1 Domprediger Thomas C. Müller Ostermontag, 9. April 2012, 10

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1 Domprediger Thomas C. Müller Ostermontag, 9. April 2012, 10
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Domprediger Thomas C. Müller
Ostermontag, 9. April 2012, 10 Uhr
Predigt über Lukas 24, 13-35
Predigt zu Lukas 24, 13-35 im Rahmen des Kantatengottesdienst (Bach, Kantate „Bleib bei uns, denn es
will Abend werden“ BWV 6)
Bleib bei uns, denn es will Abend werden,
und der Tag hat sich geneigt.
„Bleib, ach bleibe unser Licht,
Weil die Finsternis einbricht.“
Liebe Gemeinde,
gerade ist die Ostersonne das zweite Mal aufgegangen, schon ist wieder vom Abend die Rede. Schon
wird in der Kantate die einbrechende Finsternis wieder beschworen. Halten wir das helle Morgenlicht
des Ostertages nicht aus? Ist es uns gleich zu viel, wenn so volltönend vom Triumpf des Lebens über den
Tod gesprochen wird?
Ostern hat die Grenzen gesprengt. Aber das Begreifen, das Verstehen bleibt eingespannt in den Abend
und in den Morgen, bleibt gebunden an unser alltägliches Bewusstsein, an unsere Stimmungen, unsere
Blockaden, die Blindheiten unseres Lebens.
Das Herz weiß ja, wie Tod und Trennung sich anfühlen. Wie sich das anfühlt, was nie vorher gewesen
ist, weiß es nicht. Dazu braucht es Zeit, eine Geschichte, einen Weg.
Von einem solchen Weg erzählt der Evangelist Lukas. Am Ende seiner Geschichte sagen zwei Menschen:
„Bleibe bei uns, denn es will Abend werden.“ Bevor sie das aber sagen können, müssen sei einen weiten
Weg zurücklegen. Es ist ein Weg, der vom Diesseitsglauben zum Osterglauben wird. Und wir wollen ihn
einige Schritte mitgehen.
Dieser Weg beginnt nicht als Rückweg nach Emmaus. Dieser Weg fängt mit einem Hinweg an. Hinweg
zu einem, der neues Leben versprochen hatte, der neu und unverbraucht den alten Glauben neu
aussprach und nicht nur aussprach, sondern Wirklichkeit werden ließ. Gott – nicht nur eine
theoretische Möglichkeit, nicht nur ein Gedanke der religiösen Überlieferung, nicht nur ein Gesetz,
nicht nur ein Faktor der Moral. Sondern Leben, Wahrheit, Liebe. In ihm war Gott so nah, sodass sich die
Dinge zusammenfügen. Endlich war da etwas, woran man glauben konnte. Sie hatten etwas gefunden
und sie wollten es nicht verlieren.
Aber jetzt hatten sie es verloren. Ein Versprechen von Leben, das sich als Versprecher erwies. Der Tod
am Kreuz offenbarte es.
Die Reihe der Geschichten von Aufbruch, Hoffnung, neuem Glauben und Enttäuschung, ob sie nun
plötzlich oder schleichend eintrifft, ist endlos. Solche Geschichten ereignen sich auch nicht nur einmal
im Leben, sondern immer wieder.
Da erinnert sich ein alter Mann mit Tränen in den Augen an seine Kindergottesdienstzeit, an die Lieder
die er voll Inbrunst mitsang, an die Gebete, die er voll Überzeugung sprach. Und man merkt: Eigentlich
hat er nie verwunden, dass er das verlor: als junger Mann, der nicht mehr an den Mann im Himmel
glaubte, als Soldat, der zu viel Elend gesehen hat. Da erzählt ein anderer von den Abenden am
Lagerfeuer, den frommen Liedern von der Gitarre begleitet, von dem Gefühl der Gemeinschaft, der
Zusammengehörigkeit. Und da war Gott, lebendig und nah, wie der Freund an der Seite. Und dann
verflüchtigt sich die Gemeinschaft in alle Richtungen und der Glaube zerrinnt unter den Fingern wie
Sand.
Das sind nicht einfach sentimentale Geschichten an die schönen alten Zeiten, die da erzählt werden.
Solche Erfahrungen prägen, schleifen sich ein, schleifen etwas in der Seele ab, lass uns immer wieder
ein Stück abgestumpfter und ärmer zurück. Manchmal schleichend, sodass man nur irgendwann eine
Lücke oder eine Leere wahrnimmt, manchmal plötzlich und schmerzhaft.
