. Ging nach
der Radiomeldung sofort auf mein Zimmer. Schloss mich
ein, legte mich auf mein Bett und versuchte zu schlafen.
Was natürlich nicht gelang. Ich versuchte nicht an Marlene zu denken und schon gar nicht an Bachmann. Ich
dachte an Katharinas Lächeln. Und ich dachte daran, dass
ich am nächsten Tag Nowak anrufen muss, die Sache mit
157
Katharina war ein Trugschluss. Es war wohl doch nicht
ihr Husten. Katharina ist tot. Mausetot. Warum zum Teufel hatte ich nur diese dumme Idee.
Warum bin ich hier?
Dann schlief ich irgendwann im Sitzen ein.
Ungefähr zehn Tage nach dieser Nachricht, es war ein
Freitagvormittag, rief mich Kerr an und teilte mir mit,
dass die Verkaufszahlen sich jetzt um die fünfundvierzigtausend bewegten und dass die zweite Auflage (noch
einmal fünfzigtausend) gestartet würde.
An diesem Abend betrank ich mich sinnlos. Ging
anschließend mit einer schwarzhaarigen Frau, die ich an
der Bar kennen lernte, mit langen Beinen und französischem Vornamen in ihre Wohnung, aber ich glaube, weder sie noch ich hatten viel von unserem Beischlaf auf
ihrem Wohnzimmerfußboden.
Sie jedenfalls nicht.
Am nächsten Tag fing es heftig zu regnen an.
~
Es ist gerade unerträglich heiß. Der Schweiß tropft
mir auf das Papier, das ich gerade beschreibe. Und Dimitrios, der alte griechische Haudegen, der mich nun auch
mit Namen kennt, hat mir Eselsmilch eingeschenkt. Das
158
soll beruhigend wirken gegen das Schwitzen, hat er gesagt. Es schmeckt eher wie Eselpisse und bringt absolut
nichts, um genau zu sein.
Die letzten Tage waren damit erfüllt zu schreiben und
Wein zu trinken. Beides exzessiv. Und ich hatte das Gefühl, all meine Erinnerungen wieder zu bekommen und
aufschreiben zu können.
In der Ferne sehe ich ein kleines Motorboot auf die
Insel zu fahren. Sieht nach einer alten Sea Ray aus.
Hat er nicht gesagt, dass er so ein Boot besäße?
159
28
Ich erfuhr auch das aus dem Radio. Frau Fink war
nicht zuhause. Auf Bach, wie sie sagte, kann man gerne
mal verzichten, meinte sie.
Es war genau eine Woche seit der Verurteilung vergangen, als ich mir gerade das Weihnachtsoratorium im
Nachmittagsprogramm des Radios anhörte – einem alten
Grundig Gerät übrigens, was mich an meinen Vater erinnerte - als die schreckliche Nachricht das laufende Programm unterbrach.
Eilmeldung. Schon wieder. Schon wieder am Freitag.
Marlene Bachmann, vor einer Woche mit ihrem Lebensgefährten Oskar Büchner, wegen gemeinschaftlichen
Mordes an ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Richard
Bachmann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, nahm sich heute Morgen gegen 9 Uhr in der JVA
Moabit das Leben.
Sie erhängte sich mit einem Telefonkabel, das sie in
ihre Zelle geschleust bekam. Sie sollte am nächsten Tag
ins Frauengefängnis nach Berlin-Lichtenberg verlegt
werden. Marlene Bachmann wurde 44 Jahre alt. Es gibt
keinen Abschiedsbrief. Keine Kinder.
Ich schaltete das Radio aus und sah aus dem Fenster.
Es nieselte ein wenig, am gegenüberliegenden Haus bellte ein Schäferhund einen vorbeilaufenden Jogger an.
160
Ich verließ den Aufenthaltsraum und sah gerade wie Frau
Fink vom Einkaufen wieder kam.
„Haben sie das eben auch im Radio gehört? Die arme
Frau.“
Ich gab keine Antwort, vor allem, weil ich ihren Satz erst
oben in meinem Zimmer wahrnahm.
Die arme Frau.
Ich setzte mich auf mein Bett, zog meine Schuhe aus und
bemerkte, wie mich eine alles niederwalzende Müdigkeit
auf der Stelle übermannte.
