Volltext - oops/ - Oldenburger Online-Publikations

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Volltext - oops/ - Oldenburger Online-Publikations
Schriftenreihe des
Sophie Drinker Instituts
Herausgegeben von Freia Hoffmann
Band 6
Claudia Schweitzer
„…ist übrigens als Lehrerinn
höchst empfehlungswürdig“
Kulturgeschichte der Clavierlehrerin
BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Das Titelzitat ist entnommen
aus dem Artikel zu "Madame Bitzenberg"
im "Jahrbuch der Tonkunst
von Wien und Prag 1796".
Fotografie Umschlagrückseite:
Gabriele Kircher, Marburg
BIS-Verlag, Oldenburg, 2008
Verlag / Druck / Vertrieb
BIS-Verlag
der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Postfach 25 41
26015 Oldenburg
Tel.: 0441/798 2261, Telefax: 0441/798 4040
E-mail: [email protected]
Internet: www.ibit.uni-oldenburg.de
ISBN
978-3-8142-2124-3
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
Einleitung
11
Teil I Die Entwicklung in Frankreich
23
1 Musikerinnen in Frankreich
25
1.1 Erziehung französischer Mädchen
25
1.2 Generalbassspiel – eine Domäne der Frauen
40
2 Lebens- und Arbeitsverhältnisse
55
2.1 Die Frauen der Familie Couperin
55
2.2 Tätigkeitsbereiche der französischen Musikerinnen
63
2.3 Pariser Adressverzeichnisse
74
2.4 Die Wohnungen zweier Clavierlehrerinnen zu Beginn des
18. Jahrhunderts
91
3 Instrumente und Unterricht
100
3.1 Das Instrumentarium der französischen Clavierlehrerinnen
100
3.2 Die musikalische Ausbildung der Clavierlehrerinnen
111
3.3 Die französische Claviermethodik
122
3.3.1 Cembalounterricht
122
3.3.2 Generalbass und Harmonielehre
135
3.3.3 Schulwerke für die Harfe
140
3.3.4 Unterricht am Hammerclavier
148
3.3.5 Theoretischer Unterricht
161
3.4 Angélique Diderot – eine Clavierschülerin im 18. Jahrhundert
4 Berufsentwicklung
167
174
4.1 Hélène de Montgeroult – Clavierprofessorin am Conservatoire
National de Musique et de Déclamation
174
4.2 Die Revolutionsjahre und neue Voraussetzungen für den Beruf der
Clavierlehrerin
181
Teil II Schweiz und Niederlande
195
1 Die Schweiz
197
1.1 Das Musikleben in der Schweiz
1.2 Zwei Berner Konkurrentinnen: M
197
me
Latour und M
me
Cortaillod
1.3 Genovieffa Ravissa und einige andere Clavierlehrerinnen der
französischen Schweiz
2 Die Niederlande am Beispiel dreier Clavierlehrerinnen
204
210
225
Teil III Deutschland und Österreich
231
1 Die Situation in Deutschland
233
1.1 Der Geschlechtscharakter und die Erziehung deutscher Mädchen
233
1.2 Betonung weiblicher Tugend als Verschleierung professioneller
Tätigkeit
240
2 Theorien und ihre Umsetzung
250
2.1 ‚Von der guten Lehrmeisterin’
250
2.2 Von der Clavierlehrerin
262
3 Lebens- und Arbeitsbereiche
280
3.1 Unterrichtende Virtuosinnen und Werbung in eigener Sache
280
3.2 Im Dunstkreis der Instrumentenbauer und ‚Instrumente für das
Frauenzimmer’
289
3.3 Wunderkinder und was aus ihnen wurde
299
3.4 Maria Anna Mozarts Tagordnungen
307
3.5 Im Schutze der Kirche
320
4 Wiener Verhältnisse
326
4.1 Wien – Stadt der Möglichkeiten
326
4.2 Die Musikalische Bildungsanstalt für Frauen der Maria Theresia
Paradis
340
5 Das Berufsbild: Zum Selbstverständnis der deutschen
Clavierlehrerinnen
Zusammenfassung
349
356
Biografischer Anhang
1 Drei (Auto-) Biografien
367
369
1.1 Die Autobiografie der Therese aus dem Winckel
369
1.2 Die Biografie der Josephine Müllner-Gollenhofer
375
1.3 Die Autobiografie der Sophia Häßler, geb. Kiel
387
2 Kurzbiografien der Clavierlehrerinnen
429
Bibliotheksabkürzungen
483
Literaturverzeichnis
483
Personenverzeichnis
513
Vorwort
Methodik und Arbeitsweisen im Instrumentalunterricht früherer Zeit, die äußeren
Rahmenbedingungen dieses Unterrichts wie die Lebensbedingungen der Lehrkräfte
sind bislang wenig erforscht. Die traditionelle Orientierung an Komponisten und ihren Werken hat andere kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte der Musikgeschichte lange Zeit in den Hintergrund treten lassen. Dies betrifft auch die Forschungsarbeiten zu Musikerinnen, die in den letzten 25 Jahren im Kontext des steigenden Interesses an den weiblichen Aktivitäten in der Geschichte der Musik erschienen. Als bahnbrechend für die Beleuchtung früheren musikpädagogischen Arbeitens erwies sich Michael Roskes Sozialgeschichte des Musiklehrers vom 17. zum
19. Jahrhundert1, die allerdings hauptsächlich vom norddeutschen Raum ausgeht
und auf die besonderen Bedingungen von Frauen kaum eingeht.
Gab es im 18. Jahrhundert, in einer Zeit, da für die Musikausbildung noch wenig Institute und offizielle Richtlinien existierten und Frauen kaum je berufstätig
waren, Clavierlehrerinnen? Wie lebten sie? Wie sahen ihre Herkunftsfamilien aus?
Wie arbeiteten sie? Wie war ihr Ansehen, ihr gesellschaftlicher Status? Wo fand der
Unterricht statt? Wer waren ihre Schülerinnen (und Schüler), wie lang, wie häufig
und regelmäßig nahmen diese Unterricht? Was waren die Gründe für die Berufstätigkeit der Lehrerinnen? Und wie sahen sie sich selbst, wie beurteilten sie ihre Arbeit und welchen Stellenwert besaß diese in ihrem Lebensplan? Gibt es Gemeinsamkeiten unter den Biografien dieser Frauen?
Diese Fragestellungen versucht die vorliegende Studie ansatzweise zu beantworten: nur ansatzweise, da die gegenüber den tatsächlichen Gegebenheiten sicherlich geringe Anzahl von „nur“ annähernd 100 Lehrerinnen, die bei gründlicher Recherche in den untersuchten Ländern (Frankreich, Schweiz, Niederlande und
Deutschland/Österreich in ihren heutigen Landesgrenzen) gefunden werden konnten, die Frage nach der Repräsentativität der Daten stellt. Die gefundenen Informationen stellten sich aber auch als richtungweisend heraus, da sie Gemeinsamkeiten
unter den Lehrerinnen aufzeigen, damit also zumindest für eine Teilgruppe der Clavierlehrerinnen als charakteristisch und aussagekräftig angesehen werden können.
Sie bilden somit eine Basis zum Verständnis eines der ersten Berufe, den Frauen
professionell ausübten. Die vorliegende Arbeit soll, ausgehend von den Biografien
der Lehrerinnen, eine möglichst sachliche und zugleich umfassende Darstellung der
(wenigen) bislang bekannten und der neu aufgefundenen Fakten geben, aus denen
erste vorsichtige Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen abgeleitet werden
können. Diese gilt es in späteren Arbeiten unter Zugrundelegung weiteren Forschungsmaterials zu verifizieren und zu erweitern bzw. gegebenenfalls zu korrigieren.
1
Roske.
9
Ich danke ganz herzlich all denen, die mir bei der Übersetzung der fremdsprachigen Texte geholfen haben: Christine Schäfer (Ch. S.), Kerstin Hartge (K. H.) sowie Christa und Bruno Neudecker (Ch./B. N.).2
Mein Dank gilt weiterhin Elke Schröder für die vielen anregenden Gespräche
und die grafische Gestaltung der Abbildungen, Irène Minder-Jeanneret für ihre
fachkundige Hilfestellung zum Thema Schweiz; Guy Le Comte, Président de la Société d’histoire de Genève, für die Überlassung eigenen Forschungsmaterials und
gedanklichen Austausch; den Damen und Herren der Murhardschen Landesbibliothek Kassel, besonders Michael Hromek, für ihre Unterstützung, Anja Herold für
die Gestaltung des Manuskriptes und ganz besonders Prof. Dr. Freia Hoffmann für
ihre behutsame und dabei stets anregende Betreuung.
Für Hinweise, Austausch und Überlassung von Material möchte ich mich außerdem
bedanken bei Frau Helga Brück; Frau Uta Goebl-Streicher; Frau Michaela Krucsay;
Herrn Jean-Jacques Eggler (Archives de la Ville de Lausanne); Herrn Irving Godt;
Herrn Günther Grünsteudel (Universitätsbibliothek Augsburg); Frau Helen H.
Metzelaar; Herrn Michel Le Moel (Conservateur général (h.) der Archives Nationales); Herrn Roland Schmidt-Hensel, M.A. (Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv); Herrn Jacques Tchamkerten (Bibliothèque du Conservatoire de Genève); Herrn Thomas Weidenholzer (Archiv der Stadt Salzburg);
den Archives Cantonales Vaudoises; den Archives Nationales in Paris; der Bibliothèque Nationale de France; dem Gemeentearchief Amsterdam; der Sächsischen
Landesbibliothek Dresden; dem Stadtarchiv Erfurt; der Stadt- und Regionalbibliothek Erfurt; dem Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum; den
Archives de l’Etat de Genève; den Archives de la Ville de Genève; der British
Library London; der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern; dem Bischöflichen Zentralarchiv Bistum Regensburg; dem Stadtarchiv Regensburg; der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien; dem Diözesanarchiv des Bistums Würzburg und
den Archives Communales d’Yverdon.
Die Abbildungen gehen auf Quellen in der Landesbibliothek und Murhardschen
Bibliothek Kassel, der Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv – und den Archives de la Ville de Lausanne zurück. Den Verantwortlichen sei für die Erlaubnis zum Abdruck an dieser Stelle herzlich gedankt.
Melsungen, im September 2007
Claudia Schweitzer
2
10
Die übrigen, mit C. S. gekennzeichneten Übertragungen stammen von der Autorin.
Einleitung
Eigenes Musizieren, das Erlernen und das Lehren von Musik, diese drei Bereiche,
in unserem heutigen Sprachverständnis eigenständig definiert, waren dies nicht immer. Erst um 1700 setzte die Tendenz ein, ein Unterrichten in musikalischen Fächern vom Musizieren getrennt zu betrachten. Damit konnte sich auch der Beruf des
Musiklehrers, des „Informators“, entwickeln, den bis dato Kantoren, Organisten,
Hofmusiker, Stadtpfeifer und fahrende Spielleute nebenbei ausgeübt hatten. Tätigkeiten, die bis dahin ohne Eigendefinition der verschiedenen Bereiche von einer
Person ausgeübt wurden, erhielten nunmehr ein eigenes Profil: Man war entweder
Komponist und/oder Interpret und/oder Lehrer.
Mit der Verselbstständigung der Lehre ging ein großer Anstieg des Musikschrifttums einher, das sich mit geeigneten Unterrichtsformen und -methoden beschäftigte. Zedlers Großes Universal Lexicon von 1732 etwa weist im Artikel „Lehrer“ darauf hin, dass „wer andere lehren will, erst selbst lernen muß. Hat einer dieses mit gehörigem Fleisse gethan, wird er zu jenem desto geschickter seyn“. Die daran anschließenden Überlegungen zur Methodik erscheinen bekannt: „Sollen wir einen andern unterrichten, muß es auch so vorgetragen seyn, daß ers begreiffen kann.
Das nennet man eine gute Lehr=Art. Der Unterricht endiget sich nicht in des lehrenden Person, sondern in dem Lernenden, dem es also muß beygebracht werden, daß
ers lernen kann. Man ersiehet hieraus, wie solches auch die tägliche Erfahrung bestärcket, daß viele gelehrt, und doch kein Lehrer seyn können. Der Lehrling richtet
sich nicht nach dem Lehrer, denn wenn er das könnte, wäre er schon gelehrt, sondern dieser nach jenem. Vor zarte Lämmer gehöret also Milch= und vor starcke
starcke Speise. Beobachtet dieses ein Lehrer nicht genau, ist alle seine Mühe vergeblich. Es ist also freylich eine Sache, die nicht alle können, allen allerley zuwenden.“3
Die Zahl der Musiklernenden stieg kontinuierlich an, und es wurden mehr und
mehr Lehrkräfte benötigt, unter denen sich sehr früh Frauen befanden. Der Beruf
der ‚Clavierlehrerin’ gehörte somit zu den ersten Möglichkeiten professioneller Berufsausübung, die Frauen offen standen. Der Begriff der Professionalität war, ebenso wie der Übergang zwischen ‚Kennern’ und ‚Liebhabern’, oftmals fließend. Indizien, die in späteren Zeiten deutliche Abgrenzungen ermöglichen, etwa eindeutige
Berufsbezeichnungen oder eigene Arbeitsräume, können noch nicht herangezogen
werden. Annoncen waren generell eher selten; Empfehlungen durch Kollegen und
Kolleginnen sind teils sicher nicht nachvollziehbar, teils auch undenkbar aus Rücksicht auf die ‚Schicklichkeit’. Liebhaber, auch Dilettanten genannt, besaßen oft ein
erstaunlich hohes Niveau, das in vielen Fällen über dem einfacher Dorfkantoren
3
Lehrer, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, 64 Bde., Halle-Leipzig 1733–1750, Bd. 16, Sp. 1498–1500,
hier Sp. 1458.
11
oder Schulmeister gelegen haben mag. Sie kamen in diesem Falle aus begütertem
Hause und hatten Zeit und Muße, sich in den Künsten zu exerzieren und darin – bei
entsprechendem Talent – zu teilweise überragenden spieltechnischen wie musikalischen Ergebnissen zu kommen. Den wahren ‚Kenner’ dagegen zeichnete besonders
Musikverstand aus. Dinge, die weniger die Aufführungspraxis, sondern eher die
Hintergründe betreffen, wie etwa kontrapunktische Finessen und, als besonderes
Merkmal, Kritikfähigkeit, gehörten zu seinem Repertoire.4 Frauen, denen laut Geschlechterdefinition eine Berufsausübung sowieso nur in Ausnahmefällen gestattet
war, zählten nach einer Heirat wieder zu den Dilettantinnen, auch wenn sie vorher
als professionelle Virtuosinnen bekannt gewesen und auch als verheiratete Frau
noch auf der Bühne zu finden waren. Dahinter steckt immer wieder die Frage, ob es
denn ‚schicklich’ für eine Frau sei, professionell tätig zu sein. Ähnlich verhielt es
sich mit der Lehrtätigkeit. Die Standortbestimmung, so zeigt sich, ist um einiges
komplexer und schwieriger, als unser heutiger Sprachgebrauch nahe legt, und es ist
notwendig, eine genaue Definition davon zu geben, welche Merkmale Professionalität ausmachen sollen.
Unter ‚professioneller Ausübung’ wird in diesem Falle verstanden, dass die
Tätigkeit gegen Entgelt geschah und im Normalfall zum Lebensunterhalt der Frau
oder Familie beitrug. Innerfamiliäre Beziehungen werden dabei nur dann als ergänzendes Material berücksichtigt, wenn die Lehrerin erwiesenermaßen auch anderweitig unterrichtete. Dies bedeutet, dass durch das Raster vorwiegend die Frauen hindurchfallen, die ausschließlich ihre eigenen Kinder ein paar Anfangsgründe auf dem
Clavier lehrten. Eine zeitliche Einschränkung wird nicht vorgenommen: Es ist egal,
ob die Lehrerin nur eine kurze Zeit oder etwa ihr ganzes Leben professionell lehrte.
Dagegen soll unter Profession nicht verstanden werden, dass die entsprechenden
Frauen oder ihr Umfeld ihren Beruf mit ‚Clavierlehrerin’ angegeben hätten. Das
Berufsbild besaß, wie die Arbeit Michael Roskes zur Sozialgeschichte des Musiklehrers vom 17. zum 19. Jahrhundert5 zeigt, vor 1800 noch kein eigenständiges Gesicht und seine Ausübung war üblicherweise mit anderen beruflichen oder familiären Tätigkeiten verknüpft. Generell war die Musiklehrerausbildung noch kaum institutionalisiert und geschah hauptsächlich auf privater Basis.
Gerade diese Offenheit trug dazu bei, Frauen – und dabei besonders solchen
aus Musiker- und stark musikverbundenen Familien – in einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen und eines sich wandelnden Verständnisses der eigenen
Persönlichkeit einen neuen Weg zu erschließen. Hinzu kam, dass der Beruf der
‚Lehrerin’ an sich zum definierten Geschlechtscharakter der Frau passte. Die auf
dieser Basis erfolgte Entwicklung soll hier für den französisch-, deutsch- und nie-
4
5
12
S. a. Schleuning und Peter Schleuning, Kenner und Liebhaber. Zur Soziologie des deutschen Konzertpublikums im 18. Jahrhundert, in: Jutta Held (Hrsg.), Kultur zwischen
Bürgertum und Volk, Berlin 1983, S. 66–75.
Roske.
derländischsprachigen europäischen Raum bis zu der zeitlich etwas fließenden
Grenze von 1815 dargestellt werden.
Mehrere Probleme treten dabei auf: Einmal gibt es wenig Vorarbeiten, die sich mit
dem Beruf des Musiklehrers, geschweige denn mit Musiklehrerinnen, in dieser Zeit
beschäftigen, außerdem ist es die Art der Quellen selbst, zu deren Bedeutung und
Auswertung wir heute nicht immer direkten Zugang haben.
Die bisher vorliegenden Arbeiten bringen lediglich in Ansätzen Hinweise auf
unterrichtend tätige Frauen, angefangen mit Annemarie Krilles Schrift Beiträge zur
Geschichte der Musikerziehung und Musikausübung der deutschen Frau6, der ersten Untersuchung, die sich mit dem deutschsprachigen Raum beschäftigt und sich
1938 noch auf keinerlei besondere Vorarbeiten stützen konnte. Als Lehrerin nennt
Krille an erster Stelle Anna Magdalena Bach, die ihre Kinder unterwies, wenn dem
geschäftigen Vater die nötige Zeit dazu fehlte. Auch Nina d’Aubigny von Engelbrunners, „Frau von Schadens“ und Louise Reichardts musikpädagogische Tätigkeit
werden genannt. In seiner Sozialgeschichte des privaten Musiklehrers vom 17. zum
19. Jahrhundert beschäftigt sich Michael Roske ausführlich mit der „Hinwendung
zum Beruf des außerschulischen, privaten Musiklehrers“7. Dabei geht er auch auf
„das Stereotyp der klavierspielenden höheren Töchter im 19. Jahrhundert“8 und die
sich in diesem Zusammenhang herausbildende Gruppe der Privatmusiklehrerinnen
ein9. In seinen Statistiken und Erläuterungen findet ferner die „zögernde Feminisierung auch dieses Berufszweiges“10 eine kurze Erwähnung. Peter Reichelt11, der sich
in Frau und Musikausübung im 18. Jahrhundert auf die Arbeiten Eva Riegers und
Freia Hoffmanns12 (s. u.) stützen konnte, erwähnt Marianne von Martinez und ihre
1796 gegründete „Singschule“, Louise Reichardts Musikschule für Frauen in Hamburg, Elise Müllers Mädchenerziehungsanstalt in Bremen und die Wiener Musikschule der Maria Theresia Paradis. Luise Reichardt und Nina d’Aubigny von Engelbrunner spricht er eine Rolle als Vorreiterin in der Entwicklung der Gesangsausbildung der Frau zu. Außerdem stellt er fest, dass die Aufnahme von Schülerinnen am
Pariser Conservatoire im Vergleich zu den deutschen Institutionen deutlich liberaler
gehandhabt wurde.
6
7
8
9
10
11
12
Annemarie Krille, Beiträge zur Geschichte der Musikerziehung und Musikübung der
deutschen Frau (von 1750 bis 1820), Berlin 1938.
Roske, S. 16.
Ebd.
Roske, S. 227.
Roske, S. 144.
Peter Reichelt, Frau und Musikausübung im 18. Jahrhundert, in: Siegrid Düll, Walter
Pass, Josef Wallnig (Hrsg.), Zwischen Nähkästchen und Pianoforte. Musikkultur im
Wirkungskreis der Frau, Sankt Augustin 1998.
Rieger und Hoffmann.
13
Für Frankreich gibt es deutlich weniger Vorarbeiten. Constant Pierre beschreibt in seinem Buch Le Conservatoire nationale de Musique et de Déclamation
von 190013 die Entwicklung dieses Ausbildungsinstituts. Er gibt umfangreiches Listenmaterial zu Lehrpersonen, Studierenden und Wettbewerbspreisträgern. Darunter
sind zahlreiche Namen von Frauen zu finden; eine Auswertung dieser Tatsache findet aber nicht statt.
Die Geschichte niederländischer Musikerinnen wurde von Helen H. Metzelaar
in ihrer From Private to Public Spheres. Exploring Women’s Role in Dutch Musical
Life from c. 1700 to c. 1880 betitelten Studie aufgearbeitet.14 Von ihren drei ausführlichen Fallstudien gilt eine der Pianistin, Komponistin, Chorleiterin und Musiklehrerin Gertrude van den Bergh, deren pädagogisches Wirken bei Metzelaar eine
eingehende Würdigung erfährt.
Die Musikgeschichte der Schweiz ist an sich ein Thema, das noch ausführlicher Forschungsarbeiten bedarf. Zu einigen wenigen Städten existieren Einzelstudien, etwa von Edouard-M. Fallet zu Neuenburg (La Vie musicale au Pays de Neuchâtel du XIIIe à la fin du XVIIIe siècle von 1936) oder Jacques Burdet zu Lausanne
(La Musique dans le Pays de Vaud sous le Régime Bernois 1536–1798 von 1963).
Beide beschäftigen sich auch mit den Unterrichtsgegebenheiten des 18. Jahrhunderts und zählen Lehrpersonen auf, die im Falle der Französischen Schweiz üblicherweise aus dem Ausland kamen. Darunter befinden sich auch einige Frauen.
Die meisten Untersuchungen behandeln allerdings Musikerinnen und Komponistinnen unter anderen Gesichtspunkten. So wird weitaus häufiger der Unterricht behandelt, den Frauen genossen, als dass eine Lehrtätigkeit auch nur erwähnt würde. Da
natürlich die musikalische Ausbildung, die eine Lehrerin in ihrer Kindheit und Jugend erfuhr, größten Einfluss auf ihre eigene Tätigkeit und ihre Möglichkeiten zu
professionellem Unterrichten nahm, sind diese Untersuchungen selbstverständlich
auch von Interesse. Peter Schleuning etwa geht in Das 18. Jahrhundert: Der Bürger
erhebt sich15 auf die speziell für das ‚weibliche Geschlecht’ angefertigten Kompositionen ein, hauptsächlich Lieder und kleine Clavierstücke und thematisiert, wie
durch entsprechende Titel der Kompositionen eine verbesserte Verkaufsstrategie
gewährleistet werden sollte. Mit den speziell an Frauen adressierten Werken versuchte man gleichzeitig, das Niveau des Musizierens festzulegen: Leichte, kurze
Stücke in einfachen Tonarten und für die kleine Frauenhand geeignet16 wurden als
passend befunden. Auch er erwähnt die Möglichkeit, dass Frauen als Musikpädagoginnen Geld verdienen konnten, verlegt diese Phase aber in der Hauptsache ins 19.
Jahrhundert.17 Freia Hoffmann beschäftigt sich in Instrument und Körper aus dem
13
14
15
16
17
14
Pierre.
Metzelaar.
Schleuning.
Schleuning, S. 219–222.
Schleuning, S. 242.
Jahre 199118 mit der Geschichte der ‚Frauenzimmer-Instrumente’, den bürgerlichen
Anstandsregeln, die das Musizieren von Frauen bestimmten, der Rolle der Instrumentalistinnen im Konzertleben und den Bedingungen auf dem Weg zur Professionalisierung. An mehreren Stellen geht sie auf Fragen des Unterrichts ein. Sie erläutert die Möglichkeit, dass Frauen durch Unterricht oder öffentliche Auftritte Geld
verdienen konnten, sollte die finanzielle Versorgung durch einen Mann nicht gewährleistet sein. Ein Kapitel ist dem „Privatunterricht“ gewidmet, in dem nicht nur
die Musikschulen von Elise Müller und Maria Theresia Paradis genannt werden,
sondern auch auf die Lernformen, in denen Mädchen sich Instrumentalspiel und
Gesang aneignen konnten, eingegangen wird. Anhand mehrerer Beispiele19 berichtet Hoffmann über das Lernen zu Haus, etwa über die Möglichkeit des Ausnutzens
der Unterrichtsstunden, welche die Brüder erhielten. Ein guter Grundlagenunterricht war notwendig, damit eine Frau später die Möglichkeit hatte, mit musikalischer Tätigkeit den Lebensunterhalt zu verdienen. Hier waren besonders die Mädchen im Vorteil, die in einer Musikerfamilie aufwuchsen. Hoffmann zählt außerdem
von Frauen verfasste Musiklehrwerke auf.20 Es wird nicht weiter verfolgt, inwieweit sich hinter der musikschriftstellerischen auch eine musikpädagogische Arbeit
verbarg.
Einige Arbeiten beschäftigen sich mit der Frage, welche musikalischen Möglichkeiten Frauen des 18. und angehenden 19. Jahrhunderts offen standen. Besonders ausführlich werden Musikerinnen in der Versailles et les Musiciens du Roi
1661–1733 betitelte Untersuchung Marcelle Benoits behandelt. 21 Ein Kapitel ist
speziell den bei Hofe musizierenden Frauen gewidmet – zumeist Sängerinnen. Benoit führt aus, dass die meisten Musikerinnen aus Musikerfamilien stammten, und
beschreibt die Rolle des Cembalos als beliebtes Fraueninstrument.22 Genannt werden die Clavierspielerinnen Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, Marie Françoise
Certain, Élisabeth Sophie Chéron sowie Marie Madeleine und Marguerite-Antoinette Couperin. Im deutschen Raum war es Eva Rieger, die in Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluß der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung einen großen Abschnitt der „Frau im musikpädagogischen Bereich“23 widmete. Sie fasst zusammen: „Singen und Klavierspielen gehörten durchaus zur Mädchenerziehung, doch durften diese Fähigkeiten den Haus18
19
20
21
22
23
Hoffmann.
Hoffmann, S. 265.
Hoffmann, S. 239.
Benoit.
« Le clavecin, noble, secret, raffiné, va à l’encontre des effusions. Sa voix porte peu; il
favorise le détail. Il excelle dans la danse et le portrait, la description et l’évocation,
l’émotion et le rêve, la grandeur et la tendresse. Il réussit dans le trait incisif comme
dans l’appoggiature langoureuse. Dans ce domaine, les femmes se sentent à l’aise. »
Benoit, S. 260.
Rieger, S. 20–104.
15
gebrauch nicht überschreiten.“24 Die dazu nötigen Kenntnisse wurden oft von Gouvernanten, die selbst nur eine schmale Ausbildung genossen hatten, vermittelt. 25
Rieger spricht hier eine häufig anzutreffende Berufskombination von Gouvernante
und Musiklehrerin an.
Oft genug allerdings bleiben Geschlechteraspekte gänzlich unberücksichtigt,
etwa bei Georg Sowas ausführlicher Arbeit über die Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland26, die gründlich recherchiert und aufgearbeitet Ergebnisse
zu dem Zeitrahmen 1800 bis 1843 präsentiert. Die von Frauen in dieser Zeit gegründeten und geleiteten Musikschulen bleiben allerdings unerwähnt. Dies holte
Freia Hoffmann in ihrem Aufsatz über Institutionelle Ausbildungsmöglichkeiten für
Musikerinnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts27 nach. Sie referiert hier
u. a. über drei von Musikerinnen gegründete private Musikschulen. Es handelt sich
um die Mädchenerziehungsanstalt Elise Müllers in Bremen, die Musikschule, die
Maria Theresia Paradis 1808 bis 1824 in Wien unterhielt und Louise Reichardts
Musikschule für Frauen in Hamburg. Elise Müller und Maria Theresia Paradis waren hauptsächlich als Clavierspielerinnen bekannt und unterrichteten demzufolge
viele Schülerinnen am Tasteninstrument. Bei Reichardts Musikschule handelte es
sich vornehmlich um eine Singschule, doch bot sie auch Clavierstunden an, um ihre
Einnahmen aufzubessern.28 Hoffmann berichtet kurz über diese Schulen und legt
dabei einen Schwerpunkt auf deren Öffentlichkeitswirkung. Theophil Antonicek
geht in seinem Aufsatz Musik in Pädagogik und Unterricht des 18. Jahrhunderts29
ausschließlich von männlichen Lehrkräften aus und verzichtet auf Geschlechterdifferenzierungen. Er weist auf verschiedene Parameter hin, nach denen Musikunterricht im 18. Jahrhundert differenziert werden sollte: Ist die Unterweisung auf Musik
beschränkt oder nicht, richtet sich die Ausbildung an Berufsmusiker oder Liebhaber, handelt es sich um Einzel- oder Gruppenunterricht? Welches ist die soziale
Stellung der Unterrichtenden und Schülern? Handelt es sich um theoretischen oder
praktischen Unterricht? Dem Privatmusiklehrer – Nur ein armer Schlucker? widmet auch Walter Salmen 1997 ein kurzes Kapitel30, in dem Frauen aber diesmal lediglich hinsichtlich des Rollenverhältnisses Lehrer und Schülerin thematisiert werden.
Bei den wenigen Autoren, die sich neben Burdet und Fallet (s. o.) mit dem
Musikleben in der Schweiz beschäftigen, sind meist nur Hinweise auf die örtliche
24
25
26
27
28
29
30
16
Rieger, S. 49.
Rieger, S. 50.
Sowa.
Hoffmann IAM.
Siehe auch Boffo-Stetter, S. 84.
Theophil Antonicek, Musik in Pädagogik und Unterricht des 18. Jahrhunderts, in: Gunda Barth-Scalmani (Hrsg.), Genie und Alltag, bürgerliche Stadtkultur zur Mozartzeit,
Salzburg 1994, S. 295–315.
Salmen, S. 158–160.
Musikpraxis allgemein zu finden. 31 Max Fehr nennt Namen von (ausschließlich
männlichen) Musiklehrern und einigen Schülerinnen. Bei Zulauf kommt mit dem
offiziellen Musikunterricht immerhin auch die „Singmeisterin“ an Berner Schulen
zur Sprache. Antoine-E. Cherbuliez geht in seiner Geschichte der Musikpädagogik
in der Schweiz ebenfalls intensiv auf die Entwicklung des Gesangsunterrichts in der
Schweiz im 18. Jahrhundert ein. Er zählt mehrere Instrumentallehrer, aber keine
Lehrerinnen auf.
Neben diesen allgemeinen Abhandlungen gibt es bereits einige Studien zu einzelnen Komponistinnen und Musikerinnen, die auch deren Lehrtätigkeit beleuchten.
Die meisten von ihnen konzentrieren sich auf die Wende zum 19. Jahrhundert und
enthalten wenig oder keine Informationen zu früherer Zeit. Die Ausnahmen stammen größtenteils aus Frankreich: Charles Bouvet beschäftigte sich intensiv mit der
Pariser Musikerfamilie Couperin. Seine Studien Les Couperin von 1919, Nouveaux
Documents sur les Couperin von 1933 und besonders Les deux d’Anglebert et Marguerite-Antoinette Couperin von 192832 bringen eine Fülle von Dokumentationsmaterial über die musikalischen und auch Lehrtätigkeiten der Frauen dieser Familie,
ohne diese jedoch im Einzelnen auszuwerten. Catherine Cessac weist in ihrer ausführlichen Biografie zu Elisabeth Jacquet de la Guerre. Une femme compositeur
sous le règne de Louis XIV.33 zwar häufig darauf hin, dass die Musikerin in dem einen oder anderen Lebensabschnitt unterrichtet habe, diese Hinweise sind jedoch
auch auf Nachfrage bei der Autorin in einigen Fällen leider nicht belegbar.
Gute Vorarbeiten gibt es zu Maria Theresia Paradis. Hermann Ullrich befasst
sich in seinem Aufsatz Die Musikpädagogin34 mit ihrer Methode, dem Unterrichtsmaterial, dem von ihr verwendeten Instrumentarium und ihren Literaturkenntnissen.
Er konnte erfreulich viele biografische Informationen sammeln, die als Grundlage
zu Vergleichen dienen können. Marion Fürst hat dieses Material aufgegriffen und
durch eigene Studien ergänzt. In ihrer im Jahr 2005 erschienenen Biografie35 führt
sie viele Dokumente und Fakten zur Unterrichtstätigkeit der blinden Künstlerin an,
die jedoch nicht unter Geschlechteraspekten ausgewertet werden. Iris Boffo-Stetter
beschäftigte sich ausführlich mit Louise Reichardts musikpädagogischem Wirken.36
Sie konnte anhand zahlreicher erhaltener Briefe wichtige Details zusammentragen
und auswerten. Nach der Schulgründung vervollkommnete Reichardt ihr Clavier31
32
33
34
35
36
Briner, Capitani, Capitani/Oester, Cherbuliez, Fehr, Zulauf, außerdem François de Capitani, Realitäten des Musiklebens und der Musikausübung in der Schweiz des 18.
Jahrhunderts am Beispiel Bern, in: Anselm Gerhard, Annette Landau (Hrsg.), Schweizer Töne. Die Schweiz im Spiegel der Musik, Zürich 2000, S. 145–154.
Bouvet, Bouvet Coup. und Bouvet AC.
Cessac.
Ullrich.
Fürst.
Boffo-Stetter.
17
spiel, um auch auf diesem Instrument unterrichten zu können und in der Lage zu
sein, ihre Schülerinnen und Schüler adäquat zu akkompagnieren. Boffo-Stetter
bringt wertvolle Hinweise zu Reichardts Beweggründen und ihrer wirtschaftlichen
Situation, aber auch eine informative Darstellung der Schwierigkeiten, die Frauen
mit musikpädagogischen Ambitionen zu bewältigen hatten. Manfred Elsbergers
Untersuchung über Nina d’Aubigny von Engelbrunner widmet sich vornehmlich
den gesangspädagogischen Aspekten ihres Hauptwerkes Briefe an Natalie über den
Gesang. Er nennt aber neben kurzen biografischen Details über d’Aubignys Clavierschülerinnen und Schüler auch allgemeine Aspekte, die für Vergleiche von Interesse sind.
Die übrigen biografischen Untersuchungen, die zu einigen Frauen aus der
Gruppe der Clavierlehrerinnen vorliegen, beschäftigen sich eher mit deren Befähigung zum Komponieren, ihren Werken oder Erfolgen auf Bühne und Konzertpodium. Letztendlich war es auch im 17. und 18. Jahrhundert nicht die Lehrtätigkeit
einer Person, die für die Öffentlichkeit oder Nachwelt beschrieben und dargestellt
wurde, sondern es waren auch damals schon die publikumswirksamen Bereiche, die
dokumentiert wurden und bis heute (zumindest in Ansätzen) nachvollziehbar sind.
Die Spuren der Unterrichtstätigkeit sind dagegen an anderen Stellen zu suchen:
in Biografien von Schülerinnen oder Schülern etwa, deren Leben entweder durch
ihre gesellschaftliche Stellung oder durch ihr musikalisches (meist kompositorisches) Können überliefert ist, in Briefen und Selbstzeugnissen, in Zeitungsberichten, die manchmal auch die Namen von Lehrpersonen der Konzertierenden nennen,
in frühen Lexika, in Frankreich in Adressverzeichnissen, in der Französischen
Schweiz in den Tolerance genannten Arbeitserlaubnissen. Es handelt sich um kleine
Mosaiksteine, die es in oft völlig anders geartetem Kontext zu finden gilt. Auch die
Bewertung dieser Quellen ist nicht immer leicht und stellt einen weiteren Problempunkt dar: Die Hinweise sind nicht tradiert, um das Umfeld oder die Nachwelt über
ein bestimmtes Phänomen zu informieren, wie dies etwa bei Konzertberichten der
Fall ist, sondern es handelt sich um Einzelheiten, die immer in einem anders gearteten Kontext stehen, den es bei der Bewertung der Information zu berücksichtigen
gilt. Es liegt in der Natur dieser Art von Quellenmaterial, dass es kaum möglich ist,
umfassende Bereiche aus dem Leben und Wirken einer größeren Anzahl von Lehrerinnen einander gegenüber zu stellen. In dieser Arbeit sind daher die vergleichbaren
Elemente herausgegriffen und möglichst in einen größeren Zusammenhang eingebettet worden. Es handelt sich somit um viele kleine Bausteine, die zusammen ein
Bild ergeben, das, obgleich vielfältig, stimmig erscheint. Durch weitere biografische Untersuchungen wird es sicher möglich sein, das Puzzle in späteren Arbeiten
zu erweitern und zu vervollständigen.
Die Schreibweise ‚Clavierlehrerin’ ist bewusst im Unterschied zur ‚Klavierlehrerin’
des 19. Jahrhunderts gewählt, da vor 1800 alle üblichen Tasteninstrumente wie
Cembalo, Clavichord, Orgel und Pianoforte oder Hammerclavier unter dem Oberbegriff ‚Clavier’ zusammengefasst werden können. Man wird nicht fehlgehen, in
18
der Frühzeit darunter eher Cembalo und Clavichord, im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker und nach 1800 fast ausschließlich das Hammerclavier zu verstehen. Der Übergang vom einen zum anderen Instrumententypus vollzog sich sowohl
geografisch als auch innerhalb der Bevölkerungsgruppen unterschiedlich und hatte
keine Auswirkungen auf die Arbeit der Clavierlehrerinnen an sich, sodass eine umfassende Spezifizierung an dieser Stelle überflüssig erscheint. Tatsache ist, dass
sich erst nach 1800, mit den immer größer und voluminöser werdenden Tasteninstrumenten, der Beruf der Klavierlehrerin oder des Klavierlehrers entscheidend änderte und formte.37 Das deutlich stabilere, schwerere und lautere neue Instrument
schuf auf der einen Seite die Basis für das Virtuosentum im Konzertsaal, zu dem
nur wenige Musiker oder Virtuosinnen wie z. B. Clara Schumann den Weg fanden.
Andererseits war das Tafelclavier genannte kleinere Schwesterinstrument, das den
meisten höheren Töchtern für ihr obligatorisches Klavierspiel zur Verfügung stand,
häufig mit einer solch minderwertigen Mechanik ausgestattet, dass der Spielkunst
oft schon hierin und nicht nur in der Lust oder Unlust der Lernenden Grenzen gesetzt waren. Die Rückwirkungen auf viele der – in der Regel – Mädchen und Frauen
unterrichtenden Klavierlehrerinnen sind aus dem 19. Jahrhundert bekannt. 38 Der
Beruf hatte sich nach 1800 als solcher etabliert und in seinem Wesen so stark verändert, dass Michael Roske für den Bereich des musikalischen Anfangsunterrichtes
sogar von der Feminisierung des Berufes spricht.39 Die ‚Klavierlehrerin’ wurde zu
einem typischen Frauenberuf40, der deutlich von einer Laufbahn als Virtuosin getrennt betrachtet wurde, das Klavier selbst, bzw. die daran spielende Frau zu einem
festen Bestandteil der Literatur.41
Einen weiteren Aspekt gilt es zu vermerken: Clavier und Harfe sind in Bezug auf
die Unterrichtstätigkeit von Frauen über weite Strecken eng miteinander verbunden.
Einerseits galt die Harfe aufgrund ihrer Klangeigenschaften und dekorativen Ausstattung als ausgesprochen weibliches Instrument – nicht umsonst ist der Prozentsatz der Virtuosinnen hier ungleich höher als bei fast allen anderen Instrumenten.
Anderseits sind auch die Kompositionen dieser beiden Instrumententypen stilistisch
so eng miteinander verbunden, dass man im 18. Jahrhundert oft genug auf Kompo37
38
39
40
41
Dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich ebenso gewandelt hatten und zu diesen
Änderungen im Berufsbild des Musiklehrers beitrugen, sei nur am Rande erwähnt und
ist bei Roske und Roske USM ausführlich nachzulesen.
Siehe dazu auch Rieger, S. 67–68.
Roske, S. 227.
Siehe Roske USM, S. 172–174.
Eine Betrachtung zu Frauen am Klavier – ein Motiv in Kunst und Literatur findet sich
in Stefana Sabin, Frauen am Klavier. Skizze einer Kulturgeschichte, Frankfurt/MainLeipzig 1998, S. 47–76. Für die engl. Literatur gibt es zu diesem Thema eine sehr ausführliche Studie von Mary Burgan, Heroines at the Piano: Women and Music in Nineteenth-Century Fiction, in: Victorian Studies 1986, S. 51–76.
19
sitionen „für Clavier und/oder Harfe“ stößt. 42 Titel wie Marie-Élisabeth Clérys
Trois Sonates pour la Harpe ou Piano-Forté avec Accompagnement de Violon
op. 143 sind im 18. Jahrhundert durchaus typisch.
Da viele der clavierspielenden Frauen ebenfalls das Spiel auf der Harfe erlernten, oft beide Instrumente (nach vergleichbarer Methode) unterrichteten und diese
beiden Tätigkeiten meist nicht voneinander zu trennen sind, werden Clavierspielerinnen, die auch Harfe unterrichteten ebenso wie Harfenistinnen, die daneben möglicherweise Clavierunterricht erteilten, berücksichtigt. Zusätzliche biografische Angaben zu den Lehrerinnen können im Anhang nachgelesen werden.
Die Untersuchungen sind nach geografischen Gesichtspunkten geordnet. Dies liegt
daran, dass die Entwicklung der Musizierpraxis der Frauen ebenso wie deren Neudefinition mittels Geschlechterrolle zunächst von Frankreich ausging. Hier gab es
eine lange Tradition auf höchstem Niveau musizierender Frauen, die innerhalb ihrer
Familien – üblicherweise Musikerfamilien – durchaus auch professionell, sogar an
einem Instrument wie der Orgel, tätig waren. Sie nahmen teil am Beruf des Vaters
oder Ehemannes, waren als Witwe oder unverheiratet gebliebene Frau eigenständig
tätig und nahmen somit im sozialen Gefüge eine Sonderrolle ein. Daran änderten
auch die neuen Überlegungen zu Erziehung und Pädagogik oder das herrschende
Rollenbild der Frau nichts. Als Musikerin oder Musiklehrerin konnte eine Frau hier
wie in den von Frankreich beeinflussten Ländern wie der Französischen Schweiz
durchaus hohes Ansehen genießen und gleichermaßen als Frau geachtet sein. Dieser
Umstand spiegelt sich auch im Tenor der überlieferten Quellen wider.
In Deutschland und Österreich dagegen suchten die Denker, Philosophen und
Theoretiker die französischen Idealvorstellungen nicht nur nachzuahmen, sondern
sie gleichsam zu übertreffen. Die daraus resultierende Reduktion der Frau auf ihre
Rolle als Hausfrau, Gattin und Mutter war weitaus größer und weitreichender als in
Frankreich, wo zudem noch die Revolution zu Ende des 18. Jahrhunderts andere
Problemstellungen in den Vordergrund rückte. Was in Frankreich auf der Grundlage von Tradition und den tatsächlichen Bedürfnissen (des Hofes, Adels und allgemein der höheren Stände nach musikalischem Zeitvertreib), durch Diskussionen
über Geschlechterfragen etwa im Rahmen der Querelle des femmes und neue
pädagogische Konzepte angedacht wurde oder begonnen hatte, wurde in Deutschland weiter durchdacht, in ein Konzept gebracht und systematisch durchgesetzt. Berufstätigkeit und künstlerische Praxis von Frauen unterlagen dadurch einem weitaus
größeren Erklärungsbedarf. Beide wurden immer wieder öffentlich diskutiert und
bewertet und besaßen damit erheblich schlechtere Voraussetzungen. Die Folgen
dieser Entwicklung sind bis heute spürbar.
42
43
20
Siehe Harfenmusik, in: MGG 1999.
BNF Sign. A 33601, R 54118.
Gedicht zu Ehren der Cembalistin und Clavierlehrerin Marguerite-Antoinette Couperin,
abgedruckt im Mercure de France, Juni 1742
A Mlle Couprin, Maîtresse de Clavecin de Mesdames de France.
Stances irregulieres
Aujourd’hui la vérité
Nous fait croire, sçavante Fée,
Ce que la Fable sur Orphée
Nous a toujours tant vanté.
unregelmäßige Strophen
Heute, wissende Fee,
Lässt uns die Wirklichkeit glauben,
Was die Fabel von Orpheus
Schon immer rühmte.
Jadis, aux sons harmonieux
Du fameux Chantre de Thrace,
Les Tigres suivoient la trace
De ses pas victorieux.
Einst folgten unter den harmonischen Klängen
Des berühmten thrakischen Sängers
Die Tiger der Spur
Seiner siegreichen Schritte.
Plongé dans de tristes allarmes,
Il gémissoit sur son malheur;
Mais c’étoit de la douleur
Que sa Lyre empruntoit ses charmes.
Gefallen in traurige Unruhe
Seufzte er über sein Unglück;
doch es war der Schmerz,
Den seine Leier hervorzauberte.
Sous le sombre & cruel caprice,
Qui causa tous ses regrets,
Sans la perte d’Euridice
Ses chants auroient eû moins d’attraits.
Unter der düsteren und grausamen Laune,
Die all seine Klagen bewirkt,
Wären seine Lieder ohne den Verlust Euridices
Weniger anziehend.
Pour vous, dans l’heureux partage
Qui fait votre unique plaisir,
De votre glorieux loisir
Vous faites un noble usage.
Was Euch betrifft, so macht Ihr von der
Glücklichen Aufteilung Eurer glorreichen Muße,
Die Euch einzigartige Freude bereitet
Einen noblen Gebrauch.
