Werner Herzog: Nosferatu - Phantom der Nacht
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Werner Herzog: Nosferatu - Phantom der Nacht
Inga Ervig Werner Herzog: Nosferatu - Phantom der Nacht Studienarbeit Dokument Nr. V61696 http://www.grin.com/ ISBN 978-3-638-55101-4 9 783638 551014 Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg Proseminar: Vampirismus in kulturgeschichtlicher Perspektive WS 2003/04 Thema: Werner Herzog: „Nosferatu – Phantom der Nacht“ Referentin: Inga Ervig Germanistik (HF) 3. Semester Volkskunde (NF) 3. Semester 1 Inhalt 1.0 Einleitung ............................................................................................................................ 3 2.0 Biographie Werner Herzogs................................................................................................ 3 2.1) Jugend......................................................................................................................... 3 2.2) Herzog als Regisseur.................................................................................................. 4 2.3) Zusammenarbeit mit Klaus Kinski............................................................................. 4 2.4) Typisch Herzog............................................................................................................... 5 3.0 Film: „Nosferatu – Phantom der Nacht“ ............................................................................. 7 3.1) Inhalt........................................................................................................................... 7 3.2) Herzogs Vorbilder ...................................................................................................... 8 3.2.1) Friedrich Wilhelm Murnau..................................................................................... 8 3.2.2) Bram Stoker............................................................................................................ 8 3.3) Hommage an Murnau ..................................................................................................... 9 3.3.1) Übereinstimmungen..................................................................................................... 9 3.3.2) 3.3.2.1) Unterschiede........................................................................................................ 10 Filmanfang ....................................................................................................... 10 3.3.2.2) Schauplätze ............................................................................................................. 11 3.3.2.2.1) Fußweg................................................................................................................. 12 3.3.2.2.2) Schloss Draculas .................................................................................................. 13 3.3.2.3)Vampirdarstellung.................................................................................................... 13 3.3.2.4) Darstellung der Pest ................................................................................................ 14 3.3.2.5) Filmende ................................................................................................................. 16 4.0) Fazit................................................................................................................................... 18 Literaturverzeichnis.................................................................................................................. 19 2 1.0 Einleitung „Nosferatu – Phantom der Nacht“ ist ein umstrittenes Produkt des berühmten Regisseurs Werner Herzog. Das Remake des Stummfilmklassikers von 1921 stellt eine Hommage an Wilhelm Friedrich Murnau, Herzogs großes Vorbild, dar. Dennoch sind Unterschiede auffällig; in gewissen Punkten weicht Herzog scheinbar bewusst von seiner Vorlage ab. Diese Arbeit stellt den Regisseur und sein Werk vor. Überdies biete ich Ansätze für eine Interpretation des Films unter Berücksichtigung der filmtechnischen Mittel, die Herzog einsetzt. 2.0 Biographie Werner Herzogs 2.1) Jugend Werner Herzog (damals: Werner Stripetic) wurde am 5. September 1942 in München geboren. Seine Eltern ließen sich scheiden. Deswegen wuchs er zusammen mit seinen zwei Brüdern bei seiner Mutter in den abgeschiedenen Bergen Oberbayerns auf. Als Kind lebte Herzog also weit entfernt von Film und Fernsehen auf einem Bauernhof – sein erstes Telefonat soll er mit 17 geführt haben. Als die Familie 1953 zurück nach München in eine Pension zog, lernt Werner Herzog dort den jungen Klaus Kinski kennen, welcher ebenfalls für drei Monate im gleichen Haus wohnt.1 In seinem 14. Lebensjahr konvertierte Herzog zum Katholizismus. Diese Auseinandersetzung mit Religion prägt Herzogs Filme im Erwachsenenalter. Außerdem war Herzog Weltreisender; er besuchte per Anhalter zuerst Jugoslawien und dann Griechenland. Mit 17 Jahren hatte er abwechselnde Jobs; u. a. auch im Ausland. 