Als ich wieder aufwachte, zeigten die Zeiger meiner
Uhr bereits 20:00. Ich hatte Hunger, konnte mich aber
nicht aufraffen, etwas zu essen. Ich griff zum Hörer und
wählte Kerrs Nummer, doch es war besetzt. Dies war
natürlich nach den Vorfällen meiner Erwartung entsprechend. Ich legte auf und versuchte nach zu denken.
Da klingelte es und ich hob ab.
„Ja.“
„Kerr hier, Mertens?“
„Ja.“ Ich wusste nicht, warum ich überhaupt mit ihm
sprechen wollte.
„Vielleicht sollten sie die nächsten Tage hier bleiben,
Mertens. Kriegen sie den Kopf frei. In Hamburg würde
sich jetzt sicher die gesamte Deutsche Presse auf sie
Stürzen. Das ist sicher nicht das, was sie wollen, oder
Mertens?“, frage Kerr.
Ich bejahte dies.
161
Er fragte, ob ich mehr Geld brauchte, was ich ebenfalls kurz bejahte. Dann legten wir auf.
Wurde dies durch mich verursacht? War ich daran
schuld? Was bedeutet es eigentlich, wenn man an etwas
zu schuld ist. Bin ich dann auch schuld-ig?
Hätte ich das alles verhindert können? Bin ich dafür verantwortlich?
Ich stand auf und nahm den Whiskey aus der Vitrine.
Ich hob ihn ans Licht. Nicht mehr viel, aber es wird reichen, dachte ich. Es muss. Ich löschte das Licht und goss
mir ein. Dachte an Katharina und an Marlene. Die Vorhänge waren zugezogen, von draußen vernahm ich keine
Töne mehr. Alles war still.
Ich nahm aus meiner Schublade einen ungespitzten
Bleistift und drückte ihn mit der Spitze ganz leicht gegen
mein geschlossenes Auge. Ich drückte ihn mit dem Zeigefinger ein wenig fester dagegen und spürte einen leichten aber sehr stechenden Schmerz. Es ist soweit, Edgar,
dachte ich mir. Jede Geschichte muss zu Ende gehen.
Doch ich nahm den Stift ab und ihn in Stift in die Ecke.
Ich schlief ein.
Ich träumte.
Eine Serie von Telefonsignalen kommt und geht.
Matthias kommt und geht. Durch die halb geöffnete Toilettentür sickert erneut Tageslicht herein. Neues Klingeln,
Schmerzen in der rechten Hüfte und der Schulter, kein
Wunder auf dem harten Fußboden.
Ich falle.
162
29
In dieser Nacht träumte ich von Erik. Wir waren zusammen auf einem Boot und hatten gepaddelt. Er trug
eine beige Schildkappe. Verkehrtherum, wie früher, als
wir uns kennen lernten. Es war still und er war gerade
dabei, seine Angel auszuwerfen, als es anfing zu regnen.
Doch Erik ließ sich davon nicht beirren. Er stellte den
Kragen seines Ralph Lauren Polohemdes auf und warf
die Angel aus. Ich sagte nichts.
Nach einer Weile des Schweigens kam ein Gewitter auf
und als es genau über uns war blitze es. Wir schwiegen
immer noch. Erik fing an trotz des Regens eine Zigarette
zu rauchen. Dann geschah etwas was ich selbst heute
noch nicht begreife. Ein Blitz schlug direkt auf Erik ein.
Direkt auf seinem Kopf. Und auf einmal war er weg. Das
Gewitter hörte auf und die Sonne kam heraus.
Ich hörte wie ein schrilles Klingeln mich aufweckte
aber ich konnte nicht aufstehen, geschweige denn den
Wecker oder was auch immer diesen Ton angab, ausschalten. Also schlief ich wieder ein. Doch ich wachte
nach einer gewissen Zeit wieder auf und schaffte es fast
nicht bis zur Toilette, worin ich mich erbrach. Als ich
mich wieder zurück ins Bett schleppte, klingelte es wieder, doch ich konnte es ignorieren und schlief wieder ein.
Kurze danach, ich hatte einen totalen Black out, und erinnere mich nur noch an sehr wenig, klopfte es an der
Tür. Ich dachte an Frau Fink, dachte, dass was passiert
163
sei und hinkte, weil mein Fuß eingeschlafen war, zur Tür,
strich meine Haare glatt und machte auf.