Ce ne sont point des Bois rustiques
Qui répetent vos Chansons;
Ce sont des Palais magnifiques
Qui servent d’Echos à vos sons.
Es sind nicht die einfachen Wälder,
Die Eure Lieder wiedergeben –
Es sind die großartigen Paläste,
Die Euren Klängen als Echo dienen.
Je ne goûte plus le Miracle
Des Animaux aprivoisés;
Un plus illustre Spectacle
Frape mes sens désabusés;
Ich finde kaum mehr Gefallen am Wunder
Gezähmter Tiere;
ein glänzenderes Schauspiel
nimmt meine enttäuschten Sinne gefangen.
Je vois d’augustes Princesses
Toucher les ressorts divers,
Qui sous vos mains enchanteresses
Forment d’agréables Concerts.
Ich sehe erlauchte Prinzessinnen
Verschiedene Bereiche berühren,
Die unter Euren Zauberhänden
Angenehm zusammen klingen.
21
Ainsi, quand de votre coté,
Vous formez leur tendre jeunesse,
Elles travaillent sans cesse
A votre immortalité.
So wie Ihr Eurerseits
Ihre zarte Jugend formt,
Arbeiten sie ohne Unterlass
An Eurer Unsterblichkeit.
Parmi les noms éclatants
Votre nom trouvera place;
Et, sans qu’aucun autre l’efface,
Sera le vainquer des tems.
LE MIÈRE.
Unter allen glänzenden Namen
Findet auch der Eurige Platz
Und er wird, ohne dass ein anderer ihn auslöscht,
Die Zeiten überdauern.
44
LE MIÈRE.
44
22
MdF, S. 1315–1317, Übers.: C. S. & Ch. S.
Teil I
Die Entwicklung in Frankreich
1
Musikerinnen in Frankreich
1.1
Erziehung französischer Mädchen
Kennzeichnend für die Bildungsbestrebungen des 17. Jahrhunderts in Frankreich
(wobei Frankreich beinahe als Synonym für Paris zu lesen ist) ist die gemeinsame
Arbeit von Kirche und Staat an der Einrichtung eines öffentlichen Schulwesens. In
jedem größeren Ort – so die Idealvorstellung – sollte allen Kindern, Jungen wie
Mädchen, eine Schule offen stehen, deren Besuch kein oder nur wenig Geld kostete.
Waren die in diesen Grundschulen vermittelten Kenntnisse auch sehr gering, so
kann man dennoch von einer „Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten“45
sprechen.
Das durchschnittliche Heiratsalter lag zur Zeit Louis XIV. sehr hoch – bei
Männern bei 27, bei Frauen bei etwa 24 ½ Jahren. Die Sterblichkeitsrate war besonders groß bei Neugeborenen, Kleinkindern unter fünf Jahren und Alten. Im Schnitt
bekam jedes Ehepaar mindestens sechs Kinder. Die ersten sieben Lebensjahre des
Kindes galten als l’âge d’innocence, die ‚Zeit der Unschuld’ oder l’âge tendre, das
zarte Kindesalter. Mit sieben Jahren traten Kinder in das âge de raison ein, sie wurden aus religiöser Sicht mündig, konnten nach den kirchlichen Vorstellungen unterscheiden zwischen Gut und Böse, konnten Gutes ebenso tun wie Sünden begehen,
Reue empfinden, Buße tun. Für Jungen begann die Pubertät mit etwa 14, volljährig
waren sie mit 25 Jahren. Mädchen galten bereits mit zwölf Jahren als heiratsfähig.
Mit 20 „erblühten die Frauen zu ihrer vollen Reife“ und galten bereits ab den frühen
dreißiger Jahren nicht mehr als jung. Mit 40 Jahren begann die „Haut zu welken“
und „um die Schönheit der Frau war es geschehen“.46 Ehepartner gehörten üblicherweise derselben Generation und Schicht an, obwohl eine Mesalliance, eine Heirat
aus unterschiedlichem sozialem Milieu, kein so schlimmes Vergehen wie in
Deutschland darstellte. Die zukünftigen Ehepartner wurden von den Eltern ausgesucht. Eine Heirat war wichtig für die spätere Versorgung – hinsichtlich Pflege und
Umsorgung für den Mann, aus finanzieller Notwendigkeit für die Frau.47
Für Mädchen, egal aus welcher Gesellschaftsschicht, war trotz der allgemeinen
Bildungsbestrebungen ein geringeres Wissen vorgesehen. Ihnen waren vor allem jene Fertigkeiten zugedacht, die sich auf den häuslichen Bereich beschränkten. Von
ihren Müttern erlernten sie alle Alltagsgeschäfte wie Kochen, Wäsche machen,
Stopfen, Handarbeiten oder die Kinder- und Krankenpflege. Sie waren an der Arbeit und am Familienverdienst beteiligt und für manches junge Mädchen kam diese
häusliche Tätigkeit einer Lehre gleich. Wie regelmäßig und strukturiert ein darüber
hinaus gehender Unterricht stattfand, hing vom Elternhaus ab. War die Familie begüterter, so holte man – hatten die Eltern nicht selbst Vergnügen an der Unterwei45
46
47
Bluche, S. 186.
Bluche, S. 119.
Bluche, S. 116–120.
25
sung ihrer Kinder – gern professionelle Privatlehrer ins Haus, die neben dem Allgemeinwissen auch Lektionen in Malerei, Tanz und Musik erteilten. Wurden Brüder
gemeinsam mit den Mädchen unterrichtet, so war dies dem Wissensstand Letzterer
nur zuträglich. Die häuslichen Fertigkeiten und Kenntnisse der Mädchen dienten
dazu, die von der Kirche bestimmten christlichen familiären Strukturen zu sichern
und für die nächste Generation zu bewahren. Soziale Unterschiede wurden dabei
von den Diskussionen um die Geschlechterfrage in den Hintergrund gedrängt.48
Die Fragen drehten sich um die Themen: Wozu sind Frauen von ihrer Natur
her bestimmt? Was ist das eigentliche Wesen der Frau und worin unterscheidet es
sich von dem des Mannes? Sollen Frauen ebenso intellektuell sein wie Männer?
Sind sie als soziale Wesen zu betrachten oder nicht? Und wie sollte eine dementsprechende geeignete Mädchenerziehung aussehen? Die Diskussion erstreckte sich
somit auf verschiedene Bereiche: den medizinischen, also rein körperlichen Aspekt,
den philosophischen, gesellschaftlichen, sozialen wie den intellektuellen. Sie erfolgte am Hof, in den Salons, an Akademien und Universitäten ebenso wie im Alltagsleben.
Ein Beispiel aus Jean-Baptiste Poquelin Molières L’École des femmes (Die
Schule der Frauen) von 1663 zeigt zugespitzt die Fragestellungen auf, die die Menschen des ausgehenden 17. Jahrhunderts in der Frauenfrage bewegten:
„Arnulf: Wer eine Dumme freit, der eben ist nicht dumm.
Ich glaub als guter Christ an Eurer Gattin Treue;
Doch – eine Frau von Welt ist eben, was ich scheue.
Ich weiß, wie mancher Mann in tausend Nöten schwitzt,
Nur weil die Frau vom Haus zuviel Talent besitzt.
Wie? Soll ich mich vielleicht mit ’ner Gelehrten plagen,
Der nichts als ,Assembleen’ und ,Réunions’ behagen?
Die zierlich Prosa schreibt und gar noch Reime dreht,
Schöngeister mir ins Haus und Kavaliere lädt?
Im Winkel darf dann ich als ,Gatte von Madame’
Gleich einem Heiligen stehn, der aus der Mode kam?
Nein, nein! Kein hoher Geist, davor bewahr’ mich Gott!
Die Frau, die Verse schreibt, weiß mehr, als was ihr not.
Ich will, daß meine Frau, durch wenig Witz geleitet,
Nicht einmal wissen soll, was Vers und Reim bedeutet.
Ja, spielte man im Kreis das Spiel: ,Was bringt die Zeitung?’
Wo jeder ,Leitung’ ruft, ,Verbreitung’, ,Vorbereitung’,
So wünsch ich mir bei Gott, sie sagt: ,’nen Kuchenschnitz.’
Kurzum, ich möchte sie vollkommen ohne Witz.
Genug, sofern sie nur, um klar mich auszudrücken,
Gebet- und Kochbuch kennt, mich lieben, nähen, stricken.
Chrysald: Um solchen Schnickschnack wollt Ihr eine Närrin frein?
Arnulf: Ja, laßt sie lieber dumm und sündenhäßlich sein,
48
26
S. a. Sonnet, S. 119.
Als eine schöne Frau, die obendrein noch klug.
Chrysald: Doch Geist und Schönheit ...
Arnulf: Mir ist Ehrbarkeit genug.“49
Diskussion um die Bildung der Frau
Viele Autoren und Autorinnen wie etwa Jacques Du Bosc, Madeleine de Scudery,
Marie de Gournay, François Poulain de la Barre oder Jacquette Guillaume machten
sich für die Frauenbildung stark. So betont beispielsweise François Poulin de la
Barre die bereits in der Bibel manifestierte generelle Gleichheit der Geschlechter,
führt aber gleichzeitig aus, dass gewohnheitsmäßig das Geschlecht, welches weniger Geist und Fähigkeiten besitze, vom anderen abhänge.50 Seiner Meinung nach
herrsche allgemein das Vorurteil, die beiden Geschlechter seien nicht gleich(berechtigt). Betrachte man ihre derzeitigen Erscheinungen und Funktionen, so zeigten
sich sowohl im Geist als auch im Körper Unterschiede. Jedermann, und auch die
Frauen selbst, stimmten darin überein, dass das weibliche Geschlecht für Wissenschaften und Berufe nicht befähigt sei, dass Frauen weniger Verstand besäßen als
Männer und diesen darum unterlegen seien: „Bittet man jeden einzelnen Mann zu
sagen, was er von den Frauen allgemein denkt, und es aufrichtig auszusprechen, so
wird er wahrscheinlich antworten, dass sie nur für uns [Männer] gemacht, nur zur
Erziehung der Kleinkinder und zur Haushaltsführung geeignet seien.“ 51 Dies ist jedoch laut Poulain de la Barre nichts anderes als eine auf einem Vorurteil begründete
Tradition. Für ihn sind Frauen ebenso würdig, vollkommen und fähig wie Männer.
Seine Argumentation stützt sich darauf, dass es durchaus, schaut man an den Hof
und weg von den mittelmäßig begabten (und ausgebildeten) Frauen (die es ebenso
gibt wie mittelmäßig begabte Männer) Damen von Geist und Talenten gibt. Ihnen
spricht er einen „scharfen Sinn, Urteilsvermögen und Höflichkeit“ wie „einen umfassenden, feinen, delikaten und hilfreichen Verstand“ zu und mit ihnen kann man
sich nach seiner Aussage über dieselben Themen wie mit Männern unterhalten. Ihre
Begabung, so meint er, scheine „in einer natürlichen Proportion zu ihrem Stand“ zu
stehen.52 Die Unterschiede der Geschlechter betreffen laut Poulain de la Barre lediglich die der menschlichen Fortpflanzung dienenden Organe des Körpers, wäh49
50
51
52
Jean-Baptiste Poquelin Molière, L’École des femmes, Paris 1663, nach Die Schule der
Frauen, dt. von Rudolf Alexander Schröder, Stuttgart 1982, S. 6–7.
Poulain de la Barre, S. 7 (Avertissement).
« Si l'on demande à chaque homme en particulier ce qu'il pense des femmes en general,
et qu'il le veüille avoüer sincerement, il dira sans doute qu'elles ne sont faites que pour
nous, et qu'elles ne sont gueres propres qu'à élever les enfans dans leur bas âge, et à
prendre le soin du ménage. » Poulain de la Barre, S. 17, Übers.: C. S. & Ch./B. N.
« Il semble que leur genie soit proportionné naturellement à leur état. Avec la justesse,
le discernement, et la politesse, elles ont un tour d'esprit, fin, delicat, aisé; et je ne sçay
quoy de grand et de noble, qui leur est particulier. On diroit que les objets comme les
hommes, ne s'approchent d'elles, qu'avec respect. » Poulain de la Barre, S. 37.
27
rend der Verstand selbst bei beiden gleich und damit ‚geschlechtslos’ ist. Alle übrigen sichtbaren Unterschiede sind auf die Konstitution des Körpers, besonders aber
die Erziehung und das Umfeld zurückzuführen. „Gott selbst hat den Geist mit dem
Körper der Frau verbunden, ebenso wie mit dem des Mannes und beide nach denselben Gesetzen. Es sind die Gefühle, Leidenschaften und Wünsche, die diese Einheit ausmachen und der Verstand funktioniert in dem einen Geschlecht nicht anders
als in dem anderen. Er ist zu denselben Dingen fähig.“53
Für Poulain de la Barre folgt daraus, dass nach philosophischen Prinzipien betrachtet Frauen genauso gut für Wissen jeglicher Art geeignet sind wie Männer. Davon leitet der Autor ab, dass Frauen, je nach Neigung, zu kirchlichen, herrschaftlichen und juristischen Tätigkeiten und auch zum Lehrberuf Eignung haben: „Der
einfachste und natürlichste Gebrauch, den man von seinem erlernten Wissen machen kann, ist, dieses an andere weiterzugeben. Wenn also Frauen an den Universitäten zusammen mit den Männern oder an eigens für sie eingerichteten Universitäten studiert hätten, könnten sie denselben Wissensstand besitzen und akademische
Gerade der Theologie, der Medizin und in dem einen oder anderen Bereich des
Rechts54 erlangen. Ihr Talent, das ihnen dies Wissen zu erwerben ermöglichen würde, versetzte sie auch in die Lage, erfolgreich zu lehren. Sie fänden ansprechende
Methoden und Wege, um ihr Wissen andern zu vermitteln. Sie fänden auf geschickte Weise die Stärken und Schwächen ihrer Schüler und könnten sich so auf deren
(geistiges) Fassungsvermögen einstellen. Ihre Redegewandtheit, die eine der hervorragendsten Eigenschaften guter Lehrer ist, würde sie schlussendlich zu bewunderungswürdigen Lehrerinnen machen.“ 55 Auch für die Kindererziehung ist es
53
54
55
28
« Il est aisé de remarquer, que la difference des sexes ne regarde que le corps: n'y ayant
proprement que cette partie qui serve à la production des hommes; et l'esprit ne faisant
qu'y préter son consentement, et le faisant en tous de la mesme maniere, on peut conclure qu'il n'a point de sexe. [...] La constitution du Corps; mais particulierement l'éducation, l'exercise, et les impressions de tout ce qui nous environne estant par tout les
causes naturelles et sensibles de tant de diversitez qui s'y remarquent. C'est Dieu qui
unit l'Esprit au Corps de la femme, comme à celuy de l'homme, et qui l'y unit par les
mesmes Loix. Ce sont les sentimens, les passions, et les volontez, qui font en entretiennent cette union, et l'esprit n'agissant pas autrement dans un sexe, que dans l'autre, il
y est également capable des mesmes choses. » Poulain de la Barre, S. 59, 60, Übers.:
C. S. & Ch./B. N.
Gemeint sind wohl Kirchen- und Staatsrecht.
« Le plus simple et le plus naturel usage que l'on puisse faire en public des sciences
qu'on a bien apprises, c'est de les enseigner aux autres; et si les femmes avoient étudié
dans les Universitez, avec les hommes, ou dans celles qu'on auroit établies pour elles en
particulier, elles pourroient entrer dans les degrez, et prendre le tiltre de Docteur et de
Maître en Theologie et en Medecine, en l'un et en l'autre Droit: et leur genie qui les dispose si avantageusement à apprendre, les disposeroit aussi à enseigner avec succez. Elle
trouveroient des methodes et des biais insinuans pour inspirer leur doctrine; elles découvriroient adroitement le fort et le foible de leurs disciples, pour se proportionner à
leur portée, et la facilité qu'elles ont à s'énoncer, et qui est un des plus excellens talens
wichtig, dass Frauen gebildet sind und ein gutes Urteilsvermögen besitzen, denn der
Erfolg der Erziehung hängt immer von der Person ab, die für sie verantwortlich ist
und zu wenige nur besitzen dazu das nötige Wissen und geeignete Methoden.
Etwa gleichzeitig zu dieser Diskussion entstanden, besonders im Pariser Quartier
Marais, die Salons. Mme Anne Thérèse de Lambert, geborene Marquise de Marguenat de Courcelles beispielsweise, eine Schriftstellerin zur Zeit Louis XIV., eröffnete
im Alter von über 60 Jahren ihren Salon in einem Flügel des Hôtel de Nevers in der
Pariser Rue de Richelieu, der heutigen Bibliothèque Nationale. Sie führte ihn 23
Jahre lang bis zu ihrem Tod im Jahr 1733. In ihrem Dienstagskreis versammelten
sich Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller wie z. B. Bernhard de Fontenelle
oder François de Salignac de la Mothe Fénelon, die Autorinnen Catherine Bernard,
Henriette de Castelnau, Comtesse de Murat und Charlotte-Rose Caumont de La
Force, der Maler Antoine Watteau und der Komponist Jean-Philippe Rameau. Statt
der üblichen Glücksspiele gab es bei Mme de Lambert ein exquisites Essen am
Nachmittag, an das sich Lesungen und Diskussionen anschlossen. Seit etwa 1710
galt Mme de Lambert als die Frau, deren Bekanntschaft man einfach gemacht haben
musste, wollte man in die Académie française aufgenommen werden.
Mme de Lambert hinterließ zahlreiche Schriften, in denen sie immer wieder die
Geschlechterfrage berührt: Frauen müssen gleichberechtigt sein, müssen Geist und
Bildung besitzen, da es nur so zu einem intellektuellen Austausch zwischen den Geschlechtern kommen kann. In dieser Funktion können Frauen etwa durch Salons
Vorbilder sein. Sie bestätigt die Meinung anderer Autoren, Frauen besäßen mehr
Gefühl und Geschmack als Männer, interpretiert diese Tatsache aber anders als viele ihrer Zeitgenossen: Laut Mme de Lambert führt dieses Mehr an Gefühl und Geschmack nicht etwa zu einer geringeren Möglichkeit, abstrakt zu denken, sondern
im Gegenteil zu einem „schärferen Verstand“. Geschmack, der Goût, ist bei ihr
nicht etwas Nebulöses und rein Gefühlsmäßiges, sondern gleichgesetzt mit Urteilsvermögen.56
1728 erschienen ihre beiden Avis d’une mère à sa fille und Avis d’une mère à
son fils betitelten Schriften. Mme de Lambert möchte, dass junge Menschen, Jungen
wie Mädchen, sich mit den sciences solides, den ernsthaften Wissenschaften beschäftigen: der Geschichte der Griechen und Römer, französischer Geschichte, etwas Philosophie (besonders Descartes), Moral (dazu empfiehlt die Autorin die Lektüre der Schriften Ciceros und Plinius’), Sprachen (für Mädchen empfiehlt sie die
Kirchensprache Latein), Poesie, aber keine Romane.57
56
57
des bons Maîtres, acheveroit de les rendre des Maistresses admirables. » Poulain de la
Barre, S. 79–80, Übers.: C. S. & Ch./B. N.
Siehe Lieselotte Steinbrügge, Anne Thérèse de Lambert und die Querelle des femmes,
in: Heide Wunder, Gisela Engel (Hrsg), Geschlechterperspektiven in der Frühen Neuzeit, Königstein/Taunus 1998, S. 273–286, bes. S. 282–283.
Lambert, S. 30–32.
29
François de Salignac de la Mothe Fénelon
Einen wichtigen Ausgangspunkt in der Frage der Mädchenerziehung bildete François de Salignac de la Mothe Fénelons Schrift Traité de l’éducation des filles von
1687, bereits wenige Jahre später von August Hermann Francke ins Deutsche übersetzt (und von diesem an seinem um 1700 in Halle gegründeten Gynäzeum in den
Grundzügen erprobt). Bereits das erste Kapitel der Schrift Fénelons beginnt mit
dem Satz: „Nichts wird so sehr vernachlässigt als die Erziehung der Mädchen.“58
Der Autor definiert folgende Problemstellung: „Die Unwissenheit eines Mädchens
ist schuld an der Langeweile und dem Nichtwissen, womit es sich ohne Schaden beschäftigen kann. Wenn es in ein gewisses Alter vorgerückt ist, ohne mit ernsten
Dingen beschäftigt zu sein, kann es für diesen Zustand weder Geschmack noch
Achtung empfinden. Alles Ernste erscheint ihm traurig. Was eine ausdauernde Aufmerksamkeit verlangt, ermüdet es. Der Hang zum Vergnügen, der die Jugend beherrscht, das Beispiel der Gleichaltrigen, welche nur nach Zerstreuungen suchen, alles flößt ihm einen Abscheu vor einem geregelten und arbeitsamen Leben ein.“59
„Wir haben von den Maßnahmen zur Verhütung verschiedener Fehler bei Mädchen
zu sprechen, welche gerade diesem Geschlechte eigentümlich sind. Man erzieht oft
Mädchen in einer Weichlichkeit und Ängstlichkeit, welche sie einer festen und konsequenten Lebensführung unfähig machen. In jenen grundlosen Ängstigungen und
in jenen Tränen, die sie so leichthin vergießen, ist am Anfang viel Ziererei, später
aber viel Gewohnheit.“60 Aus der „inneren Leere“ rühren „Müßiggang“ und „Trägheit“ her, zur „Unwissenheit“ gesellen sich „Weichlichkeit und Untätigkeit“ und
daraus entsteht „eine verderbliche Empfänglichkeit für Vergnügen und öffentliche
Schauspiele“ und erregt eine „unvernünftige und unersättliche Neugier“, welche bei
„gebildeten und mit ernstlichen Dingen beschäftigten Mädchen“ in der Regel nicht
festzustellen ist.61 Daraus folgt für Fénelon nun wiederum, dass die Erziehung möglichst früh beginnen muss, und zwar „schon im zartesten Kindesalter“62. Er spricht
sich dabei durchaus für eine aus seiner Sicht kindgerechte Erziehung und Erziehungspädagogik aus. Seine Ziele formuliert er wie folgt: „Der Unterricht der Frauen
muß wie der der Männer sich auf die Erlernung dessen beschränken, was zu ihrem
Berufe gehört. Die Verschiedenheit ihrer Tätigkeiten muß auch ihre Studien akzentuieren. Man soll daher den Unterricht der Frauen auf das Gesagte [die Erziehung
ihrer Kinder, der Knaben bis zu einem gewissen Alter, der Mädchen, bis sie sich
verheiraten oder ins Kloster gehen, ferner die Aufsicht über die Dienerschaft, über
das Betragen und die Dienstvorrichtungen derselben, die Verrechnung im Haushalt
58
59
60
61
62
30
Fénelon, S. 9.
Fénelon, S. 11.
Fénelon, S. 68–69.
Fénelon, S. 12.
Fénelon, S. 14.
und die Sorge, daß alles sparsam und anständig ausgerichtet werde, schließlich die
Regelung der Pachtverträge und die Einziehung der Einkünfte] beschränken.“63
Nach Fénelons Frauenbild ist die ideale Frau einfach, arbeitsam, pflichtgetreu
und ganz mit dem Hauswesen beschäftigt. „Der weibliche Geist ist in der Regel
schwächer und neugieriger als der der Männer. Auch wäre es nicht zweckmäßig, sie
in Studien einzuführen, welche ihren Kopf ganz einnehmen könnten. Sie sollen weder den Staat regieren, noch in den Krieg ziehen, noch in den geistlichen Dienst treten. Daher sind ihnen gewisse umfassende Kenntnisse entbehrlich, über welche die
Politik, die Kriegskunst, die Rechtsgelehrsamkeit, die Philosophie und Theologie
gebieten müssen. Auch die mechanischen Fertigkeiten sind größtenteils für sie ungeeignet. Ihre Natur ist mehr für eine mäßige körperliche Tätigkeit bestimmt. Ihr
Leib wie ihr Geist sind weniger kräftig und ausdauernd als der der Männer. Dafür
hat ihnen die Natur Fleiß, Sauberkeit, Sparsamkeit für die stille Beschäftigung im
Hause verliehen. [...] Die Beschäftigungen der Frauen, sie sind kaum weniger wichtig für das Gemeinwohl als diejenigen der Männer, müssen beachtet werden, da jene einem Hause vorzustehen, einen Gatten glücklich zu machen und Kinder gut zu
erziehen haben. Man kann noch hinzufügen, daß die Tugend für die Frauen ebensogut da ist wie für die Männer.“64 Ökonomie, Sparsamkeit, Reinlichkeit, Sauberkeit,
Pünktlichkeit und Ordnung gehören zu den Tugenden einer Frau. 65 Dazu sollen
Mädchen richtig lesen und schreiben lernen und etwas von Grammatik verstehen,
die vier Grundrechenarten beherrschen und die „wichtigsten Rechengrundsätze“
kennen. Moderne Fremdsprachen dagegen hält der Autor für überflüssig.66 Die richtige Mädchenbildung ist für Fénelon Baustein der für nötig befundenen sozialen Reform. Nach dem von ihm entworfenen Bild gründete Mme de Maintenon 1686 die
Schule Maison royale de Saint-Cyr für reiche Mädchen, in der 250 höhere Töchter
hart arbeiten und für die ihnen gemäße Aufgabe in Familie und Gesellschaft erzogen werden sollten.
All die aufgezählten Pflichten und Tugenden der Frauen sind für Fénelon
wichtig und ein hohes Erziehungsziel. „Bei der Erziehung eines jungen Mädchens
muß man seine Lebenslage, den Ort, wo es sein Leben verbringen soll, den Beruf,
welchen es voraussichtlich ergreifen wird, ins Auge fassen.“67
Daraus folgt nun aber auch, dass diejenigen, die die Mädchen auf eine solche
zukünftige Rolle vorbereiten, die Mütter und Erzieherinnen, entsprechend gut ausgebildet sein müssen. Dies fängt bei den Müttern an („Welch feinen Blick braucht
eine Mutter, um Natur und Charakter ihrer einzelnen Kinder zu erkennen und die
Erziehungsweise herauszufinden, mit welcher sie die Gemütslage, Neigung und Begabung derselben am besten aufdeckt, den erwachenden Leidenschaften zuvor63
64
65
66
67
Fénelon, S. 77.
Fénelon, S. 9.
Siehe Fénelon, S. 78–81.
Fénelon, S. 84 und 87.
Fénelon, S. 90.
31
kommt, ihnen gute Grundsätze zu eigen macht und sie vor Irrtümern bewahrt!“68)
und betrifft natürlich umso mehr die Frauen, die den Beruf der Erzieherin ergreifen
wollen: „Es ist paradox, von einer schlechten Erzieherin eine gute Erziehung zu erwarten. Es scheint mir genug, daß man Regeln gibt, mit deren Hilfe auch eine Person mittlerer Befähigung zum Ziele kommen kann. Es ist nicht zuviel verlangt,
wenn man fordert, daß eine Erzieherin einen geraden Verstand, einen lenksamen
Charakter und wahre Gottesfurcht habe. Eine solche Erzieherin wird in meiner Untersuchung nicht viel Konstruiertes und Unfaßbares finden. Wenn sie auch nicht alles versteht, so wird sie doch meine wichtigsten Forderungen fassen. Sorge nur, daß
sie diese Schrift mehrmals liest. Scheue keine Mühe, sie mit ihr gemeinsam zu lesen. Gestatte ihr, sobald sie etwas nicht versteht oder sich nicht davon überzeugt
fühlt, sich an dich zu wenden. Dann lasse sie ans Werk gehen. Und wenn du etwa
merkst, daß sie im Verkehr mit dem Kinde die Vorschriften dieser Abhandlung aus
den Augen verliert, so mache sie unter vier Augen in schonender Weise darauf aufmerksam. [...] Mag auch die Schwierigkeit, Erzieherinnen zu finden, groß sein, man
wird zugeben, daß es eine noch größere gibt: die Grundsatzlosigkeit der Eltern. Alles andere ist vergeblich, wenn Eltern selbst nicht bei der Arbeit mithelfen.“69
Musik sollte ein Mädchen nur von seiner Mutter erlernen. Ein paar einfache
Lieder zu singen, wurde allgemein als ausreichend empfunden. Fénelon erlaubt
außerdem geistliche Musik, denn „christliche Musik und christliche Poesie sind
mächtige Hilfen, die Neigungen zu unheiligen Vergnügungen zu nehmen“70. Nur
der Adel setzte sich hiervon ab. Hier gehörten Gesang und das Erlernen zumindest
eines Instruments zur klassischen Mädchenausbildung. So boten denn gerade auch
Klosterschulen, die durch ihre hohen Unterrichtskosten nur Mädchen aus begütertem Elternhause offen standen, oftmals zusätzliche Unterrichtsstunden durch eigens
engagierte private Lehrpersonen in den schönen Künsten und einigen Wissenschaften an. Es gab beispielsweise Zusatzangebote für Tanz, Musik, Cembalo-, Harfenund Lautenspiel, Geografie oder Zeichnen. Dieser Unterricht dauerte gewöhnlich
jeweils eine halbe bis ganze Stunde. Für viele Musiker waren die Klosterschulen eine feste Einnahmequelle. Häufig komponierten sie „Stücke ,für die jungen Damen,
die in den religiösen Häusern erzogen werden’“ 71. Cembalo und Pianoforte waren
wohl die Instrumententypen, die in den Klöstern am häufigsten gespielt wurden.
Dies Bild jedenfalls zeichnet sich in den Beschlagnahmungen im Zuge der Französischen Revolution ab.
68
69
70
71
32
Fénelon, S. 78.
Fénelon, S. 93–94.
Fénelon, S. 88.
Sonnet, S. 148.
Jean-Jacques Rousseau
Gut 100 Jahre nach der Schrift Fénelons erschien das Werk, das für die Erziehungsfrage der nächsten Jahrzehnte ausschlaggebend sein sollte: Jean-Jacques Rousseaus
zum Standardwerk gewordene Abhandlung Emile, erschienen im Jahre 1762 in Paris. Hier heißt es im fünften Buch, genannt „Sophie oder die Frau“: „In allem, was
nicht mit dem Geschlecht zusammenhängt, ist die Frau Mann: sie hat dieselben Organe, dieselben Bedürfnisse, dieselben Fähigkeiten; die Maschine ist auf gleiche
Weise konstruiert, die Einzelteile sind die gleichen, die Funktionen sind die gleichen, das Äußere ist fast das gleiche und, unter welchem Aspekt man sie auch betrachten mag, sie unterscheiden sich nur um ein Mehr oder Weniger voneinander. In
allem, was mit dem Geschlecht zusammenhängt, gibt es bei Frau und Mann ebenso
viele Übereinstimmungen wie Unterschiede – die Schwierigkeit, sie miteinander zu
vergleichen, entsteht aus der, bei der Konstitution der einen und des anderen zu bestimmen, was geschlechtsgebunden ist und was nicht. [...]; das einzige, was wir mit
Sicherheit wissen, ist, daß alles, was sie gemein haben, gattungsbedingt und alles
Unterschiedliche geschlechtsbedingt ist. [...] Diese Beziehungen ebenso wie die Unterschiedlichkeiten müssen ihren Einfluß auf die Geistesanlagen ausüben, diese
Schlußfolgerung ist einleuchtend, entspricht der Erfahrung und beweist die Sinnlosigkeit der Streitereien um den Vorrang oder die Gleichberechtigung der Geschlechter.“72 Frauen sollen laut Rousseau „denken, urteilen, lieben und erkennen,
daß sie ihren Geist pflegen wie ihr Aussehen – das sind die Waffen, die sie [die Natur] ihnen als Ersatz für die Kraft gibt, die ihnen fehlt, und um die unsere zu steuern. Sie müssen viel lernen, aber nur das, was zu wissen ihnen gemäß ist.“73 Mädchen sind dabei folgsamer als Knaben, allerdings muss man „bei ihnen sogar mehr
Autorität geltend machen“, „daraus folgt jedoch nicht, daß man etwas von ihnen
fordern darf, dessen Nutzen sie nicht einsehen; die Kunst der Mütter besteht darin,
ihnen bei allem, was sie ihnen vorschreiben, dessen Nützlichkeit zu zeigen, und das
ist um so leichter, als die Intelligenz der Mädchen sich früher entwickelt als die der
Knaben.“74 „Die erste und wichtigste Qualität einer Frau ist die Sanftmut: einem so
unvollkommenen Wesen wie dem Mann zum Gehorsam geschaffen, der so oft voller Laster und immer so reich an Fehlern ist, muß sie frühzeitig lernen, selbst Ungerechtigkeit zu erdulden und die Launen eines Gatten klaglos zu ertragen; nicht um
seinetwillen, sondern um ihrer selbst willen muß sie sanftmütig sein.“75
Rousseau, der sich in Fragen Kindererziehung so fortschrittlich äußerte, überrascht mit diesen Zeilen, die im Widerspruch zu seinen übrigen Ideen zu stehen
scheinen. Dennoch wurden seine Schriften in Frankreich wie in Deutschland auch
als Grundbaustein einer eigenen Methode zur Erziehung der Mädchen von größter
Bedeutung.
72
73
74
75
Rousseau, S. 719–720.
Rousseau, S. 732.
Rousseau, S. 740.
Rousseau, S. 744.
33
Mit Rousseau tritt die Betrachtung des Kindes in Abhängigkeit von seinem Alter in
den Vordergrund der Erziehungsgedanken. Damit wurde auch die Person der Mutter immer wichtiger, die laut dem ihr zugedachten Rollenbild die erste und wichtigste Erzieherin ihrer Kinder sein sollte. Kinder ahmen ihre Mütter nach und lernen
bereits im Kleinkindalter aus Instinkt von ihren Mütter wesentliche Dinge. Da also
Frauen gleichsam von der Natur als Erzieherinnen vorgesehen sind, lag kaum etwas
näher, als für Frauen den Beruf der Gouvernante, der Erzieherin als wichtiges Mittel zur Formung der Gesellschaft anzuerkennen.
Die Kindererziehung
Gerade unter den Frauen beschäftigten sich viele mit der Frage einer geeigneten
Kindererziehung, wie z. B. die 1711 geborene Jeanne-Marie Le Prince de Beaumont, die selbst lange Jahre als Gouvernante gearbeitet hatte und deren Erziehungsschriften Magasin des Enfants (1757), Magasin des Adolescentes (1759) und Magasin des Jeunes Dames (1764) in mehrere Sprachen übersetzt wurden. In ihnen finden sich auf die jeweilige Altersgruppe abgestimmte Lehrgespräche, Märchen und
Erzählungen.76 Eine andere Autorin ist Anne d’Aubourg de la Bove Miremont. Sie
spricht sich dafür aus, die eigentliche Erziehung der Kinder erst nach dem siebten
Lebensjahr beginnen zu lassen. Lesen und Rechtschreibung sollen sie mit „einem
Satz Buchstaben“ spielerisch erlernen, indem man sie mit den Buchstaben selbst
Worte aus ihrem Sprachschatz, später ganze Sätze mit Satzzeichen zusammensuchen lässt. Nach vergleichbarer Methode sollen auch das Lesen von Noten und
Takteinteilungen erlernt werden, denn „das eine ist nicht schwieriger als das andere
und bereitet nicht mehr Mühe“.77
Da immer mehr Familien des reichen Bürgertums die Sitten und Bräuche des
Adels nachzuahmen suchten und wünschten, ihre Kinder ähnlich zu erziehen, stieg
76
77
34
Eine eingehendere Beschreibung findet man bei Hardach-Pinke, S. 54–59.
« Jusqu’à sept ans, il n’y auroit rien à leur apprendre, si l’on n’avoit pas trouvé la
ressource des bureaux typographiques pour leur montrer à lire; cette méthode heureuse
donne très-peu de peine; elle doit aider infiniment à bien retenir l’orthographe; il faudroit avoir le courage de s’en amuser avec eux; d’abord leur faire assembler les lettres
qui composent les mots à leur usage, ensuite former des phrases entieres avec les points
& les virgules: plus on simplifie l’éducation, plus on leur épargne d’études arides; la fureur est de multiplier les Maîtres; mon projet seroit d’en donner le moins possible. De
même qu’on apprend à lire en jouant, je voudrois que, par une méthode à peu-près
semblable, on montrât à bien lire la Musique, à chiffrer & compter; l’un ne présente pas
plus de difficulté que l’autre, & n’applique pas davantage. J’ai vu un Enfant de sept ans
parler bien l’Anglois que le François, parce que le pere & la mere ne lui ont jamais parlé que chacun une de ces deux langues. Il apprend sans effort à les lire; plus tard, c’eût
été pour lui un travail. L’enfance est un de ces momens présens dans lequel il ne faut
voir que l’avenir. » Anne d’Aubourg de la Bove Miremont, Traité de l’éducation des
femmes et cours complet d’instruction, Bd. 1, Paris 1779, S. 14–15.
der Bedarf nach häuslichen Ausbildungskräften. Gouvernanten, Tanzlehrer, Zeichenlehrer, Musiklehrerinnen und Musiklehrer waren an der Tagesordnung.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die kritische Beschreibung der Entwicklung des Erziehungswesens durch die Musikerin und Erzieherin Stéphanie-Félicité
du Crest de Genlis, wie sie sie in ihren Memoiren darlegt. In ihren Augen wechselten Erziehungstheorien und Methoden in einem fort, ja, sie fielen von einem Extrem
ins andere. Nach ihren Ausführungen über die Entwicklung von Rousseau bis in das
neue Jahrhundert hinein kommt sie auf die Mädchenerziehung im Besonderen zu
sprechen: „Die Erziehung der jungen Leute [gemeint sind die Mädchen] hat ebenso
eine unendliche Zahl plötzlicher Wechsel erfahren. Lange Zeit kümmerte man sich
nur darum, ihre Begabungen für Tanz, Musik und Malerei zu fördern, ohne sich im
Geringsten um die Kultivierung ihres Verstandes zu kümmern. Nach zwölf Jahren
Unterweisung, sich elegant zu schmücken, anmutig zu tanzen und in einer brillanten
Art zu singen und Instrumente zu spielen verheiratete man sie nach ehrgeizigen Zielen oder nach den Regeln reiner Konvention und entließ sie in die Welt mit dem
Spruch: Gehen Sie, seien Sie einfach und ohne Eitelkeit, haben Sie einen sicheren
und vernünftigen Geschmack, verführen Sie niemanden, das wäre ein Verbrechen
und seien Sie überhaupt immer unberührt vom Lob, das Sie für Ihr Aussehen oder
Ihre Begabungen erhalten. Man kann sich gut vorstellen, welche Wirkung diese Ermahnung auf ein Mädchen von sechzehn Jahren hatte, das in seinen Beschäftigungen niemals an etwas anderes denken musste, als an das Glück und den Ruhm eines
großen Erfolges auf einem Ball oder bei einem Konzert. Von dieser Erziehungsmethode fiel man in ein anderes Extrem. Eine Zeitlang wollte man die jungen Leute
nur zu guten Hausfrauen heranziehen. Man entschied, dass die Frauen weder lesen
noch schreiben noch die schönen Künste kultivieren dürften. Aber wäre es nicht ärgerlich, wenn die Damen de Grollier und Le Brun, wenn Mademoiselle Lescot nie
gemalt hätten, wenn Madame de Mongeroux nie Clavier gespielt und einige andere
niemals geschrieben hätten? Als man in Frankreich all die Essais anfertigte, von denen ich sprach, hatten die Lehrerinnen bald die Manie der Wissenschaften, selbst
die Köchinnen wollten ihre Töchter zu Grammatikerinnen machen. Nach all diesen
dreißig Jahre währenden Irrtümern, bei denen es nur um die Neuheit des Geschmacks ging, kann man nun vielleicht den guten Weg beschreiten: Könnte man
ihn nur festlegen! Denn die Erziehung wird immer der stärkste Einfluss auf die Sitten bleiben.“78
78
« L’éducation des jeunes personnes a éprouvé aussi un nombre infini de vicissitudes.
On n’a songé pendant longtemps qu’à leur donner les talents de la danse, de la musique
et de la peinture, sans s’occuper le moins du monde de la culture de leur esprit. Après
avoir employé douze ans à leur apprendre à se parer avec élégance, à danser avec grâce,
à chanter et à jouer des instruments de la manière la pus brillante, on les mariait par ambition ou par pures convenances, et on les mettait dans le monde en leur disant gravement: Allez, soyez simples, sans prétention; n’ayez que des goûts solides et raisonnables; ne séduisez personne, ce serait un crime; et surtout soyez toujours insensibles
35
So weit Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis’ persönliche Sichtweise, die, sicherlich etwas überspitzt, die Auswirkungen wechselnder Erziehungsmethoden beschreibt. Wer war diese Frau, die sich so eingehend mit Erziehungsfragen und dabei
auch mit der musikalischen und allgemeinen künstlerischen Erziehung beschäftigte? Ihre Biografie zeigt noch einmal an einem Einzelschicksal die spezifischen Lebensbedingungen einer künstlerisch tätigen Frau des 18. Jahrhunderts.
Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis
Die Schriftstellerin, Musikerin und Erzieherin Stéphanie-Félicité du Crest, Marquise von Sillery und verheiratete de Genlis, geboren 1746, stammte aus einer alten,
aber verarmten Adelsfamilie. Als der Vater im Jahr 1751 die Markgrafschaft von
Saint-Aubin erwarb, zog man in das alte und baufällige Château von Saint-Aubin.
Hier spielte sich die Erziehung des jungen Mädchens weitestgehend ab. Als Stéphanie-Félicité sechs Jahre alt war, organisierte die Mutter in Paris eine Lehrerin für ihre Tochter, deren Ausbildung nun beginnen sollte. Mlle de Mars, die Lehrerin, kümmerte sich hauptsächlich um die musikalische und religiöse Erziehung des Mädchens, das immer gern sang und mehrere Instrumente erlernte. Im Übrigen blieb ihre Bildung eher oberflächlich.
Die finanziellen Mittel der Familie wurden immer knapper, Saint-Aubin musste verkauft werden und Stéphanie-Félicité sollte ihre als Kind erworbenen künstlerischen Fähigkeiten dazu nutzen, durch Auftritte in den Pariser Salons für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Zu ihren großen Förderern gehörte Alexandre Jean Joseph
Le Riche de La Pouplinière. Als Sechzehnjährige heiratete Stéphanie-Félicité du
Crest am 8. November 1763 den Comte Charles Brillart de Genlis, der zu diesem
Zeitpunkt 27 Jahre alt war.
Mme de Genlis war sehr erfolgreich in der Gesellschaft: Neben ihrer Schönheit
wurden ihre Musikalität und ihre dramatische Begabung gerühmt, sie sprach Italienisch, Englisch und Deutsch und zeichnete. Durch ihre (angeheiratete) Tante Mme
aux louanges que vous recevrez sur votre figure et sur vos talents. On conçoit l’effet
que peut produire cette belle exhortation sur une personne de seize ans, qui n’a jamais
pu penser, dans les intervalles de ses occupations, qu’au bonheur et à la gloire d’obtenir
de grands succès à un bal ou dans un concert. On passa de ce genre d’éducation à une
autre extrémité. On voulut, pendant quelque temps, ne faire des jeunes personnes que
de bonnes ménagères. On décida que les femmes ne doivent ni lire, ni écrire, ni cultiver
les beaux-arts. Cependant ne serait-il pas fâcheux que mesdames de Grollier et Le
Brun, que mademoiselle Lescot n’eussent jamais peint; que madame de Mongeroux
n’eût jamais joué du piano, et quelques autres n’eussent jamais écrit? Lorsqu’on eut
faire en France tous les essais dont on vient de parler, les institutrices eurent ensuite la
manie des sciences, les cuisinières même voulurent faire de leurs filles des grammairiennes. Enfin, après tant d’erreurs, le seul goût constant depuis trente-cinq ans, celui de
la nouveauté, fera peut-être entrer dans la bonne route: puisse t-on s’y fixer! car l’éducation aura toujours la plus puissante influence sur les mœurs. “ Genlis Choix, S. 267–
269, Übers.: C. S. & Ch./B. N.
36
de Montesson lernte sie die Duchesne de Chartres kennen. Fortan blieb sie als Hofdame mit ihren eigenen Kindern79 im Palais Royal. Als die Herzogin Zwillinge –
zwei Mädchen – gebar, begann für Mme de Genlis eine neue Karriere als Erzieherin.
Anfänglich als Gouvernante angestellt, übertrug der Herzog von Orléans 1782 Mme
de Genlis mit Sondergenehmigung Louis XIV. auch noch den Posten des Gouverneurs seiner Söhne – ein Amt, das eigentlich Männern vorbehalten war. Sie unterrichtete die Kinder der Duchesne und des Herzogs von Orléans80, mit denen sie einen eigenen Haushalt gründete und die sie nach ihren ganz besonderen Vorstellungen unterwies. Einige ihrer Erziehungsbücher81 wie Le Théâtre enfantin, Veillées du
Château und Contes à ma Fille richten sich ausdrücklich an Kinder. Ihre Methoden
und Erfahrungen hielt sie in einigen Schriften fest, die auch im Ausland Beachtung
fanden. So beschreibt beispielsweise der für junge Mütter geschriebene Briefroman
Adèle et Thédore, ou Lettres sur l’Éducation, erschienen im Jahr 1782, die Erziehung der ihr anvertrauten Kinder des Herzogs von Orléans. Die Autorin zeigt sich
hier als eine deutlich von Rousseau und Mme de Maintenon beeinflusste Pädagogin:
Die Kinder sollen leicht gekleidet, gesund ernährt und zu guter Hygiene angeleitet
möglichst auf dem Lande aufwachsen und Gymnastik treiben. Die Vermittlung konkreten Lernstoffes soll nicht zu früh beginnen und dem Alter immer angemessen
sein. Am Besten geeignet ist eine spielerische und spontane Unterweisung der Kinder. So werden Kindermädchen unterschiedlicher Nationen eingestellt, um die
Fremdsprachen früh und unkompliziert zu erlernen. Beim Frühstück wird deutsch
79
80
81
Zu Madame de Genlis’ eigener Familie gehörten neben ihrem Mann die zwei Töchter
Caroline und Pulcherie und ein Sohn, der bereits mit fünf Jahren starb. Caroline, spätere Mme Lowestine (ihr Mann war der aus Belgien stammende Marquis de Becelaw de
Lowestine), hatte die musikalische Neigung ihrer Mutter geerbt. Sie starb bereits im
Alter von 24 Jahren. Pulchérie, die jüngere der beiden Töchter, heiratete 1784 den Vicomte Claude de Valence-Timbrune, Mestre-de-Camp des zweiten Régiment de Bretagne. COR-LIT Bd. 14, S. 143–144 berichtet von zwei weiteren Adoptivtöchtern der
Musikerin: Pamela und Ermine, zwei englische Waisenkinder, die Mme de Genlis erzogen hatte. Von Pamela, deren eigentlicher Name Nancy Syms lautete, berichtet J. Fr.