1 Presser, Beate (Hrsg.): Werner Herzog. Berlin 2002, S 122. 3 Nach seinem Abitur (1961) beginnt Herzog ein Studium der Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften. Dies setzt er in Pittsburgh fort. Kurz darauf beginnt er, Kurzfilme zu drehen, die er zunächst als Akkordarbeiter in der Stahlindustrie finanziert. 2.2) Herzog als Regisseur Seinen Kurzfilm „Herakles“ (ein kurzer Dokumentarfilm über Body-Builder) realisiert Herzog 1962 noch als Autodidakt. Nur ein Jahr später, 1963, gründet er seine eigene Filmproduktionsfirma, zu der bald sein Bruder Lucki Stipetic stieß. Weitere Filme wie „Die beispielslose Verteidigung der Festung Deutschkreuz“ (1966), „Spiele im Sand“ (1964, unveröffentlicht) und „Letzte Worte“ (1967) entstanden. Für letzteren erhielt der Jungregisseur den Hauptpreis bei den Filmfestspielen in Oberhausen. Die Prämie und Förderungsbeiträge des Kuratoriums Junger deutscher Film ermöglichten die Finanzierung seines ersten Langfilms „Lebenszeichen“ (1968). Dieser wird mit dem „Deutschen Filmpreis“ ausgezeichnet und auf der Berlinale 1968 erhält Herzog den „silbernen Bären“ für das beste Debüt. „Auch Zwerge haben klein angefangen“ (1970), in dem Zwerge auf einer einsamen Insel Parodien des Alltagslebens darstellen, „Land des Schweigens und der Dunkelheit“ (1971), ein einfühlsamer Film über das Leben einer Taubblinden, welche anderen Menschen mit gleichem Schicksal helfen will, folgen. Mit „Aquirre, der Zorn Gottes“ (1972), ein aufwändiger Historienfilm und „Jeder für sich und Gott gegen alle“ (1974), eine Verarbeitung des Caspar Hauser Stoffes, festigen Anfang der 70er Jahre Herzogs guten Ruf als Autorenfilmer und Herzog wird mit „Nosferatu –Phantom der Nacht“ (1979) und „Woyzeck“ als einer der führenden Vertreter des Neuen deutschen Filmes anerkannt.2 2.3) Zusammenarbeit mit Klaus Kinski Letztere Filme sind Beispiele für die besonders enge Zusammenarbeit mit Herzogs „Liebsten Feind“ Klaus Kinski. Diese Verbindung mit dem exzentrischen Schauspieler, der einzigen männlichen Diva der deutschen Filmgeschichte, wird oft als Hassliebe beschrieben. Szenen beim Dreh belasteten wohl nicht nur Herzog. Bezeichnend für die Beziehung zwischen dem Schauspieler und dem Regisseur war ein tiefes Vertrauen zueinander, welches zugleich von Mordplänen begleitet wurde, die sie gegeneinander schmiedeten. 2 Liz-Anne Bawden (Hrsg.): Buchers Enzyklopädie des Films. Frankfurts a. m. 1977, S. 341. 4 Für die Rolle des Vampirs in „Nosferatu“, kam jedoch niemand anderes als Kinski in Frage. „Hätte Kinski das damals nicht gemacht – hätte ich es selbst tun müssen“3, so Herzog. 1999, acht Jahre nach Kinskis Tod, dreht Herzog sogar eine Rückschau auf seine Zusammenarbeit mit dem Egomanen („Mein liebster Feind“). 2.4) Typisch Herzog Seine Drehorte befanden sich rund um die Welt. Herzogs Besessenheit bezüglich seiner Projekte waren charakteristisch: „Wenn es dem Film nützt, [würde er] auch zur Hölle fahren und dort drehen“.4 Herzog schreckte vor nichts zurück, wenn es um seine Filmprojekte ging: Als ein Statist zu große Bedenken hatte für eine Szene ins offene Meer zu springen, versprach Herzog fünf Sekunden nach der Aufnahme hinterherzuspringen. Als plötzlich ein Windstoß kam und das Segelboot abdrängte, ertranken die beiden Männer fast. „Film muss physisch sein“5- ganz nach dem Motto ließ sich Herzog am Tag bis zu 30 mal von Ratten beißen bei dem Versuch, sie außeinander zu treiben. Motive in Herzogs Filmen sind immer wieder die Suche nach „neuen Bildern (Windmühlen in ‚Lebenszeichen’, Traumvisionen in ‚Kaspar Hauser’) und das Vorwärtstasten nach neuen Einsichten über uns selbst“6, welche er durch die Darstellung von Menschen in Extremsituationen aufzuzeigen versucht. Um diese filmischen Ziele zu erreichen, ist Herzog zu großen persönlichen Opfern bereit: Am konsequentesten drückt Herzogs diese Motive in „Herz aus Glas“ (1976) aus (einem Film über einen seherisch begabten Hirten, der zum Objekt einer Studie über kollektiven Wahnsinn wird), in dem er alle Schauspieler unter Hypnose agieren lässt.7 In seinen Filmen spielen häufig zwei Figurentypen eine übergeordnete Rolle: die des Außenseiters und die des Rebellen. ‚Kaspar Hauser’ ist ein prominentes Beispiel für erstere, und ‚Stroszek’ in „Zeichen des Lebens“ für die zweite Rolle. Außerdem spielt in Herzogs Filmen Musik eine wichtige Rolle, für die Zusammenarbeit mit Florian Fricke wegweisend ist. Bekannt ist er weiterhin dafür, neben professionellen Schauspielen Laien vor die Kamera zu stellen. So spielt beinahe das komplette Produktionsteam Statisten und Kleinstrollen in Nosferatu. Seine eigene Frau Martje spielt 3 Werner Herzog im Filmkommentar zu „Nosferatu- Phantom der Nacht.