Es stand ein kleiner hagerer Mann vor mir. Da das Sonnenlicht durch den Flur genau auf mein Gesicht strahlte,
konnte ich die Person allerdings kaum erkennen. Die
Silhouette allerdings kannte ich von irgendwo her. Ich
hustete.
„Mertens!“, sagte die Silhouette.
„Oh Hallo“. Es war Nowak, ich erkannte seine Stimme
sofort. Rieb mir die Augen und ging ins Zimmer zurück.
„Kommen sie rein, Nowak“, bat ich ihn.
„Was ist los? Brauchen sie einen Arzt?“, fragte Nowak besorgt.
„Eher eine Aspirin“, ich zog die Rollläden hoch und öffnete die Fenster.
„Haben sie getrunken?“
„Was wollen sie? Ich dachte, wir wären fertig.“, reagierte
ich genervt auf seine gespielte Besorgnis.
Er räusperte sich.
„Ich habe sie gefunden.“
Ich schluckte und mir wurde aufgrund dieser vier Wörter
auf einmal speiübel.
Ich rannte zum Klo und übergab mich noch einmal.
Nowak grinste. Das war unübersehbar.
„Wo?“ fragte ich, als ich mir mit einem Küchentuch den
Mund abwischte.
164
Er gab mir einen abgegriffenen kleinen Zettel.
Ich erkannte seine krakelige Handschrift.
Kreuzberg
Stresemannstraße 103a
Elena Sorbonnowa. 4. Stock.
„Was ist das?“, fragte ich. Obwohl ich es schon ahnte.
„Die Adresse.“
„Sorbonnowa?“
„Ihr neuer Name.“
Ich nickte und verstand.
„Wie haben sie sie gefunden?“, fragte ich ihn.
„Wolfram, er findet jeden“.
„Wer zur Hölle ist Wolfram?“
„Mein Assistent. Wie gesagt, er findet jeden, er war
zurzeit nur gerade im Urlaub auf Kreta – täte ihnen auch
mal gut, Mertens. Schöne Insel.“
Ich nickte, verstand jedoch nichts.
„Duschen sie sich. Sie stinken wie ein Penner.“
„Ja“, mehr brachte ich nicht raus.
„Viel Erfolg, Mertens“ er klopfte mir auf die Schulter
und ging aus der Tür.
Ich ging an‘ s Fenster, sah Nowak in seinen schwarzen CLS einsteigen und davonbrausen. Ein Rabe setzte
sich auf die Straßenlaterne gegenüber und sah zu mir
rüber. Ich winkte ihm zu und dachte an Katharina, ihr
Husten und die Innenseiten ihrer Oberschenkel.
165
Nowak hatte Recht. Ich stank wirklich wie ein Tier,
anscheinend verschüttete ich etwas auf meinem Hemd, es
sah aus wie eine Mischung aus Erbrochenem und angetrocknetem Rotwein. Ich duschte mich lang und heiß,
rasierte mich und machte mich auf den Weg Richtung
Kreuzberg. Ich nahm die Straßenbahnlinie 4 und stieg am
Lukasplatz aus, von dort waren es ca. 60 Meter zu Fuß
zur Stresemannstraße mit der Nummer 103a. Mein Herz
schlug mit jedem Meter, dem ich mich diesem Haus näherte schneller und als ich davor stand, hatte ich das Gefühl, als würde mich mein eigener Herzschlag erdrücken.
Es war ein Mehrfamilienhaus, im alten Berliner Stil der
20er Jahre gebaut. Ich blieb vor dem Haus stehen und
betrachtete es, während ich mir eine Zigarette anzündete.
Ich schaute mir die Fassade an und musste dabei unweigerlich an die Musik Smetanas denken. Oder an Sinfonien von Dvořák. Ich beugte mich zu den Klingeln.
Vierter Stock: Weith + Sorbonnowa stand in krakeliger Handschrift auf dem Klingelschild. Ich meinte Katharinas Schrift zu erkennen, aber da war vielleicht auch nur
der Wunsch der Vater des Gedanken. Es war auf jeden
Fall eine kraftvolle Frauenhandschrift. Serifenlos. Ohne
Schnörkel. Ich räusperte mich, sah mich um und klingelte. Keine Sekunde später ertönte ein Brummen und mir
wurde aufgemacht. Ich lief in den zweiten Stock, wobei
ich nur jede zweite Stufe nahm. Ich war voller Adrenalin.
Das Herz schlug mir bis zum Hals.
