Bleistift-Gedicht - kuznetsov

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Bleistift-Gedicht - kuznetsov
Gennady Kuznetsov
Geschichten mit Gedichten
Zum Bild von Mariola Bogacki
„Bleistift“ (2003)
Ich kann mich kaum an ein anderes Bild erinnern, das so direkt dem Bleistift gewidmet wäre. Als ich
dieses Bleistift-Bild der Malerin aus Worpswede Mariola Bogacki zum ersten Mal gesehen habe,
habe ich sofort an ein Gedicht gedacht, welches zu den berühmtesten deutschen Gedichten aller Zeiten
gehört: an das „Wandrers Nachtlied-II“ von Johann Wolfgang Goethe:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.
Warum assoziiere ich ausgerechnet dieses Gedicht von Goethe mit dem Bleistift? Weil der Bleistift in
der Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte dieses kleinen Verses eine besonders große und wichtige
Rolle gespielt hat. Es war nämlich so, dass der 31jährige Dichter sein kleines Kunstwerk mit dem
Bleistift an die Wand einer Jagdhütte auf dem Berggipfel Kickelhahn bei Ilmenau gekratzt hat. Somit
wurde das „Wandrers Nachtlied-II“ nicht nur festgehalten, sondern auch veröffentlicht! Denn die autorisierte Veröffentlichung in Papierform erfolgte erst 35 Jahre später, als der Vers dank der eigenhändigen Inschrift von Goethe schon längst in ganz Deutschland bekannt war!
Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende! 51 Jahre später besteigt nämlich Goethe am Vorabend seines letzten 82. Geburtstages den Kickelhahn wieder, um nachzusehen, ob sein Vers, den er
einst in die Wand der Jagdhütte eingraviert hat, noch heil ist oder bereits von der Zeit oder den anderen Wanderern verwischt wurde. Als Goethe sein Gedicht entdeckte, flossen Tränen über seine Wangen. Und dann, wie der ihn begleitete Berginspektor Johann Christian Mahr weiter berichtet, sprach
der alte Goethe in sanftem, wehmütigem Ton: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch“. Und tatsächlich
fand Goethe ein halbes Jahr später seine letzte Ruhe…
Aber die mit der starken Hand des jungen Goethe gemachte Inschrift hat nicht nur den Dichter, sondern auch viele spätere Touristen überlebt. Insgesamt hat der Vers an der Hüttenwand 90 Jahre überdauert, bis die Hütte 1870 abgebrannt ist. Es hat sich eine Fotografie aus dem Jahr 1869 erhalten, die
Goethes Text in dem Zustand dokumentiert, den er, in 90 Jahren durch Übermalungen verändert, unmittelbar vor seiner Vernichtung hatte. Das Foto zeigt auch Sägespuren: Ein Tourist hatte vergeblich
versucht, den Text aus der Wand herauszuschneiden. Man kann nur staunen, welche Qualität der Bleistift haben sollte, mit dem Goethe in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1780 sein Gedicht
„Wandrers Nachtlied - Ein Gleiches“ in die Wand der Jagdhütte eingemeißelt hat! Das wunderschöne
Bleistift-Bild von Mariola Bogacki hat mich zu einem scherzhaften Gedicht inspiriert, das ich ihrem
Bild, der Geschichte des Meisterwerks von Goethe und natürlich dem Bleistift gewidmet habe.
Hymne an den Bleistift
Als Goethe auf dem Kickelhahn bei Ilmenau
Mit einunddreißig war, ist folgendes passiert:
Er hat – das weiß man heute ganz genau –
Mit seinem Bleistift eine Hüttenwand beschmiert.
In einer Hütte mitten in dem Walde
Hat Goethe an die Wand den kleinen Vers gereimt,
In dem er jemand warnt: Warte nur, balde
Ruhest du auch. Wen hat er wohl gemeint?
Sich selber? Kaum. Denn 50 Jahre später
Hat Goethe sich schon wieder auf den Weg gemacht
Zu seiner Hütte: Ruhig war das Wetter
Man spürte keinen Hauch in stiller Nacht –
Und das Gedicht war da! Es hat besungen
Die Landschaft, an der sich nicht nur der Dichter labt!
Doch wär dem Meister dieses Kunstwerk je gelungen
Hätt er den Bleistift nicht gehabt?
7.11.2010, Bremen
Auch in Russland ist Goethes Gedicht Über allen Gipfeln sehr gut bekannt – dank der genialen Nachdichtung von Michail Lermontow. Der jüngere Zeitgenosse von Puschkin Michail Lermontow ist 1814
geboren und schon 1841 infolge eines Duells ums Leben gekommen – im Alter von nur 26 Jahren.
Seine Nachdichtung Горные вершины (Berggipfel) hat der große russische Dichter 1840 unter dem
Titel „Aus Goethe“ veröffentlicht, also acht Jahre nach dem Tod des großen deutschen Dichters. Obwohl Lermontow das Versmaß des Originals verändert und Goethes Gedicht insgesamt ziemlich frei
übersetzt hat, bin ich mir ganz sicher, dass dem deutschen Dichter diese russische Version seines
„Wandrers Nachtlieds“ sehr gut gefallen würde! Und da kam mir eine Phantasie. Die beiden Lyriker
treffen sich im Himmelreich, Goethe lobt seinen jüngeren russischen Dichterkollegen Lermontow und
sagt: „Nun, mein lieber Freund, habe ich eine Überraschung für Sie: Sie haben einst meinen Vers auf
Russisch nachgedichtet, und ich möchte mich bei Ihnen mit meiner Übersetzung Ihres Gedichtes ins
Deutsche revanchieren! Dabei will ich Ihr schönes Metrum sowie einige Ihrer wunderbaren Bilder, die
so treffend die einkehrende Ruhe schildern, beibehalten. Hören Sie, was daraus geworden ist:
М. Ю. Лермонтов
Из Гёте
Der imaginäre Goethe
Aus Lermontow
Горные вершины
Спят во тьме ночной;
Тихие долины
Полны свежей мглой;
Не пылит дорога,
Не дрожат листы...
Подожди немного,
Отдохнешь и ты.
Alle Bergesgipfel
Schlafen in der Nacht;
Stille Täler, Wipfel
Ruhn in Nebelpracht;
Staub setzt sich am Pfade,
Laub bebt nicht im Wald…
Warte nur, und grade
Ruhest du auch bald.
1840
Übersetzt von G. Kuznetsov am 1.10.10

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