“ Spiegel, 47/ 1975 5 Presser, Beate (Hrsg.): Werner Herzog. Berlin 2002, S. 1. 6 Werner Herzog, aus: Notizen zu „Herz aus Glas“. 7 Liz-Anne Bawden (Hrsg.): Buchers Enzyklopädie des Films. Frankfurts a. m. 1977, S. 341f. 4 5 Mina – die Freundin Lucys –, während Bühnenbildner und Tonassistent eine illustre Tischgesellschaft mimen. Die jugendliche Phase, in der er sich mit religiösem Glauben beschäftigte (s.o.), hallt wie ein entferntes Echo in den meisten seiner Filme mit. Auch als Erwachsener interessiert sich der Regisseur für religiöse Zeremonien und (oft extreme) Zeichen der Frömmigkeit. Außerdem sagt man Herzog einen Hang zur deutschen Romantik nach. Sieht man seine Filme an, ist dies unbestreitbar. Einer seiner ersten Fernsehfilme, „Lebenszeichen“ thematisiert eine kurze Geschichte Achim von Arnims, einer der Schlüsselfiguren dieser Epoche. Weiterhin bewundert Herzog die Arbeiten Caspar David Friedrichs – des Malers der Romantik schlechthin. Dieses Vorbild beeinflusst viele Figurenanordnungen und Beleuchtungstechniken in seinen Filmen. Überdies hinaus begleitet Wagners Musik, auch in Herzogs Nosferatu, jeher romantische Motive und Themen. (Seine Beziehung zum deutschen Expressionismus ist ähnlich. Wie die Filmemacher und Dramatiker dieser Zeit versucht Herzog die innere Stimmung in die äußere Welt zu projezieren.).8 8 Prawer, S. S.: Nosferatu – Phantom der Nacht. Norfolk 2004, S. 18f. 6 3.0 Film: „Nosferatu – Phantom der Nacht“ 3.1) Inhalt Ein Prolog, die Darstellung unheimlicher Mumien und das Flügelflattern einer Fledermaus, ist dem Film vorangestellt. Diesem folgt der Hauptfilm, der 1850 in Wismar, einer kleinen Hafenstadt an der Ostsee, spielt. Dort schickt der seltsame Grundstückmakler Renfield seinen Angestellten Jonathan Harker nach Transsilvanien zum Schloss von Graf Dracula, um diesem ein altes Haus zu verkaufen. Eine hohe Provision in Aussicht, reist Harker trotz böser Vorahnungen seiner Frau Lucy, die er in die Obhut seiner Schwester Mina gibt, ab. Vier Wochen dauert die anstrengende Reise von Wismar in die sagenumwobene Heimat Draculas. Eine Tagesreise vom Schloss entfernt rastet Harker in einem Gasthof, wo ihn die Zigeuner davon abbringen wollen, weiter zu reisen: Denn wer dorthin fährt, kommt nicht mehr zurück. Jonathan setzt seine Reise dennoch zu Fuß fort, da kein Kutscher bereit ist, ihn zum Schloss zu fahren. In einer unheimlichen Schlucht holt ihn eine Kutsche ein, die ihn zu seinem Ziel bringt. Der gespenstische Graf mit kahlem Schädel und tief eingesunkenen Augen öffnet ihm die Tür. Nach der Begrüßung bewirtet der Graf seinen Gast: Beim Essen schneidet sich Jonathan versehentlich in den Daumen, worauf Dracula die blutende Hand an sich reißt und auszusaugen beginnt: „Aussaugen ist das älteste Heilmittel der Welt“. Am folgenden Tag erwacht Harker allein im Schloss. Er fühlt sich ausgelaugt und durchstreift das alte Schloss. Überall nur Moder und Zerfall – kein Lebewesen weit und breit. Abends erscheint Graf Dracula, den eine Verkaufsverhandlung zunächst nicht interessiert, erst als Lucys Bild auf den Tisch fällt, unterschreibt der Alte den Vertrag ohne Zögern. Als er um Mitternacht in Harkers Zimmer eindringt, schreckt Lucy, zur gleichen Zeit in Wismar von Alpträumen geplagt, auf. Ihr Schlafwandeln diagnostiziert der Arzt Dr. van Helsing als „akuten Fieberanfall“. Am nächsten Tag ahnt Jonathan den wahren Sachverhalt und sucht den Grafen im Schloss, wo er ihn schließlich im Keller, wie einen Toten im Sarg liegend, findet. In der Abenddämmerung hört er Geräusche vom Hof: Nosferatu stapelt Särge auf einen Wagen – in den obersten legt er sich selbst und fährt los. Für Jonathan ist klar, dass sich seine Frau in Gefahr befindet. Bei dem Versuch, aus dem Fenster zu fliehen und nach Hause zu kommen, verletzt er sich und wird von Zigeunern aufgenommen. Während sich Nosferatu bereits in seinem Sarg auf einem Schiff nach Wismar befindet, reitet der fiebrige Jonathan mit ihm auf dem Land um die Wette. Als das