Reichardt. Er traf sie im Jahr 1808 bei einem „eleganten Tee“ im Hause der Frau von
Eskeles in Wien und nennt sie die „schöne genialische Lady Fitz=Gerald“– sie war mit
Lord Edward Fitzgerald verheiratet. (12. Brief vom 5. 12. 1808, Reichardt Bd. 1,
S. 134–161, hier S. 152.) Bonhomme nennt „eine andere junge Person mit Namen Helmina“ (Ermine?) und deren Patenkind Stéphanie Aylon. Über den Adoptivsohn Casimir
Baecker aus Deutschland wird an späterer Stelle zu sprechen sein.
Es handelte sich um den jungen Duc de Chartres, später König Louis-Philippe, genannt
Philippe Égalité, seine Brüder, den Herzog von Montpensier und den Duc de Beaujolais und die Schwester, Prinzessin Adélaïde d’Orléans, deren Zwillingsschwester als
Kleinkind gestorben war.
Daneben veröffentlichte Stéphanie-Felicité du Crest de Genlis zahlreiche weitere Romane, Novellen und Lehrschriften. Eine Übersicht über ihre wichtigsten Schriften findet sich bei Hesse, S. 177–180.
37
gesprochen, beim Mittagessen Englisch und beim Abendessen Italienisch.82 Musik
ist eine Zusatzausbildung, ein Schmuck, durch welchen sich talentierte Frauen in
der Gesellschaft hervortun können. Entsprechend erlernt Adèle das Harfenspiel –
Théodore nicht. Henriette Herz, die Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis in Berlin
kennen lernte, berichtet, dass sie nie Männer und Frauen gleichzeitig unterrichtete,
ja, die Trennung der Geschlechter ganz extrem betrieb.83
Die Baroness von Oberkirch, die drei in englischer Sprache verfasste Bände
mit Memoiren hinterließ, beurteilte die Erzieherin eher kritisch. Sie bezeichnet sie
als „sehr schön, sehr intellektuell, aber gewiss auch etwas pedantisch“84, an anderer
Stelle sagt sie deutlich: „Ich mochte sie nicht, trotz ihrer Fähigkeiten und ihrer charmanten Konversation, sie war zu systematisch; sie ist eine Frau, die die fließenden
Gewänder ihres Geschlechts ausgetauscht hat gegen den Rock eines Pädagogen.
Außerdem ist nichts an ihr natürlich. Sie führt sich ständig so auf, als würde sie
gerade Modell sitzen, sei es nun moralisch oder physisch. Sie legt zu großen Wert
auf ihre Berühmtheit – sie ist zu sehr von ihrer eigenen Meinung überzeugt. Eine
der großen Verrücktheiten dieser maskulinen Frau ist ihre Harfe. Sie trägt sie mit
sich herum. Sie spricht von dem Instrument, wenn es gerade nicht da ist – sie spielt
auf einer Brotrinde und übt auf einem Stück Paketschnur. Wenn sie merkt, dass jemand sie beobachtet, rundet sie ihren Arm, schürzt die Lippen, befleißigt sich eines
sentimentalen Aussehens und ebensolcher Haltung und fängt an, ihre Finger zu bewegen. Welch reizende Eigenschaft ist die Einfachheit des Charakters!“ 85 Ihre
Schülerin Adelaïde d’Orléans, die von Mme de Genlis angeblich außerordentlich gelobt wurde, beurteilte Mme d’Oberkirch als „gewiss klug und intelligent, aber dominierend und undankbar“; obgleich „ich [Oberkirch] nicht genügend Zeit hatte, mir
selbst ein Bild zu machen“.86
82
83
84
85
86
38
Bonhomme, S. 45.
Herz, S. 93–97, bes. S. 94.
“Madame de Genlis, or Madame de Sillery, is very beautiful, very intellectual, but
certainly a little pedantic.” Oberkirch Bd. 1, S. 311, Übers.: K. H.
“I did not like her, spite of her accomplishments and the charm of her conversation, she
was too systematic: she is a woman who has laid aside the flowing robes of her sex for
the culottes of a pedagogue. Besides, nothing about her is natural. She is constantly in
an attitude, as it were, thinking that her portrait, moral or physical, is being taken. She
attaches too much importance to her celebrity – she thinks too much of her own
opinions. One of the great follies of this masculine woman is her harp; she carries it
about with her. She speaks of it when it is not near – she plays upon a crust of bread,
and practises with a piece of packthread. When she perceives that anybody is looking at
her, she rounds her arm, pinches up her mouth, assumes a sentimental look and attitude,
and begins to move her fingers. What a charming quality is simplicity of character!”
Oberkirch Bd. 2, S. 245, Übers.: K. H.
“Her governess, or rather her governor, Madame de Genlis, praises her in the most extravagant manner: she certainly is clever and intelligent, but domineering und un-
Auch die Musik behielt einen großen Stellenwert im Leben Mme de Genlis’. So
erzählt sie stolz in ihren Memoiren, wie sie eines Abends „zwischen elf Uhr und
Mitternacht“ während des Übens auf der Harfe zur Königin gerufen worden sei.
Nach eineinhalb Stunden fortdauernden Spielens und Singens erhielt sie riesigen
Applaus und die Königin war so zufrieden mit dem Harfenspiel und Gesang der
Musikerin, dass es, so Mme de Genlis, „in diesem Moment ein Leichtes war, in ihren
Kreis vorzudringen“ und sie fortan regelmäßig in den „kleinen Privatkonzerten“ der
Königin, in denen diese selbst sang, Harfe spielen sollte.87 Die bereits zitierte Baroness von Oberkirch, deutlich nicht gut auf Mme de Genlis zu sprechen, hörte diese
bei einem anderen Auftritt bei der Countess de la Massais spielen. Sie war der Meinung, dass die Musikerin ihr Instrument ungefragt und nicht zum Vergnügen der
Leute herbeigeholt und sich völlig unangemessen in den Vordergrund gespielt habe.88 Sicherlich wird die Wahrheit, wie dies so oft bei biografischen Erinnerungen
der Fall ist, irgendwo in der Mitte zwischen beiden Schilderungen zu suchen sein.
Mehr als 15 Jahre war die Stellung Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis’
außerordentlich einflussreich. Sie allein bestimmte über das Leben der Kinder des
Herzogs und der Herzogin. Sicher war Mme de Genlis eine strenge und äußerst systematische Erzieherin. In ihren Memoiren entwirft sie von sich das Bild einer erfolgreichen, ehrgeizigen und außerordentlich konsequenten Frau. Durch ihre mitunter sehr scharfen Kritiken machte sie sich oftmals Feinde. Ihre vielleicht allzu festen
Vorstellungen ließen sie zu einer angreifbaren und umstrittenen Person werden –
von den einen beneidet und kritisiert, von den anderen wegen ihrer Fähigkeiten und
für ihre pädagogischen Konzepte gelobt und bewundert. Doch kehren wir zunächst
zurück in die Zeit Louis XIV.
87
88
graceful; at least so her august aunt tells me, for I had not sufficient time to form an
opinion myself.” Oberkirch Bd. 3, S. 110–111, Übers.: K. H.
« Un soir, entre onze heures et minuit, que, suivant ma coutume, je jouais de la harpe,
et que je déchiffrais une sonate, M. d’Avaray, à ma grande surprise, entra tout à coup
dans ma chambre, et vint me dire tout bas que la reine était chez madame de Valbelle,
pour m’entendre jouer de la harpe. Aussitôt je me mis à jouer tout ce que je savais le
mieux en pièces et en morceaux de chant, ce qui dura une heure et demie sans interruption, car j’attendais que le mouvement dans la chambre voisine m’apprît que la reine
s’en allait; mais le silence y était absolu. Enfin, réellement fatiguée, je m’arrêtai. Alors
on m’applaudit très vivement et à plusieurs reprises, et M. d’Avaray vint me remercier
de la part de la reine, et me dit en son nom mille choses obligeantes. Elle me les répéta
le lendemain quand j’allai faire ma cour. Elle fur si satisfaite de ma harpe et de ma
chant, que j’eus dans ce moment toute facilité de me faire admettre dans son intérieur,
en consentant à jouer dans ses petits concerts particuliers, où elle-même chantait. »
Genlis Choix, S. 136.
Oberkirch Bd. 3, S. 213.
39
1.2
Generalbassspiel – eine Domäne der Frauen
„Was soll ich über Madame de Mondonville, früher Mademoiselle Boucon sagen?
Welche Worte soll ich wählen? Nur damit kann man ihr gerecht werden: Madame
de Mondonville ist hinreißend. Hätten Apollon und Amor besser handeln können,
als zwei ihrer innigsten Lieblinge zu vereinen? Glücklich die Dilettanten, welche an
ihrer Gesellschaft teilhaben, sie kosten von jenen erhabenen Schönheiten, deren Geheimnis ansonsten nur die Musen besitzen.“89 Die Rede ist hier von der Pariserin
Anne-Jeanne Boucon (1708–1780). Sie war eine Nichte der ersten Frau Jean-Baptiste Forquerays, die Tochter und Alleinerbin des reichen Musikdilettanten und
Kunstliebhabers Chevalier Etienne Boucon. Anne-Jeanne zeichnete und musizierte.
Sie war Cembaloschülerin Jean-Philippe Rameaus gewesen und bereits äußerst erfolgreich öffentlich aufgetreten90, ehe sie sich 1747 als immerhin bereits Neununddreißigjährige mit dem Musiker und Komponisten Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville verheiratete. Ihr Lehrer Rameau widmete der Musikerin den zweiten Satz
seines Deuxième Concert („La Boucon“) der 1741 erschienenen Pièces de Clavecin
en Concerts91, Jacques Duphly benannte eine Pièce seines Premier Livre de Clavecin von 174492 nach ihr, ebenso Jean Barrière in seinen Sonates et Pieces pour le
Clavecin, erschienen circa 174593.
Bei Gustav Schilling heißt es im Anschluss an den Artikel über Jean-Jacques
Cassanéa de Mondonville: „Seine Frau, eine geborene B o u c o n , Schülerin von
Rameau, war eine vortreffliche Clavierspielerin. Sie soll unter allen Virtuosen ihrer
Zeit zu Paris am besten vom Blatte gespielt haben. Sie überlebte ihren Mann.“94
Und in Gerbers Historisch-Biographischem Lexikon der Tonkünstler lesen wir in
einem eigens der Boucon, also Mme Mondonville gewidmeten Artikel: „Mondonville (Madam) des vorhergehenden Gattin und gebohrne Boucon; ist eine Schülerin
des Rameau auf dem Klaviere. Sie gehörte zu den großen Trefferinnen in Paris, und
89
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92
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« Que dirai-je de Madame de Mondonville, autrefois Mademoiselle Boucon? De qu’elle
expression se servir à son sujet? La seule convenable est cell-ci, Madame de Mondonville est ravissante. Apollon & l’Amour pouvoient-ils mieux faire que d’unir ensemble
deux de leurs plus intimes favoris? Heureux les Amateurs qui sont admis dans leur societé, ils goûtent ces beautés sublimes dont les Muses seules avoient autrefois le secret. » D’Aquin de Châteaulyon Bd. 1, S. 126, Übers.: C. S.
Anne-Jeanne Boucon trat häufig in den seit 1724 zweimal wöchentlich stattfindenden
Privatkonzerten bei Antoine Crozat in der Rue de Richelieu auf, siehe Bruno Brévan,
Les Changements de la vie musicale Parisienne de 1774 à 1799, Paris 1980, S. 62.
Jean-Philippe Rameau, Pieces de clavecin en concerts, avec un violon ou une flute, et
une viole ou un deuxième violon, Paris 1741, Faksimile Courlay 1989.
Jacques Duphly, Pieces de clavecin, Premier Livre, Paris 1744, S. 16–17, Courante La
Boucon, Faksimile Courlay 1990.
Jean Barrière, Sonates et Pieces pour le Clavecin, Livre VI, Paris ca. 1745, S. 28–29,
La Boucon, Faksimile Genf 1982.
Schilling ENC.
übte dabey die Komposition und Malerey aus. Ihr Gemahl hinterließ sie 1772 als
Witwe.“95 Doch auch ihr Gatte wusste die cembalistischen Fähigkeiten seiner Frau
zu schätzen. Beide musizierten nicht nur häufig öffentlich miteinander, sie inspirierte ihn auch zu äußerst anspruchsvollen und virtuosen Cembalokompositionen wie
etwa den ein Jahr nach ihrer Hochzeit erschienenen Pièces de clavecin avec Voix ou
Violon (1748)96. Der berühmte Maler Maurice Quentin de La Tour fertigte Portraits
(pastels) beider Eheleute an. Dabei ist auf demjenigen der Mme de Mondonville,
entstanden 1752, das sehr berühmt in den Salons ihrer Zeit war und mehrfach kopiert wurde, ein Buch mit möglicherweise eigenen Kompositionen (Pièces de Clavecin de Mme de Mondonville) zu sehen, das wohl leider nicht mehr erhalten ist97.
Auffallend an der eingangs zitierten Würdigung von Pierre Louis D’Aquin de Châteaulyon ist weiterhin die Hervorhebung der außerordentlich harmonischen persönlichen Verbindung der Eheleute.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Musikerinnen, die sich in Frankreich im 18. Jahrhundert wie Anne-Jeanne Boucon hervortaten, etwa Marie-Rose Dubois (1717–
1787), seit 1741 die zweite Frau Jean-Baptiste-Antoine Forquerays. Sie akkompagnierte üblicherweise ihren Mann, dem bedeutendsten Gambisten seiner Zeit, bei
dessen öffentlichen Auftritten. Wieder einmal ist es D’Aquin de Châteaulyon, der
über sie berichtet: „Man kennt all die Talente von Madame Forqueray: Ihr Ruf ist
hervorragend. Für sie gilt dasselbe [wie für Mme de Mondonville]: Die Bezauberung
ist dieselbe. Auch dies ist eine auf dem Parnasse geschlossene und von Apollon vereinigte Ehe.“98 Luynes erinnert sich an „Forcroy et sa femme, Blavet, Jeliote et
Mme Le Maure“ als die fünf Musizierenden anlässlich eines von Mme de Lauraguais veranstalteten Soupers am 24. Oktober 1751 zu Ehren des Dauphins und der
Dauphine: „Die Bassgambe und das Cembalo spielten zusammen verschiedene Stücke mit einem Goût und einer Präzision, die es verdienen, bewundert zu werden.“99
Marie-Rose Dubois ist die wahrscheinliche (in der Edition ungenannte) Bearbeiterin
der Cembalowerke ihres Schwiegervaters Antoine Forqueray, die ihr Mann 1747 in
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Gerber LEX.
Jean-Joseph Cassanea de Mondonville, Pieces de Clavecin avec voix ou violon, œuvre
5e, Paris 1748, Faksimile Courlay 1988.
Vgl. André Tessier, Madame de Mondonville ou la dame qui a perdu son peintre, in: La
Revue musicale 1926, S. 1–10.
« On connoît tous les talens de Madame Forqueray: sa réputation est éclatante. Voilà le
même Tableau à offrir, l’enchantement est égal; c’est pareillement un mariage conclu
sur le Parnasse, & dont Apollon s’est mêlé. » D’Aquin de Châteaulyon Bd. 1, S. 127,
Übers.: C. S.
« La Basse de viole et la clavecin jouèrent ensemble plusieurs pièces, avec un goût et
une précision dignes d’être admirés. » Luynes, Mémoires XI, S. 267, zitiert nach
Laurencie, S. 1268, Übers.: C. S.
41
der Fassung für Viola da gamba100 und auch für Cembalo solo101 herausgab, wohl
zur posthumen Würdigung seines Vaters. Diese Werke gehören noch heute zum
cembalistischen Standardrepertoire. Marie-Rose Dubois selbst stammte aus einer
Künstlerfamilie. Im Testament ihres Mannes wird sie offiziell als claveciniste
bezeichnet.102
Zu nennen ist auch ihre Schwiegermutter, Henriette-Angélique Houssu, die
Tochter des Organisten an Saint-Jean-en Grève, Antoine Houssu103, und seit 1697
(unglücklich) verheiratet mit Antoine Forqueray – die beiden traten zusammen in
Konzerten auf und lebten im Hause des Prinzen von Carignano. Henriette-Angélique Houssu verließ ihren Mann fünf Mal, bevor sie endlich die Trennung erreichen
konnte. François de Picon, Comte de la Pérousse et Vallée, berichtet in seinen Erinnerungen: „Ich entdeckte bei meiner Rückkehr (im Jahre 1700), dass Forqueray
Konzerte gab, um sich bekannt zu machen. Er spielte dort auf der Gambe und seine
Frau akkompagnierte auf dem Cembalo. Sie ließen Musiker und andere Instrumentalisten kommen.“104
Élisabeth-Antoinette Blanchet (1729–1815), die Tochter des berühmten Cembalobauers Etienne Blanchet und seit 1752 Gattin Armand-Louis Couperins, war als
Cembalistin und Organistin gleichermaßen bekannt, da sie häufig ihren Mann vertrat. Sie soll über eine unvergleichliche Improvisationskunst verfügt haben. Ihr Neffe und Schüler Pascal Taskin, der später als Cembalobauer Weltruhm erlangen sollte, schrieb über sie: „Diese Frau besaß ein solch großes Talent, dass, wenn sie den
Gottesdienst in der Kirche Saint-Gervais spielte, man sie die Orgel verlassen sehen
musste, um überzeugt zu sein, dass sie und nicht Couperin selbst gespielt habe. Sie
besaß außerdem Talent zur Improvisation.“105 In ihren letzten Lebensjahren war sie
als Organistin an der Kathedrale Saint-Louis in Versailles angestellt.
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Antoine Forqueray, Pieces de viole avec la Basse Continuë, Livre I.er, Paris 1747, hrsg.
von seinem Sohn Jean-Baptiste Forqueray, Faksimile New York 1985.
Antoine Forqueray, Pieces de viole mises en Pieces de clavecin, Paris 1747, hrsg. von
seinem Sohn Jean-Baptiste Forqueray, Faksimile Courlay 1995.
Testmanet, non olographe, de Jean-Baptiste Antoine Forqueray, Ordinaire de la musique du roi vom 7. 6. 1773, nach Benoit-Dufourcq, S 241.
Bei Titon du Tillet heißt es: « Parmi nos Organistes les plus habiles que la mort a enlevez, on ne doit pas oublier [...] ANTOINE HOUSSU, Organiste de l’Eglise de Saint Jean
en Greve; & HOUSSU son neveu, qui lui avait succedé à cette place. » Titon du Tillet,
S. 404.
« Je trouvai à mon retour (en 1700), que Forqueray, pour s’attirer pratique, faisoit des
concerts. Il y jouoit de la viole, sa femme l’accompagnoit du clavessin, il faisoit venir
des Musiciens et autres joueurs d’instrumens. » Mémoire pour Messire François de Picon, comte de la Pérouse et Vallée, Demandeur en réparation contre Antoine Forqueray, joueur de viole, prétendu accusateur, zitiert nach Laurencie, S. 1256, Übers.: C. S.
« Cette femme avait un si grand talent que lorsqu’elle touchait l’office à l’Église SaintGervais, il fallait la voir sortir de l’orgue pour être convaincu que ce n’était pas Coupe-
Mme Rameau, geborene Marie-Louise Mangot, die, aus einer Musikerfamilie
stammend, mit 19 Jahren 1726 den 42-jährigen Jean-Philippe Rameau heiratete,
lebte mit ihrem Mann im Hause des reichen Generalsteuerpächters Alexandre Jean
Joseph Le Riche de La Pouplinière, einem Mäzen zahlreicher Musiker und
Musikerinnen, der ein eigenes Orchester beschäftigte und dessen Frau Marie-Thérèse Des Hayes von Rameau Unterricht in Harmonielehre erhielt. Hier trat die junge
Frau Rameau, der neben „ausgezeichneten Umgangsformen“ und einer „guten Erziehung“ auch „musikalische Begabung, eine angenehme Stimme und guter Geschmack im Singen“106 nachgesagt wurde, als Sängerin und Cembalistin auf. „[Sie]
blieb mit ihrem Mann im Haus und brachte Freude und Vergnügen durch ihr Talent,
wenn sie auf ihrem Cembalo die verschiedenen Kompositionen ihres Mannes spielte, der für seine Harmonien so bekannt und berühmt war.“107 Es handelte sich wohl
vorrangig um die Pièces de Clavecin en Concerts (1741) und seine Werke für Cembalo solo, das Premier Livre de Pièces de Clavecin (1706), die Pièces de Clavecin
avec une Méthode sur la Mécanique des Doigts (²1724/1731) und die Nouvelles
Suites de Pièces de Clavecin (ca. 1728).
All diese Frauen stammten selbst aus Künstlerfamilien oder Elternhäusern, die stark
musik- und kunstinteressiert waren. Sie hatten eine fundierte musikalische Ausbildung genossen und bereits vor ihrer Heirat eine Karriere als Instrumentalistin begonnen, die auch nach der Hochzeit nicht abbrach, sich aber in ihrem Wesen veränderte. Die Frauen traten nunmehr nicht als Solistinnen sondern hauptsächlich in
Verbindung mit ihren Ehemännern öffentlich musizierend in Erscheinung. Sie
wechselten damit teilweise vom professionellen Musikerinnendasein in das Lager
der – ausgezeichnet musizierenden – Dilettantinnen; eine Entwicklung, von der nur
die Sängerinnen ausgeschlossen waren.
Wie kam es dazu? Bereits Fénelon, der zwar allgemein Musik und bildender
Kunst für Mädchen gleichermaßen kritisch gegenübersteht wie der Literatur („Musik und Malerei verlangen die gleiche Vorsicht [wie die Lektüre]; diese Künste atmen denselben Geist.“ 108 ), spricht ausführlich von der Anpassungsfähigkeit der
weiblichen Natur, ihrer Unterordnung und stillen Geschäftigkeit. Die Frau ist tugendhaft und sittsam, scheu, zurückhaltend, auf ihren guten Ruf und Leumund bedacht, bescheiden, folgsam und sanftmütig. Diese Beschreibungen ziehen sich
durch die französische Literatur.
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107
108
rin lui-même qui avait joué. Elle possédait en outre le talent de l’improvisation. » Bouvet Coup, S. 79. Übers.: C. S.
Cuthbert M. Girdleston, Rameau, in: MGG 1962.
« [Elle] demeurait dans la maison avec son mari et en faisait les plaisirs et l’amusement
par son talent, exécutant sur son clavecin les différents morceaux de musique composés
par son mari, si connu et si célèbre par son harmonie. » Cucueil, S. 191, Übers.: C. S.
Fénelon, S. 88.
43
Bei Rousseau heißt es: „Darum ist es nicht nur von Bedeutung, daß die Frau
treu ist, sondern daß sie vor ihrem Gatten, vor ihren Nächsten und vor jedermann
auch als treu erscheint; sie muß bescheiden, aufmerksam und zurückhaltend sein
und in den Augen andrer so wie vor ihrem eigenen Gewissen Zeugnis ihrer Tugend
geben. Wenn es wesentlich ist, daß ein Vater seine Kinder liebt, so ist es ebenso
wesentlich, daß er ihre Mutter achtet. Das sind die Gründe, durch die sogar die
Wahrung des Scheins zu den Pflichten der Frauen gezählt wird, und wodurch ihnen
109
Ehrbarkeit und guter Ruf nicht weniger unerläßlich werden als Keuschheit.“ Und
ein paar Abschnitte weiter führt Rousseau aus: „Allein schon durch das Gesetz der
Natur sind die Frauen ebenso wie die Kinder dem Urteil der Männer ausgesetzt – es
genügt nicht, daß sie achtenswert sind, sie müssen geachtet werden; es genügt nicht,
daß sie schön sind, sie müssen gefallen; es genügt nicht, daß sie sittsam sind, sie
müssen als sittsam anerkannt werden; ihre Ehre liegt nicht nur in ihrem Verhalten,
sondern in ihrem Ruf, und es ist unmöglich, daß eine Frau, die es zuläßt, als ehrlos
110
zu gelten, jemals ehrbar ist.“
me
Auch bei M de Lambert im Jahre 1728 werden „die einfachen und friedfertigen Tugenden“ der Frauen benannt. Die Autorin spricht davon, dass gerade diese
nicht „ins Auge fallen“, sondern dass die Tugenden der Frauen schwierig sind,
„weil kein Ruhm hilft, sie auszuüben. Daheim leben, nur über sich und seine Familie herrschen, einfach, gerecht und bescheiden sein: mühsame Tugenden, weil man
sie nicht bemerkt.“111 Laut Encyclopédie besitzen Frauen „Höflichkeit “ (politesse)
und „feinfühlige Sinne“ (goûts les plus délicats): „Sie bereiten dem friedlichen Bürger die liebsten Freuden, durch eine zurückhaltende Klugheit und eine bescheidene
und ungekünstelte Geschicklichkeit regen sie zur Tugend an.“112 Und so lobt Eduard Titon du Tillet in seinem Parnasse François von 1732 Mme de Plante, die Frau
eines Sekretärs von Mr le Prince und Mlle Guyot113, Tochter eines alten Advokaten
aus dem Parlament, nicht nur, weil sie die Delikatesse und Brillanz des Anschlags
mit einem vollkommenen Wissen um die Komposition verbanden114 und außerdem
geschmackvoll improvisierten, sondern er hebt von Mlle Guyot noch besonders
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Rousseau, S. 727.
Rousseau, S. 732.
« Les vertus d’éclat ne sont point le partage des femmes; mais bien les vertus simples et
paisibles. […] Les vertus des femmes sont difficiles, parce que la gloire n’aide pas à les
pratiquer. Vivre chez soi; ne régler que soi et sa famille, être simple, juste et modeste;
vertus pénibles, parce qu’elles sont obscures. » Lambert, S. 11–12, Übers. von Ludwig
Schmidts in: SnydersD, S. 131.
« Elles fassent les plus cheres délices du citoyen paisible; que par une prudence soumise & une habileté modeste, adroite & sans art, elles excitent à la vertu. » ENC Bd.
15, Artikel sexe, Übers.: C. S. & Ch./B. N.
Beide lt. Titon du Tillet gest. 1728.
« Elles joignoient la delicatesse & le brillant du toucher à une science parfaite de la
composition. » Titon du Tillet, S. 637.
hervor, dass „diese Demoiselle einen wunderbaren Scharfsinn für alles Wissenschaftliche besaß und sehr gut Italienisch sprach. Indessen war bei all ihren
schönen Talenten niemand bescheidener und besaß weniger Eitelkeit als sie“115.
Das Wirken der Frau geschah gleichsam unmerklich und doch wirkungsvoll.
Sie saß ruhig und zurückhaltend im Hintergrund am Tasteninstrument, während ihr
Mann im Vordergrund als Solist glänzte, wie es beispielsweise der Bericht François
de Picons über Antoine Forqueray und Henriette-Angélique Houssu zeigt. Doch
dieses Glänzen des Solisten war nur auf der Grundlage eines gut ausgeführten Continuospiels möglich. So trat denn die Frau zwar üblicherweise nach ihrer Eheschließung nicht oder kaum mehr als Solistin in Erscheinung, konnte aber in der Kammermusik und besonders beim Generalbassspiel ihren künstlerischen Neigungen
weiterhin nachgehen.
Die von einer guten Akkompagnistin geforderten Eigenschaften
Welches waren nun die Aufgaben und die „guten Eigenschaften“, die man von den
Ausführenden des Continuos erwartete? Bei François Couperin heißt es hierzu:
„Bestünde die Wahl, entweder den Generalbaß oder die Spielstücke zur Vollkommenheit zu bringen, so fühle ich, daß ich aus Eitelkeit die Stücke dem Generalbaß
vorziehen würde. Ich gebe zu, daß an sich nichts amüsanter ist, und nichts uns mit
den andren stärker verbindet, als ein guter Generalbassist zu sein. Aber welche Ungerechtigkeit! Gerade ihn lobt man bei den Konzerten zuletzt! Das Clavecinakkompagnement wird bei diesen Gelegenheiten nur als Fundament eines Gebäudes betrachtet, das zwar alles trägt, von dem man aber fast nie spricht. Wenn jemand jedoch in den Stücken glänzt, so kann er sich allein der Aufmerksamkeit und des Beifalls seiner Zuhörer erfreuen.“ 116
Couperin betont gleichzeitig die Eignung gerade der Frauen zum Cembalospiel, indem er ausführt: „Männer, die einen gewissen Grad an Vollendung erreichen wollen, sollten niemals mit ihren Händen harte Arbeit tun, die Hände der Frauen sind im Allgemeinen geeigneter. Ich habe bereits erwähnt, daß Geschmeidigkeit
der Sehnen viel mehr zum guten Spiel beiträgt als Kraft. Das kann ich deutlich an
115
116
« Cette Demoiselle avoit aussi un esprit merveilleux pour tout ce qui regarde les
Sciences, & parloit très-bien Italien: cependant avec tous ses beaux talens personne n’a
jamais été plus modeste, & n’a eu moins de vanité qu’elle. » Titon du Tillet, S. 637,
Übers.: C. S.
« S’il ètoit question d’opter entre L’accompagnement, et les pièces pour porter l’un ou
l’autre à la perfection, je sens que l’amour=propre, me feroit prèfèrer les pièces à L’accompagnement. Je conviens que rien n’est plus amusant pour soi=même; Et ne nous lie
plus avec les autres que d’estre bon=accompagnateur: Mais, quelle injustice! C’est le
dernier qu’on louë dans les concerts. L’accompagnement du clavecin dans ces occasions, n’est consideré que comme les fondemens d’un èdifice qui cependant soutiènent
tout; Et dont on ne parle presque jamais: au lieu que quelqu’un qui excèle dans les
pièces joüit seul de l’attention, et des applaudissemens de ses auditeurs. » Couperin,
S. 44–45, dt. Übers. nach CouperinD, S. 25.
45
der Verschiedenheit der Frauen- und Männerhände beweisen: Und was noch mehr
sagen will, die linke Hand der Männer, die sie bei ihrer Arbeit weniger gebrauchen,
ist gewöhnlich am Clavecin die geschmeidigere.“ 117 Michel Corrette schließlich
bringt die Vorteile einer guten Ausbildung im Generalbassspielen für Mädchen im
Vorwort zu seinem Generalbasstraktat Le Maître de Clavecin pour l’Accompagnement von 1753 auf den Punkt: „Da das Cembalo derzeit zur Ausbildung der Demoiselles von Stand gehört und ich bemerkt habe, dass sie, einmal verheiratet, nicht davon lassen, wenn sie einmal das Accompagnement beherrschen, habe ich mich befleißigt, lange Zeit an dieser kurzen und einfachen Methode zu arbeiten, um ihnen
die angeblichen Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, welche die Feinde der
guten Harmonie nicht müde werden zu verbreiten.“118 Das Cembalo galt allgemein
als Instrument der „noch nicht verheirateten Demoiselles und der Damen“119.
So war der Generalbass in Frankreich eine Kunst, die auch Frauen ausführlich studierten (und studieren durften), konnten sie doch so mit ihrem späteren Gatten gemeinsam „glückliche Stunden“ verleben und gemeinsam musizieren, „alle Arbeiten
des menschlichen Lebens versüßend“ 120 , ohne dabei gleichzeitig zu auffällig im
Mittelpunkt zu stehen. Im Gegenteil: Scheu und zurückhaltend im Hintergrund sitzend hatte die Frau eine offensichtlich untergeordnete Position, hielt aber gleichzeitig die Fäden des musikalischen Geschehens unsichtbar in der Hand. Ihr Wirken geschah im Verborgenen. Scheinbar schwach, war sie doch die Musikerin im Ensemble, der eine entscheidende Rolle für das Zusammenspiel und die musikalische Gestaltung zufiel. Dies deckt sich mit den Anforderungen der Theoretiker an das Wir117
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« Les hommes qui veulent ariver à un certain degré de perfection ne devroient jamais
faire aucun exercice pénible, de leurs mains. Celles des femmes, par La raison contraire, sont généralement meilleures. J’ai dèja dit, que la souplesse des nerfs contribuë,
beaucoup plus, au bien=joüer, que la force; ma preüve est sensible dans la différence
des mains des femmes, à celles des hommes; et de plus, La main gauche des hommes,
dont ils se servent moins dans les exercices, est communément la plus souple au clavecin. » Couperin, S. 12–13: Autre Réfléxion, dt. Übers. nach CouperinD, S. 13.
« Comme le Clavecin est présentement une des parties de la belle éducation des Demoiselles de Condition, et que j’ai remarqué qu’elles ne le quittoient plus dès qu’elles
étoient mariées quand elles possedoient une fois l’accompagnement, c’est ce qui m’a
engagé à travailler depuis long tems à leur Composer une Methode courte et facile pour
leur applanir les prétenduës difficultées que les enemis de la bonne harmonie ont soin
de répandre. » Michel Corrette, Le Maitre de Clavecin pour L’Accompagnement, Methode Theorique et Pratique. Qui conduit en très peu de tems a accompagner à livre
ouvert avec les Leçons chantantes ou les Accords sont notés pour faciliter l’Etude des
Commençans. Ouvrage utile a ceux qui veulent parvenir a l’excelence de la composition Letout selon la Règle de l’Octave et de la Basse Fondamentale, Paris 1753, R New
York 1976, Préface, S. C., Übers.: C. S.
« Demoiselles à marier & des Dames », Garsault.
« [Elles] adoucissent tous les travaux de la vie humaine. » ENC Bd. 15, Artikel sexe.
ken und Handeln des weiblichen Geschlechts. Frauen sollen „passiv und schwach
sein“ und durch „schwachen Widerstand“ den Mann dazu bringen, „seine eigene
Kraft zu entdecken und zu gebrauchen“.121 Sie gelten als feinfühlig und zart, ihr
Reich ist, so Pierre Jean Georges Canabis, „verborgen in den feinfühligen Zuständigkeitsbereichen“.122 Frauen setzen ihren Willen eben nicht wie Männer auf geradem Wege durch, sondern ihre „Schwäche ist, um es so auszudrücken, Teil ihrer
Möglichkeiten und ihrer Mittel“123.
Abbildung einer Dame am Clavecin
124
Hubert Le Blanc berichtet in seiner Verteidigungsschrift der Viola da gamba gegenüber der Violine und dem Violoncello, erschienen in Amsterdam im Jahre 1760:
„Man spielt oft bis tief in die Nacht [Gambe] in Gesellschaft einer Cembalistin“125,
und: „Der Gambe wird die Rolle eines Kavaliers bleiben, der es versteht, seiner
Langeweile vorzubeugen und sich selbst, nicht aber andern Leuten Vergnügen zu
bereiten, – gut, um sich mit einer hübschen Dame, die schön Cembalo spielt, zu
121
122
123
124
125
Rousseau, S. 721.
« L’empire de la femme est caché dans des ressorts délicats. » Canabis, 5ème Mémoire,
Bd. I, S. 292, nach HoffmannP, S. 163.
« La faiblesse fait pour ainsi dire partie de ses facultés et de ses moyens. » Canabis,
5ème Mémoire, Bd. I, S. 293, nach HoffmannP, S. 163.
Laborde Bd. 1, S. 343.
« Lon y perce les nuits quand les Dames touchent de leur Clavecin. » Le Blanc, S. 76,
Deutsch nach Le BlancD, S. 89.
47
vereinen.“126 „Die Herren wurden gezwungen, als Schüler ihr ganzes Leben lang
täglich ihre Lektionen zu lernen (damit die Unkosten nicht umsonst seien), konnten
aber keineswegs die Oberstimmen auf der Gambe spielen, während viele Damen
wie Engel auf ihrem Cembalo den Generalbaß zu Corelli und Michel, jener Blüte
der cisalpinen Musik, spielen.“127
Der französische Generalbassstil
Generalbassspiel ist eine Kunst, die ein langes Studium der Harmonielehre neben
einer gut entwickelten Anschlagskultur erfordert. Im Unterschied zu Deutschland
und Italien begann das Generalbassspiel in Frankreich spät, etwa um die Mitte des
17. Jahrhunderts. Die Bassstimme wurde am häufigsten auf der Viola da gamba,
dem Violoncello (etwa ab 1720), einem Violone (meist in Orchesterwerken) und/
oder Fagott ausgeführt. Zur Realisation der Harmonien traten die Theorbe (wohl
das erste Instrument, auf dem in Frankreich Continuospiel praktiziert wurde128), die
Laute, das Cembalo, das Spinett, die Gitarre und/oder die Orgel hinzu. Die Besetzungsvielfalt für die Realisation des Continuos war gegenüber heutigen Vorstellungen groß und es gab keine einheitlichen Vorschriften. Der erste, für die Theorbe gedachte und im Jahre 1660 erschienene Traktat von Nicolas Fleury, der für das Erlernen der Grundzüge dieser Kunst übrigens nur einen Monat veranschlagt129, löste
schnell eine Fülle weiterer Publikationen aus. Sie alle130 zeigen einen einheitlichen,
sich kaum voneinander unterscheidenden Continuostil. Und während sich in
Deutschland und Italien im Laufe des 17. Jahrhunderts ein Wechsel vom eher polyphon gedachten zum vollstimmigen Generalbassstil vollzieht, bleibt der Goût der
französischen Continuokunst nahezu unverändert. Es geht darum, so Jean-François
Dandrieu, die Harmonien bestmöglichst zu verbinden, für ihn die Hauptsache eines
vollkommenen Akkompagnements.131 Laurent Gervais bemerkt schlicht: „Das AK126
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« La Viole restera le partage d’un galant homme, qui fait prévenir l’ennui même, se
procurer du plaisir, mais pas en donner aux autres: bon pour méler les siens à ceux
d’une Dame aimable, touchant le Clavecin à merveille. » Le Blanc, S. 88/96, Deutsch
nach Le BlancD, S. 96.
« Les Messieurs asservis qu’ils étoient à apprendre en Ecoliers tous les jours leur leçon
pendant toute leur vie, (sinon leur dépense s’en alloit perdue), ne savoient point jouer
sur la Viole les dessus, pendant que nombre de Dames accompagnent comme des
Anges sur leur Clavecin les basses de Corelly, & celles de Mr. Michel, qui sont la fleur
de la Musique de deça les Monts. » Le Blanc, S. 118, Deutsch nach Le BlancD, S. 109–
110.
Siehe Jean Saint-Arroman, L’interprétation de la musique française 1661-1789, Dictionnaire d’interprétation, Paris 1988, Bd. 1, S. 58 u. 71.
Fleury, Avertissement.
Bei Haymoz findet sich eine auf RISM und Lescat zurückgehende Liste mit allein 70
gedruckten Publikationen im 17. und 18. Jh.
Jean-François Dandrieu, Principes de l’Acompagnement du Clavecin exposez dans des
Tables dont la simplicité et l’arangement peuvent, avec une mediocre atention, faire
ist eine Verbindung von Akkorden, die dazu dienen, die Harmonie
zu füllen.“132 Bei Mr de Saint-Lambert heißt es etwas ausführlicher: „Die Musik ist
eine Mischung verschiedener angenehmer Klänge, in denen Zartheit, die Zusammenstellung und das Arrangement für Belebung sorgen, indem sie Sinn und Gehör
berühren.“133 An späterer Stelle beschreibt er den goût und die manière d’accompagnement, die ihm auf dem Cembalo vorschweben: „Dieser Goût besteht hauptsächlich darin, die Harmonien seines Instruments so gut zu behandeln, dass man
seinem Cembalo nicht so viele Töne entlockt, dass man damit die Singstimme erstickt und im Gegenteil auch wieder nicht so wenige, dass man sie nicht genügend
unterstützt. Man muss sich so viel als möglich an die Stimme anpassen, die man begleitet.“134
Generalbassspielen erfordert einerseits ein profundes Wissen über Harmonielehre, Komposition und Verzierungskunst. Es ist wiederum Denis Delair, der sich
im Vorwort seines Traité d’Accompagnement darüber beklagt, dass die meisten Akkompagnisten sich mit einer gewissen Routine ohne wissenschaftliche Grundlage
begnügen und eine Unmenge an Fehlern machen, die sie leicht verhindern könnten,
wenn sie nur in der Lage wären, sie zu erkennen.135
Daneben verlangt das Continuospiel eine gute Anschlagskultur und musikalisches Ausdrucksvermögen. Louis-Claude Daquin spricht vom Anschlag als dem
wesentlichen Element für das Cembalospiel, ein Können, das sehr schwer zu erwerben ist: „Für ein wahrhaft sauberes Cembalospiel ist meiner Meinung nach das Anschlagsgefühl am entscheidendsten, und dies ist sehr schwierig zu erlangen.“136 Sicherlich wird diese Äußerung nicht nur seine, sondern auch die Meinung seiner vermutlich ersten Lehrerin, Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, widerspiegeln.
François Couperin empfiehlt ausdrücklich, zwei bis drei Jahre lang Anschlagsstudi-
KOMPAGNEMENT
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136
conoître les Règles les plus sures et les plus nècèssaires pour parvenir à la téorie et à
la pratique de cète sience, Paris ca. 1719, R Genf 1972, Préface.
« L’ACCOMPAGNEMENT, est un assemblage d’Accords, qui servent à remplir
l’harmonie. » Laurent Gervais, Methode pour l’accompagnement du Claveçin. Qui peut
servir d’introduction à la composition, & apprendre à bien chiffrer les Basses, Paris
1733, R Bologna 1974, S. 1, Übers.: C. S.
« La Musique est un mélange de divers sons agréables, dont la douceur, l’assemblage
& l’arrangement réeüissent l’ame, en entrant par le sens de l’oüye. » Saint-Lambert NT,
S. 1, Übers.: C. S.
« Ce goût consiste principalement à bien menager l’harmonie de son Instrument, en
telle sorte qu’on ne tire pas tant de son du Clavecin qu’il étouffe entierement la voix
qui chante, ou qu’aucontraire on n’en tire point si peu qu’il ne la soûtienne pas assez. Il
faut se conformer autant qu’on peut à la voix qu’on accompagne. » Saint-Lambert NT,
S. 61, Übers.: C. S.
Delair, Preface.
« La veritable propreté du Clavecin consiste, Selon Moy, dans le Tact, qui est Tres dificile à acquerir. » Louis-Claude Daquin, Premier livre de Pieces de Clavecin, Paris
1735, Reprint Courlay 1989, Avertissement, Übers.: C. S.
49
en zu betreiben, bevor man mit dem Akkompagnement beginnt und begründet dies
folgendermaßen: „1. Da die Generalbässe, die einen melodischen Gang haben, mit
der linken Hand ebenso sauber ausgeführt werden müssen wie die Spielstücke, muß
man sie sehr gut spielen können. 2. Da die rechte Hand beim Akkompagnement nur
damit beschäftigt ist, Akkorde anzuschlagen, ist sie immer in einer gewissen Spannung die sie zur Steifheit verleitet. So werden die Stücke, die man zuerst gelernt,
dazu dienen, diesem Übelstand vorzubeugen.“ 137
Zur Ausführung des Continuos benötigt man Fantasie, Einfühlungsvermögen,
Empfindsamkeit und Zurückhaltung, gepaart mit einem unauffälligen Durchsetzungsvermögen und Standhaftigkeit, ist doch das Ziel des französischen Akkompagnements, auf der einen Seite ein klares harmonisches Fundament zu legen und
den klanglichen Zwischenraum zwischen Bass- und Oberstimme wirkungsvoll und
doch unaufdringlich auszufüllen, andererseits aber auch die Solostimmen möglichst
gut in Szene zu setzen. All diese letztgenannten, für das Generalbassspiel geforderten Eigenschaften wurden generell von Frauen erwartet, so dass Frauen als geradezu prädestiniert für das Continuospiel gelten konnten.
Generalbassspielerinnen im Licht der Öffentlichkeit
Dass es neben den lediglich im häuslichen Bereich musizierenden Frauen auch einige gab, die an das Licht der Öffentlichkeit traten, zeigten bereits die eingangs genannten Beispiele. Der Sprung bis an die Oper gelang Mlle Duval (1718– nach
1775), eine durch den Prinzen von Carignano protegierte Komponistin, Tänzerin
und Cembalistin, über die der Mercure berichtet, dass die junge Frau zum Erstaunen und zur großen Freude des Publikums im Orchester saß und die ganze Oper von
der Ouvertüre bis zur letzten Note akkompagnierte.138
Im Orchester des Mäzens Alexandre Jean Joseph Le Riche de La Pouplinière
waren Jeanne-Thérèse Roube de Saint-Aubin, geborene Goërmans, die Frau des
„alten Soldaten und Sohn eines Hoteliers aus Béziers“ Joseph-Antoine Roube de
Saint-Aubin und Mme Gossec, die Frau des späteren Leiters des Pariser Concert Spirituel François-Joseph Gossec, als Cembalistinnen engagiert. Ihre Namen erscheinen unter denen der anderen Musiker auf den Gehaltslisten.139
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« 1° Les basses=continuës qui ont un progrès chantant, devant être executées de la main
gauche avec autant de propreté que les pièces, il est nècèssaire d’en scavoir fort bien
joüer. 2° La main droite dans L’accompagnement n’ètant occupée qu’à faire des accords, est toujours dans une extension capable de la rendre tres roide; ainsi les pièces
qu’on aura aprises d’abord serviront à prèvenir cèt inconvènient. » Couperin, S. 42–43,
dt. Übers. nach CouperinD, S. 24.
Mercure, Nov. 1736, nach Grove 2001.
