Ein vergessenes Interview von Joseph Brodsky

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Ein vergessenes Interview von Joseph Brodsky
Neue Z}rcer Zeitung
FEUILLETON
Freitag, 11.02.2000 Nr.35
62
Dichter, Jude und Normalverbraucher
Ein vergessenes Interview von Joseph Brodsky
Am vergangenen 28. Januar jährte sich zum
viertenmal Joseph Brodskys Todestag. Aus diesem Anlass legte die Moskauer Literaturzeitung
«Ex Libris» in russischer Übersetzung ein bisher
unbekanntes Interview vor, das der Dichter und
Nobelpreisträger 1991 auf englisch gegeben hat,
das im originalen Wortlaut jedoch nie erschienen
ist. Es handelt sich bei dem späten Erstdruck um
einen weitläufigen, zwischen Tratsch und Kritik,
Belehrung und Erinnerung changierenden Gesprächstext, der trotz häufigem Themenwechsel
immer wieder – sei's anhand von Lektüre- oder
Schreiberfahrungen, sei's auf Grund von persönlichen Begegnungen – zu Brodskys dichterischem
Selbstverständnis zurückführt.
Das durchweg von einem launigen, bisweilen
polemisch verschärften, dann wieder selbstironisch aufgehellten Unterton geprägte Gespräch
ist ein insgesamt höchst aufschlussreiches Dokument. Einerseits gibt Brodsky detaillierte Auskünfte über seinen frühen Lebensgang und seine
dichterische Arbeit bis hin zur Zwangsausbürgerung im Jahr 1972, andererseits bilanziert er seine
Erkenntnisse aus der nachfolgenden Exilzeit in
den USA und legt eine Art summa poetica vor,
die noch einmal in wenigen einprägsamen Strichen den Grund- und Aufriss seines dichterischen
Schaffens vergegenwärtigt und dessen ethische,
wenn nicht gar religiöse Dimension vor Augen
führt. Nebst brillanten Apostrophierungen berühmter Zeitgenossen wie W. H. Auden, Wallace
Stevens oder Robert Lowell und detaillierten
Hinweisen auf «handwerkliche» Probleme der
Schreibarbeit (etwa im Bereich der Strophik, der
Reimbildung) finden sich bei Brodsky zahlreiche
bekenntnishafte Aussagen zu seiner eigenen
sozialen, politischen und «metaphysischen» Befindlichkeit als Autor.
Angesprochen auf sein oft zitiertes, 1964 vor
einem Leningrader Gericht formuliertes Diktum,
wonach die Poesie – seine Poesie – «von Gott»
komme, bestätigt Brodsky das damals Gesagte
mit folgenden Worten: «Einen derartigen Satz
kann sich auch jemand erlauben, der nicht an
Gott glaubt. In meinem Fall verlief alles buchstäblich nach dem Willen der Vorsehung, des Zufalls, der Natur oder eben, wenn Sie so wollen,
nach dem Willen Gottes. Ich weiss nicht mehr, ob
ich damals irgendeinen Sinn in das Gesagte legte,
es war nur einfach ein ganz natürlicher Vorgang,
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das Wort löste sich schlicht von der Zunge ab.»
Und ergänzend, auch präzisierend dazu heisst es
an anderer Stelle: «Alles in allem glaube ich, dass
der Dichter sich ganz seiner Aufgabe zu widmen
hat, dass er sich mit dem begnügen muss, was er
wahrnimmt, oder aber mit dem, was die Sprache
ihn wahrzunehmen zwingt. Der Dichter hat nur
einfach Reime herzustellen, er hat Dinge mit Begriffen zu verbinden, muss präzise mit Bildern
oder Verknüpfungen arbeiten, soll sich ganz auf
sein Gehör verlassen.» Implizit wird hier die
Sprache als eigengesetzliche, dem Dichter übergeordnete Instanz beglaubigt und somit dem
gleichgesetzt, was Brodsky einst «Gott» oder
«das Allerheiligste» genannt hat.