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Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Ich bin sicher, wir wären heute Morgen nicht hier, wenn es nicht in unserem Leben irgendein Gefühl
davon gäbe, was Nähe Gottes für uns ist und wo wir vielleicht einmal einen Hauch davon gespürt
haben. Aber ebenso kennen wir wohl auch den Verlust solcher Nähe und Klarheit.
Die Jünger jedenfalls haben diese Enttäuschung gerade erst hinter sich. Aber es ist nicht einfach das
bedauernswerte Ende von Hoffnungen und Idealen. Sie sind dem Tod begegnet. Der Tod ist Trennung.
Abriss. Wir: nie mehr zusammen. Ich: allein. Ohne dich. Ohne uns. Was zu mir gehörte, wird mir
genommen. Herausgerissen wird der Teil der Seele, der sich mit einem verband.
Das Herz weiß, wie sich das anfühlt. Im Verborgenen weiß es, dass die Zeit allein keine Wunden heilt.
Sie macht vielleicht den Schmerz stumpfer. Es geht auch nicht irgendwie weiter, auch wenn man
weiter macht. Manche kehren zurück in ihren Alltag als wäre nichts geschehen, wie die Jünger nach
Emmaus zurückkehren wollen. Man funktioniert, vielleicht funktioniert man gut. Aber irgendwann
merken sie: Der Tod ist ihnen verkapselt. Sie tragen ihn mit sich als Gleichgültigkeit, als Taubheit, als
Beschluss, sich dem Leben und anderen Menschen zu verschließen.
Nein, es ist nicht einfach die Zeit, die den Schmerz heilt. Es ist der nächste Schritt auf dem Weg. Wer
es nach großen Enttäuschungen und Abschieden schafft einen Schritt in Richtung Leben weiterzugehen
trotz Schmerz und Trauer, der ist schon in Richtung Osterweg, ohne dass er oder sie es weiß. Und die,
die die still mitgehen, zuhören, aushalten, das wiederholte Klagen anhören, 1x, 10x, 50 x, dabei nicht
weggehen und sich umdrehen, die werden zu österlichen Wegbegleiter, auch wenn kein Wort über
Glaube fällt.
Auch der unerkannte Auferstandene, der sich zu den Jüngern gesellt, fragt und hört lange zu. Christus
drängt sich nicht auf. Irgendwann kommt der Punkt, wo der Blick wieder geweitet werden kann. Wo
wir über den Sinn dessen nachdenken, was uns begegnete.
Dann aber sprach er zu ihnen: „O ihr Toren, zu trägen Herzens all dem zu glauben, was die Propheten
geredet haben! Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an
bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.“
Dahinter steckt die alte Frage: warum? Warum musste dieses Leiden sein? Warum muss überhaupt
Leiden sein?
Wir sind heute skeptisch gegenüber religiösen Erklärungen des Leidens. Kann man denn das Leiden
verrechnen gegen das, was danach kommt? Musste erst der Krebs kommen, damit der Mann wieder zu
seiner Familie kommt? Musste der Alkohol erst alles zerstören, damit eine zur Besinnung kommt? Muss
ein Kind sterben, damit die Straße mit einer Ampel ausgestattet wird? Kann man die Toten des 2.
Weltkriegs verrechnen gegen den Frieden und den Wohlstand, der danach kam? Wohl kaum. Aber im
dem, was Jesus aus der Heiligen Schrift erklärt, geht es auch nicht um eine Geschichtslogik, nicht
darum, dass die Welt ein Schachbrett ist, auf dem Gott die Figuren so oder so zieht, damit der König
mattgesetzt wird. Jesus erklärt aus der Heiligen Schrift heraus. Er öffnet den Emmausjüngern die Augen
dafür, wie vordergründig ihr Glaube ist. Sie glauben an den Gott der geraden Wege. Sie glauben: Wo
Gott am Werk ist, da ist Erfolg, Glück und Leben. Da werden die Ungerechten bestraft und die Guten
belohnt. Und die im Auftrag Gottes Handeln gehen siegreich ihren Weg und werden beschützt auf allen
Wegen.
Wir können natürlich schnell darüber hinweggehen und sagen, dass wir das ja längst wissen, dass es
nicht so ist. Aber wenn wir ehrlich sind, dann merken wir: Tief im Herzen möchten wir es genauso
glauben. Wir wollen, dass die Welt in Ordnung ist. Wir wollen, dass unsere Welt in Ordnung ist. Wir
wollen, dass Gott dafür sorgt. Wir wollen, dass Gott uns schützt und bewahrt. Wenn wir seine Gebote
halten, können wir das erwarten. Wir wollen, dass er sich an die Regeln hält. An unsere Regeln.