Siehe Cucueil, S. 190: « Au reste, elle [Mme Roube] avait depuis l’hiver des appointements fixes dans l’orchestre, en qualité de claveciniste, probablement cent livres par
mois, la somme que touchait Mme Gossec pour les mêmes fonctions ». S. 339 nennt unter den wichtigsten Musikern von 1763 im Etat La Pouplinières für das Cembalo Mme
Gossec (sie erhielt 25, ihr Mann als Violinist 100 Livre im Monat).
Marguerite-Antoinette Couperin, die jüngste Tochter François Couperins, wurde als Nachfolgerin ihres Vaters sogar Cembalistin im Concert de la Reine. D’Aquin de Châteaulyon stellt sie über alle anderen berühmten Musikerinnen, und besonders Cembalistinnen, des Jahrhunderts. „Sie konnte durch ihr Wissen und das
Renommee ihres berühmten Vaters den Platz einnehmen, den sie heute im Konzert
der Königin innehat: einen umso schmeichelhafteren Platz, als es ein Kammerdienst
ist, den Frauen sonst niemals ausüben. Es benötigt großer Verdienste, damit eine
derartige Ausnahme von der herrschenden Regel gemacht wird.“140
Über die Clavierspielerin, Sängerin, Schauspielerin, Komponistin und Schriftstellerin Amélie-Julie Candeille wird berichtet, dass sie „am 27. Dezember 1792 ihre La Belle Fermière betitelte Komödie aufführen ließ, in der sie selbst die Hauptrolle spielte, zwei Lieder und ein Vaudeville ihrer eigenen Komposition sang und
sich dabei abwechselnd auf dem Clavier und der Harfe begleitete“.141 Und Gerber
berichtet über dasselbe Schauspiel: „Ueberhaupt schien das ganze Stück eingerichtet zu seyn, ihre Schönheit, ihren Verstand und ihre Talente von mancherley Seiten
darin glänzen zu lassen.“ 142
Sophie Gail war eine „tiefgründige Musikerin, welche die Partitur mit Sicherheit und Intelligenz akkompagnierte, mit Geschmack und viel Ausdruck sang, sehr
gute Schüler heranbildete und mit Leichtigkeit hübsche Sachen komponierte, die eine entschiedene Beliebtheit erlangten. Sie besaß überdies viel Geist und einen liebenswerten Charakter und schien auf ihre Erfolge keinen Wert zu legen. Ihre Überlegenheit wusste sie sich von den anderen Frauen, die sie überstrahlte, verzeihen zu
lassen.“143
140
141
142
143
« Les femmes illustres du siécle pour la Musique & le Clavessin, ne le cédent en rien à
celle dont nous avons fait l'éloge: telle est Mademoiselle Couperin, fille du fameux Organiste de ce nom. Elle doit à son savoir, & à la renommée de son illustre pere, la place
qu'elle occupe aujourd'hui au Concert de la Reine: place d'autant plus flatteuse pour
elle, que c'est une charge de la Chambre que les femmes n'ont jamais exercée; il faut
avoir du mérite pour faire ainsi exception à la règle générale. » D’Aquin de Châteaulyon Bd. 1, S. 126, Übers.: C. S.
« Elle fit représenter, le 27 décembre 1792, sa comédie intitulée la Belle Fermière, où
elle jouait le rôle principal, et chantait deux airs et un vaudeville de sa composition,
s’accompagnant tour à tour sur le piano et sur la harpe. » Fétis, Simons-Candeille,
Übers.: C. S.
Gerber NL.
« Profondément musicienne, elle accompagnait la partition avec aplomb et intelligence,
chantait avec goût et avec beaucoup d’expression, formait de très-bons élèves, et composait avec facilité de jolies choses qui ont obtenu une vogue décidée. Douée d’ailleurs
de beaucoup d’ésprit et d’un caractère aimable, elle semblait n’attacher aucun prix à ses
avantages, et savait se faire pardonner sa supériorité sur les autres femmes par celles
mèmes qu’elle éclipsait. » Fétis, Übers.: C. S.
51
Die beiden letzten Beispiele betreffen Frauen aus der Revolutionszeit, Frauen, die
im öffentlichen Konzertleben bekannt und daneben als Lehrerinnen tätig waren.
Dies gilt auch für zwei weitere Musikerinnen, die bereits um die Jahrhundertwende
gelebt hatten:
Über die Cembalistin und Komponistin Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre,
die schon als Kind durch ihre große musikalische Begabung von sich reden gemacht hatte, berichtete der Mercure Galante im Juli 1677: „Sie singt die schwierigste Musik vom Blatt. Sie begleitet dabei sich und andere, die zu singen wünschen, auf dem Cembalo, das sie in einer unnachahmlichen Art spielt. Sie komponiert Stücke und spielt sie in allen Tonarten, die man ihr unterbreitet.“144 Auch die
General History von Sir John Hawkins lobt die Kombination von exzellentem Cembalospiel und großem musiktheoretisichen Wissen: „Sie war eine hervorragende
Künstlerin; wenn sie sang und sich dabei selbst begleitete, waren alle Zuhörer gefesselt von diesem vollen und edlen Fluss des Wohlklangs. Sie war auch eine ausgezeichnete Komponistin und besaß, kurz gesagt, eine solche Kunstfertigkeit sowohl in der Theorie als auch in der musikalischen Praxis wie nur wenige ihres Geschlechts.”145
Über ihre Zeitgenossin, die Cembalistin Marie Françoise Certain berichtet Titon du Tillet enthusiastisch in seinem Parnasse François einerseits von dem ausgezeichneten Akkompagnement dieser Künstlerin, andererseits von den „sehr schönen
Konzerten“ im Hause der Musikerin, zu denen ihr „die fähigsten Komponisten“ ihre
Werke bringen, die man immer mit großem Erfolg aufführt.146 Weiterhin zitiert Titon du Tillet zur Hervorhebung des Könnens Marie Françoise Certains einen Vers,
der die Klänge beschreibt, die (nur dann?) aus einem ausgezeichneten Cembalo des
berühmten flämischen Instrumentenbauers Andreas Ruckers heraustreten, wenn
Marie Françoise Certain oder Louis Marchand, der berühmte königliche Organist,
darauf spielten.147
144
145
146
147
52
« Elle chante, à livre ouvert, la Musique la plus difficile. Elle l’accompagne, & accompagne les autres qui veulent chanter, avec le Clavessin dont elle jouë d’une manière qui
ne peut estre imitée. Elle compose des Pièces, & les jouë sur tous des tons qu’on luy
propose. » Mg Juli 1677, S. 107–108, zitiert nach Cessac-Yeux, S. 236. Übers.: C. S.
“She was a very fine performer, and would sing and accompany herself with so rich
and exquisite a flow of harmony as captivated all that heard her. She was also an excellent composer, and, in short, possessed such a degree of skill, as well in the science as
the practice of music, that but few of her sex have equalled her.” Hawkins Bd. 2, S.
779, Übers.: K. H.
« Elle accompagnoit aussi très-bien du Claveçin. Comme elle donnoit de très-beaux
Concerts chez elle, les plus habiles Compositeurs y faisoient porter leur Musique,
qu’on executoit toûjours avec beaucoup de succès. » Titon du Tillet, S. 637.
Titon du Tillet, S. 637.
Von Marie-Emmanuelle Bayon, der späteren Frau des Architekten Victor
Louis, hieß es, dass sie « comme un ange »148, also „wie ein Engel“ spiele. In den
drei Sonaten für Cembalo oder Hammerclavier mit begleitender Violine aus ihren
1769 in Paris erschienenen Six Sonates pour le Clavecin ou le Piano Forte dont
trois avec Accompagnement de Violon obligé, Œuvre I gibt es immer wieder
Stellen, an denen für die rechte Hand keine Melodie auskomponiert, sondern die
Bassstimme beziffert ist (Sonate IV, 1. Satz, Sonate V, 1. Satz und Sonate VI, 1.
und 2. Satz). Fétis schreibt ihr einen bislang nicht auffindbaren Generalbasstraktat
zu, der unter dem Namen (Ph.) Louis in einem Katalog des Wiener Verlagshauses
Traeg aus dem Jahre 1799 unter dem Titel Principes de la Doctrine de l’Accompagnement aufgeführt ist.
Auch von einer Mme Gougelet gibt es eine – noch erhaltene – Generalbassschule, eine Méthode ou Abrégé des Règles d’Accompagnement de Clavecin et Recueil d’Airs avec Accompagnement d’un Nouveau genre, Œuvre IIIe, erschienen
wohl 1771 in Paris. Das Werk wird teilweise ihrem Mann, dem Organisten Pierre
Marie Gougelet, zugeschrieben, doch spricht die Widmung eindeutig von der Autorin als Votre très humble et très obéissante Servante Gougelet. Von diesen Traktaten wird an späterer Stelle die Rede sein. Die Existenz eines solchen von einer Frau
und vermutlichen Lehrerin publizierten Generalbasslehrwerkes zeigt, dass Frauen
nicht nur als Continuospielerinnen tätig waren, sondern dieses Fach auch unterrichteten.
148
« O mon ami Louis, votre femme est un ange; elle compose comme un ange, elle joue
comme un ange, elle chante comme un ange, elle a les mains, le caractère, toutes les
qualités d’un ange. » Brief Denis Diderots an M. und Mme Victor Louis, s. d. (nach
Juni 1770) in: Diderot Bd. 10, S. 87–88.
53
54
2
Lebens- und Arbeitsverhältnisse
2.1
Die Frauen der Familie Couperin
Der Ursprung der Familie Couperin liegt in Brie, circa 55 Kilometer östlich von Paris. Von 1653 bis 1826 stellte diese berühmte Musikerfamilie die Organisten der Pariser Kirche Saint-Gervais. Hier sollen nur die Frauen der Familie eingehender besprochen sein, denn das Beispiel mehrerer Generationen von Musikerinnen aus der
Familie Couperin zeigt einige Aspekte auf, die offenbar für die Situation und Lebensweise der Clavierlehrerinnen typisch waren:
1. Der Musikerberuf oder die intensive Beziehung des Vaters zur Musik ermöglichte eine hochkarätige Ausbildung der Töchter dieser Familie.
Beispiele hierzu sind etwa die beiden Töchter François I., die Musikerin MarieAnne Couperin149 und ihre Schwester Marguerite-Louise Couperin150 , außerdem natürlich Marguerite-Antoinette Couperin, die Tochter François II. (s. u.)
und ihre Schwester Marie-Madeleine-[Cécile]151.
2. Die Töchter aus Musiker- oder musikverbundenen Familien wie etwa Instrumentenbauern wurden mit Vorliebe im eigenen Berufsmilieu verheiratet.
Neben Élisabeth-Antoinette Couperin, geborene Blanchet (s. u.) gehören hierzu
Louise Bongard152, die zweite Ehefrau François I. und Tochter eines Instrumentenbauers ebenso wie Hélène-Narcisse Frey153 , eine Schülerin ihres späteren
149
150
151
152
153
Marie-Anne Couperin wird in der Literatur häufig mit ihrer Cousine Marie-Madeleine
verwechselt.
Marguerite-Louise Couperin war Sängerin und Cembalistin und als Mädchen Schülerin
von Jean-Baptiste Moreau gewesen. Seit 1698 war sie für 30 Jahre Ordinaire de la Musique de la Chambre du Roi. Sie trat in dieser Funktion sowohl als Sängerin als auch
als Akkompagnistin auf. Titon du Tillet lobt, sie habe mit einem bewundernswerten
Geschmacke gesungen und das Cembalospiel vollkommen beherrscht (siehe Titon du
Tillet, S. 403). Häufig trat sie in Werken ihres Cousins François Couperin auf.
Marie-Madeleine-[Cécile], die ältere der beiden Töchter François II. Couperin le
Grands, war von Michel Pinolet Montéclair unterrichtet worden. Sie war Organistin
und Cembalistin und wirkte als solche im Benediktinerinnenorden von Maubuisson bei
Pontoise, dem sie seit 1721 angehörte.
Louise Bongard war die Tochter des Pariser Instrumentenbauers Simon Bongard, einem Schwager des Organisten Marin de la Guerre. François I. Couperin hatte einige
Jahre im Hause des Instrumentenbauers gelebt.
Hélène-Narcisse Frey (oder Fray), geb. im Jahr 1775 in Maubeuge/Nord, verheiratete
sich am 22. 12. 1792 mit ihrem Lehrer Gervais-François Couperin, einem Sohn Armand-Louis Couperins und seiner Frau Élisabeth-Antoinette Couperin, geb. Blanchet.
Sie war die fille mineure de feu Louis-Maximilien Fay [Fray], ancien officier (siehe
55
Mannes Gervais-François Couperin. Marie Guérin, die Frau Charles II. Couperin, und Marie Anne Ansault stammten dagegen aus anderen Berufsfeldern,
wohl aber aus dem direkten Umfeld ihrer späteren Ehemänner: Erstere war
Tochter des begüterten barbier de la grande écurie du roi Blaise Guérin und
seiner Frau Barbe Musnier, die zweite die Tochter eines Weinhändlers, der in
demselben Quartier wohnte wie François II. Couperin. Bezeichnenderweise traten beide Frauen nicht als Musikerinnen in Erscheinung.
3. Durch ihre männlichen Verwandten konnten sich diese Frauen beruflich durchaus ähnlich entfalten wie ihre männlichen Kollegen; sie blieben allerdings
meist ‚Tochter von’ oder ‚Frau von’. Hierzu zwei ausführlichere Beispiele:
Beispiel 1: Marguerite-Antoinette Couperin – eine Frau übernimmt den Platz
ihres Vaters
Marguerite-Antoinette Couperin war eine äußerst fähige Cembalistin. Hatte ihr
Vater François II. Couperin le Grand bereits die ältere Tochter Marie-Madeleine zu einer hervorragenden Musikerin herangebildet, so sollte seine jüngere
Tochter einen Posten bei Hof einnehmen, „der bisher ausschließlich von Männern ausgefüllt worden war“154, denn: „auf Grund ihres Könnens und des Renommees ihres berühmten Vaters durfte sie die Stellung einnehmen, die sie
heute im Concert de la Reine inne hat: ein umso schmeichelhafterer Platz für
sie, als dies eine Stellung ist, die Frauen sonst niemals erlangen. Es bedarf großer Verdienste, damit solch eine Ausnahme gemacht wird.“155 Kein Wunder –
ihr Vater François II. Couperin, selbst ein bekannter Pädagoge, war u. a. Lehrer
des Monseigneur le Dauphin Duc de Bourgogne im Cembalo- und Generalbassspiel und in der Komposition sowie von sechs Prinzen und Prinzessinnen
aus dem königlichen Hause gewesen.156 Sicherlich hatte François Couperin, der
Mann, der von den technischen Kunstfertigkeiten der Damen schwärmt und der
die besondere natürliche Veranlagung der Frauen zum Cembalospiel so sehr
154
155
156
56
Jal), also die jüngere Tochter des zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits verstorbenen Louis-Maximilien Frey und seiner Frau Marie-Thérèse-Isabelle Michel.
« Charge qui n’avait été jusque là remplie que par des hommes. » Letillois.
« Elle doit à son savoir, & à la renommée de son illustre pere, la place qu'elle occupe
aujourd'hui au Concert de La Reine: place d'autant plus flatteuse pour elle, que c'est une
charge de la Chambre que les femmes n'ont jamais exercée il faut avoir du mérite pour
faire ainsi exception à la règle général. » D’Aquin de Châteaulyon Bd. 1, S. 126,
Übers.: C. S.
Zu Letzteren zählten Marie-Anne de Bourbon, Princesse de Conti und Louis-Alexandre
de Bourbon, Comte de Toulouse (siehe Titon du Tillet Suite, S. 664), außerdem unterrichtete Couperin Louise-Élisabeth de Bourbon (zu der Zeit Mlle de Bourbon) und
Louise-Anne de Bourbon (genannt Mlle de Charolais) sowie die Infantin von Spanien
und Maria Leszczyńska, die spätere französische Königin, den Cembalisten und Organisten Nicolas Siret und den Komponisten François Chauvon (MGG 1999).
betont, dabei auch und vielleicht im Besonderen seine talentierten Töchter vor
Augen.
Am Hofe trat Marguerite-Antoinette Couperin erfolgreich als Cembalistin auf.157 Sie spielte bald in allen Konzerten in den Appartements des Königs
und der Königin, und Louis XV. selbst beauftragte sie, den Mesdames de
France, seinen Töchtern, Cembalounterricht zu erteilen. Aufgrund dieser
Unterweisung und dem Charme des Spiels der jungen Cembalistin bedachte Le
Miere sie mit dem eingangs zitierten Gedicht, das im Juni 1742 im Mercure de
France veröffentlicht wurde. Als ihr Vater erkrankte, übernahm MargueriteAntoinette Couperin selbstverständlich seine Aufgaben am Hofe. Im Februar
1730 übergab ihr der König offiziell die Survivance d’Ordinaire de la Musique
de S. M. an der Stelle ihres Vaters. In einem Brevet de Survivance d’Ordinaire
de la Musique du Roi, en faveur de la Damelle Couperin genannten Schreiben
vom 16. Februar 1730 wurden alle Aufgaben der Hofcembalisten d’Anglebert
und Couperin auf „die Demoiselle Antoinette-Margueritte Couperin“ übertragen, welche „diese jetzt und nach dem Tode des Herrn d’Anglebert übernehmen soll“.158
157
158
Siehe etwa einen Bericht im MdF Aug. 1729, S. 1874. Hier heißt es: « La Dlle
Couperin, fille du sieur Couperin, Organiste du Roy a eu l'honneur de joüer plusieurs
fois pendant ce mois devant la Reine plusieurs Pieces de Clavecin, & en dernier lieu, le
24. veille de la fête de S. Louis, pendant le soupé de L. M. elle étoit accompagnée
seulement par le sieur Besson, Ordinaire de la Musique de la Chapelle & Chambre du
Roy, lequel s'est fait une étude particuliere pour joüer parfaitement ces sortes de Pieces,
en adoucissant extrémement son violon: ces differents morceaux ont été très-goûtés. »
Hier heißt es u. a., François Couperin, Ordinaire de la musique de la Chambre de Sa
Majesté pour le Clavecin und bestimmter Nachfolger Jean Henry d’Angleberts, bäte
„im Einvernehmen mit Herrn d’Anglebert Seine Majestät um die Zustimmung, die für
ihn vorgesehene Anwartschaft auf seine Tochter, Demoiselle Couperin, zu übertragen,
welche ihr ganzes bisheriges Leben erfolgreich der Musik und dem Cembalo gewidmet
hat“. Seine Majestät, der um „die gute Führung und die Talente der besagten Demoiselle Couperin“ wusste, erklärte sich hiermit einverstanden und so wurden alle Aufgaben der Hofcembalisten d’Anglebert und Couperin auf „die Demoiselle AntoinetteMargueritte Couperin“ übertragen, welche „diese jetzt und nach dem Tode des Herrn
d’Anglebert übernehmen soll.“ « Brevet de survivance d’Ordinaire de la Musique du
Roi, en faveur de la Damelle Couperin. Aujourd’huy 16 fevrier 1730. Le Roy étant à
Marly, le sr françois Couperin ordinaire de la Musique de la Chambre de Sa Majesté
pour le Clavecin, en survivance du sr d’Anglebert, a très humblement representé a sa
Majesté, que l’age et les infirmités dud. sr d’Anglebert, l’empéchent de remplir les
fonctions de lad. charge depuis plusieurs années; Il étoit aussi par les mêmes motifs
hors d’etat d’y suppléer pourquoi il suplioit Sa Majesté du consentement dud. d' Anglebert, d’agréer que lad. survivance dont il est pourvû, passa à la damelle Couperin sa fille;
qui s’est apliquée toute sa vie avec succès à la Musique et au Clavecin. Et Sa Majesté
étant informée de la bonne conduite et des talens de lad. damelle Couperin, a declaré et
declare, veut et entend que led. sr d’Anglebert continuë de jouir sa vie durant de lad.
57
Diese normalerweise immer von Männern besetzte Stellung stellte eine ganz
besondere Würdigung des großen Könnens Marguerite-Antoinette Couperins
durch den König dar und unterstrich die Verdienste, die sich die junge Frau als
Lehrerin der Prinzessinnen erworben hatte. Sie übernahm die Posten ihres Vaters und Jean Henry d’Angleberts und damit sowohl d’Angleberts Gehalt als
auch seine Rechte, als nach dessen Tod die Stelle im März 1736 in eine
Commission d’Ordinaire de la Musique du Roi umgewandelt wurde. 159
Marguerite-Antoinette Couperin wurde somit Titulaire, die Trägerin des Titels
der Claveciniste de la Chambre du Roi, eines Postens, auf den ihr berühmter
Vater „nur“ die Survivance, die Anwartschaft besessen hatte. Sie behielt diesen
Titel und das Gehalt der königlichen Cembalistin bis zu ihrem Tode, wenn auch
im November 1741 Bernard Bury den Posten de facto übernahm, da es auch
mit Marie-Antoinette Couperins Gesundheit nicht zum Besten stand.160 Nach
159
160
58
charge, et des honneurs gages nouritures droits exemptions prérogatives privileges
emolumens et montures qui y sont attachées, tout ainsi qu’il en a jouy ou doit jouir; Et
attendu que les infirmités dud. d’Anglebert le métent hors d’état d’exercer lad. charge,
Sa Majesté après s’être fait representer le consentement desd. sr d’Anglebert et Couperin, a commis et commet la damelle Antoinette-Margueritte Couperin pour en faire les
fonctions des a present, et les continuer après le déces dud. Danglebert, en vertu du present Brevet, et ce tant qu’il plaira a Sa Majté Au moyen de laquelle disposition, le brevet
de survivance de lad. charge, que Sa Majesté avoit accordé aud. Couperin le 5 mars
1717, demeurera éteint et suprimé; declare en outre Sa Majesté, que lad.
damelle Couperin ne pourra prétendre du vivant dud. Danglebert, d’entrer en jouissance
d’aucuns apointemens gages droits nouritures et autres revenus et emolumens appartenans a lad. charge desquels elle entrera seulement en possessions, après le deceds dud.
Danglebert, et en jouira tout ainsi qu’il en aura jouay ou dû jouir, et a cet effet lesd. Gages droits et emolumens seront alors employés sous le nom de lad. damelle Couperin. Et
pour assurance de sa volonté etc. » AN, O1 74, S. 66-67, zitiert nach Bouvet, S. 115–
116.
Siehe dazu ausführlich Bouvet AC.
In einem erneuten Brevet vom 25. 11. 1741 wurde bestimmt, dass „Bernard Burry bei
Abwesenheit der besagten Demoiselle Couperin oder wenn ihre Gesundheit es ihr nicht
erlaubt“, ihre Aufgaben übernehmen solle. Dabei sei in jedem Falle ihr persönliches
Einverständnis erforderlich. Seine Majestät erklärte weiterhin, „dass er wünscht, dass
die besagte Demoiselle Couperin weiterhin spielen solle, soweit es ihr möglich ist und
während ihres Lebens sollen ihr ihr Gehalt und ihre Rechte auf Nahrungsmittel und
weitere Vergünstigungen erhalten bleiben, wie es in dem Brevet vom 16. Februar 1730
festgelegt wurde.“ « Brevet portant que le sieur Burry exercera en présence ou en l’absence de la Dlle Couperin la Commission d’Ordinaire de la Musique de la Chambre du
Roy pour le Clavecin et ne jouira des droits et émoluments y attachez qu’après le décès
de ladite Dlle Couperin à la mère de laquelle il payera 300tt de pension si elle survi. Aujourd-hui 25 Novembre 1741, le Roy estant à Versailles, s’est fait représenter son Brevet du 16 février 1730 par lequel Sa Majesté, après avoir supprimé la charge d’ordinaire de la musique de la Chambre de Sa Majesté pour le clavecin dont les sieurs Danglebert et Couprin étoient pourvus en survivance l’un de l’autre, auroit de leurs consente-
dem Tode ihres Vaters hatte die Cembalistin ihre Mutter zu sich genommen
und die beiden lebten zusammen in Versailles in der Rue de l’Orangerie. Wie
das weitere Leben der Tochter François Couperins verlief, wann und wo sie
starb, liegt im Dunkeln.
Beispiel 2: Élisabeth-Antoinette Couperin, geborene Blanchet – in Vertretung
ihres Mannes
Élisabeth-Antoinette, Tochter des berühmten Cembalobauers Etienne Blanchet,
dem angeblich ‚besten’ seiner Zeit: die Frau, die ihren Mann beim Orgelspiel
vertreten konnte, ohne dass jemand den Unterschied hörte – eine schillernde
Persönlichkeit, „tüchtig, liebenswürdig, voller Tugenden und Talente“ 161 –
sicherlich eine außergewöhnliche Frau. Geboren am 14. Januar 1729 in Paris,
studierte sie die Musik „als wäre sie ein zu dieser Kunst bestimmter Jüngling“162. Ihr späterer Mann, Armand-Louis Couperin, war ihr Lehrer im Cembalo- und Orgelspiel und in der Komposition. Wie hoch er das cembalistische
Können seiner Frau einschätzte, zeigt eine seiner nach ihr benannten
Kompositionen La Blanchet: eine virtuose Komposition mit schnellen Kaska-
161
162
mens commis la Delle Couperin fille du sieur Couperin pour exercer les fonctions de ladite charge et jouir après le décès dudit Sr Danglebert les revenus et émolumens y appartenans, et Sa Majesté étant informée que la santé de la Delle Couperin ne luy permet
pas toujours de remplir les devoirs de ladite charge avec autant d’exactitude qu’elle désireroit et que son zèle pour le service de Sa Majesté luy inspire, Sa Majesté a agréé la
prière qu’elle luy a faite d’assurer ladite commission au Sr Bernard Burry, pour l’exercer, en l’absence de ladite Delle Couperin ou lorsque sa santé ne luy permettra pas de
servir, et à cet effet Sa Majesté a declaré et declare, veut et entend, que la dite
Delle Couperin jouisse sa vie durant et exerce autant qu’il luy sera possible la commission d’Ordinaire de la Musique de Sa Majesté pour le clevecin et continue de percevoir,
aussy sa vie durant, tous et chacun des appointemens gages droits nouritures et autres
revenus et émolumens sous quelque titre et denominantion qu’ils soient conformement
audit Brevet du 16 février 1730 que Sa Majesté a, en tant que besoin serait, confirmé en
faveur de ladite Delle Couperin et bien informé des talens dudit Sr Bury et de son affection au service de Sa Majesté veut et ordonne qu’il puisse dès à présent exercer ladite
Commission d’Ordinaire de la Musique de Sa Majesté pour le clavecin en l’absence de
la Delle Couperin, même en sa présence de son consentement, et qu’après le dècés de la
dite Delle Couperin il cõtinue de remplir sa vie durant ladite Commission pour en jouir
alors aux mêmes gages apointemens nourritures et autres Droits et Emolumens y apartenans tel et semblable qu’en jouit ou doit jouir ladite Delle Couperin et à compter du
jour de son décès lequel arrivant avant celuy de la Dame Couperin mère, Sa Majesté
veut et entend que ledit Sr Bury soit tenu de payer annuellement et a ladite De Couperin
sa vie durant la somme de 300tt de pension annuelle sur les revenus de ladite Commission dont il sera alors en jouissance. » AN, O1 85, f° 405, nach Bouvet AC, S. 92–93.
« Accomplie, bonne, intelligente, remplie de vertus et de talents », Bouvet Coup, S. 63.
« Mme Couperin, née Blanchet, fit des études en musique, comme aurait fait un jeune
homme destiné à cet art. » GdF 16. 9. 1815, S. 1036.
59
den und Überschlagfiguren der Hände. Am 7. Februar 1752 heirateten Lehrer
und Schülerin. Neben ihren Einsätzen als Organistin war Élisabeth-Antoinette
Couperin auch eine gefragte Cembalolehrerin, z. B. bis zum Ausbruch der
Revolution an der Abbaye de Monmartre. In den Adressalmanachen taucht sie
neben ihrem Mann und Sohn auf. Ihr Sohn Gervais-François übernahm nach
dem Tode seines Vaters dessen Stelle an Saint-Gervais, und nach einer
Übergangszeit, in der die Mutter bei ihrem Sohn lebte, zog Élisabeth-Antoinette Couperin schließlich einige Jahre später nach Versailles, wo sie zur
Titularorganistin an Saint-Louis ernannt wurde. Noch 1810, im Alter von über
80 Jahren, war sie als Organistin aktiv und spielte bei der Orgelprobe an SaintLouis zu Versailles vor den berühmtesten Organisten ihrer Zeit, die ihr alle großes Lob zollten.163 Sie galt als eine sehr bescheidene und zurückhaltende Frau.
Wie wichtig das Unterrichten im Lebensplan dieser Frau war, darüber lässt sich
nur spekulieren. Dennoch: In einem aus Anlass ihres Todes von ihrem Sohn in
der Gazette de France vom 16. September 1815 veröffentlichten Brief heißt es
über „Madame de Couperin, Witwe Armand-Louis Couperins [!], des Orga163
60
« L’orgue de l’Église Saint-Louis, à Versailles, dont Madame Couperin était organiste
titulaire, ayant besoin d’une réparation très considérable, et cette réparation étant terminée, des arbitres furent nommés pour toucher l’orgue et juger si le facteur avait consciencieusement rempli les conditions qui lui étaient imposées. Les organistes chargés
de cet examen furent Messieurs Marrigues, Blin, Miroir et Couperin fils. Ces arbitres
après avoir examiné l’instrument dans tous ses détails, n’eurent que des éloges à adresser à M. Dalery, célèbre facteur, sur la perfection de son travail. Il est usage, lors de la
réception d’un orgue, que celui qui en est l’organiste titulaire fasse les honneurs à ses
confrères, c’est-à-dire que ceux-ci commencent leur examen en se faisans entendre et
que l’organiste en titre ne joue que le dernier. Mais qu’était devenue Madame Couperin
pendant cet examen? Cette femme, aussi modeste que remplie de talent, s’était retirée
dans une petite chapelle de l’église, afin de jouir plus tranquillement et sans distraction
du bonheur d’entendre les artistes célèbres qui touchaient l’orgue alternativement.
Quand le tour de Madame Couperin fut arrivé, on la chercha longtemps, enfin on la découvrit dans la chapelle dont il vient d’être question. Les organistes vinrent tous l’inviter à se faire entendre, ce à quoi elle se refusait modestement, en disant qu’elle n’oserait
jamais jouer après des hommes d’un aussi grand mérite. Cependant, entraînée presque
malgré elle, la voilà assise devant le clavier; elle commence par un prélude charmant,
comme pour mettre ses doigts en exercices, peu à peu ses idées se développent, son
exécution devient brillante, les plus belles inspirations se font entendre, et après avoir
improvisé pendant plus d’un quart d’heure, elle termina par une fugue d’un beau caractère et traitée d’après les règles sévères qu’exige une composition de ce genre. Les organistes adressèrent à Madame Couperin les compliments qu’elle méritait à tant de titres, et ils ont déclaré qu’elle venait de terminer sa brillante improvisation par une fugue
digne des plus grands maîtres, par la manière savante avec laquelle elle l’avait traitée,
suffrage bien flatteur de la part de tels artistes. Mais ce qui doit étonner le plus dans le
fait qui vient d’être cité, c’est que lorsque cette femme célèbre obtint ce brillant succès,
elle était âgée de quatre-vingts ans. » Bouvet Coup, S. 79–80, Übers.: C. S. & Ch. S.
niste du Roi“: „Sie zog exzellente Schüler heran, u. a. ihren Neffen, Herrn Pascal Taskin, Clavierlehrer in Paris.“ Daneben werden ausführlich ihre überragenden Künste im Clavierspiel, ihre Kenntnisse der Harmonie- und Kompositionslehre und ihre Improvisationen, außerdem ihre große Bescheidenheit gewürdigt. „Ihre Tugenden, ihre liebenswerten Eigenschaften und seltenen Talente
werden sie uns lebhaft vermissen lassen. Ohne unglaubwürdig zu sein glaube
ich, dass es schwer ist, eine so tüchtige Frau zu finden.“164
4. Die Tradition schuf zumindest im Musikermilieu die Selbstverständlichkeit für
das Musizieren wie für das Unterrichten.
Beispiel 1: Antoinette-Victoire Couperin – musikalisches Arbeiten in der
Familie
Bereits mit 16 Jahren half Antoinette-Victoire, Schülerin ihrer Eltern ArmandLouis und Élisabeth-Antoinette Couperin, an der Kirche Saint-Gervais als
Organistin aus. Sie war somit in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten. Das
Mädchen spielte außerdem Harfe und sang. Laut Fétis besaß sie „eine schöne
Stimme, welche sie häufig in Konzerten und Ordenshäusern hören ließ“ 165 .
Außerdem setzte ihr Vater sie als Kopistin ein. Ein Manuskript der Symphonies
für Cembalo Armand-Louis Couperins trägt den Bleistiftvermerk, dass die Kopie von Antoinette-Victoire stamme. 166 Eine Unterrichtstätigkeit AntoinetteVictoire Couperins ist nicht bekannt. Ihre Mitwirkung bei den musikbezogenen
164
165
166
« A M. le Rédacteur de la Gazette de France. Monsieur, Accordez-moi, je vous prie,
une place dans votre journal, pour faire connaitre au public, amateur des arts, la perte
qu’ils viennent de faire dans la personne de Mme Couperin, veuve d’Armand-Louis
Couperin, organiste du Roi. Mme Couperin, née Blanchet, fit des études en musique,
comme aurait fait un jeune homme destiné à cet art. Elle acquit un talent supérieur pour
l’exécution, pour l’harmonie, et pour improviser sur l’orgue des morceaux d’une composition remarquable. Elle épousa, en 1751, M. Couperin, organiste du Roi (comme
l’avaient été ses ancêtres depuis près de 200 ans.) Elle eut de ce mariage quatre enfans,
dont un seul lui survit dans ce moment. Elle a fait d’excellens élèves, entre’autres son
neveu, M. Pascal Taskin, professeur de piano à Paris. Il a y cinq ans que, se trouvant à
l’église de Saint-Louis de Versailles, lorsqu’on essayait l’orgue, M. l’évèque, M. le préfet et les autorités l’invitérent a en toucher, et elle enleva tous les suffrages. Elle avait
alors 82 ans. Sa modestie la fit se cacher au point qu’on ne put jamais la retrouver pour
la complimenter. Huit jours avant l’attaque que vient de la conduire au tombeau, elle fit
les délices d’une société qui l’avait priée de toucher un piano que l’on voulait juger;
elle avait pour lors 87 ans; ses vertus, ses qualités aimables et ses rares talens la font vivement regretter. Sans que mon témoignage soit suspect, je crois qu’il est difficile de
trouver une femme plus accomplie. J’ai l’honneur d’être, etc. Couperin, organiste du
Roi. » GdF, 16. 9. 1815, S. 1036, Übers.: C. S.
« Elle jouait aussi de la harpe, et possédait une belle voix, qu’elle a fait entendre souvent dans des concerts et dans des maisons de religieuses. » Fétis.
Bouvet, S. 157.
61
Tätigkeiten ihrer Familie geschah allerdings so selbstverständlich, dass auch
eine Lehrtätigkeit durchaus vorstellbar ist.167
Beispiel 2: Célèste-Thérèse Couperin – Unterrichten als Erwerbsquelle im
Lebensabend
Célèste-Thérèse, letztes Glied der Familie Couperin, lebte weit über den in dieser Arbeit betrachteten Zeitraum hinaus. Da sie jedoch ausgezeichnet in das
Bild der Clavierlehrerinnen passt und außerdem mit ihr diese alte
Musikerfamilie gänzlich ausstarb, soll sie hier trotzdem Erwähnung finden.
Sie erhielt Unterricht bei ihrem Vater und Henri Joseph Taskin. Bis zum
Jahre 1830 war sie als Nachfolgerin ihres Vaters an Saint-Gervais, der
traditionellen Stelle der Couperins, als Organistin tätig. Dann zog sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Beauvais (bei Paris), wo sie bis 1843 Unterricht erteilte. Nach Aussage Taskins hatte sie sich hier „einen guten Ruf als Lehrerin
für Clavierspiel und Gesang erworben, besaß eine schöne Stimme und eine
ausgezeichnete Methodik“ 168 . An dieser Stelle wird also nicht das eigene
solistische Können der lehrenden Person, sondern ihre Methodik, die Fähigkeit
des Unterrichtens, hervorgehoben.
In den Listen einer Volkszählung vom April 1836 sind Mutter und Tochter Couperin folgendermaßen eingetragen: „1° Mme Fray, Hélène-Narcisse,
verwitwete Couperin, ohne Beruf, 60 Jahre alt im April 1836. 2° Couperin,
Thérèse-Céleste, Rentnerin, 36 Jahre alt, Tochter der Vorhergehenden.“169 Im
Jahr 1843 zogen Mutter und Tochter erneut um. „Mademoiselle Couperin ist
jetzt mit ihrer Mutter nach Belleville bei Paris zurückgekehrt“170, so zehn Jahre
später noch einmal Taskin. Um die finanzielle Situation von Mutter und Tochter war es schlecht bestellt. Und so verfasste Hélène-Narcisse Fray im Juli
1847 ein Bittschreiben, um zwei Familienportraits zu Geld machen zu kön-
167
168
169
170
62
Im Jahr 1780 heiratete Antoinette-Victoire Couperin den Sohn eines Trésorier de
France und Besitzer einer Damastfabrik in Tours mit Namen Auguste-Pierre-Marie
Soulas und selbst Commis de la Grande-Poste aux Lettres. Sie war das erste der vier
Kinder, welches das Elternhaus verließ.
« Depuis quelques années s’étant fixée à Beauvais, elle s’y est fait connaître avantageusement comme professeur de piano et de chant, possédant une belle voix et une excellente méthode. » Notiz aus der Bibliothèque de l’Opéra, geschrieben etwa 1840 von
Henri Joseph Taskin, zitiert nach Bouvet Coup, S. 165, Übers.: C. S.
« 1° Mme Fray, Hélène-Narcisse, veuve Couperin, sans profession, âgée en avril 1836
de 60 ans; 2° Couperin, Thérèse-Céleste, rentière, âgée de 36 ans, fille de la précédente. » Archives départementales de l’Oise, zitiert nach Bouvet Coup, S. 165, Übers.:
C. S.
« Mlle Couperin est maintenant retirée avec sa mère à Belleville près Paris. » Henri Joseph Taskin, zitiert nach Bouvet Coup, S. 165, Übers.: C. S.
nen.171 Die beiden Frauen lebten in Armut – lediglich ihr Name erinnerte an
die großartigen Zeiten ihrer Familie.
Am 14. Februar 1860 starb mit Célèste-Thérèse Couperin dieser Name
aus. In ihrer Sterbeurkunde heißt es: „Am 15. Februar 1860 wurde um zehn
Uhr morgens die Sterbeakte der Céleste Thérèse Couperin, ohne Beruf, 67
Jahre alt, geboren in Paris und verstorben um zwei Uhr abends in der Wohnung
ihrer Mutter, Rue de Paris, 86 im Quartier Belleville 172, ausgestellt. Sie war die
unverheiratete Tochter des verstorbenen Gervais-François Couperin und von
Hélène-Narcisse Frey, seiner Witwe, ohne Beruf, vierundachtzig Jahre alt.“173
Als Beruf wurde die Lehrtätigkeit Célèste-Thérèse Couperins weder in Beauvais noch in Belleville angesehen. Vielleicht brachte sie dazu nicht genügend
Ertrag, vielleicht (wahrscheinlich?) verkörperte die Musikerin dazu zu stark die
alte glanzvolle Familie Couperin, als dass vorstellbar gewesen wäre, sie könne
ihren Lebensunterhalt mühsam mit dem Erteilen von Unterrichtsstunden
bestreiten.
2.2
Tätigkeitsbereiche der französischen Musikerinnen
Im 18. Jahrhundert scheint keine der Clavierlehrerinnen nur in einem Berufszweig
tätig gewesen zu sein. Im Gegenteil: All diese Frauen kombinierten unterschiedliche kulturelle Aktivitäten miteinander. Daher soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die Tätigkeitsbereiche französischer Musikerinnen stehen.
Für Musiker wie für Musikerinnen gab es verschiedene Tätigkeitsfelder, die
im kirchenmusikalischen Bereich, am Hof, in der Oper und in öffentlichen wie
privaten Konzerten zu finden waren. Mercier beschreibt in den 1780er Jahren „acht
Klassen“ von Einwohnern der Stadt Paris, die scharf voneinander abgegrenzt seien.
Er nennt an erster Stelle Prinzen und Große Herren (die kleinste Gruppe), Richter
und Anwälte, Bankiers, Verkäufer und Händler, dann, an fünfter Stelle der sozialen
Rangordnung die Künstler, anschließend Bedienstete, Lakaien und das niedere
Volk.174 Die Künstler rangierten also relativ weit unten – hinter Händlern und Verkäufern, vor der Gruppe der Dienstboten.
171
172
173
174
Abgedruckt in Bouvet Coup, S. 170–171.
Heute Rue de Belleville, siehe Bouvet Coup, S. 166.
« Du quinze février mil huit cent soixante, à dix heures du matin, Acte de décès de Céleste Thérèse Couperin, sans profession, âgée de soixante sept ans, née à Paris, décédée
à deux heures du soir, au domicile de sa mère, y demeurant rue de Paris, 86, quartier de
Belleville, fille célibataire de Gervais-François Couperin décédé et de Hélène-Narcisse
Frey, sa veuve, sans profession, âgée de quatre-vingt quatre ans. » Bouvet Coup,
S. 166, Übers.: C. S.
Mercier NA, S. 91.
63
Die Rolle der Kirche ist im Zusammenhang mit den Clavierlehrerinnen nur insofern
interessant, als viele von ihnen, wie etwa Élisabeth-Antoinette Couperin, auch als
Organistinnen tätig waren. Am Hof, an dem praktisch alle wichtigen Musiker beschäftigt waren, sind Musikerinnen seit dem 17. Jahrhundert nachgewiesen, zunächst als Sängerinnen oder Tänzerinnen, einige Zeit später aber auch als Instrumentalistinnen. Ihre Gehälter lagen mit 500 bis 900 Livres zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Höhe eines durchschnittlichen Musikers gleicher Position175. Die
Hoforganisten z. B. verdienten normalerweise 600 Livres im Jahr. Diese Einnahmen reichten auch den männlichen Kollegen im Normalfall nicht, um die laufenden
Kosten zu bestreiten, so dass praktisch jeder Musiker Nebeneinkünfte aus anderen
Quellen – als Schreiber, Händler oder Drucker, meist aber aus Unterrichtstätigkeit –
bezog. 176 Ein Bericht über die Witwe Jean Henry d’Angleberts zeigt, wie hoch
diese zusätzlichen Einkünfte häufig waren: Sie klagte nach dem Tode ihres Mannes
immerhin 600 Livres für Unterrichtsstunden ein, die ihr Mann im vergangenen Jahr
an eine Mademoiselle erteilt habe.177 Auch die Witwe des Organisten de Mars besaß beim Tode ihres Mannes noch ein von der Gouvernante der Schülerin signiertes
Billet im Wert von 168 Livres über die Cembalostunden, die ihr Mann „Mademoiselle de Nevers, heute Comtesse de Gisors“ erteilt hatte und deren Bezahlung (immer noch) ausstand. Außerdem gab es verschiedene Billets, die „nichts mehr wert
waren“, da die Schüler gestorben oder weggezogen waren, oder der grand seigneur
ein schlechter Zahlmeister war. 178 In der Regel fanden die Unterrichtsstunden in
den Häusern der reichen Bürger und Adeligen statt. Statt solch hoher Summen, wie
sie der berühmte Cembalist Jean Henry d’Anglebert, Ordinaire de la Chambre du
Roy pour le Clavecin Louis XIV. verlangen konnte, wurden oft auch andere Konditionen wie Mahlzeiten oder Vergütungen für Kleidung und Wohnung mit in die
Honorare und Abmachungen einbezogen.
Der Großteil der Musikerinnen stammte aus Musikerfamilien, wie es etwa die Frauen der Familie Couperin verdeutlichen. Auch die außergewöhnliche Rolle Marguerite-Antoinette Couperins als Cembalistin am Hof als Nachfolgerin ihres Vaters ist
sicherlich auf die Familientradition ebenso wie auf ihr Können zurückzuführen. Das
Cembalo war als nobles und raffiniertes Instrument bekannt und von Louis XIV.
besonders geschätzt. Eindrucksvoll belegt dies die Lebensgeschichte ÉlisabethClaude Jacquet de la Guerres, die als Kind wegen ihres außergewöhnlichen Talents
175
176
177
178
64
Vilcosqui, S. 135.
Benoit, S. 166–171.
« La veuve D’Angelbert declare qu’il est deub a lad. Communauté la somme de 600
livres pour avoir par led. deffunct enseigné à Mademoiselle a jouer du clavessin pendant l’année derniere 1690. » AN, Minutier central LIII, 104, 8. 5. 1691, nach Benoit,
S. 164.
Siehe das Inventaire après décès de Jean Odéo Demars, AN, Minutier central LIII,
348, 12. 11. 1756, nach Hardouin, S. 251.
an den Königshof geholt worden war. Das Cembalo war ein bei Frauen beliebtes Instrument und eine Frau am Tasteninstrument ein allgemein gern gesehener Anblick.
Dies beschreibt auch ein Gedicht von Tressan, genannt Tressanius, das dieser seiner
Geliebten, der Marquise de Bouffles, widmete:
« Lorsque je vois sa main charmante
Voltiger sur un clavecin
Et d’une ariette brillante
Rendre par sa touche savante
Les agréments et le dessin,
L’enchantement de l’harmonie
Le feu qui brille dans ses yeux
Mieux que la céleste Uranie
Me donnent l’art et le génie
Que m’avait refusé les dieux.
L’amour est mon unique Maître! »
„Wenn ich ihre bezaubernde Hand
Über das Cembalo fliegen sehe,
Und wenn sie mit ihrem geschickten Anschlag
Charme und Thema
Einer brillanten Ariette wiedergibt,
So vermitteln mir – besser als die himmlische
Urania es kann –
Der Zauber der Harmonie
Und das Feuer, das in ihren Augen leuchtet,
Die Kunst und das Genie,
Die mir die Götter verwehrt hatten.
