Hans H. Hiebel - Edition Keiper

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Hans H. Hiebel - Edition Keiper
Dr. Günter Höfler im Interview mit
Hans H. Hiebel
Dr. Günter Höfler im Gespräch mit dem Autor Prof. Dr.
Hans H. Hiebel zu »Und keine Wiederkehr. Eine längere
Geschichte«
G. H.: Sie sind ja von Ihrer Profession her Literaturwissenschaftler,
haben Sie nun die Seite gewechselt? D.h, in welchem Verhältnis
steht Ihr fiktionales Schreiben zu
Ihrer professionellen Haltung zur
Literatur? Und welche Schiene ist
Ihnen wichtiger?
H. H.: Mich hat die Literaturwissenschaft immer nur interessiert, weil mich
die Literatur interessierte. Das wird am
deutlichsten darin, daß ich mir in der
Regel die Lieblingsautoren, die ich
allerdings auch für »exorbitant« und
relevant hielt, als Gegenstand ausgewählt habe, »Anton Reiser« aus dem
18. Jhdt., Büchner aus dem 19. Jhdt.,
Kafka aus dem 20. Jhdt. Zumeist ging
es mir dabei auch um textnahe Lektüre bzw. werkbezogene Interpretation
(seltener um Formgeschichte, Ideengeschichte, Diskursgeschichte, Sozialgeschichte, Psychologie usw.). Zuletzt
habe ich zwei Bände zur Lyrik des 20.
Jhdts. geschrieben, wieder mit vielen
Lieblingstexten, die ich aber wiederum für »exorbitant« und kanonfähig
gehalten habe. In diesen Bänden geht
es ganz ausdrücklich um textnahe Lektüren. Nur akademische Zwänge haben mich ab und zu von dieser Fährte
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abgebracht, so unter anderem in der
Dissertation, die Literaturtheorie und
Poetik (des 18. Jahrhunderts) behandelte. Dennoch ist mir von daher die
ungeheure Revolution des Denkens,
der Poetik, der Literatur und der Gesellschaft in dieser Epoche vertraut, so
daß ich bis heute mein Augenmerk auf
das 18. Jahrhundert richte (und dies
auch im Laufe des Unterrichts immer
wieder getan habe). Kurzum: Meine »Schiene« war immer schon auf
das konkrete Literatur- bzw. PoesieErleben ausgerichtet, insofern habe
ich die »Schiene« nicht gewechseln.
Andererseits gibt es da Unterschiede:
Rezipieren ist etwas anderes – und
ungleich einfacheres – als das SelbstProduzieren. Erst im Zuge des Schreibens dieser romanartigen »längeren
Geschichte«, die jetzt erscheinen
darf, habe ich so richtig anerkennen
gelernt, was Schreiben-Können bedeutet. Wirklich, so ungeheuer spät.
Das Selbst-Schreiben-Wollen kenne
ich allerdings, seit ich ungefähr 18
Jahre alt war, aber es gelang mir leider sehr selten etwas wirklich Gutes.
Und die nötige Arbeit an der Uni – die
andere »Schiene« – hat natürlich oft
nur ganz, ganz wenig Zeit fürs SelbstSchreiben gelassen ...
Trotz dieser Parallelität der zwei
Schienen möchte ich, auch wenn das
jetzt paradox ist, doch noch sagen:
Das sind für mich zwei verschiedene Ich. Es sind völlig andere Welten,
Bewußtseinszustände, Assoziationskontexte, wenn man sich in die akademische Wissenschaft einerseits und
die Kunst andererseits vertieft. »Ich ist
ein anderer«, wie Rimbaud sagt. Das
Selbstschreiben ist – für mich jedenfalls – etwas viel, viel Privateres (leider
oft mit Peinlichkeit, Scham Verbundenes, weil ich mich nicht zu verstecken
trachte). Dennoch ist auch das nicht
ganz korrekt. Beim Schreiben von Literatur kommen mir doch ständig die
Erinnerungen an Sätze, Verse, Klänge,
Autoren, Titel usw. in den Sinn, die ich
sozusagen von Berufs wegen kenne
– und oft werden sie auch zitiert, oft
in kaschierter Weise zitiert. So auch in
der »längeren Geschichte«, aber ohne
Angaben, ohne einen (abstoßenden)
akademischen Apparat ... Die Wissenschaft hat sehr viel mit dem Brotberuf,
der Notwendigkeit, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen zu tun. Das
führt in akademische Zwänge. Sie
haben gegen meinen Willen einen
zu großen Lebensanteil aufgefressen.