166
~
Hier ist die Nacht so tief und schwarz, dass der Tag nur
eine Ahnung bleibt. Die Zikaden zirpen jetzt in der Dunkelheit ein wenig mehr in Einklang. Eine ungestimmte
Gitarre ist unten vom Strand zu hören und die Luft hat
eine Temperatur, dass sie nicht auf der Haut zu spüren
ist.
Hier gibt es keinen Stress. Keine Angst und kein Leiden. Ich zünde mir die vierzigste Zigarette des Tages an
und Dimitrios schenkt mir einen Mokka ein. Die Petroleumlampe rußt wie immer. Es gibt hier keine Elektrizität,
nur den Mond und das Feuer.
Und Petroleum.
167
30
Der Flur roch nach Zigaretten.
Es öffnete ein kleines Kind.
„Wer sind sie?“, sprach das Mädchen zu mir.
Doch bevor ich antworten konnte, stand sie schon im
Türrahmen. Die Arme verschränkt. Ich erkannte sie sofort. Sie war augenscheinlich schwanger doch sie war
immer noch wunderschön. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und trug eine weiße Strickjacke. Ihr Blick sah jedoch müde aus.
„Was machst du hier?“, sagte sie mit strengem Blick.
Als hätte sie mich erwartet.
„Naja, das Gleiche könnte ich dich auch fragen, oder“,
antwortete ich.
„Nein könntest du nicht, Edgar. Was zum Herrgott
machst du hier?“, fragte sie unbeirrt noch einmal. Ihr Ton
wurde aggressiver.
„Hm….Ich habe dich gesucht, Katharina“, äußerte ich
leise. Ich merkte, wie in mir der Schweiß ausbrach, meine Kehle wurde trocken und meine Beine wacklig.
„Und jetzt hast du mich gefunden, ta da“, antwortete
sie spöttisch und drehte sich mit einer fast schon leichtfüßig-tänzerischen Bewegung nach hinten um. Sie ging ein
paar Meter in ihre Wohnung zurück.
Aus dem hinteren Teil der Zimmers hörte ich näherkommende Schritte.
168
„Alles in Ordnung, Eli?“, fragte die Stimme. Es war
ganz offensichtlich Georg Weith, der sich neben Katharina stellte und seine Hand auf ihren Bauch legte. Es war
das erste Mal dass ich ihn real vor mir sah. Nach so vielen Jahren. Ich muss zugeben, er sah ganz anders aus, als
ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte immer ein Bild eines
schmierigen Machos in meinem Kopf. Die Realität war
aber anders. Es war ein Typ eher wie Sean Connery. Älteres Semester, wenig Haare auf dem Kopf, verschmitztes
Lächeln und eindrucksvolle Statur. Er sah, so konnte ich
es beurteilen, gut aus für sein Alter.
„Jaja, mach dir keine Sorgen“, sagte sie zu ihm, der
etwa einen Kopf größer war als sie, als sie sich zu ihm
umdrehte, seinen Kopf in die rechte Hand nahm um ihn
auf seine großen langen Wangen zu küssen.
„Darf ich dir Georg vorstellen.“ Sie wandte sich wieder mir zu.
„Edgar, das ist Georg, mein Ehemann. Georg, Edgar
Mertens.“
Einfach nur Edgar, dachte ich, nicht etwa Edgar, der
Mann den ich einmal geliebt hatte; Edgar, der Mann, dem
ich ein Heiratsversprechen gab; Edgar, der Mann, der
mich umgebracht hat. Ich war einfach nur Edgar, das
stieß mir sehr auf.
„Hallo Georg“, sagte ich so höflich wie möglich und gab
ihm die Hand.
„Freut mich, sie kennen zu lernen“, sagte Weith, mit
zurückhaltender Miene.
169
„Komm rein, hier zieht’s“, sagte Katharina und winkte
mich in die Wohnung.
Ich machte einen Schritt in die Wohnung.
„Hier, setz dich. Willst du was trinken?“, sie zeigte auf
die schwarze Ledercouch.
„Ein Glas Wasser, danke.“
Weith setzte sich mir gegenüber und musterte mich.
„Du bist schwanger?“, fragte ich Katharina, als sie mir
das Wasser brachte.