Die Liebe ist meine einzige Lehrmeisterin!“179
Frauen im öffentlichen Konzertleben
Im Jahre 1725 wurde das Concert spirituel von Anne Danican Philidor ins Leben
gerufen. Es bildete neben der Opéra die zweitwichtigste Institution des Pariser Musiklebens. Auch hier, wie am Hofe, erhielten Männer und Frauen dieselbe Bezahlung.180 Das Concert spirituel konnte durchaus eine wichtige Station in der Karriere
einer Musikerin bilden. Die Harfenistin Marie-Élisabeth Duverger (auch Duvergé,
1759–1809) beispielsweise war hier in den Jahren 1780 bis 1782, zum Teil mit eigenen Kompositionen, aufgetreten.181 Noch 1785 nehmen die Tablettes de renommée auf einen Auftritt am 14. Mai 1780 Bezug.182 Auch die Turiner Musikerin und
Musiklehrerin Genovieffa Ravissa, seit Ende 1777 oder spätestens Anfang 1778 in
Paris, nutzte ihren Auftritt am 25. März 1778 als Sängerin in dieser beliebten Reihe
179
180
181
182
Nach Vilcosqui, S. 59–60, Übers.: Ch./B. N.
Vilcosqui, S. 139.
Siehe die Ankündigungen im JdP vom 13. 5. 1780, S. 551 und 14. 5. 1780, S. 555.
« DUVERGER (Mademoiselle), a exécuté sur la Harpe, au Concert Spirituel, plusieurs
Sonates & un Concerto de M. Bach, avec un goût, une légereté & une précision qui lui
a mérité les plus vifs applaudissemens. » Tablettes 1785, Kategorie der « Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes pincées. Pour la Harpe. »
Marie-Elisabeth Duverger heiratete später Jean-Baptiste Cant-Hanet, genannt Cléry,
Kammerdiener Louis XVI. und war selbst Musicienne des Concerts de la Reine, wie sie
das Titelblatt ihrer der Königin gewidmeten Trois Sonates pour la Harpe ou Pianoforte
avec Accompagnement de Violon, op. 1 (Versailles 1785) nennt. Während der Revolutionsjahre zog Jean-Baptiste Cléry nach Österreich, wo er im Dienst Marie-Thérèse
Charlottes, der Tochter Louis XVI. stand. Ob Marie-Elisabeth Cléry ihren Mann begleitete, ist nicht bekannt, doch sind auch aus Frankreich keine weiteren Zeugnisse der
Musikerin bekannt.
65
wohl als Chance, ihre Person und ihr Können einem zahlreichen Publikum vorzuführen, sich bekannt zu machen und in ihrem Fall auch besonders für ihre Tätigkeit
als Lehrerin zu werben.
Diesen Aspekt, Unterrichtsverhältnisse über Konzertauftritte herzustellen, beschreibt (aus der entgegengesetzten Perspektive) Uffenbach – zwar nicht aus Paris,
doch aus Straßburg – in seinen Reiseberichten: „Sambstag den 17 December [1712]
ging ich mit hl fabern in das ordinaire wöchentliche concert so alle mahl Dienßtag
in dem collegio bey der neuen Kirch von den Stadt musicis gespielt wird, indem 1
uhr biß 3 währet ich hörte alda eine ziehmlich gute Symphonie und fand unter andern die beyden sehr renommirten meister, hl Beck und hl Tobias [?], der erstere ist
violinist, der andere ein unvergleichlicher fleautenist auf der traversiaire, mit dem
ersten redete im heraus gehen von einer stunde so ich haben wolte welches er mir
zu sagte und nachmahls bekahm, da ich ihm monatlich 4 neue Fr geben mußte und
manchmal umbsonst warten mußte, weil er nicht gar zu accurat im Kommen
war.“183
Konzerte und Musikensembles in Privathäusern
Allgemein ahmte man sowohl im Umfeld des Hofes als auch in den Häusern der
Bürger und der Adeligen in Paris (und anderen Städten) die zahlreichen Konzerte
nach, die für den König veranstaltet wurden. Wer etwas auf sich hielt und das Geld
dazu hatte, organisierte in seinem Hause ebenfalls musikalische Darbietungen. So
beschäftigte beispielsweise Mlle de Guise ein eigenes Ensemble, das zum Zeitpunkt
ihres Todes im Jahr 1688 aus neun Musikern und elf Musikerinnen bestand. Mlle de
Guise sorgte für Unterkunft, Nahrung und Kleidung und den täglichen Bedarf, zahlte auch ein kleines Honorar und bedachte ihre Angestellten in ihrem Testament. Zu
den Musikerinnen gehörte auch die Schwester Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres, Anne Jacquet. Sie war die einzige Instrumentalistin (wohl am Cembalo), alle
anderen Frauen fungierten als Sängerinnen.184
Der Lautenist Dessanssonières veranstaltete während des Jahres 1678 jede
Woche Konzerte „für seine Freunde und alle, die gern bei ihm eingeführt werden
möchten“. 185 Außerdem wurde bei ihm über mehrere Wochen jeden Donnerstag
„eine Art kleine Oper“ nach der Musik von Louis de Mollier über die Befreiung der
Andromeda aufgeführt. Der Raum war, so hieß es im Mercure galant, für die zahlreichen illustren Gäste viel zu klein. Am Cembalo saß bei diesen Opernaufführun-
183
184
185
66
Nach Preußner, S. 20–21.
Weitere Angaben bei Patricia Ranum, A sweet servitude. A musician’s life at the Court
of Mlle de Guise, in: Early Music, August 1987, S. 346–360.
« Les concerts que le luthiste Dessanssonières donne toutes les semaines à ses amis et à
ceux qu’ils veulent mener chez lui », Mg März 1678, S. 260, nach Brenet-Concert,
S. 70.
gen „das Wunder unseres Jahrhunderts, die kleine Mademoiselle Jaquiet“186 – Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, die Jahre später selbst für einige Zeit Konzerte
in ihrem Haus veranstaltete, die man sich sicher ähnlich vorzustellen hat.
Die Konzertveranstaltungen in den Adelshäusern besaßen einen halb öffentlichen, halb privaten Charakter. Wer musizierte, fand Zugang zu diesen Gesellschaften. Dies beschrieb Joachim Christoph Nemeitz im Jahre 1718, der in einer Anmerkung zu den „täglichen“ Konzerten die Zusammenkünfte im Hause des Duc
d’Aumont, des Abbé Grave, der Mademoiselle Maes („als welche alle wochentlich
ordinairement einmahl“) und bei Herrn Clerambeault („welcher etwann alle 14. Tage oder 3. Wochen eins bey sich hatte“) aufzählt.187 Die Konzerte im Hause Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres hatten laut Nemeitz „vor eingen Jahren auffgehöret“, während die von den Mlles Ecuyeurs „von wenigen besucht“ wurden.188
Berühmt waren die Konzerte chez Crozat, dem Schatzmeister Antoine Crozat,
angeblich einem der reichsten Männer der Stadt, die seit 1724 zweimal wöchentlich
in seinem Haus in der Rue de Richelieu189 stattfanden. Hier traten als Cembalistinnen Mlle Guyot und Mlle Boucon/Mme Rameau auf. Noch entscheidender war die
Rolle, die Alexandre Jean Joseph Le Riche de La Pouplinière im Pariser Konzertleben spielte. Abgesehen vom Hof herrschte nirgends so viel Prunk wie hier. Seine
glanzvollste Zeit lag um 1750 bis zu La Pouplinières Tod im Jahr 1762. Rameau,
der, wie bereits beschrieben, als Leiter des häuslichen Orchesters einige Zeit mit
seiner Frau im Hause dieses Kunstmäzens lebte, führte hier, auch zu Zeiten, in denen er das Haus längst verlassen hatte, mit Vorliebe seine neuesten Kompositionen
auf. Die Konzerte fanden sowohl in La Pouplinières Pariser Bleibe in der Rue de
Richelieu (also in der unmittelbaren Nachbarschaft Crozats190) als auch auf seinem
Landsitz in Passy statt.
186
187
188
189
190
« Mr Moliere a fait aussi une maniere de petit Opéra qu’il donne en concert chez luy
tous les Jeudis depuis six semaines. Les Assemblées y sont toûjours plus Illsutres que
nombreuses, le lieu estant trop petit pour contenir tous ceux qui viennent y demander
place. […] La merveille de nostre Siecle, la petite Mademoiselle Jaquier, y touche le
Clavessin. » Mg, Dez. 1678, S. 126–128.
Von den oben bereits erwähnten Zusammenkünften im Hause Louis-Nicolas Clérambeaults erzählte man, dass „eine Demoiselle von etwan 11. Jahren ungemein fertig und
manirlich das Clavecin spielte und accompagnirte.“ Nemeitz, S. 57. Clérambeault war
mehrere Jahre Surintendant der Musik der Madame de Maintenon und folgte dieser anscheinend nach St. Cyr. Er veranstaltete 14tägige Konzerte, die von seinen Freunden,
aber auch von Fremden wie Nemeitz besucht wurden.
Nemeitz, S. 57.
Heute Nr. 91 und 93 in der Rue de Richelieu. Das Haus Crozats, ein très bel hôtel,
stand bis 1780. Hillairet Bd. 2, S. 346.
Das Haus La Pouplinières befand sich an der Stelle der heutigen Hausnummer 59. 1762
starb sein Besitzer hier. 1882 wurde das Haus abgerissen und zwei Jahre später durch
das heutige ersetzt. Hillairet Bd. 2, S. 344.
67
Wie ein üblicher Sonntag der 1760er Jahre in Passy aussehen konnte, beschreibt Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis, die ja ebenfalls einige Zeit im Hause
des Mäzens lebte, in ihren Memoiren: „Jeden Sonntag hatten wir in der Hauskapelle
eine musikalische Messe: Madame de Saint-Aubin spielte dort auf einer kleinen Orgel, Gossec und die anderen Musiker spielten schöne Symphonies. An jenem Tag
gab es ein großes Diner, viele Leute aus Paris und immer Botschafter, deren Konversation mich amüsierte. [...] Um fünf Uhr gab es in einer großen Galerie ein schönes Konzert, zu dem viele Leute aus Paris kamen. Man aß um neun Uhr. Anschließend machten wir eine ganz besondere kleine Musik: Monsieur de Monville, der jeden Sonntag kam, spielte dabei die Harfe, ich sang und spielte Gitarre. Um halb
zwölf gingen wir zu Bett.“191
Bei Mme de Saint-Aubin, die in der Erzählung Mme de Genlis’ die Orgel spielte,
handelt es sich um Jeanne-Thérèse (auch Marie-Thérèse) Goërmans, die älteste
Tochter des Cembalobauers Jean Goërmans. Sie spielte zwischen 1753 und 1758
eine wichtige Rolle im Hause von La Pouplinière, dessen offizielle Maitresse sie zu
diesem Zeitpunkt war. Zuvor, um 1750, hatte sie vom Erteilen von Gesangs- und
Cembalostunden und von den Einnahmen der Konzerte, in denen sie auftrat, gelebt.192 Sie heiratete einen Sieur Roube, ancien soldat und Sohn eines hôtelier de
Béziers. Georges Cucueil beschreibt Roube in seiner Untersuchung über La
Pouplinière als verdrießlichen Herrn, der seine Frau ausnutzte und von dem lebte,
was diese in den bürgerlichen Salons verdiente. Sie selbst galt nicht als brillant,
doch konnten sie und ihr Mann von den Einnahmen aus ihren Konzerten und von
einigen wenigen Schülern, die sie unterrichtete, leben. „Obgleich seine Frau nicht
zu den hübschen Frauen zählte und das Aussehen einer kleinen widerwilligen
Schlampe hatte, dachte er [Mr Roube], dass sie die Schönheit des Teufels besäße,
nämlich Jugend, und deshalb bei Monsieur La Pouplinière Erfolg haben könnte.“193
Im Winter 1752/1753 trat seine Frau in den Konzerten La Pouplinières auf.
Die Affäre zwischen dem Hausherrn und Jeanne-Thérèse Goërmans hielt lang.
Während des Winters hatte die Musikerin einen festen Platz im Orchester als Cem191
192
193
68
« Tous les dimanches nous avions, dans la chapelle de la maison, une messe en musique: madame de Saint-Aubin y jouait d’un petit orgue, Gossec et les autres musiciens
y exécutaient de belles symphonies. Ce jour-là il y avait un grand dîner, beaucoup de
monde de Paris, et toujours des ambassadeurs et des ambassatrices: leur conversation
m’amusait. […] A cinq heures il y avait, dans une grande galerie, un beau concert, auquel venait encore du monde de Paris: On soupait à neuf heures. Après souper communément on faisait une petite musique particulière; M. de Monville, qui venait toujours
le dimanche, y jouait de la harpe, je chantais, et je jouait de la guitarre. A onze heures et
demie, on allait se coucher. » GenlisM Bd. 1, S. 89–90, Übers.: C. S. & Ch. S.
Cucueil, S. 188.
« Quoique sa femme ne fût pas du nombre des jolies femmes, ayant l'air d'une petite
gaupe de mauvaise grâce, il pensa qu'ayant la beauté du diable, c'est-à-dire la jeunesse,
elle pourrait réussir auprès de M. de la Pouplinière. » Cucueil, S. 190. Übers.: C. S.
balistin und erhielt dafür 100 Livres im Monat.194 Damit dürfte sie fest in den Tagesablauf des Hauses eingebunden gewesen sein. Sie nannte sich nunmehr „Mme de
Saint-Aubin“, wie Mme de Genlis in ihren Memoiren berichtet. Hier heißt es außerdem, dass Jeanne-Thérèse zwar „kein einziges überragendes, aber viele angenehme
Talente“ besessen habe, sie sei „eine gute Musikerin“ gewesen, die auch gut italienisch sang, habe Musette gespielt, sei „ehrlich, ruhig, gut und sehr liebenswert“ gewesen.195
Diese Beschreibung deckt sich nicht ganz mit der, die Cucueil über die Zwischenfälle im Hause La Pouplinières gibt: Zwischen August 1752 und November
1753 festigte demnach Jeanne-Thérèse de Saint-Aubin ihre Position im Hause ihres
Gönners und entspann hier angeblich ein großes Intrigenspiel. Zwischen 1753 und
1759 spielte Mme de Saint-Aubin die Orgel und das Cembalo in Passy. In ihrem
Zimmer in der Rue de Richelieu stand ein Cembalo und der Abbé de la Coste bat
sie, seiner Tochter Cembalostunden zu geben, wenn er den Abend bei ihr verbrachte und seine Korrespondenz erledigte.196 Im Winter 1758 hatte sie einen „jungen unbesonnenen Baron“ zum Liebhaber, was fürchterliche Szenen mit ihrem Ehemann
heraufbeschwor, der die Rolle des Liebhabers nur dem Hausherren La Pouplinière
(und vielleicht anderen, ähnlich einflussreichen Herren) zugestand. La Pouplinière,
der Streitereien überdrüssig, schickte das Ehepaar mit einem Geldpräsent fort, bald
jedoch tauchte Mr Roube wieder auf und La Pouplinière gab ihm schließlich eine
‚Abfindung’ von 15.000 Livres.197 Doch damit wollte sich die Musikerin nicht zufrieden geben. Sie verließ schließlich ihren Mann in der Hoffnung auf eine bessere
Partie. Einige Seiten später zitiert Cucueil zwei Annoncen, die 1763 über sie in den
Zeitungen zu lesen waren und in denen Mme de Saint-Aubin die Erfindung eines
neuartigen Mechanismus zum Registrieren der Halbtöne auf der Leier annoncierte,
welche das Spielen in allen Tonarten erleichtere.198 Sie trat also in die Fußstapfen
ihres Vaters und Bruders, der Instrumentenbauer, die ebenfalls von Zeit zu Zeit
neue Erfindungen in den Zeitungen inserierten.199 Dann wurde es still um Jeanne194
195
196
197
198
199
Madame Gossec erhielt in derselben Position das entsprechende Gehalt.
« Il y avez chez lui une femme à talent qui s’appelait par hasard du nom de la terre que
nous avions possédée (Saint-Aubin). Ma mère avait quitté ce nom pour prendre celui de
Ducrest; mais par habitude on l’appelait encore souvent la marquise de Saint-Aubin. La
personne attachée à M. de la Pouplinière qui se nommait ainsi, n’avait pas un seul talent supérieur; mais elle en avait beaucoup d’agréables: elle était bonne musicienne,
elle chantait assez bien l’Italien, elle jouait de la musette; elle était d’ailleurs honnête,
modeste, bonne et fort aimable. » GenlisM Bd. 1, S. 81–82.
Cucueil, S. 340.
Cucueil, S. 211-212.
« Mme de Saint-Aubin, connue par ses talents pour la musique, a imaginé une lyre
qu’elle a fait exécuter par le Sieur Macra. Il y a un mécanisme de registres par les
dièzes et les bémols, qui donne la facilité de jouer sur tous les tons. » MdF Jan. 1763,
S. 147 und Avant Coureur 1763, S. 53, nach Cucueil, S. 241.
Siehe z. B. AM 1779, S. 33 oder AM 1782, S. 50.
69
Thérèse de Saint-Aubin, ihr Todesjahr ist unbekannt. Vielleicht hat sie, so wiederum Cucueil, den Rat des Abbé de La Coste befolgt, der ihr 1759 riet, Paris zu verlassen und sich in die Provinz zurückzuziehen oder am Wiener Hof ihr Glück zu
versuchen.200
Ein trauriges und schwieriges Lebensschicksal. Es zeigt, welche Kraftanstrengungen nötig waren, damit Frauen überleben konnten, mit welchen Mitteln sie sich
ihren Platz erkämpfen mussten und wie schnell sie ihn manchmal wieder verloren.
Und dennoch – beheimatet in der Familientradition gab es Kenntnisse, Talente und
Fähigkeiten, auf die diese Frauen zurückgreifen konnten, um ihr Auskommen zu sichern, sei es durch Stundengeben, sei es, wie in diesem Fall, durch die Invention eines neuartigen Mechanismus für ein Instrument.
Frauen als Veranstalterinnen
Auch als Veranstalterinnen häuslicher Konzerte traten Frauen in Erscheinung. In
den Salons der Preziösen, ursprünglich im Quartier Marais beheimatet, beschäftigte
man sich auf hohem Niveau mit Musik und Literatur. Die Salonnièren luden professionelle Musiker ein, unterstützten diese ebenso wie die Musikerinnen und protegierten oft bestimmte Komponisten, wenn der Schwerpunkt ihres Salons auf Musik
lag. Zur Zeit Louis XIV. standen die Konversationssalons in voller Blüte, in denen
die Damen der oberen Gesellschaftsschichten gebildete und einflussreiche Männer
(und Frauen) aus Politik und Kunst empfingen.201 Hier trafen sich Literaten, Künstler und Musiker, es gab Unterhaltungen und musikalische Darbietungen. In den Revolutionsjahren endeten die Salons, Teil der aristokratischen vorrevolutionären Gesellschaft. Die Salonnièren befanden sich zumeist im Exil (und hielten oft dort ihre
Salons ab). Doch nach ihrer Rückkehr nach Paris wurden rasch neue Salons gegründet, unter denen sich auch mehr und mehr der reine Musiksalon herausbildete, wie
er in späteren Jahren stattfand.
Auch in den vorrevolutionären Salons spielte Musik eine mehr oder weniger
große Rolle. Die Aufführungen konnten von Einzelpersonen, kleinen Ensembles bis
zu Orchestern – abhängig natürlich von der Raumgröße – vorgetragen werden. Allerdings setzten sich auch große Ensembles, wie sie z. B. bei La Pouplinière zu finden waren, aus (in unseren heutigen Augen) ‚nur’ 14 bis 15 Ausführenden zusammen. Die Auftritte in den Salons waren für die Ausführenden immer von finanziellem Vorteil, teilweise wurden den Musizierenden sogar Pensionen zugesprochen.202
Außerdem ergab sich hier die Möglichkeit, eigene Kompositionen vorzustellen sowie Kontakte zu reichen und einflussreichen Personen zu knüpfen.
200
201
202
70
Dossier de l’abbé de la Coste 1760, Archives de la Bastille 12099, siehe Cucueil,
S. 241.
Siehe dazu die Ausführungen bei Veronica Beci, Musikalische Salons, Düsseldorf-Zürich 2000, S. 16–17.
Viano, S. 132.
Eine Musikerin, die selbst Salon hielt, war Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis. Ihr Salon fand in den Jahren vor der Revolution in ihrem „blauen Appartement“
statt, wo sie zahlreiche einflussreiche Leute um sich versammelte.203 Regelmäßig
fanden große Diner (Diners?) statt, bei denen vermutlich musiziert wurde. An anderen, den so genannten „kleinen Tagen“, gab es Imbisse mit Konzerten, zu denen
meist zehn oder zwölf Personen aus einer festen Gruppe von etwa 20 Geladenen
erschienen.204 Über das Jahr 1766 heißt es hier: „In diesem Winter amüsierte ich
mich gut; mein Salon war sehr groß. Wir spielten nicht nur Sprichwörter205, sondern
auch eine komische Oper, zu der meine Freundin Mademoiselle Baillon (später Madame Louis, die Frau des berühmten Architekten) die Musik schrieb. Monsieur de
Sauvigny schrieb den Text und eine Rolle für mich, in der ich Harfe, Gitarre und
Musette spielte. Wir spielten auch eine Komödie mit dem Titel L’Avare amoureux.
Mademoiselle Baillon war eine charmante junge Person, lieblich, zart, ruhig, verständig und geistreich. Sie spielte erstklassig Clavier, komponierte wunderbar und
mit erstaunlicher Leichtigkeit. Sie schrieb eine komische Oper, Fleur-d’Épine, welche mit großem Erfolg gespielt wurde; und es wäre nur zu wünschen gewesen, das
Textbuch wäre besser. Der Poet verdarb diese wirklich charmante Erzählung von
Hamilton. Unsere kleinen Vorführungen fanden zwischen Wandschirmen statt und
endeten immer mit einer köstlichen Musik. Der berühmte Cramer, der diesen Winter in Paris weilte, spielte darin die erste Violine und zwar vollendeter, als ich es jemals gehört habe und Jarnovitz die zweite Violine. Duport spielte das Violoncello
und Mademoiselle Baillon das Clavier; ich sang und spielte Harfe. Friseri, der trotz
seiner Blindheit auf eine überraschende Art die Mandoline spielte, kam auch dazu
und ebenso der italienische Sänger Albanège. Die Akteure unserer Sprichwörter
und Komödien waren der Comte d’Albarot, Coqueley, der Präsident von Périgny
(welcher der berühmteste unter den Schauspielern war), und bei den Frauen waren
es Madame la Marquise de Roncé, Mademoiselle Baillon und ich. Das Publikum
bestand aus etwa fünfzehn Personen.“206 Rechnet man diese 15 Zuhörenden zu den
203
204
205
206
S. a. Edmond und Jules de Goncourt, Histoire de la société française pendant la révolution, Paris 1864, R Genf 1971, S. 11–12.
« Tous les jours de représentations d'opéra, la porte étoit ouverte à toutes les personnes
présentées, qui pouvoient y venir souper sans aucune invitation. Les autres jours
s’appeloient les petits jours; il y avoit une liste pour la société intime, qui, invitée une
fois pour toutes, venoit à volonté. Nous étions quelquesfois dix-huit ou vingt, et plus
communément dix ou douze. » GenlisM Bd. 2, S. 212, nach Viano, S. 142.
Das französische Wort lautet Proverbes. Gemeint sind zur damaligen Zeit beliebte dramatische Liebhaberstücke, die kurze Sprichwörter illustrierten und dabei oft auf aktuelle Geschehnisse bzw. Skandale eingingen. Glickman/Schleifer 4, S. 98.
« Je m'amusai aussi beaucoup chez moi cet hiver; mon salon était fort grand, nous y
jouîmes non-seulement des proverbes, mais un opéra-comique, dont mon amie, mademoiselle Baillon (depuis madame Louis, femme du fameux architecte), fit la musique;
M. de Sauvigny avait fait les paroles, et un rôle pour moi, dans lequel je jouais de la
harpe, de la guitare et de la musette. Nous jouâmes aussi une joie comédie, intitulée
71
sieben Ausführenden, so ergibt dies eine Gesamtzahl von 22 Personen – laut Genlis
ein „großer Salon“.
Wie viel für derartige Vorführungen geübt und geprobt wurde und wie hoch
die Qualität gewesen sein dürfte, zeigt eine Passage aus den Memoiren der Mme de
La Tour du Pin. Hier geht es um die musikalischen Zusammenkünfte im Hôtel de
Rochechouart, die einmal wöchentlich stattfanden. Zum Proben der Ensemblestücke traf man sich allerdings mehrfach vorher. „Am Clavier saß Madame Mongeroux, die gefeierte Pianistin dieser Zeit. Ein Sänger der italienischen Oper sang den
Tenor und Mandini, ein weiterer Italiener, den Bass. Madame de Richelieu war die
Primadonna, ich sang den Contralto, Monsieur de Duras den Bariton. Die Chöre
wurden von anderen guten Dilettanten gesungen. Viotti207 begleitete mit seiner Violine.“ Man musizierte schwierige Stücke in großer Besetzung und Viotti probte mit
„übertriebener Strenge“. Auch Mr de Rochechouart ließ keinen Fehler durchgehen.
„Oft überraschte uns die Essensstunde mitten in einem Finale. Beim Läuten der
Glocke nahm jeder seinen Hut, doch Madame de Rochechouart trat ein und sagte,
es sei genug für alle zum Essen da. Wir blieben und probten nach dem Essen weiter.
Es war also mehr als eine Matinee, man könnte besser von einem musikalischen
Tag sprechen.“208
207
208
72
l’Avare amoureux. Mademoiselle Baillon était une charmante jeune personne, jolie,
douce, modeste, sage, spirituelle, jouant du piano de la première force, composant à
merveille, et avec une étonnante facilité; elle a fait un opéra-comique, Fleur-d’Épine,
qui fut joué avec succès; il eu aurait eu davantage si les paroles eussent été meilleures,
mais le poète avait absolument gâté ce charmant conte d’Hamilton. Nos petites représentations exécutés entre les paravents, finissaient toujours par une musique délicieuse,
dont le fameux Cramer, qui passa cet hiver à Paris, était le premeir violon, et le plus
parfait que j'aie entendu, et Jarnovitz, le second; Duport y jouait du violoncelle, mademoiselle Baillon du piano; moi, j'y chantais et j'y jouais de la harpe; Friseri, qui, quoique aveugle, jouait de la mandoline d'une manière surprenante, y venait aussi, ainsi
qu'Albanèze, le chanteur italien. Nos acteurs de proverbes et de comédies étaient le
comte d’Albarot, Coqueley, le président de Périgny (ce qu’il y avait de plus célèbre en
hommes pour les proverbes); en femmes, madame la marquise de Roncé, mademoiselle
Baillon et moi. Nous avions pour spectateurs une quinzaine de personnes. » GenlisM
Bd. 1, S. 336–337, Übers.: C. S. & Ch. S.
Der italienische Violinist Giovanni Battista Viotti (1755–1824) trat häufig im Zusammenhang mit Hélène de Montgeroult in Erscheinung.
« Vers la fin de l'hiver je reprenais ma vie dans le monde et retournai faire de la musique à l'hôtel de Rochechouart. Ces séances musicales étaient fort distinguées. Elles
avaient lieu une fois la semaine, mais les morceaux d'ensemble étaient répétés plusieurs
fois auparavent. Au piano se tenait Mme Mongeroux, célèbre pianiste du temps; un
chanteur de l'Opéra italien avait l'emploi de ténor; Mandini, autre Italien, celui de basso; Mme de Richelieu était la prima donna; moi, le contralto; M. de Duras le baryton;
les chœurs étaient chantés par d'autres bons amateurs. Viotti accompagnait de son violon. Nous exécutions ainsi les finales les plus difficiles. Personne n'épargnait sa peine,
Mäzeninnen
Nicht als Salonnière, doch als Mäzenin ist noch Anne-Élisabeth Bouvet hervorzuheben. Sie wurde später die Frau des Marquis de La Mézangère. 209 Als Schülerin
François Couperins hatte sie eine ausgezeichnete musikalische Ausbildung genossen. Auch ihr widmete ihr Lehrer ein Stück in seinem zweiten Cembalobuch von
1717: La Mézangére.210 Sie galt als die stärkste seiner Schülerinnen, doch scheute
sie die Öffentlichkeit. Bei Gerber ist zu lesen: „Mézangere (la Marquise de la) gebohren 1693; spielte vortreflich auf dem Flügel; auch hatte sie Talente zur
Komposition, welche sie vollkommen auszuüben wußte, aber nie wollte sie öffentlich davon etwas herausgeben. 211 Die Marquise de Gange, ihre Tochter, welche
1741 zu Paris starb, spielte eben so schön den Flügel, als ihre Mutter, der sie einzig
und allein, den Unterricht darauf zu verdanken hatte. Ueberdies erzog die Mad.
Mézangere unter ihren Augen ein Kind, dem sie einen solchen vortreflichen Unterricht gab, daß es in der Folge Klaviermeister der Königin und der Königlichen Kinder wurde.“212 Bei diesem Cembaloschüler handelt es sich um Simon Simon, den
späteren „Klaviermeister der Königin von Frankreich und der Gräfin von Artois“,
so ebenfalls bei Gerber zu lesen. Weiter heißt es hier, er sei mit sieben Jahren zu
seinem Onkel gegeben worden, der Organist in einer Abtei bei Caen war, sich allerdings als ungeeigneter Lehrer für das Kind herausstellte. „Von ohngefähr sahe die
Marquise de la Mezangere den Knaben, und da sie eine besondere Anlage zum Klaviere glaubte an ihm wahrzunehmen, nahm sie ihn zu sich, als er das dreyzehnte
Jahr noch nicht erreicht hatte. Keine Mühe wurde nun gespart. Mr. de Saint Saire
unterrichtete ihn in der Musik überhaupt und die Marquise auf dem Klaviere insbesondere. Sie hatten das Vergnügen zu sehen, daß ihr Schüler im Kurzen sein Glück
machte. Seine gute Aufführung und seine Talente, verschafften ihm bald eine Menge Schüler“.213 Die Pieces de clavecin dans tous les Genres avec et sans Accompag-
209
210
211
212
213
et Viotti était d'une sévérité excessive. Nous avions encore pour juge, les jours de répétition, M. de Rochechouart, musicien dans l'âme et qui ne laissait passer aucune faute
sans la relever. L'heure du dîner nous surprenait souvent au milieu d'une finale. Au son
de la cloche, chacun prenait son chapeau; alors entrait Mme de Rochechouart en disant
qu'il y avait assez à dîner pour tout le monde. On restait, et après le dîner la répétition
reprenait. Ce n'était plus une matinée, mais à proprement parler une journée musicale. »
Memoirs de la Madame de La Tour du Pin Bd. 1, S. 158, zitiert nach Viano, S. 151,
Übers.: C. S.
Weitere, bei Cohen gemachte Angaben über das Leben der Marquise ließen sich nicht
verifizieren.
François Couperin, Second Livre des Pièces de Clavecin, Paris 1717, Dixième Ordre:
La Mézangére.
Von ihren Kompositionen sind einzig einige Clavierstücke bekannt. Sie werden bei Elson, Meggett und Cohen erwähnt.
Gerber LEX.
Gerber LEX, Artikel Simon.
73
nement de Violon, op.1. (Paris 1761) sind seiner Gönnerin gewidmet.214 Ebenso ist
gleich das erste Stück, die Allemande der Premier Suitte, mit La Mézangére betitelt.
Ihr erworbenes Wissen und Können gab Anne-Élisabeth de La Mézangère also uneigennützig an einen begabten Jungen weiter, der sich unter ihrer Anleitung zu einem berühmten Musiker entwickelte.
2.3
Pariser Adressverzeichnisse
Aufschluss über die hohe Anzahl an Lehrerinnen in Paris geben in besonderer Weise die Auflistungen der unterrichtenden Personen für bestimmte Fächer in den Almanachen und Adressverzeichnissen, die im Folgenden ausgewertet werden sollen.
Untersucht wurden die Verzeichnisse in Pradel 1692, Almanach Musical (AM)
1775 bis 1779 und 1783 (die Jahrgänge 1781 und 1782 enthalten keine derartigen
Listen), Tablettes 1785 und Calendrier musical (CM) 1788 und 1789. Dabei fanden
sich die Namen von 25 Lehrerinnen.
In Pradel 1692, dem einzigen noch aus dem 17. Jahrhundert stammenden Verzeichnis, sind folgende Namen unter den Maîtres pour le clavecin verzeichnet215:
Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, Mme Oves, Mme Louis sowie „Mesdemoiselles Rebours & le Tellier“.
In den 1770er und 1780er Jahren erschienen derartige Verzeichnisse praktisch
jährlich. Diese Häufung der Informationen erlaubt es, verschiedene Rückschlüsse
zu ziehen. Beeindruckend ist in jedem Fall die große Anzahl an musikinteressierten
Personen. Tablettes 1785 beispielsweise verdeutlicht, dass sich in Paris, wo zu diesem Zeitpunkt etwa 500 000 Menschen lebten, immerhin (mindestens) 1200 Personen professionell mit Musik beschäftigten. Dabei zeigt ein Vergleich mit den Namen der im Concert spirituel Aufgetretenen, dass diese Liste sicherlich nicht vollständig ist.216 Doch zunächst die Namen der aufgeführten Clavier- und Harfenlehrerinnen217:
Mme Beauvallon (CM 1788, 1789 – Maîtres de clavecin ou forte-piano),
Mlle Bertaud (AM 1775-1779, 1783 – Organistes des eglises de Paris, Couvens de
Femmes; AM 1775-1779; CM 1788, 1789 – Maîtres de clavecin et piano-forte;
214
215
216
217
74
« A MADAME LA MARQUISE DE LA MEZANGÈRE. Madame, Honnoré de vos
bienfaits dès ma plus tendre jeuneße … S. SIMON ». Gustafson/Fuller, S. 220–222.
Bei den Maîtres pour l’orgue et le clavecin ist keine einzige Frau genannt, sie stehen in
einem eigenen Verzeichnis als Maîtreßes pour le même Instrument mit den Maîtres
pour le Clavecin. Interessanterweise nennt Pradel auch keine einzige Gesangslehrerin.
Siehe dazu Viano, S. 131.
Julie Candeille und Marie-Emmanuelle Bayon werden zwar in einigen Verzeichnissen
genannt, da ihre Lehrtätigkeit jedoch in einen anderen Zeitraum fällt, sind sie hier nicht
aufgeführt.
Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a
cordes et a clavier. Clavecin & Forte-Piano218)
lle
M Blondel (AM 1777-1779; CM 1788, 1789 – Maîtres de clavecin et piano-forte;
Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a
cordes et a clavier. Clavecin & Forte-Piano)
Mlle Chéron (AM 1775-1779 – Organistes des églises de Paris, Hôpitaux; AM 17751777 – Maîtres de clavecin et piano-forte)
Élisabeth-Antoinette Couperin, geb. Blanchet (AM 1775 – Maîtres de clavecin et
piano-forte)
Mlle Descarsins (CM 1778, 1789 – Maîtres de harpe)
Mme Goërmans (AM 1778, 1779 – Maîtres de chant ou musique vocale, Maîtres de
clavecin et piano-forte, Maîtres de harpe)
Mlle Karr (CM 1788, 1789 – Maîtres de clavecin ou forte-piano)
Mlle Lacour (AM 1775-1779 – Maîtres de clavecin et piano-forte219; Tablettes 1785
– Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes et a
clavier. Clavecin & Forte-Piano)
Mlle Lafond (AM 1775-1779; CM 1788, 1789 – Maîtres de harpe; Tablettes 1785 –
Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes pincées.
Pour la Harpe)
Mlle Lairet (AM 1775-1779 – Organistes des eglises de Paris, Chapitres et Paroisses;
AM 1775, 1776; CM 1788, 1789 – Maîtres de clavecin et piano-forte; Tablettes
1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes et a
clavier. Clavecin & Forte-Piano)
Marie-Madeleine-Claude Leduc, geb. Henry (AM 1776 – Maîtres de harpe; AM
1777-1779, 1783 – Auteurs ou Compositeurs de Musique; AM 1777-1779 –
Maîtres de harpe; Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres
d’instrumens a cordes pincées. Pour la Harpe)
Mme Miroir (AM 1777-1779 – Maîtres de chant ou musique vocale; AM 1777-1779 –
Maîtres de clavecin et piano-forte)
Mlle Noblet (AM 1775-1779, 1783 – Organistes des eglises de Paris, Chapitres et Paroisses; AM 1775-1779 – Maîtres de clavecin et piano-forte; Tablettes 1785 –
Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes et a clavier.
Clavecin & Forte-Piano)
Mlle Offroy (AM 1776-1779, 1783 – Organistes des eglises de Paris, couvens de femmes; AM 1776-1779 – Maîtres de clavecin et piano-forte; Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes et a clavier. Clavecin & Forte-Piano220)
Mlle Olivier (AM 1775-1779, 1783 – Organistes des eglises de Paris, Chapitres et
Paroisses; AM 1775-1779 – Maîtres de clavecin et piano-forte; Tablettes 1785 –
Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes et a clavier.
Clavecin & Forte-Piano)
218
219
220
Schreibweise in AM « Berthau », in Tablettes 1785 « Berthaud ».
Die Schreibweise schwankt zwischen « Mlle la Cour » (Jahrgänge 1775-1777) und
« Mlle Lacour » in den Jahren 1778 und 1779.
Hier « Osfroy ».
75
Mme de Paris (Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres
d’instrumens a cordes et a clavier. Clavecin & Forte-Piano)
Mlle Poirier (AM 1778, 1779 – Maîtres de chant ou musique vocal; AM 1778, 1779;
CM 1788, 1789 – Maîtres de clavecin et piano-forte; Tablettes 1785 –
Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes et a clavier.
Clavecin & Forte-Piano)
Mlle Pourvoyeur (AM 1775 – Organistes des eglises de Paris, Couvens de Femmes;
AM 1775 – Maîtres de clavecin et piano-forte)
Mme Raimond (AM 1776-1779 – Maîtres de chant ou musique vocale; AM 1776-1779
– Maîtres de harpe; Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et
Maîtres d’instrumens a cordes pincées. Pour la Harpe)
Genovieffa Ravissa (AM 1778, 1779 – Ankündigungen neuer Claviersonaten; Auteurs ou Compositeurs de musique, Maîtres de chant ou musique vocale, Maîtres
de gout italien und Maîtres de clavecin et piano-forte; AM 1783 – Auteurs ou compositeurs de musique; Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et
Maîtres d’instrumens a cordes et a clavier. Clavecin & Forte-Piano)
Mme Roussel (Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres
d’instrumens a cordes pincées. Pour la Harpe)
Mlle de Saint-Marcel (AM 1777-1779 – Maîtres de harpe; AM 1778, 1779 – Maîtres
de chant ou musique vocal; AM 1778, 1779 – Maîtres de clavecin et piano-forte;
AM 1778 – Maîtres de guitarre; Tablettes 1785221 – Compositeurs, Virtuoses,
Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes pincées. Pour la Harpe)
Mlle Simon (AM 1779 – Maîtres de clavecin et piano-forte; Tablettes 1785 – Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes pincées. Pour la
Harpe)
Mlle Virion (AM 1776-1779 – Maîtres de clavecin et de forte piano)
1.
Die Dauer der Unterrichtstätigkeit
Die Dauer der Unterrichtstätigkeit kann nur für die 1770er und 1780er Jahre
bewertet werden, da mit Pradel 1692 nur ein Adressverzeichnis aus dem 17.
Jahrhundert vorliegt. Einzig die Biografie Élisabeth-Claude Jacquet de la
Guerres bietet ausführlichere Informationen über das Leben und die verschiedenen Wohnungen dieser Lehrerin, über ihre vier Kolleginnen gibt es keine weiteren Zeugnisse.
In den 1770er und 1780er Jahren, in denen die Almanache und Verzeichnisse in großer zeitlicher Dichte veröffentlicht wurden, sind genauere Aussagen
über den Zeitraum der Unterrichtstätigkeit möglich. Wenige Lehrerinnen werden nur in einem Jahrgang genannt: Mme Couperin und Mlle Pourvoyeur (beide
in AM 1775), Mme de Paris und Mme Roussel (beide in Tablettes 1785). Ausschließlich in den letzten Jahrgängen (CM 1788 und 1789) sind Mlle Descarsins
als Harfenlehrerin sowie Mlle Karr und Mme Beauvallon als Lehrerinnen für
Cembalo und Pianoforte angegeben. Mlle Virion und Mme Raimond sind nur in
den Jahren 1776 bis 1779 genannt, Mme Miroir von 1777 bis 1779, Mme Goër-
221
Hier nur « Saint Marcel ».
76
mans nur in den Jahren 1778 und 1779 und Genovieffa Ravissa 1778, 1779 und
1785. Bei den übrigen Lehrerinnen scheint sich die musikalische Tätigkeit auf
große Teile des betrachteten Zeitraums erstreckt zu haben.
Dabei fällt auf, dass im Falle der Organistinnen in einigen Jahrgängen entweder die Tätigkeit als Lehrerin oder die als Organistin erwähnt wird. Dies betrifft Mlle Offroy (als Clavierlehrerin 1777–1779 und 1785 genannt, als Organistin 1776–1779 und 1783), Mlle Olivier (nur als Organistin und nicht wie
sonst auch als Lehrerin in den Jahren 1783 und 1785 genannt222; hier könnte eine Verlagerung der musikalischen Tätigkeit stattgefunden haben), Mlle Bertaud
(als Clavierlehrerin 1775–1779, 1785, 1788 und 1789, als Organistin 1775–
1779 und 1783 genannt), Mlle Noblet, die wie vermutlich ihr Vater lange Jahre
Organistin an den Kirchen La Madeleine und Saint Opportune war (hier fehlt
die Angabe über die Clavierstunden im Jahr 1783223), und Mlle Chéron, deren
Tätigkeit als Clavierlehrerin von 1775 bis 1777 reichte, diejenige als Organistin
aber noch weiter fortgesetzt wurde.
Etwas anders liegt der Fall bei Mme Leduc: Die Almanache der Jahre 1777,
1778 und 1779 nennen sie sowohl als Harfenlehrerin als auch als Komponistin.
Letztere Tätigkeit wird auch noch im Jahre 1783 genannt, während AM 1775
und Tablettes 1785 sie nur als Harfenlehrerin verzeichnen. All diese Beispiele
zeigen, dass die Angaben in den Adressverzeichnissen offenbar nicht immer
vollständig sind. Die Art des Eintrags hing vermutlich stark vom Bekanntheitsgrad der Lehrerin und der Werbung (in eigener Person, durch Verwandte oder
Bekannte) ab.
Dass Unterrichtsangebote in Form von Anzeigen durchaus ein übliches
und Erfolg versprechendes Verfahren gewesen zu sein scheinen, zeigt ein Beispiel aus Liège: Hier taucht im Jahr 1769 eine Mme Bierthe224 auf, über welche
zunächst in der Gazette de Liège vom 11. November 1769 zu lesen war, dass
„Dilettantinnen informiert werden, dass Mme Bierthe, Komponistin und berühmte Instrumentalistin auf Theorbe, Laute, Mandoline, polnischer und italienischer Gitarre, für welche sie einige Stücke komponiert und außerdem Prinzipien, welche das leichte Erlernen des Spiels dieses Instrumentes wie der Cister225 ermöglichen sollen, außerdem Symphonien, Trios, Duos und Solos für die
Violine schrieb, eine zehnjährige Tochter hat, welche überraschende Schwie-
222
223
224
225
Gerber LEX nennt um 1750 einen Mr Olivier als Organisten zu Paris, der „daselbst um
diese Zeit wegen seiner vorzüglichen Kunst berühmt“ war – möglicherweise ihr Vater
oder Bruder.
Unter www.musicaetmemoria. Les femmes et la musique ist 1769 bereits eine Mlle Noblet als Organistin genannt.
Auch « Berthe ».
Ein französisches Zupfinstrument.
77
rigkeiten auf der Laute und der Mandoline gemeistert hat“.226 Vom 18. September 1770 stammt der Hinweis auf ihren (heute verschollenen) Catéchisme musical ou amplification de la musique, dédié à cet illustre chapitre [de la cathedrale de Liège] par Mme Berthe, musicienne.227 Fast genau sechs Jahre nach
dem ersten Eintrag in der Gazette de Liège, am 10. November 1775, war in derselben Zeitung zu lesen, dass Mme Bierthe, geborene Offhuis die Erlaubnis erhalten habe, zusammen mit ihrer Tochter ein Lautenkonzert zu geben. Außerdem bot sie hier erneut Stunden an.228
2.
Die Unterrichtsfächer
Alle fünf bei Pradel 1692 genannten Lehrerinnen unterrichteten auf einem einzigen Instrumententyp, dem Cembalo, sie erschienen unter der Abteilung der
Maîtres bzw. Maîtreßes pour le clavecin. Dies ändert sich im 18. Jahrhundert:
Mehrere Kombinationen treten auf, die nicht immer im gesamten Zeitraum
konstant genannt sind. Ob dies die Realität widerspiegelt oder eher willkürlich
geschah, ist nicht nachzuvollziehen.
Sieben Lehrerinnen unterrichteten ausschließlich Clavierinstrumente, weitere sieben waren gleichzeitig Organistinnen. Die Kombination Clavier, Harfe
und Gesang wird zweimal genannt (wobei einmal die Gitarre in einem Jahrgang
dazukommt), Clavier und Gesang viermal (davon zweimal mit Unterricht im
Goût de Chant, einmal Chant Italien) und Harfe in Kombination mit Gesang
einmal. Nur auf der Harfe unterrichten vier Frauen.
Die Kombination mit Gesangsunterricht, der bei fast zwei Dritteln der
Lehrerinnen genannt ist, verwundert nicht angesichts der beruflichen Möglichkeiten, die der Gesang einer Frau schon lange bot und des Stellenwertes, den er
allgemein einnahm. Von einigen dieser Lehrerinnen sind außerdem Auftritte als
Sängerin bekannt: Genovieffa Ravissa sang am 25. März 1778 im Concert Spirituel zwei Arien. Michel Brenet nennt unter den Harfenistinnen des Concert
spirituel im Jahr 1786 zwei Schwestern Descarsins.229 Die beiden, mit Vornamen Caroline und Sophie, hatten nicht nur in dieser Konzertreihe gesungen und
sich dabei auf der Harfe begleitet, sondern auch am 26. Februar 1784, am 10.