Gleichwohl war ich sehr motiviert, zu
unterrichten, zu »lehren«. Es ging mir
immer darum, den Studierenden die
Kostbarkeiten der Poesie schmackhaft zu machen, und natürlich auch
darum, sie verständlich zu machen,
durchschaubar, erkennbar, legitimierbar. Was wären wir denn ohne Erlebniskultur – ohne Spiele, ohne Sport,
ohne Literatur, ohne Film, ohne Musik,
ohne Fernsehen – das sind ja alles »unproduktive« Tätigkeiten, um mit Marx
zu sprechen. Vielleicht ist aber die Erlebniskultur mittlerweile wichtiger als
Essen und Wohnen – cum grano salis.
G. H.: Kam der Anstoß zu diesem
Roman auch aus der Literatur?
Oder war es eine lebensweltliche
Einsicht bzw. Erfahrung, die seine Genese motiviert hat? Wovon
handelt er eigentlich?
H. H. Es war wohl zur Hauptsache
der Anstoß aus der eigenen Lebensgeschichte. Vor Jahrzehnten hatte
sich die fixe Idee in mir festgesetzt,
ich wolle – ja müsse – etwas über
das eigenen Leben, die Kindheit im
Wesentlichen, niederschreiben, erfassen, festhalten. Es war wie eine
Pflicht. Vermutlich liegt der tiefenpsychologische Grund darin, daß mir die
Kindheit abrupt entrissen wurde, ich
immer nach ihr suchen mußte. Damit wäre ich auch bei der Frage nach
dem Inhalt: Es geht hauptsächlich
um den Heimatverlust (Tschechoslowakei) – den Krieg, die Heimatvertreibung 1946, die Versuche, ein Auffanglager zu überstehen, dann mich
in einem Dorf in Bayern zu halten, im
Nachkriegsdeutschland Fuß zu fassen.
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Wir wurden – von Staats wegen – in
ein Zimmer eines Bauernhofes einquartiert, der Bauer war nicht erfreut.
Der Vater war einfacher Gefreiter im
Krieg, dann Gefangener in Sibirien.
Ich lernte ihn praktisch erst als 9-Jähriger kennen. Die Volksschuljahre und
schließlich Oberschuljahre standen
natürlich unter dem Stern, daß ich
ein »Flüchtling« war, nicht zugehörig.
Die »längere Geschichte« endet dann
1956, als die Wiederbewaffnung fix
war und mit der Ungarnkrise der
nächste Krieg – ein dritter Weltkrieg
– drohte. Gab es dennoch Anstöße
aus der Literatur? Vielleicht unbewußt oder halbbewußt ... Ich hatte
viele Jahre immer den »Anton Reiser«
von K. P. Moritz vor Augen, der, wie
sein Autor sagte, das Leben in seinen
kleinsten »Nüancen« zeigen wollte.
So wollte ich auch alles Erinnerbare
festhalten ... festhalten, weil es davongeschwommen war. »Ich bin von zuhause fort und muß immerfort nachhause schreiben, auch wenn alles Zuhause längst fortgeschwommen sein
sollte in die Ewigkeit« – schrieb Franz
Kafka. Ich kann das als psychologische Begründung für mein Tun lesen
... Dann fällt mir aber auch auf, daß
ich tief unbewußt von meiner frühen
Lektüre von James Joycens »Portrait
des Künstlers als junger Mann« doch
stark geprägt wurde. Dort wird das
langsame Älterwerden, der Bewußtseinswandel, das Bewußtseinswachs-
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tum geschildert. Und gespiegelt im
Stil der Darstellung. Das fand ich
vorbildhaft, ungeheuer konsequent
gemacht. Das war ein Ideal ... das ich
nicht erreicht habe. Ich spiele auf das
Buch ab und zu an, besonders in den
»Digressionen«, Abschweifungen, in
denen bruchstückhaft – ohne Angaben – zitiert wird, auch aus anderer
Literatur, besonders jener, mit der
mich mein Anglistik- und Amerikanistik-Studium bekannt gemacht hat
(Faulkner, Saroyan, Hemingway, Eliot,
Pound, Beckett ...). Kurzum: Das Thema war ein Muß, während meine
Wünsche viel eher in Richtung Fiktion, Erfindung gegangen wären bzw.
noch gehen ...