„Sechster Monat“
„Junge oder Mädchen?“
„Junge.“
Sie setzte sich neben Weith auf die Couch und fing an
Weiths Halbglatze zu streicheln. Ich erinnere mich an
früher, als wir zusammen auf der Couch lagen und wir
lange Diskussionen darüber führten, wer der bessere James Bond-Darsteller war. Ich war stets Roger Moore
Fan, was Katharina absolut nicht verstand und mir immer
wieder, aufgrund einiger Szenen zu verstehen gab, warum Sean Connery besser war. Es lag an den Haaren,
sagte sie immer. Kein Bond hatte so schöne Haare wie
Connery. Ich hatte diese These nie verstanden und auch
heute verstehe ich das nicht.
„Hm, “ ich nickte und starrte auf mein Glas .
„Sie sind also Herr Mertens?“, fragte Weith.
„Ja, der bin ich. Ich bin gerade beruflich hier, hat ge170
rade gepasst.“
Weith nickte.
„Was tun sie denn beruflich?“
„Ich bin Übersetzer und bin gerade dabei, ein großes
Buch zu übersetzen.“, gab ich als Antwort.
„Ach, kennt man den Autor, oder gibt es da eine Art
Schweigepflicht?“, fragte Weith und deutete dabei Anführungszeichen in der Luft an. Ich verachte Menschen,
die so etwas tun. Dabei versuchte er zu lächeln.
„Richard Bachmann.“, antwortete ich mit ruhiger
Stimme.
Katharina hustete, „Bachmann? Der ist doch letztens
gestorben, oder? Ich hab da was in der Zeitung gelesen.
Hatte sich nicht seine Frau umgebracht?“
„Ja, es war sein letztes Manuskript, das er vor seinem
Tod fertiggestellt hatte, ich habe es übersetzt. Seine Frau
starb im Gefängnis.“
„Alles was du anfasst, stirbt, Edgar.“
„Mami, wer ist der Mann?“ unterbrach uns das kleine
Mädchen, das mir die Tür öffnete und sich anscheinend
für eine Weile in ihr Zimmer verzogen hatte...
„Geh auf dein Zimmer, das erklär ich dir später.“
„Ja, na gut, “ sagte das Mädchen mit trotziger Stimme
und stiefelte den Flur entlang und schloss die Tür hinter
sich.
Ich runzelte die Stirn und sah Weith und Katharina
abwechselnd an.
171
„Das ist Annika, meine Tochter“, sagte Katharina.
„Wie alt ist sie?“, fragte ich.
„Sie ist vier“, antwortete Georg Weith.
Wieder runzelte ich die Stirn.
„Ich weiß, was du jetzt denkst, “ fuhr Katharina weiter
fort, „aber sie ist nicht von dir, schau dir ihre Augen an.“
Ich nickte und sagte nichts.
„Eine ganz süße“, sagte Weith und küsste Katharina auf
die Wange.
„Und ihr lebt hier?“, fragte ich.
„Ja, seit damals.“, entgegnete mir Katharina.
Ich nahm einen Schluck und nickte.
„Du heißt jetzt Elena? Sorbonnowa? Warum?“
„Das geht dich nichts an, Edgar.“
Ich nickte.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“, sagte
Katharina, während Georg Weith ihr zustimmend zu
nickte.
„Es gibt nichts mehr zu sagen, Georg.“
Ich stand auf, nahm meinen Mantel, und ging zur Tür.
„Was ist damals in Luzern passiert?“, fragte ich sie
und legte meine Hand auf ihre, doch sie schlug sie weg.
„Du hast kein Recht, das zu erfahren“, sagte sie ruhig
aber bestimmt.
Ich drehte mich um, ging durch die Tür und ging ins
Treppenhaus.
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„Aber…“
„Mach’s gut, Edgar“, unterbrach mich Katharina.
„War schön sie kennengelernt zu haben, Herr Mertens“,
rief Weith aus dem Wohnzimmer.
„Leb wohl, Katharina“, sagte ich und sah ihr dabei in
ihre tiefblauen Augen.
Und die Tür ging zu.
Ich lief die Treppe hinunter, knöpfte meinen Mantel
zu und ging aus dem Haus. Es hatte leicht angefangen zu
schneien. Ich zündete mir eine Zigarette an und lief zur
nächsten S-Bahn-Haltestelle. Ich dachte noch einmal an
Katharina, an Georg Weith und an Annika. Ich ließ drei
Straßenbahnen passieren, bevor ich die Gelegenheit nutzte. Das war an und für sich eine sehr einfache Prozedur.