Segelschiff in Wismar ankommt, ist die ganze Besatzung tot es wimmelt vor Ratten, die die Stadt überfluten und die Pest verbreiten. Der verrückt gewordene Renfield 7 freut sich, dass sein „Meister“ gekommen ist. Apathisch kehrt Jonathan nach Wismar zurück und erkennt niemanden mehr, selbst seine Gattin nicht. In der gleichen Nacht sucht Dracula Lucy heim, von der er zurückgewiesen wird. In der Stadt greift während dessen die Pest um sich; als Lucy aus einem Buch die verwundbaren Stellen Draculas erfährt, entschließt sie sich, das Ungeheuer zu vernichten. Sie kennt die Lösung: Wenn sich eine Frau, die „reinen Herzens“ ist, dem Vampir hingibt, bis der Morgen graut, ist das sein Untergang. Lucy streut geweihte Hostien in Draculas Särge und um ihren Gemahl Jonathan. Diese Nacht gibt sie Dracula bereitwillig ihr Blut und drückt ihn zärtlich an sich, als der Vampir beim ersten Hahnenschrei davon will. Mit den ersten Sonnenstrahlen stirbt Dracula. Auch Lucy opfert ihr Leben. Jetzt versteht auch van Helsing die Lage und treibt Dracula einen Pfahl durch die Brust. Daraufhin ruft Jonathan um Hilfe und lässt den Arzt verhaften. Weiterhin verlangt er nach einem Pferd und lässt die Hostien vor sich beseitigen. Da entblößt Jonathan seine zwei Vampirzähne – er ist der neue Dracula.9 3.2) Herzogs Vorbilder 3.2.1) Friedrich Wilhelm Murnau Werner Herzogs Remake „Nosferatu – Phantom der Nacht“ hält sich weitgehend an Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm von 1921. Neben der Übername der Titels „Nosferatu“ versteckt sich ein zweites Tribut an Murnau im Untertitel; „Phantom“ ist eines der Schlüsselworte für den früheren Film, der gemacht wurde, während Gerhart Hauptmanns „Phantom“ als Fortsetzungsroman in einem viel gelesenen berliner Journal erschien. (Dieser Roman diente als Basis Murnaus nächsten Projektes und wurde unter demselben Titel verfilmt). 3.2.2) Bram Stoker Murnau referiert wiederum auf Bram Strokers Romanvorlage „Dracula“, die er in einigen Punkten verändert. Diese Änderungen übernimmt Herzog weitestgehend. Die Namen der handelnden Figuren sind dennoch die aus Stokers Original. Einzige Änderung: Lucy und Mina tauschen ihren Namen. 9 Prodolliet, Ernest: Nosferatu: Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog. Freiburg 1980, S 79-83. 8 Der Titel, unter dem Herzogs Film in englischsprachigen Lädern bekannt ist – „Nosferatu the Vampire“ – stellt weiterhin eine Verbindung dar zu Vorgängern Stokers wie John Polidori’s Byron-inspirierte Vampirgeschichte „The Vampire“. 3.3) Hommage an Murnau 3.3.1) Übereinstimmungen Trotz prägnanter Unterschiede ist die Hommage an Murnau, welchen Herzog für den größten Filmkünstler der Welt hält, unverkennbar. Es handelt sich auch beim populären Cineasten Herzog nicht um eine direkte Romanverfilmung Bram Strokers „Dracula“, sondern um eine Neuverfilmung Murnaus. Herzog übernimmt die meisten der Abweichungen Murnaus von Bram Stokers Romanvorlage: In beiden „Nosferatus“ ist es nicht die Metropole London Ende des 19. Jhs, in die der Vampir einfällt, sondern eine deutsche Küstenstadt zu einer früheren Zeit des gleichen Jhs; Herzogs Renfield verschmilzt wie Murnaus Knock in beiden Filmen mit dem Arbeitgeber, der Harker nach Transsilvanien schickt, um dort dem Grafen ein Haus zu verkaufen: van Helsing ist im Film von 1921 wie 1979 kein Arzt aus Holland, sondern ein Bürger der gleichen Provinzstadt, in welcher alle außer Dracula leben. Und in beiden Vampirfilmen ist er trotz seines Wissens über Vampire unfähig, den Graf zu vernichten. Vielmehr überlassen beide Regisseure diese Aufgabe Harkers Frau (bei Murnau Ellen; bei Herzog Lucy).Wie Murnau kürzt Herzog die drei weiblichen Vampirinnen, die mit Dracula in dessen Schloss leben, weg, so dass niemand dem Grafen das Blut Jonathans streitig machen kann, und auch die Vampirjagt bleibt dem Untoten erspart. Genrespezifische Szenen halten Murnau sowie Herzog ein. So fehlt beispielsweise weder die Szene im Wirtshaus, die die Zigeuner erstarren lässt, als Jonathan als Reiseziel das Schloss Draculas angibt, noch die Szene, in der Jonathan versehentlich Lucys Porträt aus der Tasche fällt, das Graf Dracula interessiert betrachtet. Einzelne Szenen sind 1: 1 übernommen (z.B. die einzigartige Weise, wie der Graf seine knöchrigen Hände hebt und mit gespreizten Fingern auf seine Opfer zugeht, oder Nosferatus nächtliches Umherwandeln auf dem Schiff – bei Murnau wie Herzog in einer perspektiviUchen untersicht gedreht). Genauso die Szene in der Dracula bzw. Orlok, in der Halbtotalen gedreht, aus dem Fenster seines