G. H.: Steht Ihnen beim Schreiben fallweise der Literaturanalytiker im Weg? So nach der Art:
»Diese erzählerische Volte hat ja
schon dieser oder jener geschlagen«, oder: »Das hier klingt zu
sehr nach Surminski, Jirgl etc.
...«? Oder gelingt es Ihnen, einmal beim Thema, un»gestört« Ihr
Anliegen weiterzutreiben?
H. H. : Danke für das Stichwort, ich
meine: Heimatverlustromane. Jirgls
»Die Unvollendeten« schätze ich sehr.
Weshalb? Weil er konkret und anschaulich, also poetisch, zu schreiben
versteht. (Er ist wohl der Einzige, der
Arno Schmidts sprachspielerischen
Stil fortsetzt?) Sehr eindrucksvoll ist
der Beginn mit der Vertreibungs-Szene; »Vertreibung« ist hier das richtige
Wort. Tanja Dückers »Himmelskörper« geht m. E. zu weit weg vom
Thema; Wackwitz, »Ein unsichtbares
Land«, ist ungeheuer kenntnisreich,
fast ein Geschichtswerk. Aber ich
habe mich durch derlei Bücher nicht
»stören« lassen; es geht um eine so
individuelle Erfahrung, denke ich, daß
mich nichts stören konnte. Allerdings
stören Erfahrungen, die der »Literaturanalytiker« – in anderer Hinsicht
– gemacht hat: Dieses ernorme Können der Großen ist einfach einschüchternd. Wie erwähnt: »Portrait« von
Joyce ist so konsequent bei der einsinnigen Perspektive geblieben, in der
nur das Bewußtsein des erlebenden
Ich, Stephen Dedalus, gezeigt wird.
Ich hätte das gerne erreicht, aber
es ist nicht gelungen, nur teilweise:
Das erzählende Ich tritt immer wieder einmal gegen das erlebende Ich
an. Schade. Von »erzählerischen Volten« kann man, glaube ich, gar nicht
sprechen. Man hat mir schon meine
einfache Sprache vorgeworfen. Dazu:
Ich konnte es nicht besser. Ich vergehe vor Staunen, wenn ich auf den
Wortschatz in Joycens »Portrait of
the artist …« blicke – oder auf Jean
Gionos »Der Husar auf dem Dach«
– oder Arno Schmidt. Das ist Wahnsinn … Es ist vermessen, hier diese
Namen überhaupt zu nennen! An-
dererseits mag ich nicht die gedrechselte, gehobene, feine, feinsinnige,
edle, hochintellektuelle usw. Ausdrucksweise, ich finde das affektiert,
es ist mir geradezu peinlich … Mir ist
die Ausdrucksweise eines einfachen
Holzknechts irgendwie lieber als die
elaborierte Redeweise von Personen,
die etwas »Besseres« sein wollen, die
zeigen wollen, daß sie dem gehobenen Bürgertum, der Oberschicht, der
high society, der Elite usw. angehören. Also dieses (von mir aus: literaturwissenschaftliche) Wissen um die
Könner, das stört schon, das entmutigt. Besonders wenn ich an Proust
denke: Der hat ja auch Erinnerungen
niedergelegt. Seine »Recherche« ist
eigentlich auch kein »Roman«, wenn
ich das z. B. mit dem Plot, den Handlungssträngen, den Interaktionen in
den »Brüdern Karamasoff« oder im
»Idioten« vergleiche. Aber welche
Differenzierungen, welche Stimmungen, welche Szenen! Entmutigend
…
G. H.: Mündet die Erinnerungsbewegung dieses Romans in eine
Sichtweise des Zurückliegenden,
die mit der narrativen Adaption
auch ein (letztliches) Sich-einverstanden-Wissen mit sich bringt,
eine Art Rundung der Biographie?