Zwei Schritte, schräg auf die Straße und dann hörte plötzlich alles auf.
Alles.
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Dennoch kam wieder eine Zeit,
und ich begriff nicht, wozu sie gut sein sollte.
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„Im nächsten Leben möchte ich ein Olivenbaum sein.
Die können mehrere hundert Jahre alt werden. Ein beruhigender Gedanke, findest du nicht?“, sagt Dimitrios.
Es ist später Abend, aber immer noch viel zu heiß und ich
habe keine Lust, darauf etwas zu sagen.
Ich nicke ihm zu, trinke einen Schluck aus meiner
schmierigen Mokkatasse und sehe Richard Bachmann,
wie er die wackligen Steintreppen hoch kommt, mich
nach kurzem Umhersehen entdeckt und zu mir läuft.
Dimitrios erzählte mir, dass diese Treppen ein Franzose
namens Jacques vor etwa 30 Jahren gebaut haben soll. Er
lebte oben bei der Kapelle, zusammen mit einer Ziege
und einem Cembalo und verbrachte seine ganzen Tage
damit, Steine zu schleppen und diese Treppe zu errichten.
„Und sie haben sie verlassen und sind wie ein getretener Hund davon getrottet?“, begrüßt er mich.
Ich antworte nicht. Schiebe mir stattdessen ein paar ölige
Oliven in den Mund und schaue übers Wasser. Die Sonne
ist Handbreit über dem Horizont und die Stille ist fast
vollkommen. Wir sitzen draußen auf der Terrasse, jeder
in einem dieser Korbsessel, die Dimitrios selbst – so behauptet er jedenfalls – selbst entworfen und von irgendeinem Handwerker in einer der Städte auf der Ostseite hat
bauen lassen. Er hat auch das Haus gebaut. Teilweise,
wie er sagt. Teilweise auch zusammen mit Jacques, der
aber seit nunmehr drei Jahren tot ist.
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Bachmann setzt sich und bestellt sich ebenfalls bei
Dimitrios einen Mokka.
„Schönes Fleckchen“, sage ich.
„Finden Sie?“, fragt Bachmann
„Im Gegensatz zur Westseite ist es hier nicht so touristisch. Also weniger bis gar keine dickbäuchigen sonnenbrandversehrte Menschen mit Flip Flops“, sagt er mit
leichtem Grinsen im Gesicht.
„Und diese Frauen hier. Ich liebe Griechinnen. Sie
nicht auch, Mertens?“
Ich nicke und nehme noch eine Olive zu mir.
Es ist offensichtlich, dass er keinen Umgang mit Menschen hat. Er erzählt, dass er nur jede zweite oder dritte
Woche das Boot nimmt um an die Landzunge herum
zum Ort zu kommen, um sich Proviant zu besorgen, aber
ansonsten lebt er in totaler Abgeschiedenheit – in einer
Isolation, die ihn sehr viel redseliger hat werden lassen,
als ich ihn in Erinnerung habe. Er hat mir vor der Anreise
viel über dieses Fleckchen erzählt, aber ich fand es uninteressant, mir zu merken.
„Sie müssen mir doch zustimmen“, fährt er fort,
„dass es unverzeihlich wäre, so eine Geschichte auf diese
Art und Weise zu vergeuden, oder?“
„Eine Geschichte, die mit einem Niesen beginnt...“
„… Einem Husten.“ „Na dann einem Husten, ist ja das
Gleiche. Nun, sie haben ihr Husten unter zig tausend
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Menschen erkannt, sind ihr nach Berlin hinterher gereist,
haben viel Geld für einen Privatdetektiv ausgegeben,
haben sie erstaunlicherweise sogar gefunden - womit ich
nie im Leben gerechnet hätte - und dann sind sie einfach
so, mir nichts, dir nichts, wieder gegangen?“
Ich stellte meine Tasse ab, und schaute auf das azurblaue Meer.
„Ja.“
„Sie wollen sie also wie verschüttete Milch im Sand
verrinnen lassen…einfach liegen lassen und…“
„…Mich wie ein getretener Hund davon machen, ja genau.“
Ich warte, während er sich eine Zigarette in dem affektiert langen Mundstück anzündet.
Er schnaubt, raucht und hat dabei den Blick aufs Meer
gerichtet. Wahrscheinlich langweile ich ihn allmählich.