Versteckes, einem Backsteinhaus, schaut. Überdies erinnert der Flug der Fledermaus zu Beginn des Films (das Flattern der Tiere leitet 9 die Mumienszene ein) an die Eröffnungsszene von Murnaus „Faust“ (hier tritt der Teufel mit riesigen Fledermausflügeln auf). Selbst das Make-up Klaus Kinskis ist dem „Nosferatu“ Murnaus, gespielt von Max Schreck, nachgeahmt: aschfahle Haut, Schatten unter den Augen, kahler Schädel und lange Fingernägel lassen zunächst ebenso wenig Sexappeal vermuten wie bei dem Vampir von 1921. Überdies spielt der Kontrast zwischen Lucys weißer Robe und Jonathans schwarzem Anzug – in einem Farbfilm – auf das Schwarz-Weiß der expressionistischen Filmemacher zur Zeit Murnaus an. 3.3.2) Unterschiede 3.3.2.1) Filmanfang Der Filmanfang Herzogs verrät noch nicht die Verwandtschaft mit Murnaus Film: Im Vorspann zeigt Herzog eine Abfolge von Mumien aus Guanajuato, welche er während eines Aufenthalts in Mexiko das erste Mal gesehen hat. Durch bestimmte klimatische Begebenheiten verwesten die Toten der Stadt nicht und wurden konserviert. In seiner Filmerzählung folgt diese Szene der Hingabe Lucys an Nosferatu und trägt den Titel „Visionen“.10 Herzog selbst reiste erneut nach Mexiko, um diese Toten zu filmen. Entstellte Körper, die aus dem Leben gerissen sind, in einer Geste erstarrt – als ob sie nicht zu Ende leben konnten. Wie die Opfer eines Vampirs… „Da sind Mumien an beiden Wänden gereiht, und alle mit weit aufgerissenen Mündern, ein gewaltiger Choral. Links und rechts lehnen die mumifizierten Leichen an der Wand, wie Bret ter, die man abgestellt hat. Ihr Anblick ist schaurig. Viele der Mumien sind in zerfressenen Kleidern, manche ganz nackt. Eine junge Frau hat nur zierliche Schuhe an ihren Füßen. Ihre Haut ist bräunlich, wie Pergament. Manche Körper sind halb zerfallen, aber noch in Haltung uns Ausdruck ganz klar. Es sind Männer und Frauen und sehr viele Kinder. Sie stehen in nicht zustande gebrachten Gebärden. Das Entsetzlichste sind ihre aufgerissenen Münder. Sie stehen wie ein Chor von Gespenstern, von dem kein Laut je mehr kommt.“ 11 10 11 Herzog, Werner: Stroszek – Nosferatu. Zwei Filmerzählungen. München/Wien 1979, S. 158f. Ebd., S. 159. 10 Der Soundtrack im off-screen sound, den Popol Vuh für den Film komponierte, untermalt die beklemmende Stimmung der mit Handkamera aufgenommenen Bilder: Der seltsame Chorgesang und die verzerrte elektronischen Sequenzen, die diese alptraumartige Szene begleiten, suggerieren zusammen mit den aufgerissenen Mündern den Gesang des Todes. Überdies erinnert der gleich bleibende Rhythmus des begleitenden Schlaginstrumentes an unheimliches Herzklopfen.12 Folgenderweise lässt sich diese makabre Szene interpretieren: Murnau weist man in der Filmgeschichte allgemein seherische oder wenigstens vorausahnende Fähigkeiten zu. So gilt sein „Nosferatu“ als Vorrausdeutung auf die Entwicklung Deutschlands – den Nationalsozialismus, der sich über ganz Europa auszubreiten droht. Selbst hat Murnau diese Botschaft nie bestätigt – vielmehr konstruierten sie Filmhistoriker nach seinem Tod. Werner Herzog akzeptiert die Message Murnaus in seinem Film und gedenkt der durch den Holocaust umgekommenen Opfer mit dieser eingefügten Sequenz. Wenn man diese Szene betrachtet, assoziieren die Nahaufnahmen der Gesichter mit ihren aufgerissenen Mündern ein Werk des expressionisischen Künstlers Edvard Munchs: nämlich das Bild „der Schrei“ (1893). Dieser Eindruck wird vom ersten Auftritt Lucys verstärkt – als sie eine große Fledermaus an ihrem Fenster bemerkt, schreckt sie schreiend mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen aus dem Schlaf.13 3.3.2.2) Schauplätze Wie Murnau versuchte auch Herzog in seinen Film die Romanvorlage Strokers in punkto Schauplätze genau wiederzugeben und ging sozusagen an die „Orte der Handlung“. Allerdings verweigerten ihm die rumänischen Behörden die Erlaubnis in ihrem Land zu drehen. Damit wollte man einer erneuten Verächtlichmachung ihres Nationalhelden Fürst Vlad Tepes Dracula (dem historischen Vorbild Graf Draculas) vorbeugen. Deswegen wich Herzog in die Tschecheslowakei aus. Die Zigeunerszenen entstanden an der damaligen polnisch-sowjetischen Grenze, wo heute wirklich noch eine Zigeunerminderheit lebt. So stellte – anders als bei Murnau - die Tschecheslowakei das Filmtranssylvanien dar. Und die Lagerhäuser, in welchen sich Nosferatu in Wismar einnistet, befindet sich in Wirklichkeit in Lübeck. 12 13 Prawer, S. S.: Nosferatu – Phantom der Nacht. Norfolk 2004, S. 41. Prawer, S. S.: Nosferatu – Phantom der Nacht. Norfolk 2004, S. 42. 