In den »Dreharbeiten« herrscht
ja durchwegs ein düsterer Blick
auf die Welt vor, ausgenommen
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die eher farcenhaften Passagen,
denen auch eine gewisse Verachtung der erzählten Verhältnisse
zugrundeliegt. In welchem Winkel steht überhaupt der Roman
zu den Erzählungen?
H. H.: Wenn ich Sie richtig verstehe,
gilt die erste Frage dem Verhältnis von
erlebendem Ich (der Zurückliegende)
und erzählendem Ich (späteres Ich,
jetziges Ich) und der Möglichkeit von
Aussöhnung, Aussöhnung mit dem
Schicksal (der Vertreibung usw.). Ich
habe mich durchwegs bemüht, personal – aus der Sicht des Erlebenden – zu
erzählen; die gelegentlichen (leider geschehenen) auktorialen Kommentare
des erzählenden Ich, des jetzigen Ich,
geben Hinweise – ganz, ganz schwache Andeutungen – auf das, was aus
Keimen, Traumata usw. später geworden ist. Alles ist möglichst wertfrei –
neutral – geschildert: Also keine Anklagen, keine Satire wie in der Erzählungen »Dreharbeiten«. Trotz dieser
Wertfreiheit kommt es tatsächlich zu
einer Art »Rundung« der Biographie:
Man sieht, was man war, was man
geworden ist, Gutes und Schlimmes.
Man hat das Ganze vor sich. (Damit
das Buch keine larmoyante Nabelschau wird, habe ich dem Text einen
Epilog über die Katastrophen, die der
Nationalsozialismus mit sich brachte,
beigefügt.) »Rundung« bedeutet aber
nicht, daß alles in Butter war und ist;
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keine schöne Teleologie, kein reines
happy ending. (Das hat ja auch K. P.
Moritz nicht fertiggebracht.)
das ist jetzt natürlich vermessen …)
Dieses Wahrheitsverlangen steckte
schon in den Erzählungen.
Ich war nie Anti-Kommunist, nie
Tschechen-Hasser – wie viele Vertriebene. Also keine Anklage, keine Satire,
keine Attacke. Schließlich haben die
Nationalsozialisten den Krieg begonnen; ob die Vertreibung aus den Ostgebieten rechtens war, steht auf einem
anderen Blatt. Möglichst wertfrei also
– was natürlich nicht ausschließt, daß
gezeigt wird, daß es schlimme, traumatisierende Momente gegeben hat.
In manchen Kapiteln rückt die
»längere Geschichte« der Lyrik nahe.
Ich habe ja – in Phasen der Depression und des Pessimismus – zwei kleine
Gedichtbändchen veröffentlicht. Ich
habe sie – ich muß das hier anbringen – Beckett per Post geschickt; er
hat jedes Mal geantwortet. Zum ersten schrieb er 1982 »I am sipping at
your sad poems with relish«, zum
zweiten 1985 »Thank you for your
sad poems. I have read them with
pleasure.« Daß er von »Genuß«, relish sprach, hat mir gezeigt, daß ich
mit meinen pessimistischen Gedichten letztlich doch etwas Genießbares
beabsichtigt hatte, etwas Interessantes, Bildhaftes, Anschauliches. Nicht
nur etwas Tristes, Bekenntnishaftes.
Was mir gar nicht so bewußt gewesen war. Und es hat mir auch gezeigt,
daß Becketts düstere Weltsicht – zum
Beispiel in »Endspiel« oder »Molloy«
– offenbar mit Lust, vor allem mit Lust
am Witz, gepaart worden ist. Das war
mir damals – in meinem Tief – überhaupt nicht recht bewußt.