Mai 1786 und am 15. Februar 1789 im Saal der Tuilerien und des Panthéon
226
« Les dames amateurs sont averties que Mme De Bierthe, componiste et célèbre joueur
de Théorbe et de Luth, Mandoline et Guitare Polonaise et Italienne, pour lesquels elle a
composé des pièces et des principes pour les apprendre facilement à jouer, et aussi pour
le Sistre, compose des Symphonies, Trio, Duo et Solo pour e violon, etc., ayant une petite fille de dix ans qui fait des difficultés surprenantes sur le Luth et la Mandoline. »
Gazette de Liège, 11. 11. 1769, zitiert nach Auda, S. 269, Übers.: C. S.
Archives de l’Etat à Liège. Reg. K 61, f° 354. Conseil privé, dépêches 1768–78. Auda,
S. 269.
Gazette de Liège, 10. 11. 1775, siehe Auda, S. 269.
Brenet-Concert, S. 346.
227
228
229
78
konzertiert.230 Man wird davon ausgehen können, dass es sich bei der in CM
1788 und 1789 genannten Mlle Descarsins um Caroline oder Sophie handelte.
Gerber nennt eine Mlle Saint-Marcel. Sie war „erste Sängerin des Conzerts zu
Lille in Flandern im Jahr 1768, stand vorher als Sängerin in Diensten des Prinzen von Conti zu Paris, und hat sich in dasigem Conzert spirituel öfters mit
Beyfalle hören lassen“231 – möglicherweise handelt es sich um die von 1777 bis
1785 in Paris Verzeichnete.
Dass die Kombination verschiedener Unterrichtsfächer im 18. Jahrhundert
gang und gäbe war, zeigen auch die Titelblätter einer weiteren Instrumentallehrerin, der Violinistin Élisabeth de Haulteterre, verheiratete Levèsque. Die Angaben auf der Titelseite ihrer Deuxième recueil d’airs choisies mit Harfenakkompagnement und eines früher erschienenen Bandes, Recueil de chansons,
lassen vermuten, dass „Madame Lévesque, früher Mademoiselle de Haulteterre“ Unterrichtsstunden im Violin- und Harfenspiel sowie im Gesang erteilte.232
3.
Attribute, welche die lehrende Person beschreiben
Einigen Lehrerinnen sind Attribute angefügt, die entweder ihr spielerisches und
erzieherisches Können beschreiben oder sie als Komponistinnen hervorheben.
Besonders häufig sind diese Beschreibungen in Tablettes 1785 anzutreffen. So
heißt es hier von Mme de Paris und von Genovieffa Ravissa, sie seien „ausgezeichnete“ Lehrerinnen. Mlle Lafond ist berühmt für ihr Harfenspiel und ihre
Fähigkeit, dieses Instrument zu unterrichten. Eine weitere Möglichkeit besteht
in der Hervorhebung eigener Kompositionen, wie etwa bei Mme Roussel, die
„zahlreiche Airs mit und ohne Akkompagnement“ geschrieben hat. Als Komponistinnen sind ferner Genovieffa Ravissa, Marie-Madeleine-Claude Leduc
und Madame Raimond genannt.
4.
Das familiäre Umfeld der Lehrerinnen
Bei Pradel 1692 fällt auf, dass drei von fünf Frauen, entweder weil sie verheiratet oder verwitwet waren, oder aus anderen Gründen (z. B. Alter?) als Madame bezeichnet sind. Die beiden Mlles Le Tellier233 und Rebours lebten in derselben Gegend (fauxbourg saint Germain). Der Name Élisabeth-Claude Jacquet
de la Guerres steht nicht zusammen mit denen ihrer Kolleginnen in der Sparte
230
Brenet-Concert, S. 374 führt A. Tuetey, Répertoire général des sources manuscrites de
l’histoire de Paris pendant la Révolution, Bd. III, S. 109 als Quelle an.
Gerber NL. Weitere Nachforschungen in den genannten Städten blieben leider erfolglos.
Grove 2001.
Die Mutter von Marie Rose Dubois, verh. Forqueray war eine geborene Le Tellier, vgl.
Benoit-Dufourcq.
231
232
233
79
der Maîtreßes pour le clavecin, sondern ist gemeinsam mit ihrem Mann Marin
de la Guerre aufgezählt: „de la Guerre & Jacquet“.
Bei Betrachtung der übrigen Lehrerinnen fällt auf, dass mit neun Madames und 16 Mademoiselles Letztere bei weitem in der Überzahl sind. Bei Mme
Leduc wird besonders in den ersten Jahrgängen zusätzlich ihr Geburtsname
Henry genannt (« ci-devant Mlle Henry »), was eventuell darauf schließen lässt,
dass sie bereits in früheren Jahren, sei es als Lehrerin, Komponistin oder Instrumentalistin, bekannt war. Dies passt zu dem Bild, das sich bei den ausübenden
und konzertierenden Pariser Musikerinnen abzeichnet: Mme Mondonville, Mme
Forqueray, Mme Rameau, Mme Gossec – sie alle waren verheiratet und setzten
oft gerade im Zusammenhang mit ihrem Mann ihre Karriere fort.
Interessant ist die Nennung weiterer Personen gleichen Nachnamens, wobei es sich um Ehemänner der mit „Madame“ bezeichneten Frauen und um Väter oder Brüder der „Mademoiselles“ handeln könnte. Auffällig ist diese Verbindung besonders bei Mlle Offroy (unter dem Namen [Mr] Offroy steht in einer
neuen Zeile Mlle Offroy mit Adresse), Mme Goërmans, Mme Couperin und Mme
Miroir (bei diesen dreien sind die Namen Couperin, Mad. Couperin, Couperin
fils, Goërmans, Mad. Goërmans und Miroir l’aîné, Mad. Miroir jeweils durch
ein Komma getrennt. Eine Klammer fasst sie deutlich unter derselben Adresse
zusammen.) Doch es gibt noch weitere mögliche Verwandtschaftsbeziehungen,
welche nun etwas genauer erörtert werden sollen:
Bei Monsieur und Madame Goërmans dürfte es sich um den Cembalisten
Jean Goërmans den Jüngeren234 und seine Frau handeln. 1778 scheint die Familie in die angegebene Wohnung in der Rue de Limoges gezogen zu sein, wo
auch ein Geschäft für Cembali und Harfen – nicht von ungefähr die Instrumente, welche beide unterrichteten – seinen Standort hatte.235 Jean Goërmans ist bereits ab 1776 als Clavier- und Harfenlehrer verzeichnet und scheint mehrfach
umgezogen zu sein, wohnte aber immer im Hause eines Mr Goujon. Beide Eheleute unterrichteten offenbar nur noch in den ersten Jahren nach ihrem Umzug
in die Rue de Limoges.
Neben Mlle Lairet nennen die Almanache der Jahre 1777 bis 1779 unter
den Maîtres de clavecin ou piano-forte auch einen Mr Lairet. Mlle Lairet, über
einen langen Zeitraum hin als Organistin bekannt, ist in den Jahren 1778 und
1779 als Lehrerin unter derselben Spalte wie ihr möglicher Verwandter verzeichnet.
Zu Mme Miroir gibt es eine zahlreiche zu nennende Verwandtschaft – ihr
Mann Miroir l’aîné und ihre beiden Schwager, Miroir le jeune und Miroir le
cadet. Bereits 1775 sind alle drei Brüder als Lehrer für Cembalo/Pianoforte genannt, die beiden älteren außerdem als Organisten. Ähnlich sieht es 1776 aus.
Möglicherweise fand 1776 oder 1777 die Hochzeit von Mr Miroir l’aîné statt,
234
235
80
Boalch, S. 742.
Boalch, S. 72.
denn 1777 gesellt sich für drei nachvollziehbare Jahre Mme Miroir zu den drei
Herren. 1783 ist nur noch ihr Mann als Organist genannt, dessen besondere
künstlerische Fähigkeiten Fétis236 und Gerber237 hervorheben. Er besetzte zahlreiche Organistenstellen, z. B. die an St-Germain des Prés.
Monsieur und Mademoiselle Offroy, Vater und Tochter oder Bruder und
Schwester, werden in einer Sparte als Clavierlehrer und -lehrerin genannt. Beide lebten wahrscheinlich gemeinsam bei den Hospitalieres in der Rue Mouffetard, wo Mlle Offroy auch den Organistendienst versah. Mr Offroy dagegen war
bis 1778 Organist an St. Hilaire (und teilweise auch noch an einigen kleineren
Kirchen). Danach verschwindet sein Name gänzlich aus den Verzeichnissen.
Einen Mr Saint-Marcel nennt Tablettes 1785 unter den Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes et a clavier. Clavecin &
Forte-Piano in der Rue Haute-des-Ursins, derselben Adresse, unter der auch
Mlle Saint-Marcel in diesem Jahr erscheint. Möglicherweise traf ihr Vater oder
ein Bruder zu diesem Zeitpunkt (aus Lille?) in Paris ein.
Unklar ist, ob sich unter den Herren mit Namen Paris ein Verwandter der
Mme de Paris befindet. Da die Nennungsjahre nicht übereinstimmen, ergibt auch
ein Adressenvergleich keinen zuverlässigen Rückschluss (keine Adresse stimmt
überein). Es gibt den Instrumentenbauer Claude Paris (in der Rue du Roule in
AM 1775, in der Rue Saint-Honoré 1776 und 1783) und einen Mr de Paris in
der Rue Montorgueil, der 1776 bis 1777 Gesang und Violine, anschließend
1778 und 1779 nur noch Gesang unterrichtete. 1779 ist er unter einer neuen
Adresse in der Rue des Lavendières Sainte Opportune verzeichnet.
Auch Marie-Madeleine-Claude Leduc war mit einem Kollegen, nämlich
dem Musiker und Musikverleger Pierre Leduc verheiratet. Sie, die Harfenlehrerin, schrieb Harfenbegleitungen zu den Airs, die ihr Mann 1782 in dem von ihm
herausgegebenen Journal de Harpe veröffentlichte.238 Nach der Hochzeit, die
zwischen Juni 1775 und Anfang des Jahres 1776 stattfand239, zog die Familie
im August 1776 in die Rue Traviersière-S.-Honoré, „zwischen das Hôtel de Bar
und das Hôtel de Bayonne“240, wo sie bis 1785 wohnte. An gleicher Adresse
war auch Mr Henry, der Schwiegervater Pierre Leducs, der ebenfalls als Musikverleger tätig war, zu finden. Das junge Ehepaar war also in das Haus des Vaters der Harfenistin Marie-Madeleine-Claude Leduc, geborene Henry, eingezogen.
Die zahlreichen hier und an anderen Stellen erkennbaren verwandtschaftlichen Beziehungen machen deutlich, dass ein Großteil der Lehrerinnen aus Musikerfamilien (oder Familien, die etwa als Verleger oder Instrumentenbauer an236
237
238
239
240
Fétis.
Gerber NL.
Grove 2001.
Devriès, S. 201.
Annonces, Affiches et Avis divers vom 1776, S. 820, hier nach Devriès, S. 201.
81
derweitig mit Musik zu tun hatten), stammten. Dies bestätigen auch die Beispiele der bereits in anderen Zusammenhängen genannten Musikerinnen wie
der Organistentochter Henriette-Angélique Houssu, verheiratete Forqueray, die
Tochter des Instrumentenbauers Blanchet, Élisabeth-Antoinette, verheiratete
Couperin oder Marie-Louise Mangot, die Frau Jean-Philippe Rameaus, die
ebenfalls aus einer Musikerfamilie stammte. Die Musikerinnen befanden sich
in einem abgesicherten sozialen Netzwerk, innerhalb dessen sie sich bewegten
und die Möglichkeiten ausnutzten, die sich ihnen darin boten. Dies erklärt die
große Präsenz hervorragender Künstlerinnen im Pariser Leben, aber auch die
zahlreichen Berufskombinationen, die den Musikerfamilien den Lebensunterhalt sicherten.
5.
Pensionen
Wie anstrengend und schwierig das Leben als Clavierlehrer in Paris war, beschreibt Friedrich Melchior von Grimm in einem an Leopold Mozart gerichteten Brief vom 27. Juli 1778: „Um hier durchzudringen, muß man schlau sein,
unternehmungslustig, wagemutig. Ich wünschte ihm [W. A. Mozart] für sein
Schicksal halb soviel Talent, aber dafür doppelt soviel Gewandtheit, und ich
wäre nicht besorgt um ihn. Es gibt hier nur zwei Wege für ihn, sich durchzuschlagen. Der erste heißt: Klavierstunden geben. Abgesehen davon, daß man
sehr geschäftig, ja geradezu ein Scharlatan sein muß, um Schüler zu bekommen, weiß ich nicht, ob er gesund genug ist, diesen Beruf auszuhalten, denn es
ist sehr ermüdend, von einem Ende zum anderen in Paris zu laufen und sich dabei in einem fort in Szene zu setzen.“241 Die Wege waren weit in Paris: „Da Paris eine ganze Welt für sich ist, hätte man oft eher dreißig Meilen zurückgelegt,
als jemanden in einem bestimmten Quartier ausfindig gemacht“, so Mercier.242
Gerade das Reisen von Haus zu Haus war für Frauen noch weit aufwendiger als
für Männer. Hauptbeförderungsmittel waren, wenn man nicht sowieso zu Fuß
ging, Pferde und Maulesel. Besaß man die Mittel, sich tragen oder fahren zu
lassen, war auch dies nicht gefahrlos, wenn man Mercier glaubt, der berichtet:
„Die Kastensänfte auf zwei Rädern kippt selten um; aber selbst wenn eine umkippt, die Holme in die Höhe, und eine herausgeputzte junge Dame sich im Innern befindet: man stelle sich ihre Lage vor! Sie muß gewissermaßen in Ohnmacht fallen, um ihre Verwirrung zu verbergen und nicht die Bemerkungen zu
hören, die die Umstehenden machen.“243 Kleine leichte Luxuswagen wurden
unter Louis XV. Mode. Sie wurden von einem Pferd gezogen und waren äußerst schnell. Die öffentlichen Kutschen verschwanden während der Revoluti-
241
Fr. M. v. Grimm am 27. 7 1778 aus Paris an L. Mozart, in: Mozart DL, S. 109 (im Original frz.).
Mercier, S. 83.
Mercier, S. 100.
242
243
82
onszeit und machten Platz für die Droschken, von denen es bald an die 800 in
Paris gab.244
Bürgersteige gab es entlang der Straßen, abgesehen vom Pont Neuf und
dem Pont Royal nicht – das erste Trottoir wurde 1779 in der Rue de l’Odéon
gebaut, 1784 und 1786 folgten zwei weitere. Wer zu Fuß ging, musste sich zwischen den Fuhrwerken hindurchschlängeln.245 Abends waren um 1700 die Straßen durch an den Häusern mittels einer Schnur und Rolle befestigte Laternen
beleuchtet. Das Anzünden der Kerzen in den Laternen oblag den Hauseigentümern. Vergaßen diese es oder blies der Wind die Lichter aus, so konnte eine
ganze Straße im Dunkeln liegen. Im Jahr 1729 gab es in Paris 5772 Laternen
dieser Art. 1745 wurden Straßenlaternen erfunden, in denen das Talglicht durch
Öl ersetzt wurde. 1763 testete man diese Art der Beleuchtung in einer Nobelstraße, der Rue Dauphine. Sechs Jahre später war das System in ganz Paris
etabliert: Die Laternen hingen nun nicht mehr an den Häusern, sondern standen
im Abstand von 60 Metern voneinander und gaben ihr Licht in einer Höhe von
fünf Metern in der Mitte der Straße ab. Mehr als ein Schummerlicht ergab diese
Beleuchtung allerdings auch nicht.246 Selbst per Kutsche müssen die Wege im
Dunkeln, im Winter, bei Kälte, Schnee und Regen auf diesen Straßen unangenehm und beschwerlich gewesen sein.
Vielleicht waren es diese fortdauernden Anstrengungen, die einige Frauen bewogen, nach alternativen Unterrichtsformen zu suchen. So annoncierten zwei
Lehrerinnen, dass sie Schülerinnen in Pension aufnähmen: Mlle Blondel und
Mlle Simon. Die Anzeigen lauten übersetzt folgendermaßen:
„Mlle Blondel, Rue aux Fers, an der Tête noire. Sie nimmt junge Mädchen
in Pension oder Halbpension, um sie im Cembalospiel zu unterrichten und veranstaltet jeden Samstag ein kleines Schülerinnenkonzert.“ Diese Annonce erschien in AM 1778 und 1779.247
„Mlle Simon, Cul de sac de Rouen im Quartier S. André des Arts. Sie
nimmt junge Mädchen in Pension und lehrt sie den Gesang und das Spiel auf
Cembalo und Harfe. Sie sorgt für Lehrer im Lesen, im Schreiben, der Geschichte und der Geografie. Den Winter verbringt sie in Paris, den Sommer auf
dem Land. Preis: 800 Livres.“248 Auch Tablettes 1785 weist auf Mlle Simon hin,
244
245
246
247
248
Hillairet Bd. 1, S. 44–45.
Hillairet Bd. 1, S. 39.
Hillairet Bd. 1, S. 22.
« Mlle Blondel, rue aux Fers, à la tête noire. Elle prend de jeunes demoiselles en pension ou demi pension pour leur enseigner le Clavecin, & fait tous les samedis un petit
concert pour exercer ses écolieres. » AM 1778, S. 172 und 1779, S. 182, Übers.: C. S.
« Mlle Simon, cul de sac de Rouen, quartier S. André des Arts. Elle prend de jeunes
Demoiselles en pension, leur enseigne la musique vocale, le clavecin, la harpe, & leur
83
welche junge Mädchen in Pension nähme und sie den Gesang sowie das Harfen- und Cembalospiel lehre. Genannt ist dieselbe Adresse in der Cul-de-sac de
Rouen.249
Eine ähnliche Anzeige erschien im Jahr 1770 in den Annonces, Affiches et
Avis divers. Hier heißt es, dass Mlle Ecambourt das Spiel auf Cembalo, Gitarre,
Leier und das Singen unterrichte. Die Instruktion war für Mädchen bestimmt,
der Preis betrug jährlich 200 Livres zuzüglich Pensionskosten. „Wer mehrere
Instrumente erlernen möchte, zahlt für jedes [weitere] 50 Livres. Instrumente
und Noten werden gestellt.“250
Die Möglichkeit, Töchter zur musikalischen oder allgemein zur Unterweisung,
wie sie bei Mlle Simon angeboten wurde, in Pension zu geben, scheint eine für
Eltern interessante Variante gewesen zu sein: In der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts gewannen Privatpensionen neben den Klosterinternaten und den
öffentlichen Schulen immer mehr an Bedeutung. Immerhin wiesen diese Institute eine größere Ähnlichkeit mit der Erziehung durch Gouvernanten und Erzieherinnen zu Hause auf, als es bei den öffentlichen Schulen der Fall war. Und
so erschienen in einem Zeitraum von 15 Jahren mindestens fünf dieser Anzeigen zu musikalisch ausgerichteten Pensionen. Dabei bestand die Pension von
Mlle Simon mindestens sechs Jahre lang (1779–1785), sie scheint sich also eines guten Rufes erfreut und sich finanziell rentiert zu haben. Gerade das finanzielle Risiko dürfte ja bei einer Pensionsgründung erheblich über demjenigen
gelegen haben, dem allgemein alle Unterrichtenden ausgesetzt waren. Mieten
waren laut Mercier vierteljährlich fällig, und zwar jeweils zum 8. Januar, April,
Juli und Oktober. Dabei gab es kein Erbarmen mit Zahlungsunfähigen: „Mit
der Putzmacherin, die ja schon an dem, was sie euch verkauft, das Doppelte
verdient, kann man sich einig werden, wenn man ihr nur die Hälfte bezahlt. Mit
seinem Perückenmacher kann man sich verständigen; er weiß sehr wohl und
heißt es auch gut, daß er als letzter der Gläubiger sein Geld bekommt. Mit dem
Limonadenhändler setzt man sich ins Benehmen; dessen Kellner erzählt euch
von der Rechnung seines Bourgeois und spricht nicht mehr davon, wenn man
249
250
84
fournit des Maîtres à lire, à écrire, d’histoire & de géographie. Elle passe l’hiver à
Paris, & l’été aux environs: prix 800 livres. » AM 1779, S. 188, Übers.: C. S.
« Simon (Mademoiselle), prend de jeunes Demoiselles en pension & leur enseigne la
Musique Vocale, la Harpe & le Clavecin. Cul-de sac de Rouen. » Tablettes 1785, Compositeurs, Virtuoses, Amateurs et Maîtres d’instrumens a cordes pincées. Pour la Harpe.
« Mlle Ecambourt enseigne elle-même à toucher le clavecin, à pincer la Guittare, à
jouer de la vielle et à chanter. Les Parens qui désireront faire apprendre à leurs filles
l'un de ces quatre instrumens, et la Musique vocale, payeront par an 200 livres outre la
pension, et ceux qui voudront réunir plusieurs instrumens, payeront 50 livres pour chacun. On fournira graduitement aux Élèves les Instrumens et la Musique. » Annonces,
Affiches et Avis divers 19. 9. 1770, nach Vilcosqui, S. 201.
ihn überzeugt, daß er unbedingt die ,Variétés amusantes’ besuchen müsse, und
ihm dafür dreißig Sous gibt. [...] Mit seinem Krämer einigt man sich, mit dem
Fleischer, mit dem Schneider, ja sogar mit einem Juden; aber mit seinem
Hauptmieter nicht. Ja, wenn ihr ihm nicht alle drei Monate sein Geld am Achten gebt, kommt er am nächsten Tag um sieben Uhr morgens und sagt: ,Heute
ist der Neunte, und hier ist meine Quittung.’ Zögert ihr, fügt er hinzu: ,Zuallererst bezahlt man hier seine Miete.’“251
Alle drei genannten Pensionen wurden von Mademoiselles geleitet, deren
jede auf eine bestimmte Eigenart ihres Instituts in dem Anzeigentext hinweist:
Mlle Blondel veranstaltete jeden Samstag kleine Konzerte, in denen ihre Schülerinnen auftraten. Von einer Frau ihres Namens existieren auch einige kleinere
Kompositionen, möglicherweise Literatur, die eigens für diese Gelegenheiten
komponierte wurde.252 Mlle Simon sorgte neben den musikalischen Fächern für
Unterricht im Lesen und Schreiben, in Geografie und Geschichte. Außerdem
verbrachte sie den Sommer auf dem Lande. Dies trug den neuen Vorstellungen
von Hygiene und Naturverbundenheit Rechnung. Mlle Ecambourt schließlich
lehrte einerseits auch das Modeinstrument Gitarre, andererseits gab es hier eine
genaue Preisstaffel: 200 Livres im Jahr kostete der Unterricht in einem Instrument und Gesang, dazu kamen die Unterbringungskosten. Jedes weitere Instrument kostete nur 50 Livres, Instrumentarium und Noten waren frei. Da bei Mlle
Blondel die Möglichkeit zur Halbpension bestand, muss es auch hier eine Preisstaffelung gegeben haben. Zum Vergleich: Anton Bemetzrieder erhielt für den
Unterricht, den er Angélique, der Tochter Denis Diderots erteilte, 500 Livres
jährlich, außerdem freie Mahlzeiten im Hause Diderot.
Leider sind diese Angaben nicht mit dem Pauschalpreis von 800 Livres
pro Jahr, den Mlle Simon nennt, vergleichbar. Trägt man aber den 400 Livres,
welche man für eine Unterkunft bei den Hospitaliers in der Rue Mouffetard zu
zahlen hatte (s. u.), Rechnung, so scheinen sich die Preise in etwa zu entsprechen. Eine ähnliche Angabe gibt es übrigens von einem weiteren (religiösen)
Ausbildungsinstitut für Mädchen in der heutigen Rue des Barres Nr. 12. Seit
1664 war das Haus an die Fille-de-la-Croix vermietet. Die Pensionspreise für
Mädchen, die hier unterwiesen werden sollten, betrugen im Jahr 1779 zwischen
300 und 400 Livres.253 Der Unterricht in einer öffentlichen Privatschule kostete
im 18. Jahrhundert in Paris monatlich 3 Livres und 10 Sols.254
251
252
253
254
Mercier, S. 175-176.
Menuets nouveaux pour le violon, flûte, hautbois, pardessus de viole, violoncelle et
basson avec la basse-continue, ils peuvent aussi se toucher sur le clavecin et sur la
harpe, Paris o. J.
Hillairet Bd. 1, S. 147. Woran die unterschiedlichen Preise geknüpft waren, ist dort leider nicht genannt.
Sonnet, S. 137.
85
Die Notendrucke verschiedener in Paris erschienener Recueils d’airs avec
variations arrangés pour le Clavecin ou forté Piano geben Aufschluss darüber,
in welchem Alter der Eintritt eines Mädchens in eine derartige Pension erfolgen
konnte. Heißt es auf dem Titelblatt von op. 1 und 2 noch, die neunjährige Mlle
Benaut wohne (sicher bei ihrer Familie) in der „Rüe-Neuve St. Martin au
No 64“, so berichten op. 3 und 4, dass die mittlerweile Zehnjährige nunmehr
Pensionärin au Prieuré Royal des Dames de bon Secour sei.255
Auch in einer anderen Schule zur Mädchenausbildung erteilte eine Lehrerin,
Mme Laval, neben sonst ausschließlich männlichen Lehrkräften, Musikunterricht. Es handelt sich um die von 1793 bis 1808 bestehende und bekannte Mädchenschule nach dem Vorbild von Saint-Cyr, die von Jeanne Louise Henriette
Genest, Mme Campan in Saint-Germain-en-laye ins Leben gerufen wurde. Mme
Campan, die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte und durch ihre gute
Bildung und Begabung Zugang zu höheren Gesellschaftskreisen bekommen
hatte, hatte ihre Karriere als Vorleserin in Versailles begonnen, wo sie bald zur
Kammerfrau der Königin Marie-Antoinette aufgestiegen war.256 Als Schulleiterin war sie darauf bedacht, in allen Unterrichtsfächern „die besten“ Lehrpersönlichkeiten anzustellen. Ihr Ziel war es, die ihr anvertrauten Mädchen so gut zu
unterrichten, dass sie in der Lage sein sollten, ihren Lebensunterhalt selbst zu
bestreiten. Dies war im Bereich der Künste einzigartig. Für Musik und Tanz,
Komposition, Chorstunden, Clavier-, Violinunterricht und italienischen Gesang
hatte Mme Campan vortreffliche und berühmte Lehrpersonen gewinnen können.
Mme Laval unterrichtete das Harfenspiel und die Schulleiterin war stolz darauf,
dass sie die Harfenistin hatte bewegen können, aus England, wo sie eine gute
Bezahlung erhalten hatte, angeblich aber über ihre Verhältnisse gelebt hatte,
nach Saint-Germain-en-laye zu kommen.257 Mme de Genlis lobte diese Schule
sehr und meinte, dass es in keinem anderen Land vergleichbare Einrichtungen
gäbe.258
255
256
257
258
86
Recueil d’airs avec variations arrangés pour le Clavecin ou forté Piano, œuvre 1, Paris
S. d.; Recueil d’airs avec variations arrangés pour le Clavecin ou forté Piano, œuvre 2,
Paris S. d.; Recueil d’airs avec variations arrangés pour le Clavecin ou forté Piano,
œuvre 3, Paris S. d.; Recueil d’airs avec variations arrangés pour le Clavecin ou forté
Piano, œuvre 4, Paris S. d.; alle vier Drucke in BNF, Signatur Vm7 5954.
Irene Hardach-Pinke, Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs, Frankfurt/
Main 1993, S. 66.
Quintana nennt auf S. 243 zwei professionelle Malerinnen (Mlle. Godefroy und Julie
Duvidal de Montferrier), eine Novellistin (Jenny Bastide, Pseudonym: Camille Bodin)
und zwei Erzieherinnen, die beide eigene Schulen gründeten (Fanny Kestner und
Harriet Preble), aber keine professionelle Musikerin.
GenlisDis, S. 94.
6.
Wohnorte und Adressänderungen
Bei einem Versuch, die Adressangaben der Lehrerinnen in Pariser Stadtpläne
unterschiedlicher Jahren einzutragen, stellte sich heraus, dass gegen Ende des
17. Jahrhunderts die fünf bekannten Lehrerinnen noch verstreut in der Stadt im
heutigen 1. und 2. Arrondissement und dem Vorort Faubourg Saint-Germain
lebten. Knapp 100 Jahre später konzentrierten sich die Lehrerinnen auf den
Kernbereich der Stadt, vorwiegend die Arrondissements 1 (hier waren es immerhin 6 Lehrerinnen), 4, 5 und 6. Sie lebten in der Regel in relativ großer Nähe zur Seine und damit einerseits zum Königshof, andererseits zu den Vierteln,
in denen das reiche Bürgertum zu finden war.
Paris im Jahre 1760259
Organistinnen lebten oft in der Nähe der Kirche, an welcher sie die Orgel
spielten. Dies hatte sicher praktische Gründe, fanden Messen doch meist mehrmals täglich statt. Vielleicht handelte es sich in dem einen oder anderen Fall sogar um eine ‚Dienstwohnung’.Wohnungswechsel fanden eher selten statt. Sicher war dies allein deshalb ratsam, damit jeder in Paris wissen konnte, wo eine
bestimmte Lehrerin zu finden war. Von den 18 in mindestens zwei Jahrgängen
259
Plan géneral de Paris et des faubourgs de Paris von Robert Vaugondy mit Einteilung
der heutigen Arrondissements. (Cote: Ge DD 2987 (815) BNF, Richelieu Cartes et
Plans Reprod. Sc 87/664.)
87
mit Adressen genannten Lehrerinnen wechselten 13 zwischen 1775 und 1789
überhaupt nicht die Wohnung. Vier zogen einmal um: Mme Leduc zog von der
Rue S. Thomas-du-Louvre im Quartier du Louvre in die Rue Traversière S. Honoré im Quartier du Palais Royal, Mlle Noblet lebte in der Rue des Fourreurs
zunächst au Duc d’Orléans und später à la Picarde. Mme Raimond zog von der
Rue St. Anne im Quartier du Palais Royal in die Rue du Bacq. Genovieffa Ravissa lebte 1777 in der Rue St. André-des Arts, 1778 und 1785 wird sie in der
Rue de la Harpe genannt. Beide Straßen liegen in unmittelbarer Nähe im Quartier St. André.
Nur Mlle de Saint-Marcel wechselte zweimal ihren Wohnsitz. In der Rue
des Carmes im Quartier S. Benoit lebte sie zunächst im Maison de M. Berthau,
anschließend im College de Presle. Von dort zog sie in die Rue Haute-des Ursins im Quartier de la Cité.
Mr Miroir l’aîné wird 1788 und 1789 in der Rue de Tournon genannt. Vermutlich zog auch seine Frau, die in diesen Jahrgängen nicht mehr auftaucht (so
sie zu diesem Zeitpunkt noch lebte) mit ihm um.
Von François Couperin und seiner Familie sind wir über mehrere Wohnungswechsel informiert: Von der zu St. Gervais gehörenden Dienstwohnung
in der Rue Monceau (8. Arrondissement) zog die Familie 1697 in eine eigene
Wohnung in der Rue Saint-François (3. Arrondissement)260, wo sie bis mindestens 1710 blieb. 1713/1714 ist das Domizil in der Rue Saint-Honoré, „aux armes de Burgogne, zwischen dem Palais du Royal und der rue des Bons-Enfants“ zu finden, 1716 an der Ecke der Rue des Fourreurs (1. Arrondissement)261. Ende 1716 zog man in das Quartier Marais in die Rue Poitou (3. Arrondissement), ein weiterer Umzug erfolgte im Jahre 1724. Hier bezog man eine Fünfzimmerwohnung in der Rue Neuve des Bons-Enfants in der Nähe des
Place des Victoire, gegenüber dem Hôtel de Toulouse (1. Arrondissement) 262.
Hier wohnte die Familie auch noch zum Zeitpunkt des Todes François Couperins im Jahre 1733.263 Möglicherweise stiegen mit Erfolg und Bekanntheitsgrad
auch die Bereitwilligkeit und finanziellen Mittel zum Umzug.
7.
Besonderheiten in den Adressangaben
Bis zum Beginn der Revolution gab es an den Pariser Häusern keine Hausnummern. Die Häuser verschiedener Händler trugen bestimmte Erkennungszeichen,
ebenso Gaststätten und Herbergen. Diese Zeichen bestanden aus bemalten und
beschrifteten Blechtafeln von zum Teil riesigen Ausmaßen.264 Um eine Clavier-
260
Heute Rue Debellayne.
Heute Rue des Halles.
Heute Rue Radziwil.
Die Angaben zu den verschiedenen Wohnungen François Couperins finden sich in
MGG 1963.
Hillairet Bd. 1, S. 32.
261
262
263
264
88
lehrerin (oder andere Person) leichter ausfindig machen zu können, wurden einigen Adressangaben Ergänzungen zu den Straßennamen beigefügt. Neben
schlichten Quartier-Angaben – nötig, um ähnliche Straßennamen sicher voneinander zu unterscheiden und 1692 offenbar noch völlig ausreichend – gibt es im
18. Jahrhundert Beschreibungen, die zur Auffindung eines bestimmten Hauses
dienen sollten. So lebte Mlle Descarsins in der Rue Poissonnière, Ecke Rue Bergere. Marie-Madeleine-Claude Leduc war in der Rue Saint Thomas-du-Louvre
gegenüber dem Hôtel de Lancastre zu finden265 und zog von dort in ein Haus
Rue Traversière Saint Honoré zwischen dem Hôtel de Bar und dem Hôtel de
Bayonne, auch als „bei dem Hôtel de Bar“ beschrieben. Mme Miroir lebte Rue
du Four S. Germain, gegenüber dem Hof, auf dem der Markt stattfand. Die alte
Rue du Four begann am Place de l’Abbaye an der Ecke Rue de Buci, Rue de
l’Echaudé, Rue Sainte-Marguerite und Rue des Boucheries. Vermutlich befand
sich das Haus, in welchem Mme Miroir lebte, genau an diesem Platz266.
Mlle Noblet lebte in der Rue Foureurs, im Duc d’Orléans, später à la Picarde. Mit dem Duc d’Orléans dürfte das Hôtel d’Orléans267 gemeint sein. Hier
war seit Ende des 15. Jahrhunderts der Couvent des Filles-Pénitentes ansässig.268 Was mit à la Picarde gemeint ist, ist unklar. Vielleicht ein Haus, in dem
bekannte Leute aus der Picardie ansässig waren? Da diese Adressangabe nicht
zuzuordnen ist, ist auch die Entfernung zwischen den beiden benannten Häusern (so es sich um zwei verschiedene handelte) nicht nachvollziehbar.
Mlle Poirier genoss den Vorzug, in der Rue de la Verrerie im Hôtel de
Pomponne zu leben. Die Beschreibung zu Mme Raimonds Domizil in der Rue
Sainte Anne lautet „gegenüber der Rue du Hazard“269. Mlle Virion lebte „in der
Rue Argenteuil, bei der Passage S. Roch im Hause eines Färbers“.
Einige Male sind die Namen der Hausbesitzer genannt, bei denen die Clavierlehrerinnen lebten. Die Familie Goërmans lebte in der Rue de Limoges bei
Mr Gujon, Mlle Karr „bei Mme La Vicomtesse de Boisse“ in der Rue Cassette270.
Sicherlich war diese Adresse für Mlle Karr kein schlechtes Aushängeschild. Mlle
de Saint-Marcel war im ersten Jahr ihrer Lehrtätigkeit in der Pension eines Mr
Berthau in der Rue des Carmes untergekommen.
Genovieffa Ravissa lebte in der Rue de la Harpe in der Nähe der Rue Serpente im Hause eines Notars. Diese damals sicher sehr genaue Beschreibung ist
nicht mehr zu überprüfen, da der betreffende Straßenabschnitt heute Teil des
265
266
267
268
269
270
Da die Straße selbst heute nicht mehr existiert, können diese Angaben nicht mehr nachvollzogen werden.
Hillairet Bd. 1, S. 541–542.
Heutige Adresse: Rue Coquillière Nr. 1–7.
Hillairet Bd. 1, S. 389.
Die Rue du Hasard heißt heute Rue de Thérèse.
Das genaue Haus ist nicht feststellbar, zur Rue Cassette siehe auch Hillairet Bd. 1,
S. 281–282.
89
Boulevard Saint-Michel ist.271 Wie zutreffend die Angaben waren, zeigt aber
die Beschreibung der ersten Unterkunft dieser Frau in der Rue Saint-Andrédes-Arts: Sie findet sich sowohl in AM 1778 als auch auf dem Notendruck der
sechs Cembalosonaten op.1 von Genovieffa Ravissa und lautet Rue St. André
des Arts vis a vis la rue Gillecœur, Maison de Mr Milon. Folgt man der Rue
Gît-le-Cœur (so der heutige Name), einer kleinen schmalen Querverbindung
der Rue Saint-André des Arts mit dem Quai des Grands Augustins, so stößt
man an der Kreuzung auf ein großes dreiflügeliges Haus, die heutige Nr. 27,
früher Maison des Trois-Chapelets genannt. Es handelt sich um ein repräsentatives großes, im Jahr 1640 für den Historiker André Duchesne erbautes Haus.
Die Beschreibung erweist sich damit als äußerst präzise.
Sicher waren diese genauen Angaben besonders für Leute wichtig, die
Kontakt zur Lehrerin herstellen wollten. Der Unterricht dürfte vorwiegend im
Haus der Schülerin oder des Schülers stattgefunden haben, wie aus dem Brief
Grimms deutlich wird. Für diese Annahme spricht auch, dass der Eintrag zu
Madame Goërmans vermerkt, sie unterrichte nur bei sich zu Hause, was sicher
eine Besonderheit darstellte.
Dass die Familie Armand-Louis Couperins seit Jahrzehnten in der Rue du
Poutour 272 lebte, scheint allerdings weithin bekannt gewesen zu sein, nennt
doch die Eintragung nicht einmal den genauen Straßennamen, sondern nur die
Beschreibung „bei Saint-Gervais, bei einem Receveur de la loterie de l’École
roy. militaire“, oder es war eben dieser, der das Haus der Couperins damals
umso leichter auffindbar machte.
Mindestens ebenso interessant wie derartige Wohnungsbezeichnungen sind einige Hinweise, die weitere Rückschlüsse auf die Lebenssituation der Lehrerin
zulassen. So lebten Monsieur und Mademoiselle Offroy im (Frauen)-Hospital
in der Rue Mouffetard, in welchem Mlle Offroy auch die Orgel der dazu gehörigen kleinen Kirche spielte. Den Couvent des religieuses hospitalières de NotreDame, de la Miséricorde, oder auch de la Miséricorde de Jésus gab es seit dem
Jahre 1652. Seit 1656 lebten zwölf Nonnen aus dem Dorf Chantilly in der Rue
Mouffetard, heutige Hausnummer 61. Nach der Renovierung zu Beginn des 18.
Jahrhundert standen ihnen 37 Betten in „schönen Sälen“ zur Verfügung, der
Pensionspreis betrug 36 Livres im Monat oder 400 Livres im Jahr, ein Einzelzimmer kostete 500 Livres (vgl. dazu die entsprechenden Preise in den von
Frauen geführten musikalischen Pensionen).273
Mme Raimond wohnte 1779 im Hause der Dames de Sainte-Marie in der
Rue du Bac(q). Der Couvent de la Visitation Sainte-Marie, seit 1660 hier ange271
272
273
90
Hillairet Bd. 1, S. 621–622.
Die Rue Poutour heißt heute Rue des Barres. Die heutigen Hausnummern 13, 15 und
17 gehörten zum Besitz von Saint-Gervais. Hillairet Bd. 1, S. 147–148.
Hillairet Bd. 2, S. 164–165.
siedelt, ist unter den heutigen Hausnummern 68–80 zu finden und war zu erzieherischen Zwecken bestimmt.274
Mlle de Saint-Marcel schließlich lebte für mindestens zwei Jahre im
Collège de Presles in der Rue des Carmes. Dieses Collège, heute unter den
Hausnummern 6 bis 14 zu finden, bestand von 1313/1314 bis 1796 und gehörte
zu den großen theologischen Studienorten. Bekanntester führender Kopf war
der berühmte Philosoph Ramus, bekannt für seine Rechtschreibreform (U/V,
I/J, e/é/è).275
Dass immerhin drei Lehrerinnen in einem Couvent oder Collège unterkamen, lässt vermuten, dass diese Art der Unterbringung in kirchlichen Häusern,
teilweise als Durchgangsstation verwendet, auch eine als angenehm empfundene und möglicherweise preisgünstigere Alternative zur eigenen Haushaltsführung darstellte.
2.4
Die Wohnungen zweier Clavierlehrerinnen zu Beginn des
18. Jahrhunderts
Bis zur Revolution waren die meisten Pariser Häuser so errichtet, dass ihre schmale
Seite zur Straße zeigte; erste Ausnahmen traten mit Beginn des 16. Jahrhunderts
auf. Oft ragte jede Etage ein wenig über der anderen hervor, so dass die Fassaden
geneigt und die Fronten nicht gerade waren. Der Helligkeit in den Straßen war dieser Baustil nicht unbedingt förderlich. Ab 1607 war die Tendenz rückläufig, und im
Jahr 1667 beschränkte man die Höhe der Häuser offiziell auf 18 bis 20 Meter, denn
durch die Vervielfachung der Bevölkerungszahlen war auch die Anzahl der Etagen
stark angewachsen.276
Viele der Häuser, die nur für eine Familie gebaut waren, besaßen nur ein Zimmer mit einem einzigen Fenster pro Etage und dazu, nach hinten heraus, ein dunkles
Kabinett, wie sowohl eine kleine Kammer als auch in manchen Fällen die Toilette
der Wohnung genannt wurde. Ein Haus mit vier Etagen besaß in einem solchen
Falle lediglich vier Zimmer. Die Fenster der reichen Häuser besaßen kleine raue
274
275
276
Hillairet Bd. 1, S. 132.
Hillairet Bd. 1, S. 18, 273 und 671.
Siehe dazu auch Mercier, S. 20: „Der übermäßigen Höhe der Pariser Häuser mußte eine
Grenze gesetzt werden, denn einige Privatleute hatten buchstäblich ein Haus auf das
andere gebaut. Die Höhe wurde auf siebzig Fuß, zuzüglich des Dachs, beschränkt. In
manchen Vierteln bekommen die unglücklichen Bürger weder Licht noch Luft. Die einen leiden, weil sie täglich genötigt sind, Treppen zu steigen so hoch wie die Himmelsleiter. Die Armen, die dort oben aus Sparsamkeit wohnen, bezahlen die Holz- und Wasserlieferungen teuer. Die anderen zünden, um sich zu Tisch zu setzen, am hellichten
Tag Kerzen an. Diese ungeheure Höhe steht in einem einzigartigen Gegensatz zur erdrückenden Enge unserer Straßen. Unsere großen Überlandstraßen, auf denen nur ab
und zu ein Wagen vorbeirollt, sind zu breit und unsere Stadtstraßen, auf denen sie im
Dutzend gleichzeitig fahren, sind so eng, daß es fortwährend Stockungen gibt.“
91
Glasscheiben zwischen den Fensterkreuzen, Künstler verhängten die Öffnungen mit
heller Leinwand oder Ölpapier. Spätestens ab 1700 ging man zu einem Baustil mit
großen Fensterflächen über. Mittlerweile konnte Fensterglas in Pariser Manufakturen hergestellt werden und war größeren Bevölkerungsteilen zugänglich. Treppenhäuser wurden mit Lichtschächten versehen und die Innenräume mit großen Wandspiegeln und zahlreichen Leuchtern auf Anrichten und Konsolen ausgestattet. So
nennt auch das nach dem Tode der Cembalistin Élisabeth-Claude Jacquet de la
Guerre angefertigte Inventar ihres Besitzes277 mehrere Spiegel auf zwei Kaminsimsen wohl zu eben diesem Zwecke. Auch die neuen, statt der trüben Talglichter verwendeten Stearinkerzen trugen dazu bei, dass Innenräume nunmehr taghell erleuchtet werden konnten. Bei den im Folgenden beschriebenen Wohnstätten handelte es
sich deutlich um moderne Häuser und reiche Hausbesitzer.
Interessanter noch als die äußeren Beschreibungen der Straßen und Häuser
sind die Berichte über die Wohnräume zweier Clavierlehrerinnen um 1700, die in
den Dokumenten überliefert sind, die anlässlich ihres Todes zur Feststellung des
Nachlasses erstellt wurden. Beide zeigen, dass ihre Bewohnerinnen bequem, ja geradezu luxuriös eingerichtet waren. Es handelt sich um die Appartements von Marie
Françoise Certain und der eben bereits genannten Élisabeth-Claude Jacquet de la
Guerre.
Marie Françoise Certain
Marie Françoise Certain war die Hauptmieterin einer Wohnung in der ersten Etage
im Hause des königlichen Architekten Nicolas de l’Espine in der Rue du Hasard, in
der sie mit ihren Dienerinnen Marie und Louise Durand (Letztere verheiratet mit
einem Beamten) lebte. Louise Durand war Femme de chambre, ihre Schwester
Marie Köchin bei Mlle Certain. Außerdem gab es einen Lakaien mit Namen Germain Ruffière, genannt Saint-Germain. Im Jahr 1711 befanden sich die Schwestern
Durand seit 18, der Lakai seit zwei Jahren in den Diensten der Musikerin. Die Rue
du Hasard ist heute Bestandteil der Rue Thérèse (1. Arrondissement).278 In der benachbarten Rue Sainte-Anne befand sich u. a. das Hôtel de Lulli, erbaut 1671, das
Marie Françoise Certains Freund Jean-Baptiste Lully, Surintendant de la musique
du Roi, gehörte. Die Rue du Hasard selbst zählte zu einem sich neu bildenden Viertel, in dem gerade auch Musiker Wohnungen bezogen. Das Haus, in dem Marie
277
278
92
Inventaire d'après décès, begonnen am 11. 7. 1729.