11 Die holländische Stadt Delft lieferte die Aufnahmen für die in Wismar spielenden Szenen. lieber hätte Herzog in einer deutschen Hansestadt gedreht – aber Lübecks Stadtkern war wie Bremen, wo Murnau einst drehte, zerstört.14 3.3.2.2.1) Fußweg Wenn Herzogs Jonathan – anders als seinem Gegenüber in Murnaus Film – eine Kutsche versagt wird, die ihm, wenn schon nicht zum Schloss, wenigstens zur Grenze Draculas Besitzgebiets bringt, setzt er seine Reise zu Fuß fort. Bis er in die Nähe des Schlosses Draculas kommt, wo ihn eine phantomartige Kutsche einholt und zu seinem Ziel bringt, verfolgt der Zuschauer die Wanderung des Protagonisten durch die Karpaten. Herzog selbst wanderte einst mitten im Winter von München nach Paris, um Lotte Eisner zu besuchen. Oft sprach er davon, wie wichtig das Wandern für ihn ist: „Meine Reisen zu Fuß waren immer essentielle Erfahrungen für mich“15. Im Nosferatu ist der Fußweg, den Jonathan zurücklegt, eine Art körperliche Erfahrung für den Protagonisten, der seinen Weg von sonnigen Wiesen über dunkle und enge Schluchten fortsetzt. Genregerecht steigt Nebel auf und im Laufe seiner Wanderung verschwindet mehr und mehr Licht aus dem Bild. Er besteigt einen Berg und der Zuschauer sieht ihn neben einer Flagge stehen, die möglicherweise ein früherer Bergsteiger dort in den Boden steckte. Oder markiert dieses Zeichen die Grenze zu Draculas Reich? Jonathan wird von hinten gefilmt – unweigerlich zwingt dies zu einem Vergleich mit einem Werk Caspar David Friedrich: „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Die Kamera schwenkt nach rechts und zeigt wie sich der Himmel zuzieht. Die folgenden Szenen werden immer weniger ausgeleuchtet: Eine latente Dunkelheit begleitet den Film (low-key-Beleuchtung). Herzog weicht nicht nur an dieser Stelle von einer naturalistischen Beleuchtungsweise ab: Personen und Figuren werden nur ungleichmäßig belichtet; häufig dominieren die Fülllichter (fill lights) gegenüber dem Führungslicht (key light). Dies und die extreme Unterbelichtung verleiht Figuren und Schauplätzen ein unheilvolles Aussehen. 14 Prodolliet, Ernest: Nosferatu: Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog. Freiburg 1980. 15 Werner Herzog, zitiert nach Prawer, S. S.: Nosferatu – Phantom der Nacht. Norfolk 2004, S. 69. 12 Durch abgedunkelte Räume verstärkt Herzog den Eindruck von Geheimnisvollem, Versteckten und Bedrohlichem. Zudem überlagert diese Dunkelheit ein Blaustich. Blau steht in der Farbsymbolik u. a. für Melancholie und Sehnsucht16. Diese absichtlich als lange Fußreise dargestellte Sequenz steht genauso für eine innere wie eine äußere Reise. Wagners „Rheingold“ Prelude unterbricht für einen Moment die halbwirklichen Klänge Popul Vuhs Filmmusik um dieses Gefühl der Verinnerlichung zu festigen. Hier steht die Landschaft für die Seele des Protagonisten: Die Reise zum entfernten, bedrohlichen Schloss meint gleichzeitig eine Reise in das tiefste, verborgene Ich Jonathans.17 3.3.2.2.2) Schloss Draculas Auf der Burg Pernstein in Südmären nordwestlich von Brünn drehte Herzog die Innenaufnahmen des Draculaschlosses. Die Burg stammt aus dem 15. Jahrhundert (zu dieser Zeit soll auch der historische Dracula gelebt haben) und eignete sich wegen ihrer düsteren Atmosphäre als Drehort für den Film. Wenn Bruno Ganz als Jonathan in den Gängen des Schlosses herumirrt, dreht Herzog den Weg des Protagonisten mit der Handkamera. Dabei wird nicht geschnitten. Die Kameraführung soll dem Zuschauer erstens eine Orientierung im Schloss ermöglichen (dies würde bei teils „weggeschnittenen“ Aufnahmen nicht gelingen). Zweitens verdeutlicht gerade diese Technik die Auswegslosigkeit Jonathans Suche: Er ist im Schloss gefangen. Der Zuschauer soll dieses Gefühl von Beklemmung nachvollziehen. 3.3.2.3)Vampirdarstellung Egal ob man nun den Vampir als Projektion Jonathans verborgenem Selbst interpretiert oder nicht: Klaus Kinski spielt 1979 kein böses Ungeheuer mehr ohne Seele, welches einzig und allein aufs Blutsaugen aus ist und wahllos einen Menschen nach dem anderen tötet. Der neue Dracula ist vielmehr eine tragische Figur, die Mitleid erweckt. Der Vampir leidet offensichtlich darunter, nicht sterben zu können, und sehnt sich nach dem Tod. Dazu kommt das Verlangen nach Liebe. 16 v.a. in der Romantik. Vgl. dazu das Motiv der Blauen Blume in Novalis Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen" 17 Prawer, S. S.: Nosferatu – Phantom der Nacht. Norfolk 2004, S. 69. 13 „Dracula ist für mich gar kein hundertprozentiger Bösewicht, sondern eine zwiespältige Persön lichkeit, die Gut und Böse in sich vereint. Eine tragische Figur, die genauso Mitleid wie Ab scheu verdient. Ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, trägt er jahrhundertelang die ungestillte Todessehnsucht mit sich herum: Der Tod ist nicht alles. Es ist grausamer nicht ster ben zu können. Dazu eine zweite Sehnsucht: geliebt zu werden, jemanden Liebe geben kön nen.“18 So sehr sich die beiden Vampire äußerlich ähneln, desto unterschiedlicher ist ihre Moral. Herzogs Vampir lässt eine Einsicht in sein Inneres zu: Man erkennt, dass er sich über all die Jahre seiner seelenlosen Existenz eine Seele bewahrt hat. Natürlich ist er auch durch seinen Blutdurst getrieben – wie alle Vampire. Aber zugleich merkt der Zuschauer, dass er gegen diesen Trieb kämpft. Z. B. in der Szene, in der sich Jonathan in den Finger schneidet: Nosferatu versucht sich zunächst zu beherrschen, schafft es dann aber doch nicht und fällt über Jonathans Finger her. Gegenüber Murnau, dem Herzog hauptsächlich stilistisch folgt, ist dies eine wichtige Änderung. Der Vampirmythos wird an dieser Stelle verändert. Der Vampir scheint verletzlich und zeigt Gefühle – eine Bestie wie Murnaus Dracula war hierzu noch nicht fähig. Anders als Graf Orlok stirbt Graf Dracula bei Herzog einen menschlicheren Tod: Er geht nicht in Rauch auf wie bei Murnau, sondern wird von der Sonne geblendet, verkrampft sich unter Schmerzen und stöhnt „nach innen“, bis sein lang ersehnter Tod endlich einsetzt. Genregerecht pfählt van Helsing den Vampir darauf, was ihm aber als Mord angerechnet wird – Jonathan befiehlt den ohnehin karikierten Arzt gefangenzunehmen, und das von einem zwergenhaften Stadtbediensteten (gespielt von Clemens Scheitz), der unbewaffnet ist und gar nicht weiß, wo er mit einem Gefangenen hin soll, da Polizei und Gefängniswärter tot sind. 3.3.2.4) Darstellung der Pest Weiterhin führt Herzog mit der Darstellung der Pest und dem Schluss des Filmes völlig neue Aspekte in seinen „Nosferatu“ ein. Bei beiden Regisseuren gilt Graf Dracula als Symbol für die Pest und 1921 wie 1970 wird diese Symbolik mit dem Auftreten von Ratten – den nachgewiesenen Überträgern der Krankheit – unterstrichen. 18 Klaus Kinski, zitiert nach: Prüßmann, Karsten: Die Dracula-Filme. Von Friedrich Wilhelm Murnau bis Francis Ford Coppola. München 1993, S. 106. 14 Bei Herzog jedoch treten sie zu Tausenden auf – sie erscheinen zwar nicht sonderlich Furcht einflößend, wie sie durch die Straßen Wismars wuseln, die Menge ist dennoch beeindruckend. Für den Film importierte Herzog 11000 Laborraten aus Ungarn. Bei deren Ankunft erst stellte sich heraus, dass die Tiere weiß waren, und man behandelte sie notgedrungen mit Farbe, um den gewünschten Grauton zu erzielen. Trotz aller Bemühungen erweckten die Nager nicht das gleiche Entsetzen wie Murnaus schwarze, unruhige Ratten. Anders als Murnau fordert Herzog jedoch ein tieferes, intensiveres Pestverständnis. In Murnaus Film schreiten die Sargträger durch eine leere Gasse, eine beklemmende Stimmung macht sich breit und man fühlt den herannahenden Tod. Diese Szene ist bei Murnau durch ein Fensterkreuz gefilmt – der Betrachter steht im Geborgenen, wähnt sich in Sicherheit. Diese Szene weitet Herzog stark aus. Es gibt nicht nur mehr Sargträger, sondern die gesamte Stadtbevölkerung durchlebt den bevorstehenden Tod in einer wahnsinnigen Euphorie. „Lucy tritt verwundert auf den Platz hinaus. Männer schichten wertvolles Mobiliar auf einen großen Stapel im Freien. Ein betrunkener Mönch taumelt vorbei. Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben, sagt er, denn die Weinberge haben Augen ge wonnen. Ein älterer Mann nimmt Lucy am Arm und zieht sie in einen Reigen Tanzender hin ein. Ein Mann spielt auf der Geige den Tanzenden auf. Ein Mann bläst ein trauriges Waldhorn. macht Ein Kind hat einen großen Hahn vor ein Wägelchen gespannt. Feuer qualmen. Lucy sich los, ein Schaf kommt ihr in die Quere. Der ganze Platz tanzt, Kinder, Witwen, Mönche. Auf den Särgen wird Brotzeit gemacht. Ein großer runder Tisch ist ins Freie gestellt. Wein, Speisen, ein gebratenen Ferkel. Der Geiger spielt auf. Auf dem Tisch tanzt Herr Henning mit einem Bock. Lucy bekommt einen Becher mit Wein. In einer Ecke des Platzes ist eine große Tafel aufgebaut. Vornehme Menschen sitzen vor feins tem Geschirr. Erlesene Weine, Servietten aus Damast, silberne Platten mit erlesenen Speisen. Hier haben sich die Ratten zu riesigen Klumpen geballt, die ganze Gesellschaft ruht in einem wogenden Meer von Ratten. Auch auf dem Tisch selbst kriechen sie herum. Aber die Tafeln den sind vollkommen unbeirrt. Blumige Tischgespräche, feinste Manieren. (…) Sie hätten alle die Pest, erklären ihr die Zechenden, jetzt würde erst richtig gelebt.