Die Erzählungen »Dreharbeiten«
sind – teils ins Groteske verzerrte –
Anklagen, Satiren auf erlebte Zurücksetzungen. Im Affekt geschrieben,
wertend; z. B. Geschehnisse in der
Universität Erlangen und der Universität Graz aufgreifend. Ich wollte – in
einigen Texten – eine Art literarische,
akademische Pornographie schreiben. (Leider wird niemand die literarischen Anspielungen erkennen.)
Vieles ist bekenntnishaft, wie jetzt
auch in der »längeren Geschichte«
(die man eigentlich nicht »Roman«
nennen kann), das bedeutet: sie sind
auch peinlich, ja, ich kann es nicht
ändern, deshalb nicht, weil ich mich
nicht verstecken wollte, nichts aussparen wollte, wahrhaftig sein wollte. (In dieser Wahrhaftigkeit berufe
ich mich gern auf Henry Miller; auch
G.H.: Haben wir es also mit einem
Autor zu tun, der aus dem Irrgang
der Welt genussvolle literarische
Funken zu schlagen weiß, einem
hedonistischen Pessimisten?
Nun ist ja der Umgang mit Geschichten, erzählender oder lesender Weise, selbst eine (privilegierte) Lebensform, die zu wählen Ihnen möglich war. Sind Sie
also, allen Anfangsbedingungen
zum Trotz, ein Hans im Glück?
Oder wie wäre der »persönliche
Mythos« (John Kotre) des H.H.H.
zu fassen?
H. H.: Darf ich noch etwas zu Ihrer hochinteressanten Frage nach der
»Rundung«, dem »Sich-einverstandenWissen« nachtragen (sie hängt ja mit
der neuen Frage zusammen): Eigentlich kann ich sie nicht beantworten.
Da wird der Leser – aus seiner Distanz
heraus – klarer sehen als ich. Ich habe
geschrieben wie hinein in einen dunklen »Tunnel« (Kafka); ich hatte kein
Konzept, das die Frage der Rundung,
des happy ending, des Lernprozesses,
der Bildung, der Wiederholung usw.
aufgeworfen hätte. Nachträglich kann
ich – auf Grund Ihrer Frage – erkennen, daß da verschiedene Absichten –
unbewußt – am Werk waren: Da gibt
es natürlich einen Wissenszuwachs,
aber wohl nicht unbedingt einen »Bildungsroman«, denn manches führte
eher zu einer »Mißbildung« (wie im
»Anton Reiser«). Da gibt es Traumata,
die wiederkehren. Einige schlimm. Andererseits taten sich Ressourcen auf,
die immer wieder angezapft werden
konnten. Von »Rundung« ist nur inso-
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fern zu sprechen, als das Buch zu einer
Gesamtschau auf ein Leben bzw. eine
Jugend führt (vielleicht interessant für
Psychologen).
Zu Ihrer neuen Frage nach dem
»hedonistischen Pessimisten«: Das
scheint mir gut getroffen, wobei »hedonistisch« wohl etwas übertrieben ist.
Der Text sollte einfach interessant sein,
wenn möglich. Manchmal näherte sich
das Trauma fast der Epilepsie und dem
Stottern, was man mir wohl nie angesehen hat. So etwas läßt sich nicht
ganz in »Hedonismus« auflösen. (Aber
interessant sollten die Leiderfahrungen
eben doch sein – »hedonistisch«? Das
Buch endet mit der Entdeckung von
Ressourcen, ein happy ending, wenn
Sie wollen: Das andere Geschlecht –
und die Kunst, die rettenden Bereiche.
Dennoch wird vielleicht auch klar, daß
dies Fluchtbewegungen sind bzw. waren. In diesem Finale steckt wohl ein
»mythisches Analogon«, etwas Konstruiertes, das dem Chaos des Lebens
nicht ganz gerecht wird: Der Mythos,
den man herauslesen kann, ist der
Mythos der rettenden Kunst – der Malerei, der Literatur. Und insofern mein
Beruf mit der Kunst der Literatur zu
tun hatte, ein durch Härten erworbener, aber doch »privilegierter« Beruf,
wie Sie andeuten, blieb ich bei einer
der Ressourcen und könnte – cum grano salis – von einer letztlich versöhnlichen Teleologie sprechen.