Die Rue Thérèse beginnt an der Ecke Rue Molière und Rue de Richelieu und endet bei
der Ecke Avenue de l’Opéra und Rue de Ventadour. Der Abschnitt zwischen den Straßen Rue Molière und Rue Sainte-Anne erhielt seinen Namen Rue du Hasard im Jahre
1622 von den dort befindlichen Spielhäusern und wegen der Tatsache, dass diese Straße zur Rue des Moulins, wo sich die Schießstände befanden, führte. 1627 wurde die ursprüngliche Straße verlängert und dieser neue Teil 1692 in Rue de Thérèse umbenannt.
1880 fasst man die beiden Straßen wieder zusammen, diesmal unter dem Namen Rue
Thérèse. Hillairet Bd. 2, S. 555.
Françoise Certain lebte, befand sich direkt an der Ecke der heutigen Rue Thérèse
und der Rue Sainte-Anne.
Das Inventaire après décès de Mademoiselle Certain beschreibt die Wohnung
der Musikerin wie folgt: Oberhalb des Erdgeschosses, in dem die Küche und eine
Speisekammer lagen, öffnete sich ein Zwischengeschoss in zwei Wohnungsteile: In
der ersten Etage gab es drei Säle zur Rue du Hasard hinaus und auf gleicher Ebene
ein Kabinett. Der Schlafraum war großartig eingerichtet, ein Bett mit einem Himmel à la duchesse aus karmesinrotem Damast im Mittelpunkt. Außerdem gab es ein
Sofa, mehrere Sitzgelegenheiten, ein Ruhebett und mindestens sieben kostbare
Wandbehänge.
Der Salon zur Straße hinaus war mit Fenstergardinen aus rotem Kammgarn
und zwei Türvorhängen ausgeschmückt. Es gab vier Wandschirme, sechs Sessel mit
Seidenbezug, einen kleinen Tisch aus Nussbaumholz mit einer grün ausgelegten
Schublade und zwei Hocker aus demselben Holz, von denen der eine mit türkischem Teppich, der andere mit gefüttertem Seidenstoff bezogen war. Eine klingende Wanduhr, ein Feuerschirm, ein Schrank aus Nussbaumholz mit kleinen verschließbaren, mit Stoffen verzierten Türen, zwei mit Teppichen im türkischen Stil
bezogene Holzrahmen, ein kleiner Toilettenspiegel mit verziertem Rand und ein
großer Spiegel, der am Kopfteil mit Ornamenten aus Kupfer verziert war, vervollständigten die Einrichtung. Das modernste Möbelstück bestand aus einem Schreibtisch in Form einer Kommode mit verschließbaren Schubladen, gefertigt aus platiniertem Olivenholz, verziert mit Handarbeiten aus Kupfer. Die Portraits zweier einflussreicher, mit Marie Françoise Certain befreundeter Herren hingen ebenfalls im
Salon: die goldgerahmten Bilder von Jean-Baptiste Lully und Jean de la Fontaine.
Im Mittelpunkt dieses großartigen Zimmers jedoch stand das wundervolle, außergewöhnlich dekorierte Ruckers-Cembalo, das zweimanualige Instrument von Dumont
an seiner Seite.
Im Zwischenstock befanden sich in einem Schrank weitere Instrumente: drei
Bassviolen, die eine aus England, die andere aus Cremona und eine weitere kleinere, eine Gitarre, eine Theorbe aus Bologna, eine Diskantgambe und eine Blockflöte
von der Hand des Pariser Flötenbauers Jean-Jacques Rippert.279
Wer war die Bewohnerin dieser luxuriösen Räume? Marie Françoise Certain, geboren um 1661/1662, war eine bekannte Pariser Cembalistin, die Tochter des Contrôleur ordinaire des guerres und Secrétaire de Monsieur le Marquis de Rochefort
Pierre Certain und dessen Frau Anne de Gaillarbois. Das junge Mädchen war Cembaloschülerin des Premier valet de chambre von Louis XIV., von Pierre de Nyert
gewesen. Dieser hatte sie bei Jean-Baptiste Lully eingeführt, mit dem sie eine enge
Freundschaft verbinden sollte.
Der Ruf Marie Françoise Certains für ihr ausgezeichnetes musikalisches Können und für ihren Esprit war gleichermaßen bedeutend. Neben Neigung zur Musik
279
Scellés du 2. 2. 1711, AN, Y 11640.
93
besaß sie Talente zum Schreiben und für die Malerei. Groß war ihr Ruhm als Cembalosolistin, ebenso groß aber auch ihr Bekanntheitsgrad als Generalbassspielerin.
In den Aufführungen der Opern Lullys spielte Marie Françoise Certain den Continuopart. In den Registern des Königshauses taucht sie allerdings nicht auf.280
In dem Salon der beschriebenen Wohnung in der Rue du Hasard, die sie seit
mindestens 1679 bewohnte, veranstaltete die Künstlerin Konzerte, die sehr beliebt
waren. So fordert etwa Jean de la Fontaine in einem Gedicht auf, bei einem Gang
durch Paris unbedingt l’illustre Certain aufzusuchen, deren cembalistisches Können
er – neben weiteren zahllosen anderen guten Eigenschaften und ihrer Gelehrsamkeit
– hoch lobt und sogar über das der berühmten Cembalisten Chambonnières, Hardel
und die Couperins stellt. Die Musik dieses „liebenswerten Kindes“ berührt den Autor angeblich so, dass er nichts weiter benötigt als ihr zuzuhören, um „Geist und
Ohr und Augen zufrieden zu stellen“.281 Zu ihren Konzerten erschien jedenfalls die
Elite der Pariser Komponisten und Komponistinnen und sicherlich zahlreiche weitere einflussreiche Persönlichkeiten. Die Einrichtung ihrer Wohnung entsprach den
gesellschaftlichen Erwartungen an eine solchermaßen berühmte Frau.
Am 1. Februar 1711 verstarb die Musikerin Marie Françoise Certain nach 19tägiger Krankheit plötzlich und unerwartet in ihrem Haus.282 Noch wenige Tage zuvor hatte sie Unterricht erteilt. Die nach ihrem Tod verfassten Dokumente geben
über einige ihrer Schülerinnen und Schüler und weiteren musikalischen Verbindungen Auskunft: Der Instrumentenbauer Jacques Bourdet aus der Rue Saint-Martin
vis-à-vis la rue Saint-Julien, der auch für den König arbeitete, erhielt nach dem Tode der Musikerin noch 150 Livres für die Pflege ihrer Instrumente in den letzten
fünf Jahren. Jacqueline Boissière meldete im Namen des Sieur Carante, genannt
280
281
282
94
Benoit, S. 261.
Das Gedicht ist bei Fétis vollständig abgedruckt. Der Text lautet: « Avec mille autres
bien ie jubilé fera / Que nous serons un temps sans parler d’Opéra; / Mais aussi de retour de mainte et mainte église, / Nous irons, pour causer de tout avec franchise / Et
donner du relâche à la dévotion, / Chez l’illustre Certain faire une station: / Certain par
mille endroits également charmante, / Et dans mille beaux arts également savante, /
Dont le rare génie et les brillantes mains / Surpassent Chambonnière, Hardel, les Couperains. / De cette aimable enfant le clavecin unique / Me touche plus qu’Isis et toute la
musique: / Je ne veux rien de plus, je ne veux rien de mieux / Pour contenter l’esprit, et
l’oreille, et les yeux. »
Jal, der aus diesem Vers ebenfalls zitiert, merkt an, dass er vielleicht in Anbetracht des
Adressaten – des Lehrers der Certain – beschönigend sein könnte. Über das Verhältnis
der 15jährigen Cembalistin und ihres 80jährigen Lehrers wurde anscheinend gemunkelt. Laut Fétis betrachtete Nyert M. Fr. Certain wie eine Tochter. Auch die weiteren
frühen Biografen D’Aquin de Châteaulyon und Titon du Tillet äußern sich ähnlich enthusiastisch wie Jal über das Können der Cembalistin. Vilcosqui, S. 51 konnte allerdings
auch einen Spottvers über sie ausfindig machen: « Pour entendre son clavecin Certain /
fait cracher au bassin. / Elle veut que l’on mette / Dedans son épinette ». Leider gibt er
keine Nachweisinformation zu seiner Quelle.
Scellé du 2. 2. 1711, AN, Y 11640.
Carmeline, Rechte auf das Reisecembalo von Marius an, welches man aus Anlass
des Unterrichts, den Mlle Certain der Tochter dieses Sieur erteilte, in deren Haus getragen habe. Auch der Chevalier Gilles Le Maistre, Marquis de Ferière aus der Rue
des Massons wünschte ein Instrument wieder abzuholen, dass wohl ebenfalls aus
Unterrichtsgründen bei Marie Françoise Certain platziert gewesen war: die Cremoneser Violine.283
Marie Francoise Certain hat also zumindest zeitweise auch in ihrer eigenen
Wohnung unterrichtet; möglicherweise nur aufgrund ihrer Krankheit, vielleicht
konnte sie dies Privileg aber auch immer genießen und sich damit große Mühen und
körperliche Anstrengungen ersparen. Wenn dem so war, dann ist dies auf jeden Fall
als Hinweis auf ihre herausgehobene Stellung und ihren Bekanntheitsgrad als Musikerin zu werten.
Beeindruckend ist auch die Musikbibliothek, die Marie Françoise Certain bei ihrem
Tode hinterließ. Neben praktisch allen Bühnenwerken Lullys (sie besaß neun Bände
mit den anciens ballets Lullys) befanden sich in ihrem Besitz fünf Autografe
Lullys284, weitere Bände enthielten Drucke Lullyischer Opern und Ballette285. Daneben besaß sie 15 nicht näher benannte moderne (also zeitgenössische) Opern,
geistliche Werke und an die 30 handgeschriebene Bände mit Instrumentalmusik
verschiedener Autoren.286
Diese Sammlung wie auch der oben zitierte Vers von La Fontaine geben einen
Einblick in das Repertoire, das die Cembalistin selbst aufführte, aber auch über die
Werke, die sie vermutlich in den von ihr erteilten Unterrichtsstunden studieren ließ.
Titon du Tillet erwähnt, dass sie neben den Werken Louis Couperins, Chambonnières und Marchands häufig Claviertranskriptionen Lullyscher Symphonies gespielt habe.287 Gerade diese Art Transkriptionen war sehr beliebt: In vielen Manuskripten des letzten Viertels des 17. Jahrhunderts, besonders in Frankreich und
Deutschland, findet man unzählige raffinierte wie einfache Fassungen Lullyscher
Ouverturen und Arien, beliebter und bekannter Melodien und Stücke. Gustafson
zählte unter 762 zugewiesenen wie anonymen Clavierwerken in verschiedenen französischen Quellen allein 291 Transkriptionen von 189 unterschiedlichen Werken
Lullys.288 Sicher hat Marie Françoise Certain, von der keine eigenen Kompositionen überliefert sind, häufig derartige Bearbeitungen für eigenen Bedarf und Unterrichtszwecke selbst angefertigt.
283
284
285
286
287
288
Moel, S. 72.
Les Fêtes de l’Amour et de Bacchus, Psyché, Thésée, Alceste und Isis.
Atys, Proserpine, Bellérophon, Thésée, Roland, Phaëton, Persée, 2 Exemplare von
Amadis, Acis et Galathée, Le triomphe de l’Amour, Le temple de la paix, Le Carnaval,
Cadmus et Hermione, Achille et Polyxène und Idylle sur la paix.
Eine genaue Aufstellung findet sich bei Moel.
Titon du Tillet, S. 637.
Gustafson Bd. 1, S. 139.
95
Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre
Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre, die Tochter des Pariser Organisten Claude
Jacquet, war als musikalisches Wunderkind an den Hof gekommen, nachdem sie im
Alter von fünf Jahren von Louis XIV. ‚entdeckt’ worden war. Sie kam so in den
Genuss einer aristokratischen Erziehung, sie trat am Hof und in Hauskonzerten bei
Adeligen und Hofmusikern auf. Noch Jahre später schrieb Élisabeth-Claude Jacquets Cousin René Trepagne de Menerville von der berühmten „Mademoiselle Jacquet Delaguerre“, die seit ihrem fünften Lebensjahr am Hof vor seiner Majestät aufgetreten war.289 Laut D’Aquin de Châteaulyon gebührte ihr „ein vornehmer Rang
unter den zahlreichen sehr gut cembalospielenden Frauen des letzten Jahrhunderts“. 290 Die Lettres historiques et anecdotiques bescheinigen Élisabeth-Claude
Jacquet de la Guerre ein naturel merveilleux a la musique, ein wunderbares musikalisches Talent.291
Am 23. September 1684 heiratete Élisabeth-Claude Jacquet den Organisten
und Cembalolehrer Marin de la Guerre. Die Heirat folgte damit dem üblichen Muster, innerhalb desselben Berufskreises zu heiraten, denn Marin de la Guerre stammte aus einer Dynastie von Organisten. Seine erste Stelle hatte er an der Kirche SaintLouis-des-Jésuites im Jesuitenkloster in der Rue Saint-Antoine gehabt. 1688 wurde
dem nunmehr Verheirateten das Organistenamt an der Saint-Séverin-Kirche in der
Rue Prêtres-Saint-Séverin übertragen, der ersten Pfarrkirche, die auf der linken Seineseite eingerichtet worden war. Für Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre bedeutete die Heirat den Abschied vom Hof. In ihrem Haus in der Rue Guillaume (heute
Rue Budé)292 veranstaltete die Künstlerin nun regelmäßig – wie Marie Françoise
Certain – eigene Konzerte, die große Aufmerksamkeit erregten.293 Der Sohn des
289
290
291
292
293
96
Trepagne de Menerville, S. 24.
« Plusieurs femmes dans le dernier siécle ont excellé dans le Clavessin. Mademoiselle
de la Guerre a tenu un rang distingué parmi elles. » D’Aquin de Châteaulyon Bd. 1,
S. 122.
Lettres historiques et anecdotiques, 1682 à 1687 (18 juillet 1685), BNF, Département
des manuscrits, ms.fr. 10265, fr.47vo, nach Cessac-Yeux, S. 237.
Die Eltern Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres wohnten zu diesem Zeitpunkt in derselben Straße. Unter Umständen lebte das junge Paar also im Hause der Eltern der
Braut. Die Rue Guillaume, heute Rue Budé, ist eine kurze Seitenstraße der großen Rue
Saint-Louis-en-l'Île.
Siehe etwa Titon du Tillet, S. 636: « Le merite & la reputation de Mme de la Guerre ne
firent que croître dans cette grande Ville, & tous les grands Musiciens & les bons Connoisseurs alloient avec empressement l'entendre toucher le Claveçin: elle avoit surtout
un talent merveilleux pour preluder & jouer des fantaisies sur le champ, & quelquefois
pendant une demie heure entiere elle suivoit un prelude & une fantaisie avec des chants
& des accords extrémement variez & d'un excellent goût, qui charmoient les Auditeurs.
[…] On peut dire que jamais pseronne de son sexe n'a eu d'aussi grands talens qu'elle
pour la composition de la musique, & pour la maniere admirable dont elle l'executoit
sur le Claveçin & sur l'Orgue. »
Ehepaares, der ebenfalls musikalisch hoch begabt gewesen sein muss, verstarb mit
zehn Jahren. Er hatte im Alter von acht Jahren, wie seine Mutter, die ihn sicherlich
selbst unterrichtete, Aufsehen als Wunderkind durch sein Cembalospiel, sowohl der
Piecen als auch des Accompagnements, erregt. Dass sowohl Marin de la Guerre als
auch seine Frau in diesen Jahren Cembalospiel unterrichteten, belegt der Eintrag bei
Pradel 1692. Madame de la Guerres bekanntester und vermutlich begabtester Schüler war ihr Patenkind Louis-Claude Daquin (1694–1772), der ebenfalls als sechsjähriges Wunderkind Furore gemacht hatte. Louis-Claude Daquin hatte mit zwölf Jahren Marin de la Guerre als Organist vertreten und erhielt schließlich, nach einigen
anderen Stellungen, im Jahre 1739 den Ruf in die königliche Kapelle und wenige
Jahre später als Organist nach Notre-Dame. Er galt als glänzender Improvisator und
großer Virtuose, gleichzeitig als ein schlichter und uneigennütziger Mann von untadeligem Charakter.
1697 verließen sowohl Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre und ihr Mann
als auch ihre Eltern die Rue Guillaume, vielleicht als eine Reaktion auf den Tod des
Kindes. Die Eheleute de la Guerre bezogen nun ein Appartement in der zweiten
Etage eines Hauses in der Rue Saint-Louis, noch heute die große Handelsstraße auf
der Insel. Sie besaßen eine Küche zum Hof, ein kleines Zimmer an der Seite und
das Schlafzimmer mit einem kleinen Kabinett zur Straße hinaus. Die ganze Einrichtung war entsprechend der Wohnung relativ schlicht gehalten. Der größte Reichtum
bestand aus den Musikinstrumenten: einem Spinett, zwei Lauten, einem kleinen Kabinettschrank mit einer Orgel im Innern, je einer Bass- und Diskantgambe, einem
dreimanualigen Cembalo und einem Cembalo auf einem Gestell, das unten mit Abschlüssen aus vergoldetem Holz gefasst war.294
Gegen Ende des Jahres 1698 bezog das Ehepaar de la Guerre eine neue Wohnung am Cour du Palais, in welcher sie sechs Jahre verbleiben sollten. Sie verfügten
hier über einen Saal, drei Zimmer, ein kleines Kabinett sowie eine Küche mit Hängeboden.295 Im Saal befanden sich Sitzgelegenheiten verschiedener Art und die Bibliothek, die Zeugnis von der Bildung der Eheleute gab. An den Wänden hingen Tapeten und Gemälde, darunter eines des Königs, mit vergoldeten Holzrahmen. Dann
gab es natürlich noch das Cembalo auf einem Gestell aus Nussbaumholz mit Eisenverschluss. Eines der Zimmer wurde als Schlafraum genutzt. Wie im Schlafzimmer
Marie Françoise Certains bildeten auch hier die reich ausgestatteten Betten den Mittelpunkt des Zimmers. Auf dem Hängeboden der Küche schlief die Dienerin mit
Namen Marie auf einer deutlich einfacheren Bettstelle.296
Am 16. Juli 1704 starb Marin de la Guerre. Die Witwe bezog daraufhin ein
Appartement in der Rue Regrattière, ebenfalls auf der Île Saint-Louis. Für das Appartement mit einem Vorzimmer, einem großen Zimmer, zwei Kabinetten, einer
294
295
296
Cessac, S. 106–107.
Inventaire après décès de Marin de la Guerre vom 2. 8. 1704, AN, Minutier central
CIX 137.
Cessac, S. 104.
97
kleinen Küche zum Hof, einem kleinen Zimmer und einer Speisekammer, zuzüglich
eines Zimmers in der dritten Etage für die Bediensteten, eines kleinen Dachbodens
und zwei Kellerräumen297 zahlte sie 300 Livres jährlich. Élisabeth-Claude Jacquet
de la Guerre unterrichtete und komponierte hier, laut Schilling widmete sie sich sogar „hauptsächlich dem Unterrichte und der Composition, und mit viel Glück“298.
Nach 1715 zog sie sich immer mehr vom öffentlichen Leben zurück. „Die concerts
bey der berühmten M a d e m o i s e l l e l a G u e r r e , welche in ihrer Jugend und
nachgehens so viel Stücke / auch selbsten einige Opern, componiret / haben vor einigen Jahren auffgehöret“, so Joachim Christoph Nemeitz im Jahre 1718.299 Neben
den Einkünften aus Unterrichtsstunden verdiente sie am Verkauf ihrer gedruckten
Kompositionen: Ihre finanzielle Situation war außerordentlich günstig, wie sich
auch an der folgenden Entwicklung ihrer Wohnsituation ablesen lässt.
Die meisten der zahlreichen Drucke ihrer Kompositionen waren Louis XIV.
gewidmet. Für ihre Tätigkeit als Cembalolehrerin dürften besonders ihre beiden
Cembalobücher, Les Pièces de clavessin, Premier Livre (Paris 1687) und Pièces de
clavecin qui peuvent se joüer sur le viollon (Paris 1707) sowie die Sonates pour le
viollon et pour le clavecin (Paris 1707) und die Quatre Sonates en trio et deux sonates pour violon et basse continue (um 1695), außerdem die Vokalwerke in kleiner
Besetzung für Generalbass- und Ensemblespiel von Belang gewesen sein.300
Noch einmal sollte Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre umziehen – im
Herbst 1726 zog sie wohl zum ersten Mal in eine Wohnung, die nicht auf der Île
Saint-Louis gelegen war, und mietete ein Appartement mit fünf Zimmern in der Gemeinde Saint-Eustache, Rue des Prouvaires, zweite Etage. 301 Die Rue des Prouvaires (1. Arrondissement) liegt im Pariser Stadtkern und stammt noch aus älterer
297
298
299
300
301
98
Bail 21. 1. 1705. AN, Minutier central LIV, 694.
Schilling ENC.
Nemeitz, S. 57.
Dazu zählen: Airs, in Recueil d'airs sérieux et à boire, Paris 1710, 1721, 1724; Cantates françaises, sur des sujets tirez de l'écriture. Livre premier für Sopran, Violine ad.
lib und Bc, Paris 1708; Cantates françaises sur des sujets tirez de l'écriture. Livre second für 2 Soprane bzw. 2 Soprane und Bass, Violine und Flöte ad lib. und Bc, Paris
1711; Airs, in: Les Amusemens de Mr le duc de Bretagne, Paris 1712; La Musette ou
Les bergers de Suresne, Paris 1713; Cantates françaises für Sopran, Violine/ Flöte/
Oboe und Bc, Paris um 1715; La Ceinture de Vénus in: A. R. Lesage/D'Orneral, Le
Théâtre de La Foire, Bd. 1, Paris 1721; Te Deum, Paris 1721 (verschollen). Außerdem
könnten Bearbeitungen und Auszüge aus den beiden Opern Jeux à l'honneur de la victoire (um 1691/1692, Musik verschollen) und Céphale et Procris (Paris 1694) gespielt
worden sein.
Bail 19. 7. 1727, AN, Minutier central CXV, 452, nach Cessac S. 175. (Moel nennt Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre zwischenzeitlich in der Rue de Villedo. In welchen
Jahren die Musikerin hier lebte, ist bei Cessac nicht zu finden. Laut frdl. Auskunft von
Herrn Moel dürfte die Angabe hierzu in den Archives Nationales, Minutier central zu
finden sein.
Zeit. Die Miete (ausgehandelt für fünf Jahre) betrug hier 450 Livres im Jahr – eine
geringe Summe für eine Wohnung dieser Größenordnung (wobei die Wohnung für
eine einzelne Person sehr groß erscheint).
Der luxuröse Lebensstil, den sich Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre als
Witwe leisten konnte302, zeigt die Eigenständigkeit und das Selbstbewusstsein, mit
dem sie sich in der Öffentlichkeit als Künstlerin präsentierte. Den nötigen Rückhalt
dazu fand sie in der Einbettung in die familiären Traditionen. Auf dieser Basis –
Tradition der Familie im Falle Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres und ein
hochgestellter Freund wie Jean-Baptiste Lully im Hintergrund im Falle Marie Françoise Certains – war es Pariser Frauen um 1700 möglich, sich als eigene künstlerische Persönlichkeiten zu präsentieren und als solche zu agieren. Sicherlich gehörte
dazu neben einflussreichen Hintermännern und einer guten Portion Glück auch eine
starke Persönlichkeit. Nicht umsonst fehlen von diesen beiden Musikerinnen Beschreibungen eines lieblichen, damenhaften Charakters.
Die Wohnsituation
Die Beschreibungen zahlreicher Kleinmöbel und Einrichtungsgegenstände zeigen,
dass mit Marie Françoise Certain und Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre immerhin zwei der fünf aus diesem Zeitraum bekannten Clavierlehrerinnen recht modern eingerichtet waren, waren doch ab etwa 1700 die wuchtigen, klobigen Möbelstücke des 17. Jahrhunderts einer neuen Mode mit schwungvolleren Formen, abgerundeten Kanten an Schranktüren und geschweiften Füßen an Tischen und Stühlen
gewichen. Auffallend ist die große Zahl der Sitzgelegenheiten in fast allen Zimmern, ein Zeichen für häufige Besuche. Wandbehänge, Teppiche und Türvorhänge
dienten gleichermaßen der Wärme, wie sie auch einen gehobenen Luxus repräsentierten. Betten (in den Schlafräumen) und Instrumente (in den Musikzimmern und
Salons) bildeten als kunstvoll und sorgfältig ausgesuchte und arrangierte Möbel
stets den Mittelpunkt und Blickfang eines Zimmers. Ihre Wohnungen waren groß
und repräsentativ eingerichtet.
Häufige Wohnungswechsel waren, dies verdeutlicht das Beispiel ÉlisabethClaude Jacquet de la Guerres, bei bekannten Persönlichkeiten durchaus an der Tagesordnung. Das Problem der Auffindbarkeit war bei ihr anscheinend nicht gegeben
– im Gegenteil, wo diese berühmte Cembalistin zu finden war, war in Paris wohl
immer leicht zu erfragen. Ebenso selbstverständlich waren bei beiden hier besprochenen Persönlichkeiten mehrere Dienstboten. Es steht allerdings zu vermuten, dass
die Wohnungen der späteren Clavierlehrerinnen nicht mehr unbedingt diesem Standard entsprachen.
302
Die beiden Testamente Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres aus den Jahren 1726
und 1729 sind aufbewahrt in AN, Minutier central XXXV, 565 (Wallon). Sie listen detailliert die Besitztümer der Musikerin auf. Die Erben stammten aus ihrer eigenen Familie und der ihres Mannes.
99
3
Instrumente und Unterricht
3.1
Das Instrumentarium der französischen Clavierlehrerinnen
Aus dem 17. und 18. Jahrhundert sind nur wenig französische Instrumente erhalten,
da zahlreiche Claviere während der Französischen Revolution zerstört wurden bzw.
verloren gingen. Dennoch haben wir heute ein ziemlich klares Bild davon, wie das
Instrumentarium aussah, das den Musikerinnen und Clavierlehrerinnen zur Verfügung stand.303
Kielinstrumente
Hauptinstrument war das clavecin, ein zunächst dünnwandiges Cembalo, mit einem
meist aus Nussbaumholz, seltener aus Weichhölzern wie Fichte oder Linde gefertigten Corpus, der gebeizt und zum Teil mit schönen Einlegearbeiten ausgestattet war.
Im 18. Jahrhundert ging man dazu über, die nunmehr vorwiegend aus Weichhölzern
hergestellten Gehäuse mit wertvollen Lackmalereien und Chinoiserien zu versehen,
der Resonanzboden wurde mit Streublumen bemalt. Der Korpus ruhte auf einem oft
vergoldeten Gestellrahmen mit geschwungenen Beinen. Die meisten Instrumente
hatten zwei, seltener nur ein Manual, deren Umfang sich im Laufe der Jahre von anfänglich vier oder viereinhalb auf fünf Oktaven erweiterte304, und eine Disposition
mit zwei Achtfuß- und einem Vierfußregister. Im 18. Jahrhundert trat meist noch
ein Lautenzug hinzu.
Das Kennzeichen französischer Cembali ist ein gut den Klang haltender, singender Diskant der grundtönigen Achtfußregister, während der Bass eher nasal
klingt und über eine schnelle Tonansprache verfügt. Die beiden Achtfußregister
verschmelzen üblicherweise sehr gut miteinander und ergeben einen dunklen, majestätischen und trotzdem klaren Klang, dem der Vierfuß eine zurückhaltende
Brillanz verleiht. Die Encyclopédie méthodique aus dem Jahre 1788 spricht von einem son mâle, en même temps argentin, moëlleux, égal dans tous les tons, also von
einem „kräftigen Ton, der gleichermaßen silbern, weich und über den gesamten
Tonumfang ausgewogen ist“. Besonderer Wert wurde auf eine leichte Gängigkeit
der Klaviaturen gelegt. So zählt dasselbe Lexikon die aisance du clavier, die
Leichtgängigkeit der Klaviatur, und die égalité de sa force à l’egard de chaque
touche, die Gleichmäßigkeit des Anschlages bei jeder Taste zu den wichtigen Vor-
303
304
100
Zu den folgenden Ausführungen siehe die Artikel von Van der Meer Cembalo, Klaviziterium, Spinett, Virginal. Entwicklung und Bau, in: MGG 1999.
Dieser Umfang (F1 – f³), der erstmals von einem Instrument des Pariser Cembalobauers
Pierre Donzelague aus dem Jahr 1716 bekannt ist, wurde in der 2. Hälfte des 18. Jh.
zum Standard.
zügen eines guten Cembalos.305 Das absolute Zentrum des Instrumentenbaus bildete, wie nicht anders zu erwarten, Paris.
Bedeutende Instrumente stammen etwa aus den Werkstätten von Claude Jacquet, dem Onkel Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres, den Familien Blanchet306
und Goërmans307 und von Pascal Taskin308, um nur einige zu nennen. Von Claude
Jacquet beispielsweise ist ein zweimanualiges reich verziertes Cembalo aus dem
Jahre 1652 erhalten. Dies Instrument hat den Umfang G1/H1 – c³ (kurze Oktave)
und Koppel. 309 Es ist davon auszugehen, dass Élisabeth-Claude Jacquet de la
Guerre auf einem derartigen Cembalo ihren ersten Unterricht erhielt und vermutlich
auch in späteren Jahren ein ähnliches Instrument ihres Onkels besaß. Vorstellbar ist
auch, dass sie und die Töchter weiterer Instrumentenbauer, wie es von Nanette
Stein überliefert ist, potenziellen Kunden auf diesen Instrumenten vorspielten, um
damit das Kaufinteresse zu erhöhen. In Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres Besitz befanden sich ein kleines Spinett, zwei Lauten, eine Orgel (s. u.), je eine Bassund Diskantgambe, ein dreimanualiges Cembalo und ein Cembalo auf einem verzierten Gestell, das unten mit Abschlüssen aus vergoldetem Holz gefasst war.310
Von Vater und Sohn Goërmans gibt es noch zwei ein- und 10 zweimanualige
Instrumente. Der Umfang der zwischen 1738 und 1785 entstandenen Cembali bewegt sich zwischen G1 – e³ oder c4 und F1 – f³. Die zweimanualigen Instrumente
verfügen über zwei Achtfußregister und einen Vierfuß, manchmal tritt ein peau de
buffle (s. u.) hinzu. Die einmanualigen Cembali haben ein oder zwei Register in
Acht- oder Vierfußlage. Die Gehäuse der Instrumente sind bemalt und zum Teil mit
Chinoiserien geschmückt.311 Auf derartigen Cembali unterrichtete Mme Goërmans,
über die in den Jahrgängen 1778 und 1779 des Almanach musical zu lesen war, dass
sie nur zu Hause Lektionen erteile.312 Ihr Mann war ebenfalls ein bekannter Cembalolehrer, außerdem handelte er mit Tasteninstrumenten und Harfen. So annoncierte
er beispielsweise im Almanach musical von 1778, dass bei ihm ein Cembalo véritable Ruckers mit großem Ravalement angesehen (und gekauft) werden könne, dessen moderner Umbau von einem flämischen Instrumentenbauer gefertigt sei, der gerade erst neu nach Paris gekommen sei. Dieses Cembalo besaß offenbar eine
305
306
307
308
309
310
311
312
ENCm, S. 5.
Die Instrumentenbauerfamilie Blanchet wirkte vom Ende des 17. bis in die Mitte des
19. Jh. in Paris. Aus ihr stammte Élisabeth-Antoinette Couperin.
Jean Goërmans (1703–1777) und sein Sohn Jacques (gest. 1789). Die Familie stammte
aus Flandern.
1723–1793.
Das Cembalo mit der Signierung « Jacquet fecit 1652 » befindet sich heute im John &
Mable Ringling Museum, Sarasota, Florida, USA. Siehe dazu Boalch, S. 407.
Cessac, S. 107.
Boalch, S. 333–337.
« Elle ne donne des leçons que chez elle. » Die Hinweise auf ihren Unterricht finden
sich in AM 1778, S. 160, 175 und 187 und 1779, S. 168, 184 und 198.
101
Schwellvorrichtung, denn es brachte ein Crescendo ebenso wie ein Diminuendo zustande und besaß Register mit deutlich unterschiedlichen Klangeigenschaften.313
Aus der Familie Blanchet sind mehrere Instrumente erhalten. Die junge Cembalistin Élisabeth-Antoinette wird auf einem der Instrumente ihres Vaters gelernt
und in späteren Jahren eines seiner oder ihres Bruders, ebenfalls auf den Namen
François-Etienne getauft, besessen haben. Von diesen beiden sind ein einmanualiges und vier zweimanualige Cembali bekannt, die allesamt zwischen 1733 und
1765 erbaut wurden. Die zweimanualigen Instrumente besitzen in der Regel zwei
Achtfuß- und ein Vierfußregister, teilweise mit peau de buffle. Die Gehäuse sind
bemalt, eines ist mit Elementen „aus Fauna und Flora“, ein anderes mit Blattgold
verziert. Zwei dieser clavecins stehen heute auf Gestellen im Louis-XV.-Stil mit
fünf bzw. sieben Beinen.314
Nach dem frühen und kinderlosen Tod François-Etienne d. J. heiratete Pascal
Taskin, der bei Blanchet gelernt hatte, 1766 dessen Witwe und übernahm die Werkstatt. 1776 wurde ihm der Posten des Hofinstrumentenmachers Louis XV. angeboten. Auch seine Instrumente werden seine Stieftante, und mit dieser ihre Tochter
Antoinette-Victoire und Enkelin Célèste-Thérèse, die beide ebenfalls Clavierspielerinnen bzw. als Clavierlehrerin tätig waren, gekannt und gespielt haben. In den
Werkstätten Blanchet und Taskin wurden viele Umbauten und Erweiterungen der
berühmten flämischen Ruckers 315- und Couchet316 -Instrumente durchgeführt (das
sogenannte ravalement). Philippe Macque beispielsweise merkt 1773, nachdem er
bereits ausführlich den schönen Klang dieser flämischen Claviere beschrieben hat,
an, dass „ein Cembalo der Ruckers oder von Couchet“, kunstfertig von Blanchet erweitert, „heutzutage ein sehr wertvolles und gesuchtes Instrument“ sei.317
Mehrere Ruckers-Cembali befanden sich im Besitz des Organisten Jean Odéo
de Mars. Auf diesen wird seine Tochter Hélène Louise, später verheiratete Venier,
geübt und gelernt haben. Ein Instrument stammte von Andreas Ruckers. Es hatte
zwei Manuale und ein Gestell aus schwarzem Holz. Geschätzt wurde es nach dem
Tode Jean Odo de Mars’ auf einen Wert von 600 Livres. Ein zweites, ebenfalls
313
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AM 1778, S. 33–34.
Boalch, S. 241–242.
Die wohl bekannteste Antwerpener Cembalobauerdynastie, deren Instrumente sich zu
allen Zeiten größter Beliebtheit erfreuten: Hans Ruckers (ca. 1550–ca. 1598), Ioannes
(get. 1578–1642), Andreas I (get. 1579–1651/1653) und Andreas II (get. 1607–
1654/1655). Boalch, S. 160–164.
Die Nachfolger der Ruckers: Ioannes I Couchet (1615–1655, er war ein Neffe Hans
Ruckers), Ioannes II (um 1655), Ioseph Ioannes (gest. 1706) und Abraham (2. Hälfte
des 17. Jh.). Boalch, S. 37–38.
« Un clavecin des Ruckers ou de Couchet, artistement coupé & élargi, avec des sautereaux, registres & claviers de Blanchet, devient aujourd’hui un instrument très précieux. » Philippe Macquer, Dictionnaire raisonné universel des arts et metiers, contenant l’histoire, la description, la police des fabriques et manufactures de France & des
Pays Etrangers, Paris 1773, Auszüge in: Saint-Arroman II, S. 128–137, hier S. 163.
zweimanualiges Instrument desselben Cembalobauers, einfarbig angestrichen, wurde ebenfalls mit einem Wert von 600 Livres angegeben. De Mars besaß außerdem
ein einmanualiges, in Paris erbautes Cembalo (Wert: 100 Livres), ein Pariser Spinett, lackiert und vergoldet (Wert: 40 Livres) und ein sächsisches [!] Clavichord aus
Nussbaumholz auf vier Beinen (Wert: 60 Livres).318
Laut Nachlassverzeichnis verfügte die Cembalistin und als Clavierlehrerin bekannte Marie Françoise Certain über drei „für den Unterricht bestimmte“ Cembali,
darunter ein Instrument von Ruckers, das eine außergewöhnliche Bemalung von Peter Paul Rubens trug, die Personen in einer Landschaft zeigte.319 Beschrieben wurde
das Instrument als „ein zweimanualiges Cembalo von Ruckers auf einem Gestell
aus geschnitztem und vergoldetem Holz, der Korpus ebenfalls vergoldet und mit
Miniaturen bemalt, das Deckelinnere bemalt, geschätzt auf die Summe von 1200
Livres.“320 Dieses Instrument wird ebenso bei Titon du Tillet in dem bereits erwähnten Vers des Dichters Lainez321 wie in dem nach dem Tode der Musikerin angefertigten Verzeichnis ihres Besitzes322 erwähnt. Eine Freundin der Verstorbenen,
Marie-Anne Coignard, gab bekannt, dass dies Cembalo von Joannes Ruckers ihr zustehe.323 Das zweite verzeichnete Cembalo von Dumont324 wurde im Gegensatz zu
dem hohen Wert des Ruckers-Instrumentes auf nur 200 Livres geschätzt. Bei dem
dritten Cembalo scheint es sich um ein clavecin brisé, ein Reiseclavier von Jean
Marius gehandelt zu haben.325
Auch die Auktion nach dem Tode des Musikmäzens Alexandre-Jean-Joseph le
Riche de la Poulpinière am 7. Juli und 27. August 1763 verzeichnet ein RuckersCembalo, daneben werden einmal „Orgeln und Harfen“, ein anderes Mal ein Kontrabass, ein Violoncello, ein Jagdhorn, eine Traversflöte und eine Tischorgel er318
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325
Inventaire après décès de Jean Odo Demars, AN, Minutier central LIII, 348,
12. 11. 1756, nach Hardouin.
Michel Le Moel, Marie-Françoise Certain, in: MGG 1999.
« Un clavesin à deux claviers de Ruqier posé sur son pied de bois doré sculpté, le corps
d’iceluy aussi de bois doré et peint en mignature, le couvercle d’iceluy peint en dedans,
prisé la somme de douze cent livres. » Inventaire après décès de Mademoiselle Certain
13. 3. 1711, AN, Minutier central: LXV, 173, siehe Moel, S. 78, Übers.: C. S.
Bei Titon du Tillet, S. 637 heißt es: « Lainez a celebré son nom dans des Vers qu’il fit
sur l’harmonie d’un excellent Claveçin d’André Rukers: les voici. / Je suis la fille du
Genie, / Qui sous le beau nom d’harmonie, / Réunis dans mes sons tous les charmes du
Chant; / Et respectant les loix du Dieu qui m’a formée, / Je reste dans RUKERS captive & renfermée, / Et j’attens pour sortir la CERTIN, ou MARCHAND. »
Scelle du 2 février 1711, AN, Y 11640.
Moel, S. 73.
Gemeint ist Nicolas Dumont, ein Pariser Instrumentenbauer um 1700. Zwei seiner Instrumente sind erhalten, von denen sich das eine (in spielbarem Zustand) in der Musée
de la musique, Cité de la musique, Paris befindet.
Moel, S. 72. Ein derartiges Instrument ist z. B. im Berliner Musikinstrumentenmuseum
zu finden, siehe Kielklaviere, S. 138–144.
103
wähnt326. In seinem Haus lebten Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis und JeanneThérèse Goërmans, verheiratete Saint-Aubin jeweils mehrere Jahre. Bei Letzterer
handelt es sich um die Tochter des oben erwähnten Cembalobauers Jean Goërmans.
Die berühmte Cembalistin Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre besaß ebenfalls ein großes flämisches zweimanualiges Cembalo, un grand clavecin flamant à
deux claviers.327 Es könnte sich dabei laut Gétreau328 um das Instrument handeln,
das auf dem etwa 1695 entstandenen Portrait der annähernd 35 Jahre alten Musikerin von François de Troy329 zu sehen ist. Sie besaß außerdem in ihrem salle attentante à la chambre, wohl einem Vorzimmer zu ihrem Speisezimmer, ein petit clavecin à touche blanche et noir sur son pied, ein kleines Cembalo mit weißen und
schwarzen Tasten auf einem Gestell330, an das sich die Künstlerin ab und an zum
Improvisieren setzte. Die Musikerin scheint noch ein weiteres, nicht genauer beschriebenes Cembalo besessen zu haben, wohl das oben erwähnte dreimanualige Instrument, denn in ihrem Testament von 1706 heißt es: „Man verkaufe mein großes
und mein kleines Pariser Cembalo mit dem versilberten.“331
In einem Antichambre des Hauses François Couperins in der Rue Neuve-desBons-Enfants, in dem auch seine Tochter Marguerite-Antoinette lebte, wurden bei
dessen Tod im Jahr 1733 laut Inventaire folgende fünf Tasteninstrumente vorgefunden: ein großes Cembalo von Blanchet (Wert: 300 lt), ein großes Spinett aus Flandern (30 lt), ein kleines Oktavspinett (30 lt), ein kleines Spinett (10 lt) und ein kleines buffet de flûte d’orgue (15 lt) – eine Tischorgel.332
Die Clavierlehrerinnen Marie Françoise Certain, Élisabeth-Claude Jacquet de
la Guerre, Jeanne-Thérèse und Mme Goërmans, Élisabeth-Antoinette, MargueriteAntoinette und Célèste-Thérèse Couperin hatten also große dekorative Instrumente
von ausgezeichneter Qualität zu ihrer Verfügung. Als Kindern hatten diese ihnen
das Erlernen einer guten Cembalotechnik ermöglicht, als Erwachsenen dienten sie
ihnen gleichermaßen als adäquates Arbeitsgerät wie zur Repräsentation ihrer Zugehörigkeit zur Klasse der Musiker.
Neben diesen großen Instrumenten gab es auch kleinere Formen wie das auf
deutsch Clavicytherium genannte Instrument, bei Marin Mersennes épinette dont on
326
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330
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104
Anzeigen in Annonces, Affiches et Avis divers vom 7. 7. 1763 und 25. 8. 1763, nach
Cucueil, S. 273–274.
Laut Gétreau FH, S. 128 in AN, Minutier central XXXV, 565, 11 juillet 1729: inventaire après décès d’Elisabeth Jacquet.
Gétreau FH, S. 118.
Abgebildet bei Gétreau FH, S. 117, heute in einer privaten Sammlung in London.
AN, Minutier central des notaires XXXV, 565. Cessac, S. 177.
« On vandera mon grand et mon petit clavecin de paris avec celui d’argenteuil. » AN,
Minutier central des notaires XXXV, 565. Wallon, S. 210. Übers.: C. S.
Inventaire von 1733, nach Benoit, S. 359.
use en Italie333, und bei Jean-Benjamin Laborde clavecin vertical genannt. Als Vorteil dieses Instrumententyps benennt Letzterer, dass es in kleinen Wohnungen weniger Platz beanspruche.334 Bei Marin Mersennes so genanntem épinette (gemeint ist
335
damit ein rechteckiges Virginal) handelte es sich meist um ein Oktavinstrument.
Allgemein erfreuten sich Spinette in Frankreich großer Beliebtheit. Querspinette hießen épinette à l’italienne, benannt nach dem italienischen Cembalobauer
Girolamo Zenti, der bei seinem Parisaufenthalt in den 1660er Jahren diesen Instrumententyp hier eingeführt haben soll. Später, als Virginale in ganz Europa seltener
wurden, wurden Spinette in Frankreich nur noch kurz als épinette bezeichnet. Ihr
Umfang gleicht dem der Cembali. Auch an der Dekorierung wurde nicht gespart.
Für François-Alexandre-Pierre de Garsault zählt das Spinett zu den instrumens
d’amusement, da sein Klang auf Grund des nur einen Registers zu klein für große
Konzerte sei. Es dient nach seiner Aussage zu Studienzwecken.336 Jean-Benjamin
Laborde dagegen bezeichnet das Spinett ausdrücklich als Anfangsinstrument für
Kinder. 337 Vermutlich war wie in Deutschland das Clavichord in praktisch allen
Haushalten zu finden, in denen musiziert wurde.
Orgel
Bereits im 16. und 17. Jahrhundert baute man selbstständige Pedalwerke für das Solospiel an den großen französischen Kirchenorgeln, die sich im 17. und 18. Jahrhundert zu gewaltigen Instrumenten entwickelten. Man legte Wert auf einen Klang, der
einerseits Polyphonie klar hervortreten ließ, andererseits aber auch einen Kontrast
zwischen den Manualen förderte. Diese Instrumente waren bestens geeignet, Virtuosität und Improvisationskünste zur Geltung zu bringen. Das Pedal blieb jedoch
dem Cantus firmus vorbehalten und war überwiegend mit Zungenstimmen besetzt.338 Die tiefsten Klangfarben befanden sich im Hauptmanual (und nicht im Pedal).339 Frankreich und besonders die Hauptstadt Paris besaß denn auch eine eigene
Registrierungskunst mit spezifischen Klangfarbenmischungen. Welchen Eindruck
dieser spezielle französische Orgeltypus bei den Nichtfranzosen erweckte, beschreibt Charles Burney in seinem Tagebuch einer Musikalischen Reise durch
333
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338
339
Mersenne.
Laborde, S. 346.
Mersenne.
Garsault.
Laborde, S. 346.
Möglicherweise ist die Tatsache, dass der Pedalgebrauch in Frankreich weniger virtuos
(und damit bewegungsreich) war als in Nord- oder Mitteldeutschland, einer der Gründe, warum das Orgelspiel von Frauen hier weniger verpönt war.