“19 Wenn man betrachtet, wie die Menschen in Wismar fröhlich feiernd sterben, erscheinen die Aktionen des Vampirs geradezu befreiend von Konventionen der Gesellschaft. Genau dies beabsichtigte Herzog. In einem Interview entgegnete er: 19 Herzog, Werner: Stroszek – Nosferatu. Zwei Filmerzählungen. München/Wien 1979, S. 152. 15 „Die Pest hat die Anarchie gebracht. Die Leute werfen alle überkommenen Konventionen über Bord, die starre, verlogenen Gesellschaft stirbt, und das ist doch wahrlich ein Grund zum Fei ern.“20 Stellt „Nosferatu – Phantom der Nacht“ eine antibürgerliche Posse dar? 3.3.2.5) Filmende Ein weiterer Unterschied wird zum Ende des Filmes deutlich: Obwohl Dracula tot ist, lebt das Böse in der Gestalt Jonathan Harkers weiter. Dies zeigt sich bereits bei der Rückkehr des jungen Ehemanns zu Lucy. Während sich das Paar bei Murnau vor Freude innig umarmte, schafft Herzog eine kühle Distanz – Jonathan erkennt hier seine Gattin erst gar nicht. 20 Interview mit Werner Herzog. In: „Cinema“, Nr. 3, März 1979 (Heft 10) 16 Zudem ist das Böse bei Murnau mit dem Tod des Vampirs vernichtet. Das Opfer der jungen Frau hatte einen Sinn. Dies verhält sich im Film von 1979 anders: Jonathan lässt van Helsing – den aufgeklärten Arzt – zum Schluss verhaften, weil er Dracula gepfählt hat. Damit wird die Chance zunichte gemacht, das neue Übel auszumerzen. Diese Einsicht erfährt der Zuschauer gleich: Überraschenderweise war das Opfer Lucys umsonst – der Vampir lebt weiter. Die „Liebe eines reinen Herzens“ vermag also nichts gegen das Böse auszurichten. Es ist unausrottbar. Die Schlusssequenz zeigt den neugeborenen Vampir davonreiten – und das auch noch im hellen Tageslicht, das den Grafen kurz zuvor noch umgebracht hat. Ein Fehler des Regisseurs? Ist die neue Generation Vampir auf einmal immun gegen Sonnenlicht geworden? Herzog verdeutlicht noch einmal die Unsterblichkeit des Bösen, indem er sich über den konventionellen Vampirmythos hinwegsetzt.21 Die Musik, welche in dieser Schlusssequenz zu hören ist, ist ironischerweise ein Lied aus Charles Gounods „Sizilienmesse“ mit dem Titel „Sanctus“. Während der neue Vampir unaufhaltsam ausreitet, um Unglück und Pest in der Welt zu verbreiten, wird vom Heiligen Vater gesungen. Doch ist in dieser pessimistischen Weltdarstellung Herzogs überhaupt noch Platz für einen Gott? 21 Prodolliet, Ernest: Nosferatu: Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog. Freiburg 1980, S. 88. 17 4.0) Fazit Herzogs Film ist kein Remake im ursprünglichen Sinne – vielmehr will er eine kinematographische Vergangenheit wieder neu entstehen lassen. In erster Linie möchte Herzog den deutschen Film wieder legitimieren. Zwischen ihm und Murnau liegt die schrecklichste Periode deutscher Geschichte: der Mord und Beihilfe dazu an Millionen Menschen, die in die „falsche“ Religion, sexuelle Orientierung oder mit Behinderungen geboren wurden und deswegen nicht in die neue Ordnung des Nationalsozialismus passten. Die folgende Generation litt unter der Schuld und deren Verdrängung ihrer Eltern: der „unbewältigten Vergangenheit“. Das neue deutsche Kino versuchte an das Kino vor der Nazibewegung anzuknüpfen. So unterstützte die Historikerin des klassischen Weimarer Films, Lotte Eisner, Herzogs Projekt. Sie war einst mit Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang u. a. befreundet und stellte so ein Verbindung zum expressionistischen Kino der 20er Jahre dar. Dadurch verband Herzog seine Arbeit mit dem, was er als 1933 abgebrochen verstand: Die Tradition des deutschen Kinos seiner Großvätergeneration sollte fortan weitergeführt werden.22 22 Prawer, S. S.: Nosferatu – Phantom der Nacht. Norfolk 2004, S. 13f. 18 Literaturverzeichnis 1 Dorn, Margit: Vampirfilme und ihre sozialen Funktionen. Ein Beitrag zur Genregeschichte. Frankfurt a. M. 1994. 2 Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München 2002. 3 Herzog, Werner: Stroszek Nosferatu. Zwei Filmerzählungen. München 1979. 4 Prawer, S. S.: Nosferatu – Phantom der Nacht. Norfolk 2004. 5 Presser, Beate (Hrsg.): Werner Herzog. Berlin 2002. 6 Prodolliet, Ernst: Nosferatu. Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog. Freiburg 1980. 7 Prüßmann, Karsten: Die Dracula-Filme. Von Friedrich Wilhelm Murnau bis Francis Ford Coppola. München 1993. 8 Silver, Alan; Ursini, James: The Vampire Film. From Nosferatu to Bram Stoker’s Dracula. New York/ Toronto 1993. 19