„War diese ganze verzwickte Intrige eigentlich nötig?“, frage ich ihn nach einigen Sekunden des Schweigens.
„Natürlich“, erklärt er mit sichtlicher Irritation.
„Was zum Teufel glauben sie denn? Der Verdacht
musste schließlich langsam keimen. Sie glauben doch
wohl nicht, dass es funktioniert hätte, wenn sie gleich
gestanden hätten. Machen sie sich doch nichts vor, sie
wissen ebenso gut wie ich, dass es so arrangiert werden
musste. Schließlich haben sie ja das Resultat.“
Dimitrios kommt an den Tisch.
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„Noch Kaffee?“
„Nein“, sagte Bachmann und fuchtelt genervt mit der
Hand vor seinem Gesicht herum. „Vielleicht später.“
Ich sehe Dimitrios mit einem entschuldigenden Blick an
und schüttelte den Kopf.
„Marlene ist tot“, sagte ich, und sah ihm dabei in seine
grünen Augen.
„Haben sie auch mit ihrem Tod gerechnet?“
Er zuckt mit den Schultern.
„Das hat nichts mit der Sache zu tun. Was wollen sie
damit überhaupt sagen? Ihre eigene Ehefrau lebt schließlich glücklich und zufrieden mit ihrem Rivalen zusammen. Sie sind doch wohl nicht hergekommen um zu behaupten, sie hätten alles so gemacht, wie sie es sich gedacht hatten.“
Er lacht kurz künstlich auf.
„Verfluchter Dilettant. Ihnen ist es ja nicht einmal
gelungen herauszufinden, was wirklich passiert ist!“
Ich betrachte ihn von der Seite, während er seinen
Mokka trinkt. Einundsechzig Jahre alt, habe ich ausgerechnet, braun gebrannt, vital und rüstig. Wenn nichts
Unvorhergesehenes eintrifft, dann spricht alles dafür,
dass er in diesem versteckten Paradies noch ein Vierteljahrhundert leben kann.
„Nein, ich weiß nicht, was damals in der Schweiz
passiert ist.“
Ich habe ihm meine Geschichte in groben Zügen erzählt,
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bin mir nicht sicher, ob er wirklich zugehört hat, aber es
scheint sich doch in ihm festgesetzt zu haben.
„Wie haben sie es gemacht“, frage ich.
„Was?“
„Naja die Flucht.“
„Das war keine Flucht. Nur ein neuer Pass und eine einfache Verkleidung, und natürlich Geld. Ach ja, und Dimitrios natürlich“, sagt er und grinst.
„Sie waren an jenem Abend in Berlin nicht betrunken?“
„Höchstens ein bisschen.“
„Trotzdem behaupte ich, dass sie Glück hatten.“
„Quatsch.“
Während unseres gesamten Gespräches, habe ich darauf gewartet, dass er mir zumindest einmal für meine
Hilfe dankt, eine gewisse Anerkennung dafür zeigt, dass
ich seinen Erwartungen entsprochen und meine Rolle
gespielt habe, wie er es geplant hatte. Wie es auf seinen
Oranienburger Anweisungen, die in seinem fünften Brief
- der nur an mich gerichtet war - stand, aber jetzt wo die
Sonne vollkommen verschwunden ist und die Dämmerung sich schnell auf uns senkt, da ist mir klar, dass er
nicht im Traum daran denkt.
Soll der Meister der Puppe dafür danken, dass sie
tanzt?
Natürlich nicht.
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Ich schaue auf mein Boot hinunter, das ich auf den
Strand gezogen habe. Es ist noch hell genug um ohne
Licht hinunter zu gehen. Aber in einer halben Stunde
wird es unmöglich sein.
Bachmann ist wieder verstummt, und ich nehme an,
dass seine relative Redseligkeit jetzt vollkommen erloschen ist. Ich betrachte ihn einige Sekunden lang und
obwohl er meinen Blick spüren muss, dreht er nicht den
Kopf. Es ist offensichtlich dass er in Ruhe gelassen werden will.
Ich leere mein Glas und stehe auf.
„Ich glaube es ist an der Zeit.“
Er nickt, erhebt sich aber nicht.
Die Frage kommt ganz zum Schluss.