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Übrigens: Der Titel ist jetzt fix:
»Und keine Wiederkehr« … (nach
einem Gedicht von G. Benn). Der
Titel »Maikäfer flieg« kam leider
nicht in Frage, weil er schon vergeben war. Zur Debatte standen: »Der
Koffer mit der weißen Sechs« (dieser
Koffer wurde von meiner Mutter bei
der Aussiedlung gerettet) – und »Die
Silbermünzen« (auch hier handelt es
sich um gerettete – im Kinderwagen
versteckte – Münzen, die im Text erwähnt werden).
G. H.: Das ist ja ein höchst elegischer Titel, auf welche Unwiederbringlichkeit bezieht er sich? Auf
Personen, eine Gegend oder eine
Form von Heimat, ein (vermeintliches) Aufgehoben-Sein, das später in der Kunst/Literatur gesucht
wird? A propos: fällt der Roman
unter die Gattung »Künstlerroman«, in dem laut Marcuse die
»Zerrissenheit zu neuer Einheit«
gebunden wird, die Gegensätze
von Geist und Sinnlichkeit zusammengeführt werden (sollen)?
Oder bleibt der Protagonist letztlich dennoch Trost-los, weil Zeit
und Kunst eben nicht alle Wunden heilen?
H. H.: Ein wirkliches Trauma ist letztlich nicht heilbar, also muß man mit einer Wunde bzw. empfindlichen Narbe
zu leben lernen, letztlich »Trost-los«,
ja. Aber die ruhelose Libido sucht sich
dennoch Ressourcen, und, wie gesagt,
die schönen Mädchen und Frauen einerseits, die Musik, die Malerei und
die Literatur andererseits waren solche
Quellen (manchmal war der Pfeil des
Eros aber ganz schön vergiftet). Der
»elegische Titel« bezieht sich schon,
zweifellos, auf die Unwiederbringlichkeit, die ein Heimatverlust bedeutet,
vor allem ein Kindheits-Verlust, so
könnte man sagen, bedeutet. Gut, Sie
deuten an, »Heimat« gibt es im 20.
Jahrhundert nicht mehr, okay, aber
aus einer Gegend, einem Dorf, einem
Kontext, einer Familie (z. B. wenn der
Vater fehlt) entrissen zu werden, kann
doch den Verlust eines »Aufgehoben-Seins« – eines wirklichen, nicht
nur »vermeintlichen« »AufgehobenSeins« bedeuten …
»Künstlerroman« ist nicht ganz
treffend, es geht um ein ganz gewöhnliches Schicksal, nur am Ende
(am Ende der Pubertät) erscheint die
Kunst als eine Art Rettung. Ob da
»Geist« und »Sinnlichkeit« zusammenkommen und die Zerrissenheit
aufheben? Nicht ganz, denke ich …
Was mir nun bei unseren Überlegungen mehr und mehr auffällt, ist
die Tatsache, daß meine »Geschich-
te« nicht wirklich eine Konstruktion besitzt, ein großes Schema. Im
Grund geht es um eine Unzahl von
Eindrücken bzw. Beschreibungen unter der Fragestellung: Wieviel kann
ich von meinem Leben wissen, wieviel
kann ein anderer von meinem Leben
erfahren? Was ist erinnerbar? Wie ergeht es einem (anderen) Menschen
wirklich? (Nicht nur die Eckdaten,
wie z. B. in Benno von Wiese, »Mein
Leben«, interessieren mich.) Mit sozusagen »gleichschwebender Aufmerksamkeit« habe ich alles registriert, was
sich ereignet hat und im Gedächtnis
geblieben ist. Walser hat von Proust
gesagt, daß ihm alles gleich wichtig sei
und er deshalb an kein Ende komme
… So ist es mir ergangen, mit dem
Unterschied daß Proust eine adelige
Soirée beschreibt und ich eine Maus
im Suppentopf … Proust eine gotische
Kirche und ich einen Kuhstall.
Ich glaube, das Interview ist schon
lang genug? Haben Sie noch was im
Hinterkopf?
G.H.: Die nächsten Fragen kommen, wenn ich den Roman gelesen habe …
Das Interview führte Dr. Günter Höfler
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