Ich meine, dass dieser Glaube – vielleicht unbewusst – in uns allen sehr lebendig ist. Aber die Heilige
Schrift, und das ist für Jesus das Alte Testament, erzählt von einem ganz anderen Gott. Einem Gott, der
nicht von oben herab die Strippen in dieser Welt zieht, sondern einen Gott, der wie ein Hindernisläufer
sich durch die von Menschenhand verworrene Welt einen Weg bahnen muss. Weil der gerade Weg
verstellt ist, muss er oft den krummen Weg gehen. Auf dem Weg will er Menschen nicht überwältigen.
Dazu gehört, dass er in dieser Welt oft vor allen Augen unterliegt. So wie bei Jesus von Nazareth. Nur
durch Niederlagen hindurch kommt er mit uns zu seinem Ziel.
Der Glaube an den Gott der geraden Wege stirbt mit dem Jesus, der gekreuzigt wird.
Ja, dieser Glaube muss sterben. Denn dieser Glaube wird nicht fertig mit dem Zerbrechen der Träume,
der Hoffnungen, den Desillusionierungen, den Enttäuschungen. Dieser Glaube wird nicht fertig mit dem
Tod. Er stößt an eine Grenze, die er nicht überwinden kann. Denn er ist ein Diesseitsglaube. Es gilt ihm
nur, was hier und jetzt gilt. Aber es gibt noch einen Glauben, der in der Niederlage neu geboren wird.
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Einen, der an der Grenze des Todes nicht haltmacht. Es gibt den, der selbst an der Grenze des Todes
nicht haltmacht.
Auch davon erzählt der unerkannte Auferstandene. Die Emmausjünger hören das. Aber sie begreifen es
noch nicht. Wie sollten sie etwas begreifen, was unglaublich ist. Welcher Glaube sollte das denn sein,
der selbst sein Zerbrechen überlebt? Zurück in ihrem Heimatdorf Emmaus ist es nur ein unbestimmtes
Gefühl der Erinnerung und Sehnsucht, dass sie erfüllt. Fühlt es sich nicht genauso an, wie damals in der
Zeit der Suche, des Aufbruchs bei Jesus? War es nicht dieses gleiche Brennen, das sich da in ihren
Herzen breitmacht? Sie wollen das jetzt nicht loslassen. Und bitten: Bleib bei uns, Herr, denn es will
Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Und er bleibt, bricht ihnen das Brot. Und jetzt erkennen
sie ihn.
Das Herz weiß, wie sich Schmerz, Tod und Abschied anfühlen. Aber jetzt ahnt es vielleicht, wie sich
Auferstehung anfühlt. Nämlich wie ein Wiedersehen und Wiedererkennen. Das Wiedererkennen einer
Nähe, die Leben bedeutet hat. Einer Nähe, die wir vielleicht schon einmal spürten: als Kind, als junger
Mensch, als Erwachsener.
Eine Nähe, die wir fühlten, und die dann doch wieder verloren ging. Nun ist sie wieder da. Anders als
vorher, mit Wundmalen gezeichnet, ohne die Illusionen vom heilen Leben und den immer geraden
Wegen, aber lebendiger denn je. Wiederbegegnung mit dem, der uns ein Leben lang unerkannt
begleitet.
„Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden.“ Als sie die Jünger das sagen, ist es noch kein
Osterglaube, vielmehr eine Osterahnung.
Aber vielleicht drückt das unsere Situation sogar besser aus, als das Wort Osterglaube.
Schon in der Ahnung und der Sehnsucht ist der Auferstandene gegenwärtig. Denn es ist die Ahnung,
dass einen gibt, für den der Tod nicht die unüberwindliche Grenze ist. Der mitgehen kann, der nahe
bleibt, auch dann, wenn wir die Grenze am Abend unseres Lebens überschreiten. Der an unserer Seite
bleibt und nicht mehr von uns weicht. Auch dann nicht, wenn wir ihn nicht mehr erkennen können.
Auch dann nicht, wenn sich unser Weg wieder verdunkelt, wenn wir das Licht selbst verstellen.
In dieser Osterahnung reift ein Glaube, der auch die Katastrophen und Enttäuschungen des Lebens und
sogar den eigenen Unglauben überleben kann.
Der auch die größte Enttäuschung überleben kann: den Tod. Diese Grenze ist keine Grenze mehr für
ihn. Sondern ein Tor, an dem er uns an die Hand nimmt, um uns ins Land der Lebendigen zu führen.
Dieser Glaube hat ein Gebet, das die Grenzen weit überschreitet: Bleibe bei uns, Herr, denn es will
Abend werden.
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus
Jesus. Amen.
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