„Sie haben doch wohl nicht vor, das hier in die Medien zu bringen? Meine neue Identität ist wasserdicht, das
möchte ich betonen, es wäre keine gute Idee.“
„Natürlich nicht.“
„Es wäre sicher auch nicht sehr opportun, wenn sie als
schlechter Verlierer auftreten würden, oder?“
„Keine Sorge.“
„Bachmann ist tot.“
„Bachmann ist tot, auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“
Wenn man lange genug auf der einen Seite des Flusses
stand und hinüber gerufen hatte aber niemand einen hört,
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macht es irgendwann keinen Sinn mehr. Dann hält man
lieber den Mund, dreht sich rum und geht, denke ich mir
in diesem Moment.
Als ich das Boot erreiche ist es bereits so dunkel, dass ich
ihn oben auf der Terrasse nicht mehr erkennen kann, ich
will kein Licht machen und bin gezwungen eine Weile
unter dem Netz, das zusammengerollt auf dem Schiffsboden liegt, nach dem Messer zu suchen. Dann finde ich
es.
Setze mich hin, wiege es in der Hand und fahre weitere zehn Minuten vorsichtig über die scharf geschliffene
Klinge während die Dunkelheit immer dichter wird.
Denke über das ein oder andere nach aber über nichts,
was wichtig genug wäre um es zu erwähnen und nichts,
was mir im Gedächtnis bleibt. Und als ich sehe, dass er
oben ein Licht entzündet hat und ich seine Silhouette
erkenne, lege ich die Leinen los und rudere heimwärts in
Richtung meines Hotels. Ich denke noch einmal an das
scharfe Messer, ehe ich es wieder einpacke.
Morgen früh ist es soweit.
Morgen früh, wenn Gott will.
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Anmerkungen / Nachwort / Danksagungen
Dieses Buch entstand zwischen den Monaten April 2013
und Februar 2014. Der größte Teil davon wurde während
meinen Mittagspausen in der Arbeit geschrieben, oder –
aber das relativ selten – in meinem Bett, wenn ich nachts
nicht schlafen konnte (oder manchmal auch nicht wollte).
Ein großes „Dankeschön“ geht an folgende Personen, die
mir an diesem Buch in verschiedenster Art und Weiße
geholfen haben: Dr. Georg Weihrauch (verstorben im
November 2013 im Freitod. Möge seine Seele nun in
Frieden ruhen), Luise und Otto Krämer, Beate „Bene“
Nekič, Boris G. Falkenbach (der beste Korrekturleser
unserer Zeit), Fabian Edvard Erikson und Annika (denkst
Du auch immer daran, die Blumen auf deines Vaters
Grab zu gießen?).
Zudem gab es noch Dinge, die mir enorm geholfen und
mich sehr zum Schreiben inspiriert haben:
Die Musik von Ludovico Einaudi
und Bohren und der Club of Gore,
die Spielfilme von Fritz Lang,
die Kriminalliteratur von Friedrich Dürrenmatt
und verschiedenster nordeuropäischer Autoren,
viel Ruhe und Stille
und massenhaft starker arabischer Kaffee.
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Meine Inspiration der Thematik entnehme ich aus meinen
Träumen, meinen Ängsten, innersten Befürchtungen und
scheinbar banalen Alltagsbeobachtungen.
Es ist die Angst, die irgendwo in den hintersten Kammern meines Hirns nistet, eines Morgens aufzuwachen
und ein anderer Mensch zu sein, die Angst, auf einmal,
ganz plötzlich zu merken, dass man auf einem anderen
Gleis fährt; die Angst, dass einem der Boden unter den
Füßen weggezogen wird; dass am Abend, wenn man ins
Bett geht, nichts mehr so ist, wie es war, als man am
Morgen aufstand. Oder die Angst des Kontrollverlustes
oder des Verlustes anderer, wichtiger Dinge. Es geht um
Abgründe und Menschen, die sich auf der Abwärtsspirale
ihres Lebens wiederfinden. Um Opfer, die zum Täter
werden und andersrum. Um Schuld und um Sehnsucht,
Verlangen und verpasste Chancen im Leben.
Was wäre wenn?
All diese Gedanken habe ich versucht in diesem und
meinem letzten kleinen Buch („Fahrenheit“) zu verarbeiten und mit in meine Geschichten einfließen zu lassen.
Die Angst und das - zugegeben enorme - Faszinosum
darüber, ist seit jeher meine Triebfeder für das Schreiben
allgemein.
Und nein, ich habe nie ein Buch Stephen Kings gelesen.
Florian Schuster
Waghäusel, den 07. Februar 2014
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