Zu einem quasireligiösen, wenn auch letztlich
doch wieder dichterischen Credo lassen sich in
Brodskys Gesprächstext jene Stellen synthetisieren, die sich auf sein Selbstverständnis als Jude
beziehen. Zwar begreift sich Brodsky als «einhundertprozentigen Juden», doch sind ihm jüdische Glaubenspraxis und jüdisches Kollektivbewusstsein stets fremd geblieben. Die «Auserwähltheit» des Juden setzt er seiner Auserwähltheit – als Dichter – durch die Sprache gleich, und
ebenso erkennt er im jüdischen «Aussenseitertum» sein eigenes gesellschaftliches Aussenseitertum als Künstler; im einzelnen führt er dazu aus:
«Im Verlauf der Jahre fühlte ich mich weit mehr
als Jude denn jene Leute, die nach Israel ausreisen . . . Gedichte führen einen oft dahin, wo man
sich keineswegs einfinden wollte . . . Was die Idee
der höheren Gerechtigkeit im Judentum betrifft,
so ist diese ziemlich eng mit dem verbunden, was
ich beruflich mache. Und mehr als das – die Art
dieses Handwerks macht einen gewissermassen
zum Juden, das Judesein ist eine Folge davon.
Und so sind denn auch alle Dichter, aufs ganze
gesehn, innerhalb ihrer Gesellschaft in isolierter
Position.»
Brodsky verweist in diesem Zusammenhang
darauf, dass in Russland «mindestens 50 Prozent
all jener, die sich in unserem Jahrhundert für
Dichter hielten, auch Juden waren», und die übrigen 50 Prozent, so müsste man in seinem Verständnis hinzufügen, waren «Juden», weil sie
Dichter waren . . . – Unter diesem (durchaus diskutablen) Gesichtspunkt analysiert Brodsky im
weiteren die Poetik, das «Handwerk», das künstlerische Ethos jüdischer Dichter wie Mandelstam
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und Pasternak, aber auch die gleichermassen
machtvolle dichterische Rede einer Marina Zwetajewa oder Anna Achmatowa, die als nichtjüdische Autorinnen das «jüdische» Schicksal der
Ausgrenzung, Ausweisung und Ausmerzung (zumindest aus Bibliotheken und Schulbüchern) zu
bestehen hatten. Für Joseph Brodsky steht fest,
dass nur der Dichter als Jude beziehungsweise
der Jude als Dichter – und beide im Bewusstsein,
niemals irgendeiner Normalität entsprechen (oder
gar ihr angehören) zu können – eine wahrhaft
autoritative Stimme zu entwickeln vermögen. Der
Preis dafür im ausserliterarischen Bereich, kurz:
im Leben, ist hoch – nicht selten ist das Leben
selbst der Preis.
Erstmals stellt Brodsky im vorliegenden Gespräch das Leben alternativ der Kunst gegenüber
und unterstreicht die Notwendigkeit, diesbezüglich eine Wahl zu treffen; seine Erklärung dazu
und seine eigene Stellungnahme sind gleichermassen überraschend: «Das Problem ist also
letztlich folgendermassen zu fassen: Was ziehst
du vor – eine autoritative Stimme zu sein im Ge-
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folge eines Mandelstam (jahrelang verfolgt, gestorben in einem stalinistischen Durchgangslager), einer Marina Zwetajewa (jahrzehntelang
im Exil, Selbstmord nach der Rückkehr in die
UdSSR) oder einen Zustand, der dir, wie den
meisten Menschen sonst, ein wohlgeordnetes
Leben zum Nachteil deiner autoritativen Stimme
ermöglicht? Ich würde, ohne zu wanken, das
zweite wählen.» Offen bleibt, ob der späte Brodsky sich bei dieser Aussage, die ja eigentlich ein
Geständnis ist, von Resignation oder von tieferer
Einsicht hat leiten lassen. Hat er den Glauben an
die Kunst als die höchste ästhetische und ethische
Instanz aufgegeben zugunsten einer bürgerlichen
Existenz und dem Komfortbedürfnis des Normalverbrauchers zuliebe? «Die Sache ist die», so präzisiert Joseph Brodsky anderweitig im Gespräch,
«dass mich die eigene Stimme ein bisschen müde
gemacht hat . . .»
Felix Philipp Ingold
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