Siehe hierzu auch Claude Noisette de Crauzat, Geschichte der Orgel in einzelnen Ländern: Frankreich mit Elsaß und Lothringen, dt. von Josef Burg, in: Orgel, hrsg. von Alfred Reichling, MGG Prisma, Kassel-Basel-London-New York-Prag-Stuttgart-Weimar
2001, S. 87–91.
105
Frankreich und Italien: „Diesen Abend gieng ich nach St. Gervais, um Herrn
C o u p e r i n zu hören, der ein Neffe des berühmten Hoforganisten Ludwigs des
funfzehnden und des Regenten Herzogs von Orleans ist. Da es die Vigilie, oder der
Abend vor dem Feste der Kirchweih war, so fand ich die Kirche sehr voll. [...] Dieß
jährliche Fest ist, wie ich merke, die rechte Zeit wo die Organisten ihre Talente zeigen können. Herr C o u p e r i n begleitete das T e D e u m welches bloß gesungen
ward, mit vieler Geschicklichkeit. Die Zwischenspiele zwischen jedem Verse waren
meisterhaft. Er zeigte viele Abwechslung im Registriren und im Styl, nebst vieler
Gelehrsamkeit und Kenntniß des Instruments, und Finger die an Stärke und Geläufigkeit jeder Schwierigkeit gewachsen waren. Er brachte viele nachdrückliche Gedanken mit beyden Händen oben im Discante hervor, wozu der Baß mit dem Pedal
gespielt ward.“340
Die Orgel der Pariser Kirche Saint-Gervais, an der traditionsgemäß die Mitglieder der Familie Couperin spielten, wurde ursprünglich im Jahre 1600 von dem
flämischen Orgelbauer Mathis Langhedul erbaut. Nach mehreren Erweiterungen
und Modernisierungen, u. a. 1676/1685 unter Anleitung des jungen François Couperin und des damaligen Interimsorganisten Michel Delalande, wurde die Orgel
1758/1769 für den eben bei Burney erwähnten Armand-Louis Couperin umgebaut,
das Gehäuse vergrößert und umgestaltet, außerdem die Disposition entscheidend
geändert. Die Orgel besitzt folgende Manuale: I Positif, II Grand Orgue und
III Bombarde, jeweils mit dem Umfang C, d–d³, IV Recit mit dem Umfang g°–d³
und V Echo mit dem Umfang c’–d³, außerdem das Pedal, dessen Umfang (heute)
von A1 bis d’ reicht. Die Manualklaviaturen der heutigen Orgel stammen noch aus
der Zeit dieses Umbaus, mehr als zwei Drittel der Register – vor allem Grundstimmen und Kornette – waren bereits vor 1758 bzw. 1795 Bestandteile der Orgel.341
Charles Burney beschreibt sie folgendermaßen: „Die Orgel zu St. Gervais, welche
sehr gut zu seyn schien, ist fast ganz neu [...]. Das Pedal begreift drey Oktaven. Der
Ton des Hauptwerks ist stark, voll und angenehm, wenn man langsam spielt; aber
bey geschwinden Stellen ist der Wiederhall in diesem großen Gebäude so laut, daß
alles verworren und undeutlich wird. Der Tonkünstler darf sich bey dem Zwischenspielen sehr weit ausbreiten; nichts ist zu glänzend oder zu ernsthaft, alle Schreibarten finden hier Statt; und obgleich Herr Couperin die wahre sanfte gebundene Manier der Orgel hat, so versuchte er doch oftmals, und zwar nicht ohne Glück, eigentliche Flügelpassagen342, scharf abgestossen, in ungebundenen und abgesonderten
Noten.“343 An diesem Instrument vertrat Élisabeth-Antoinette Couperin ihren Mann
Armand-Louis, hier war Célèste-Thérèse Couperin als letztes Glied einer langen Fa340
341
342
343
106
Burney, S. 23.
Hermann J. Busch, Orgeln in Paris und Chartres, Houdan, Le Petit Andely, Pithiviers,
Rouen, Versailles, Kassel 21979. Den Artikel über die Orgel von Saint-Gervais, S. 13–
15, verfasste Pierre Hardouin.
Mit dem Flügel ist das Cembalo gemeint.
Burney, S. 24–25.
milientradition als Organistin angestellt. Da Élisabeth-Antoinette Couperins Spiel
angeblich nicht von dem ihres Mannes zu unterscheiden war, erlaubt diese Passage
zudem Rückschlüsse auf ihr Spiel.
Neben den großen Instrumenten gab es Kleinformen wie Tischregale mit kräftigen
Zungenregistern, die oft in aufklappbaren Tischen versteckt waren, etwa das Instrument im Haushalt François Couperins. Auch Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre
besaß eine derartige Orgel: In einem kleinen Kabinettschrank mit zwei Klappen und
sechs Schubladen aus schwarzem, chinesisch verziertem Holz war im Innern eine
Orgel verborgen.344 Regale dienten als Soloinstrumente, in der Kirche (siehe dazu
auch den Bericht über das sonntägliche Musizieren auf dem Landsitz La Pouplinières) und zu Hause wie auch bei Prozessionen.
Außerdem experimentierte man mit Kombinationen aus Saiten- und Pfeifeninstrumenten, wie ein zweimanualiges Cembalo (um 1630) mit einem Orgeluntersatz
aus dem 18. Jahrhundert mit jeweils drei Registern zeigt, das aus dem Besitz der
Königlichen Familie stammen und in Fontainebleau gestanden haben soll.345 Möglich, dass dies Instrument von einer der Frauen der Familie Couperin gespielt wurde. Die Orgelregister können dabei vom Untermanual des Cembalos gespielt werden. Derartige Instrumente waren besonders für das Generalbassspiel beliebt. Sie
werden in der Encyclopédie méthodique als Clavecin organisé bezeichnet.346
Der Übergang zum Hammerflügel
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden langsam Klagen über die Unflexibilität des Cembaloklanges laut. So heißt es z. B. 1761 bei François-AlexandrePierre de Garsault, dass es dem Cembalo daran mangele, „die Klänge an- und abschwellen zu lassen“. Er findet das Instrument allerdings für das Generalbassspiel
sehr nützlich.347 Noch 1780 bezeichnete Jean-Benjamin Laborde das clavecin als
das instrument trop connu348, das bekannteste Instrument.
Das clavecin blieb in Frankreich lange Zeit das führende Clavierinstrument. So
stellte etwa Pascal Taskin im Jahr 1763 in Konkurrenz zum neuartigen, in anderen
europäischen Ländern bereits modernen Hammerclavier einige Erfindungen vor, die
den Cembaloton dynamischer und flexibler gestalten sollten: Der peau de buffle, ein
344
345
346
347
348
Cessac, S. 106.
Das Instrument befindet sich heute in der Sammlung Beurmann im Museum für Kunst
und Gewerbe in Hamburg und ist ausführlich beschrieben bei Andreas Beurmann, Historische Tasteninstrumente. Cembali – Spinette – Virginale – Clavichorde, MünchenLondon-New York 2000, S. 100–102.
ENCm.
« Son défaut est de ne pouvoir enfler & diminuer les sons, qui cessent presqu’aussi-tôt
qu’ils sont frappés, point de tenues par conséquent: sa plus grande utilité est l’accompagnement. » Garsault.
Laborde, S. 343.
107
Register mit weichen Lederkielen, ermöglichte eine (minimale) Lautstärkendifferenzierung des Einzeltones mittels des Anschlags. Der Klang dieses Registers ist
außerordentlich mild und wenig nasal. Zusätzlich ermöglichte eine von Taskin entwickelte Vorrichtung, die große Zustimmung fand, über fünf bis sechs Kniehebel
unterschiedliche Register während des Spiels ein- und ausschalten. Die klangliche
und dynamische Bandbreite erweiterte sich dadurch enorm.349 Erst in den 1770er
Jahren begann das Hammerclavier langsam seinen Siegeszug auch in Frankreich.
Unter dem Stichwort Forté-piano, ou Clavecin à marteau heißt es, wiederum in der
Encyclopédie méthodique, zusammenfassend: „Das Fortepiano ist angenehm zu hören, besonders in Stücken mit leidenschaftlicher Harmonie und wenn es mit Geschmack von einem fähigen Musiker sorgsam behandelt wird. Andererseits bringen
aber mehrere Meister [...] Vorwürfe gegen dieses Instrument vor, nämlich, dass es
wegen des Gewichts der Hämmer, welches die Finger ermüdet und selbst die Hand
mit der Zeit schwer werden lässt, schwer zu spielen sei. Dennoch gewinnen die
meisten Meister vorzugsweise dieses Instrument für ihre Kompositionen lieb, da es
ihnen deutlichere Effekte als das Cembalo zur Verfügung stellt.“ 350 Die ersten
Hammerflügel wurden aus England und Deutschland importiert. Zum ersten Mal
brachte eine Mlle Le Chantre das neue Instrument öffentlich zu Gehör. Sie spielte
darauf am 8. September 1768 im Concert spirituel Kompositionen ihres Lehrer Romain de Brasseur351, ein Ereignis, das allerdings keine große Aufmerksamkeit erregte. So verdrängte das Hammerclavier in dieser Konzertreihe auch zuerst die Orgel, bevor es dem Cembalo seinen Rang streitig machen konnte.352 Die erste Notenpublikation, die ausdrücklich für das Hammerclavier gedacht war, erschien 1776 im
Druck: Es handelt sich um das Quintetto concertant pour le forte piano principal
avec accompagnement de violon, quinte basson et basse von François-Joseph Darcis353.
349
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Eine genaue Beschreibung dieses Instrumententyps, welchen beispielsweise ElisabethAntoinette Couperin gekannt haben muss, findet sich bei John Henry van der Meer, Die
Geschichte der Zupfklaviere bis 1800. Ein Überblick, in: Kielclaviere, S. 9–60, hier
S. 34.
« Le forté-piano est agréable à entendre, sur-tout dans des morceaux d’une harmonie
pathétique, & lorsqu’il est ménagé avec goût par un habile musicien; mais outre les reproches qui lui sont faits par plusieurs maîtres, entr’autres, par M. Trouflant, organiste
de Nevers, on l’accuse d’être pénible à jouer, à cause de la pesanteur du marteau qui fatigue les doigts, & qui même peut rendre la main lourde avec le temps. Cependant, l’on
voit la plupart des maîtres s’attacher de préférence à cet instrument pour leurs compositions de musique, parce qu’il leur donne des effets plus marqués que le clavecin. »
ENCm, S. 25, Übers.: C. S. und Ch. S.
Gustafson/Fuller, S. 8.
Gustafson/Fuller, S. 7–8.
Das Charles-Joachim, Comte de Rouault gewidmete Werk erschien 1776 im Druck.
Gustafson/Fuller, S. 116–117.
Im Jahre 1777 wurde in Paris von dem aus Straßburg stammenden Clavierbauer Sébastien Erard das erste Tafelclavier gebaut. 354 Dieser Instrumententyp, der
durch seine geringere Größe und seinen niedrigeren Preis Einzug in die Wohnstuben des Bürgertums halten sollte, gewann in Frankreich allerdings erst im 19. Jahrhundert an Bedeutung.
Bis zur Französischen Revolution wurden Hammerflügel nur von einem kleineren Kreis Kunstliebender propagiert. Die entsprechenden Kompositionen erschienen meist unter der Angabe clavecin ou forte-piano. Sie werden stilistisch und
klanglich weder dem Cembalo noch dem Hammerclavier vollkommen gerecht. Dies
steht in einem krassen Gegensatz zu den vorhergehenden Jahrzehnten, war doch gerade die französische Cembalomusik berühmt für ihre besonders gut den Klang dieses Instrumentes ausschöpfende Kompositionsart. Es entstand eine Art Mischstil,
der die Werke ebenso gut für das Cembalo wie für den Hammerflügel geeignet
machte. In diesem Zusammenhang steht auch die Entwicklung der Sonate für Clavier mit begleitenden, obligaten oder ad libitum eingesetzten Instrumenten, meist
Violine und Violoncello. Diese Kompositionsart kam bereits im 17. Jahrhundert
auf. Im 18. Jahrhundert begann dann mit Jean-Joseph Cassanea de Mondonvilles
Sonates pour le clavecin avec accompagnement de violon, œuvre III (Paris 1738) eine Entwicklung, die über Armand-Louis Couperins Sonates en pieces de clavecin
avec accompagnement de violon ad libitum (Paris 1765) und Marie-Emmanuelle
Bayons Six Sonates pour le Clavecin ou Piano Forte dont trois avec accompagnement de violon obligé, œuvre I (Paris, ca. 1770) bis hin zum klassischen Claviertrio
reichte.355
An der Verbreitung der neuen Kompositionen und der Propagierung des Hammerclaviers waren in Frankreich über die Salons gerade Frauen stark beteiligt. Zu diesen zählte beispielsweise Anne Louise Boyvin d’Hardancourt Brillon de Jouy
(1744–1824), eine Clavierspielerin und Komponistin, die zur liberalen Gesellschaft
von Passy gehörte und eng befreundet mit dem Musikliebhaber Benjamin Franklin
in dessen Pariser Jahren als amerikanischer Gesandter war. Sie besaß einen englischen Hammerflügel, den ihr Johann Christian Bach geschickt hatte, einen deutschen Hammerflügel und ein Cembalo.356 Über die Musikerin Julie Candeille berichtete sogar in Deutschland Cramers Magazin der Musik: „Im Concert spirituel
354
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356
Ein vermutlich fast baugleiches Instrument aus dem Jahre 1790 befindet sich heute im
Deutschen Museum in München. Vgl. Hubert Henkel, Besaitete Tasteninstrumente.
Deutsches Museum. Kataloge der Sammlungen. Musikinstrumenten-Sammlung, Frankfurt/Main 1994, S. 224–226.
Bei diesen Sonaten handelt es sich um die erste frz. Publikation, die auf dem Titelblatt
das Hammerclavier als Alternative zum Cembalo vorsieht. Siehe dazu Gustafson/
Fuller, S. 10.
Bruce Gustafson, Anne Louise Boyvin d’Hardancourt Brillon de Jouy, in: MGG 1999.
Für diese Besetzung entstand wohl ihr Trio à trois Clavecins en ut Mineur, dessen 1.
Stimme die Bezeichnung piano anglois trägt, siehe Gustafson/Fuller, S. 11.
109
hat neulich das Concert des Herrn Clementi, so durch die Demoiselle Candeile auf
den organisirten Piano=Forte gespielt wurde, viel Aufsehen gemacht. Diese junge
Virtuosin ist eine vortrefliche Spielerin, sie hat eine sehr leichte, flüchtige Hand,
von der besten Ausführung, viel Geschmack und Genauigkeit; sie fand lauten Beyfall, obgleich dieses Instrument, überhaupt genommen, von weniger Wirkung im
Concert ist.“357 Kein Wunder, waren doch die ersten Hammerflügel sehr leise und
für große Konzertsäle ungeeignet. Ihr Reiz lag in der Farbe des Pianos, in der Stille
und Intimität. Sicherlich ist das ein Grund, warum sich gerade Frauen so früh mit
diesem Instrumententyp auseinandersetzten, der in seinen Klangeigenschaften ihre
Geschlechterrolle gleichsam widerspiegelte.
Ausdrücklich wird immer wieder Marie-Emmanuelle Bayon, Komponistin, Virtuosin und Clavierlehrerin, mit der Einführung des Hammerflügels in Frankreich in
Verbindung gebracht. Geboren 1746 in Marcei, etwa 200 Kilometer westlich von
Paris, fiel sie seit den 1760er Jahren in den intellektuellen und künstlerischen Kreisen der französischen Hauptstadt durch ihr Clavierspiel, ihren Gesang und ihre
Kompositionen auf. Sie gehörte zum Salon von Mme de Genlis, die lobende Worte
über die junge Künstlerin in ihren Memoiren fand: sie sei eine charmante junge Person, lieblich, sanft, und bescheiden.358 Im Salon der Mme Genlis trat Marie-Emmanuelle Bayon als Clavierspielerin (die Autorin spricht vom „Piano“ – vermutlich ist
hiermit wirklich bereits das Hammerclavier gemeint) gemeinsam mit den Violinisten Wilhelm Cramer und Giovanni (Ivan) Marne Jarnovitz, dem Cellisten Duport359, der Salonnière Genlis selbst an der Harfe und dem Sänger Friseri auf. Drei
Dinge machten die Künstlerin berühmt: Zum einen war es ihre zweiaktige, komische Oper Fleur d’Epine360, in ihrer vollständigen Fassung erstmals aufgeführt am
22. August 1776 im Pariser Théâtre Italien, hoch gelobt und in vielen Lexika vermerkt.361 Zum anderen sind es die Rolle, die man ihr bei der Einführung des Hammerflügels in Frankreich zuschrieb und die Tatsache, dass sie vor Anton Bemetzrieder die Clavierlehrerin Angélique Diderots war, der Tochter des berühmten Schriftstellers.
Am 20. Juni 1770 heiratete Marie-Emmanuelle Bayon auf Vermittlung Denis
Diderots dessen Freund, den erfolgreichen Architekten Victor Louis. 1774 wurde
357
358
359
360
361
110
Cramer MAG, Zweyter Jahrgang 1784, Hamburg 1784, S. 31–32.
GenlisM Bd. 1, S. 356.
Vermutlich handelte es sich um Jean-Pierre Duport.
Fleur d'épine, Comédie an deux actes, mélée d'ariettes, 1. Paris [c 1776], 2. Paris o. J.,
RISM AI B 1428, 1429, BB 1428, 1429a. Es existieren auch verschiedene Bearbeitungen und Drucke einzelner Arien, siehe RISM B II, S. 317 und Garvey Jackson, S. 258–
261.
Auch CM 1788 und 1789 und Tablettes 1785 vermerken Mme Louis unter den Komponisten und Komponistinnen mit dieser Oper auf S. 251 bzw. S. 279, ebenso AM 1777–
1779 (alle drei mit dem Zusatz « à Bordeaux ») und AM 1783.
eine Tochter, Marie-Hélène-Victoire, geboren. Ende 1776 zog die Familie nach
Bordeaux, wo Victor Louis den Auftrag erhalten hatte, das neue Theater zu erbauen. Die Familie wohnte gegenüber dem neuen Theater. Mme Louis wurde als eine
Frau mit grenzenlosen geistigen Fähigkeiten und von großer Schönheit beschrieben,
deren Charme und Liebenswürdigkeit die wichtigsten Leute der Stadt veranlasste,
sich um ihre Gunst zu bemühen.362 Es war eine glanzvolle Zeit für beide Ehepartner. Im August 1780 kehrte die Familie Louis nach Paris zurück. Marie-Emmanuelle gründete hier, wie bereits in Bordeaux, ihren eigenen Kunst- und Literatursalon.
Auch sie selbst trat weiterhin als Musikerin auf und komponierte für diese Anlässe,
u. a. auch weitere Opern. Im Jahrgang 1787 der Correspondance secrète, politique
et littéraire, ou mémoire heißt es im Jahr 1787 in einem Vermerk über Fleur
d’épine: „Sie war es, die das Forte-Piano, momentan das Instrument, das sich der
größten Beliebtheit erfreut, hier in Mode gebracht hat.“363
Durch ihre gehobene soziale Stellung konnte sie Einfluss nehmen auf Geschmack und Stil ihrer Gesellschaften. Und durch diesen Einfluss wird sie auch das
neue Tasteninstrument, das Hammerclavier, protegiert haben, werden in ihrem Salon an einem dieser Instrumente – wahrscheinlich englischen Typus’, wie auch Diderot sie orderte364 – neben ihr selbst berühmte Musiker ihres Kreises auf diesem
Pianoforte gespielt und die Komponisten dafür Werke geschrieben haben. So ging
Marie-Emmanuelle Bayon, verheiratete Louis als eine Pionierin des Hammerclaviers in die Musikgeschichte ein.
3.2
Die musikalische Ausbildung der Clavierlehrerinnen
Allein die zumindest bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts beinahe standardmäßige Abstammung der Clavierlehrerinnen aus Musikerfamilien oder Familien, deren
Väter in verwandten Berufszweigen beheimatet waren, lässt auf eine gediegene musikalische Ausbildung der späteren Lehrkräfte schließen. Die Beispiele der erfolgreichen Frauen wie Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre oder Marguerite-Antoinette Couperin stützen diese These. Da Heiraten meist im eigenen Milieu stattfanden, konnte die Frau, selbst wenn sie nach einer Eheschließung nicht mehr selbst
musikalisch aktiv sein sollte, bei den anliegenden Arbeiten wie dem Kopieren, Einrichten von Instrumentalstimmen für Aufführungen oder der Vorbereitung eines
362
363
364
Gailleur l'Hardy, Portefeuille iconographique de V. Louis, Paris 1828, S. 322, nach
Hayes, S. 31.
« On prépare à ce spectacle Fleur d'épine, ouvrage posthume de l'abbé de Voisenon,
363
mis en musique par Madame Louis, femme de l'Architecte du Roi de Pologne , & délle
jà célebre sous le nom de M . Bayon, par ses talens en musique. C'est elle qui a mis à
la mode ici le Forte-Piano, instrument qui a maintenant la plus grande vogue. » Metra,
S. 216, Eintrag vom 3. 8. 1776. Übers.: C. S. und Ch. S.
Siehe die Briefe an Charles Burney vom 26. 9. 1771 und 28. 10. 1771, in: Diderot ÄS,
S. 325–328.
111
Druckes helfen. Im Falle einer Nichtverheiratung oder Verwitwung scheint es in
diesen Kreisen üblich und keineswegs unschicklich gewesen zu sein, dass die Frau
sich ihr Können und ihre musikalische Ausbildung zu Nutze machte. Die Unterweisung als Kind war also gleichsam eine Vorsorge für spätere Zeiten. Besonders zur
Zeit Louis XIV. genossen Musikerinnen eine relativ große Unabhängigkeit, was
sich beispielsweise darin zeigt, dass sie üblicherweise mit ihrem Geburtsnamen benannt wurden. Frauen besaßen Eigentum, sie verfassten eigene Testamente, wie es
das Beispiel Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerres zeigt. Dies änderte sich zwar
unter Louis XV., dennoch blieb in Frankreich eine lebhafte Tradition weiblicher Eigenständigkeit am Leben.365
Da man außerdem im 18. Jahrhundert die Privaterziehung sehr ernst nahm, gab
es einerseits einen großen Bedarf an musikalischen Lehrkräften. Andererseits wurde
so aber auch der Grundstein gelegt, dass der Beruf der Clavierlehrerin in der Folgezeit auch solchen Frauen offen stehen sollte, die zwar nicht auf eine Musikertradition zurückblicken konnten, aber sich mittels einer guten privaten Ausbildung das
entsprechende Rüstzeug für den Lehrberuf angeeignet hatten. Wie hoch die Anzahl
der entsprechend ausgebildeten Musikerinnen in Frankreich in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts war, zeigt ein deutscher Bericht aus Cramers Magazin der Musik: „Von Liebhaberinnen fürs Clavier, die stark spielen, giebt es eine unnennbare
Anzahl in Paris. Damen, die im Stande sind mit jedem Claviermeister um die Wette
eine schwere, vielleicht auch mit ihm seine eigene gesetzte Sonate abzuspielen,
giebt es nicht wenige. Und kaum wird in Europa eine Stadt so viele Liebhaberinnen
zählen können, die alle so schön, so empfindungsvoll (dazu sind sie gestimmt) so
zärtlich sprechend, Wollust athmend, mit so naifem Anstande moduliren können.“366
Dabei sind die Zeiträume, in denen der Unterricht erteilt wurde – zumindest
soweit es den Unterricht betraf, der nicht im Rahmen der eigenen Familie stattfand
– nicht mit unseren heutigen Vorstellungen zu vergleichen. Anton Bemetzrieder unterrichtete die gesamte Harmonielehre in sieben bis acht Monaten.367 Nicolas Fleury
ging davon aus, dass das Generalbassspiel nach seinem Traktat in nur einem Monat
erlernbar sei.368 Marie Marguerite Deschamps erhielt bei Louis Jacques Thomelin
Unterricht im Spiel auf der Orgel und dem Cembalo und im Notenlesen und sollte
dadurch in den Stand versetzt werden, binnen drei Jahren Gottesdienste spielen zu
können. Ihre Schwester Jeanne Deschamps sollte für ein Jahr Cembalounterricht erhalten. Die Bezahlung war folgendermaßen geregelt: Zu dem Zeitpunkt, an dem
365
366
367
368
112
Edith Borroff, Women Composers: Reminiscence and History, in: CMSJ 15, Frühjahr
1975, S. 26–33, S. 30–31.
Cramer MAG, 1. Jg., 2. Hälfte, Hamburg 1783, S. 795–796.
So lange brauchte er angeblich, um Angélique Diderot diesen Stoff beizubringen. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen aus Mme de Genlis Harfenschule zu diesem Thema.
Fleury, Avertissement.
Marie Marguerite Deschamps die Hälfte des zu erlernenden Stoffes beherrschen
würde, waren 100 Livre fällig. Der restliche Betrag sollte gezahlt werden, wenn je
ein von Vater- und von Lehrerseite bestimmter Gutachter das Lernen für abgeschlossen erklären würden. Sollte Marie Marguerite noch nicht in der Lage sein, die
ihr gestellten Aufgaben zu lösen (von ihrem vorhandenen oder fehlenden Eifer beim
Üben hing der Erfolg des Unterrichts offenbar gar nicht ab), verpflichtete sich ihr
Lehrer, sie auch in ihrem (Pariser) Konvent, in den sie offensichtlich eintreten und
für den sie das Clavierspiel erlernen sollte, weiter zu unterrichten.369 Ein Bericht
aus dem Mercure galant des Jahres 1678 verdeutlicht ebenfalls die kurze Phase, die
für den Unterricht veranschlagt wurde. Darin wird von einer Mlle Ange berichtet,
die nach nur zwei Monaten Lautenunterricht bei Mr Dessensonieres auf diesem Instrument solche Fortschritte gemacht hatte, „dass sie kaum wiederzuerkennen ist“.370
Das Conservatoire National de Musique et de Déclamation
Erst eine spätere Generation von Clavierlehrerinnen sollte von den Möglichkeiten
und Chancen, die das neu gegründete Conservatoire National de Musique et de Déclamation bot, profitieren können. Am 3. Januar 1784 durch den Baron de Breteuil
zunächst als École Royale de Chant et de Déclamation gegründet, diente dieses Institut ursprünglich der Ausbildung des sängerischen Nachwuchses für die Opéra.
Am 1. April 1784 wurde das neue Institut im südlichen Teil des Hôtel des MenusPlaisirs eröffnet. Es gab zwölf Ausbildungsklassen mit jeweils 15 Personen, die bei
François-Joseph Gossec zusätzlich Harmonielehre und Komposition studieren
konnten. Im Oktober 1788 wurden je sieben Schülerinnen und Schüler von immerhin 17 Lehrkräften in Gesang, Solfège, Tanz, Deklamation und auf einigen Instrumenten unterrichtet.371 Eine Aufstellung vom April desselben Jahres zeigt, dass die
meisten Lehrer drei Mal wöchentlich unterrichteten. Dafür erhielt beispielsweise
Louis Gobert, zuständig für Cembalospiel und Akkompagnement, 2400 Livres.372
Während der Revolutionsjahre verschwand diese Schule. 1789 gründete Bernard
369
370
371
372
AN, Minutier central XI, 481, 4. 9. 1727, nach Benoit/Dufourcq, S. 202.
« Je fus charmé de ce que j’entendis il y a trois jours sur cet admirable Instrument. M.
Dessensonieres le touchoit, et il le touche avec tant de force et de délicatesse tout-ensemble, qu’on peut dire qu’il vaut luy seul un Concert. C’est un plaisir qu’il donne toutes les Semaines à ses Amis, et à ceux qu’ils veulent mener chez luy. Le Jeudy est le
jour qu’il a choisi pour cela. Après avoir esté ecouté avec applaudissement dans toutes
les Cours de l’Europe, il s’est enfin arresté à Paris, où les Ecoliers qu’il perfectionne
font admirer sa manière d’exécuter tout ce qui a jamais esté fait de plus achevé sur le
Lut. Pour en estre persuadé, il ne faut qu’entendre Mademoiselle Ange, qui depuis deux
mois qu’elle a pris Leçon de luy, a tellement augmenté, soit pour la méthode, soit pour
la finesse du Jeu, qu’il semble qu’elle ne reconnaisse plus elle-mesme. » Nach Frédéric
Robert, La Musique à travers le « Mercure galant » (1678), in: RMFC 1962, S. 173–
190, S. 178.
Pierre, S. 34.
Pierre, S. 47–48.
113
Sarrette, ein Angestellter des Bureau du dépôt des grandes-françaises, mit einigen
musikinteressierten Soldaten ein Blasorchester, das an den Revolutionsfesten auftreten sollte. 1792 wurden von den Orchestermitgliedern bereits 120 Schüler unterrichtet. So entstand die École nationale de musique, 1793 zum Institut National de
Musique mit 600 Unterrichtsplätzen erweitert. Mittlerweile fand auch Instrumentalunterricht statt. Im Jahr 1794 befand sich unter den Lehrenden eine einzige Frau,
Mlle Mulot, eine Akkompagnistin.373 Am 3. August 1795 schuf eine Convention das
Conservatoire National de Musique et de Déclamation durch Zusammenlegung der
Klassen der École nationale de musique und der wieder eröffneten École de chant
et de déclamation. Am 29. Oktober 1796 öffnete dies neue Conservatoire als eine
aus der Revolution und deren Geist hervorgegangene Ausbildungsstätte seine Pforten im Hôtel des Menus-Plaisirs für 350 Schülerinnen und Schüler.374 Von Anfang
an hatte das Institut eine dreifache Aufgabe, bestehend aus „Musikerziehung, Verbreitung von Musik und Entwicklung von musikalischer Kreativität“375. Neben dem
Gesangs- und Instrumentalunterricht war man auch am Sammeln alter wie zeitgenössischer Instrumente und Partituren interessiert. So besaß das Conservatoire im
August 1796 neben zahlreichen anderen Instrumenten auch 53 Cembali und Spinette und 45 Klaviere und Orgeln.376 Zu den Lehrkräften, deren Zahl auf maximal 115
festgelegt war (die Zahl der Studierenden sollte 600 nicht überschreiten, diese Zahl
wurde allerdings nicht einmal annähernd erreicht), gehörten stets die berühmtesten
Musiker und Musikerinnen Frankreichs. Die Studierenden, die sogenannten „Zöglinge der Nation“ hatten einmal im Jahr eine „Generalprüfung“ abzulegen. Es gab
ein großes öffentliches Konzert mit anschließender Verteilung der Preise für die
Besten der Generalprüfung im Konzertsaal des Hôtel des Menus-Plaisirs. Die Berufung zur Lehre am Conservatoire National de Musique et de Déclamation galt als
„höchste Auszeichung“.377
Das Ausbildungskonzept André-Ernest-Modeste Grétrys
Nur von wenigen Clavierlehrerinnen und Musikerinnen sind Details über ihre musikalische Ausbildung bekannt. Lucile Grétry, mit vollständigem Namen AngéliqueDorothée-Louise, war die zweite Tochter des Komponisten und Inspecteur des études am Pariser Conservatoire André-Ernest-Modeste Grétry. Lucile wurde am 15.
Juli 1772 in Paris geboren und starb, wie auch ihre beiden Schwestern, in jungen
Jahren (März 1790) an Tuberkulose. Sie erhielt von ihrem Vater Unterricht in Kon-
373
374
375
376
377
114
Pierre, S. 61.
Hillaire Bd. 1, S. 380.
Gétreau, S. 181.
Gétreau, S. 183.
Sowa, S. 45.
trapunkt und Deklamation, Jean-François Tapray378 unterwies sie in Harmonielehre.
Ihr Instrument war die Harfe. Bekannt wurde Lucile besonders durch ihre Oper Le
mariage d’Antonio, die am 29. Juli 1786 erstmals im Salle Favart in der Comédie
Italienne aufgeführt wurde. Lucile hatte die Vokalstimmen, den Bass und das Harfenakkompagnement geschrieben, ihr Vater den Orchestersatz angefertigt. Die Oper
war ein voller Erfolg und erlebte insgesamt 47 Aufführungen. In einem am Tag der
Premiere an die Redaktion des Journal de Paris geschriebenen Brief erläutert Grétry, wie er seine Tochter unterrichtet und sie zum Komponieren angeleitet habe:
„Wenn sie mir ein Stück bringt, das ich als musikalisch nicht erfaßt im Sinne der
Worte beurteile, sage ich nicht: ,Deine Melodie ist schlecht’, sondern: ,Sieh her,
d i e s hast Du ausgedrückt’, und dann singe ich ihr die Melodie vor, und zwar auf
Worte, die ich für darauf passend halte, und gebe damit dem, was bisher nur undeutlich oder widersinnig erschien, den richtigen Ausdruck.“ Nachdem die Schülerin Harmonielehre und Kontrapunkt beherrscht, hält Grétry es für absolut notwendig, intensiv am „wahren Ausdrucks“ zu arbeiten. „Mit dieser Übung sollte rechtzeitig begonnen werden, denn die Sprache der Musik, für die meisten Menschen
rätselhaft, ist tatsächlich so wahr, so vielfältig wie die Deklamation. [...] Das Studium der Komposition besteht im Studium der Deklamation, so wie dasjenige der
Malerei im Zeichnen nach der Natur.“379 Weiteres dazu führt Grétry in seinen Memoiren aus. Damit der Schüler nicht „das Abbild eines einzigen Lehrers werde, plädiert er für häufige Lehrerwechsel: „Der Schüler muß alles sehen, alles kennen, alles vergleichen. Nur aus diesem Chaos kann er sich sein Genre und seinen Stil wählen. Nimmt er alles von seinem Lehrer an, so muß die Natur alles in ihm wieder zurechtrücken, um ihn zu sich selbst zu führen.“380
378
379
380
Jean-François Tapray, Komponist, Organist und Lehrer für Harmonielehre und Cembalospiel, arrangierte ein Quartett und einige Arien aus Grétrys Oper Lucile (nach der er
seine Tochter benannt hatte) und aus Tableau parlant für Cembalo.
« Lorsqu’elle m’apporte un morceau que je juge n’être pas faisi musicalement dans le
sens des paroles, je ne lui dis pas: votre chant est mauvais; mais voici, lui dis-je, ce que
vous avez exprimé. Alors je chante son air sur des paroles que j’y crois analogues, & je
donne une vérité d’expression à ce qui n’étoit que vague ou à contresens. Cette méthode d’éducation m’a paru la meilleure; car pourquoi rejeter comme mauvais ce qui, en
certains cas, auroit pu être bon? En se perfectionnant dans l’art des modulations avec
un excellent Maître (M. Tapray); en apprenant avec moi l’art d’écrire le contrepoint, je
ne juge pas inutile de l’habituer à se servir de l’expression juste. Cette habitude doit
être prise de bonne heure; car le langage musical, énigmatique pour bien des gens, est
en effet aussi vrai & aussi varié que la déclamation. […] L’étude d’un Compositeur est
celle de la déclamation, comme le dessin d’après nature est celle d’un Peintre. » Aus
dem Brief Grétrys an die Herausgeber des JdP vom Samstag, 29. 7. 1786, S. 871,
Übers. nach GrétryD, S. 193.
« J'ai donné plusieurs maîtres de musique à ma fille, et j'en changerai encore. Je sais
qu'elle n'en tirera aucun parti, si elle n'est destinée qu'á être un compositeur du commun. Je sais qu'elle s'embrouillera dans les différens systèmes que ses maîtres lui présenteront; que m'importe? J'aime mieux qu'elle s'égare et reste ensevelie dans cette sur-
115
In seinen Mémoires ou Essais sur la Musique legt Grétry nicht nur fest, wie er
sich einen guten und geeigneten Unterricht vorstellt, er konstatiert auch, dass „jeder
fähige Instrumentallehrer sich an dieselben Regeln wie ein Gesangslehrer hält“. Jeder Lehrer sollte, so Grétrys Wunsch, seine Unterrichtserfahrungen aufzeichnen,
wie es beispielsweise Mme Montgeroult, Lehrerin am Pariser Conservatoire, getan
hat. Aus diesen Einzeltraktaten wünscht er sich für jedes Instrument ein gesondertes, von den fünf Inspektoren des Conservatoire zusammengestelltes Lehrbuch.381
Der Lehrer muss nach den Vorstellungen Grétrys kein Universalgenie sein, doch er
soll allein schon durch seine guten Prinzipien jedem Schüler nützlich sein. „Er ist
ein lebendiges Lexikon der Gelehrsamkeit, der jeden Schüler auf die für ihn gute
Art unterweist.“382
Caroline Wuiet – eine Demoiselle mit einem ‚männlichen Kopf’
Drei der vier Personen, von denen bekannt ist, dass Grétry ihnen (sicher nach der
von ihm selbst beschriebenen Methode) Unterricht erteilte, waren Frauen. Neben
dem einzigen Jungen, Darcis mit Namen, der mit neun Jahren zu Grétry kam und
seiner Tochter Lucile waren dies Alexandrine-Sophie Goury de Champgrand de
Bawr (1773–1860)383, deren Verhältnis zu ihrem Lehrer immerhin so eng war, dass
er bei ihrer Hochzeit als Trauzeuge fungierte, und Caroline Wuiet (auch Vuiet),
später verheiratete Auffdiener. 384 Letztere war die Tochter eines Organisten von
Rambouillet und erregte bereits im Alter von fünf Jahren durch ihr Clavierspiel
Aufmerksamkeit. Sie erhielt Unterricht in der Literatur von Pierre Augustin Caran
de Beaumarchais und Charles Albert Demonsiter und von Grétry in Musik, außerdem unterwies Jean Baptiste Greuze sie in der Malerei.385 „Meine zweite Schülerin
war Mlle Caroline Vuïet. Nie besaß eine Frau einen männlicheren und stärkeren
Kopf als diese Demoiselle, die zu dieser Zeit erst neun bis zehn Jahre alt war. Sie
könnte eine berühmte Komponistin sein, wenn sie sich nicht der Literatur verschrie-
381
382
383
384
385
116
abondance, que si elle devenoit la copie d'un seul homme. Mais si la nature l'a destinée
à être quelque chose par elle-même, elle aura de quoi choisir, et saura mettre à profit
jusqu'aux contradictions qui existent entre tel et tel système. » Grétry Bd. 1, S. 386,
Übers. nach GrétryD, S. 195.
Grétry Bd. 3, S. 373.
« Il n’est pas nécessaire que le maître ait un génie universel pour diriger son école: en
possédant bien les principes, qouiqu’il ne sache pas en faire un grand usage, le bon
maître est comme un appendice général, qui représente les maîtres de tous es genres;
c’est un dictionnaire vivant d’érudition, qui explique et renvoie chaque élève à sa chose
qui lui est propre. » Grétry Bd. 3, S. 381–382.
Mme de Bawr beschreibt in ihren Memoiren Mes souvenirs, erschienen 1853 in Paris,
ihre Unterrichtsstunden ganz ähnlich wie die, welche Lucile erhielt. Brenet-Grétry,
S. 191–192.
Brenet-Grétry, S. 193.
Fétis.
ben hätte, in der sie eines Tages Erfolg haben muss“386, so Grétry in seinen Memoiren. Dass sie auch am Instrument große Leistungen erbrachte, zeigt ein Bericht von
Cramer, nach dem sie „mit vielem Geschmack und Fertigkeit“ spielte und man noch
„mehr Großes von ihren Talenten erwarten“ könne, „da sie noch jung ist“.387
In den Revolutionsjahren wurde Caroline Wuiet wegen ihrer Verbindungen
zur königlichen Familie verurteilt, konnte aber nach Holland und später England
fliehen. Sie lebte in dieser Zeit von den Honoraren, die sie mit Clavierstunden verdienen konnte. Nach ihrer Rückkehr nach Paris unter dem Directoire stürzte sich
Caroline Wuiet in eine literarische Karriere. 1807 heiratete sie den Colonel Auffdiener, mit dem sie nach Lissabon zog. Aus dieser Zeit datieren zwei Briefe Grétrys an
seine ehemalige Schülerin, die sein enges Verhältnis zu ihr bezeugen. Er nennt sie
„mein inspirierender Engel“ und schreibt: „Sie sind für mich eines dieser Wunder,
die man ein Mal in einem köstlichen Traum sieht und die für immer verschwinden.“388
Mit dem Einstellungsbefehl der französischen Truppen kehrte das Ehepaar
Auffdiener nach Frankreich zurück, lebte aber getrennt, und Caroline Wuiet widmete sich der Musik und Poesie. Sie veröffentlichte Romanzen, Clavierwerke, Kammermusik und zwei 1786 erstmals aufgeführte Opern, L’Heureuse Erreur und
L’heureux stratagème ou le vol supposé. Nach Fétis und Mendel nahm sie auch das
Erteilen von Musikstunden wieder auf: alles Früchte ihres bei Grétry genossenen
Unterrichts.
Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis und Marie-Françoise de Mars
Mit eigenen Worten schildert Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis in ihren Memoiren den Unterricht, den sie selbst als Kind erhielt, und gibt damit Informationen
über ihre Lehrerin Mlle de Mars. Diese, Marie-Françoise mit Vornamen, war von
1753 bis 1760 im Château von Saint-Aubin die Lehrerin der jungen Stéphanie-Félicité.389 Sie war von der Mutter des jungen Mädchens engagiert worden, die selbst in
386
387
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389
« Ma seconde élève fut M.elle Caroline Vuïet; jamais femme n’eut une tête plus mâle,
plus forte que cette demoiselle, qui avoit alors neuf à dix ans. Elle pouvoit être un compositeur distingué lorsqu’elle prit un goût passionné pour la littérature, où elle doit
avoir und jour des succès. » Grétry Bd. 3, S. 384, Übers.: C. S. & Ch. S.
Nach Unger, S. 42.
Briefe André-Ernest-Modeste Grétrys an Caroline Wuiet. Der erste wurde am
10. 2. 1809 in Paris geschrieben, der andere ist undatiert. Hier heißt es: « vous êtes pour
moi une de ces merveilles qu’on voit une fois dans un rêve délicieux et qui disparaissent pour jamais. » Beide Briefe abgedruckt in Froidcourt S. 298–299, Übers.: C. S und
Ch. S. Angeblich existierte 1833 die Kopie eines Briefes, diesmal von Caroline Wuiet
adressiert an Grétry, in dem sie sich über die Enttäuschung beklagte, dass die Comédie
Italienne eine von ihr geschriebene komische Oper nicht hatte annehmen wollen, siehe
Froidcourt, S. 298.
Benoit DIC, S. 220. In GroveW und Bowers/Thick wird fälschlicherweise HélèneLouise de Mars als Lehrerin Stéphanie-Felicité du Crest de Genlis’ angegeben.
117
dem Couvent, in dem sie erzogen worden war, Singen und Orgelspiel erlernt hatte.
Mit den folgenden Worten beschreibt die frühere Schülerin die Ankunft ihrer Lehrerin: „Ich war in meinem siebten Lebensjahr, hatte eine schöne Stimme und zeigte
viel Geschmack für die Musik. Meine Mutter hatte daher in Paris das Arrangement
getroffen, dass eine junge Person, die Tochter des Organisten aus Vannes, aus der
Basse-Bretagne zu uns kommen sollte. Sie war eine ausgezeichnete Musikerin, die
das Cembalo mit Vollkommenheit spielte. Wir fanden bei unserer Rückkehr von
Moulins in Saint-Aubin ein gutes Cembalo, ein altes Rucker, vor und erwarteten
Mademoiselle de Mars mit Ungeduld, denn dies war der Name der jungen Musikerin. Zu meiner großen Zufriedenheit kam sie tatsächlich. Ohne hübsch zu sein, hatte
sie doch schöne Augen, eine ausdrucksvolle Physiognomie, zärtliche Umgangsformen und ein kluges und etwas ernstes Aussehen, obschon sie nicht älter als sechzehn Jahre alt war. Von den ersten Tagen an liebte ich sie leidenschaftlich, und dieses Gefühl war ebenso beständig wie lebhaft. Man hatte sie beauftragt, mich in allen
Fächern zu unterweisen, man überließ mich ihr ganz. Und trotz ihrer großen Jugend
hätte man mich in keine besseren Hände geben können. Mademoiselle de Mars hatte keinerlei weltliche Ausbildung, aber sie besaß einen natürlichen Verstand, einen
zarten und ernsthaften Charakter, eine noble und einfühlsame Seele und die aufrichtigste Gottesfurcht.“390 An späterer Stelle beschreibt die Autorin ihre frühere Lehrerin als immer ruhig gegenüber dem lebhaften jungen Mädchen.391 Da die Mutter infolge gesellschaftlicher Verpflichtungen keine Zeit für das Kind hatte, kümmerte
sich Mlle de Mars fast ausschließlich um das junge Mädchen, das Vater und Mutter
„nur beim Aufstehen und in den Ruhestunden“ sah. Den Rest des Tages verbrachte
sie mit ihrer Lehrerin in ihrem Zimmer oder beim Spaziergang.392
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118
« J’étais dans ma septième année, j’avais une belle voix, j’annonçais beaucoup de goût
pour la musique; ma mère avait pris des arrangemens à Paris pour faire venir de la
Basse-Bretagne une jeune personne, fille de l’organiste de Vannes, excellente musicienne et jouant parfaitement du clavecin. Nous trouvâmes à Saint-Aubin un bon clavecin, un vieux Rucker arrivant de Moulins, et nous attendîmes avec la plus vive impatience mademoiselle de Mars, c’était le nom de la jeune musicienne. Elle vint en effet, à
mon extrême satisfaction; sans être jolie, elle avait de beaux yeux, une physionomie expressive, des manières remplies de douceur, un air sage et un peu grave, quoiqu’elle
n’eût que seize ans. Je me passionnai pour elle dès les premiers jours, et ce sentiment a
été aussi solide qu’il était vif. On la chargea de m’instruire, de me guider en tout; on me
livra entièrement à elle, et malgré sa grande jeunesse on ne pouvait me remettre en de
plus dignes mains. Mademoiselle de Mars n’avait nulle instruction profane, mais elle
avait de l’esprit naturel, un caractère doux et sérieux, une âme noble et sensible, et la
piété la plus sincère. » GenlisM Bd. 1, S. 21–22, Übers.: C. S. & Ch. S.
GenlisM Bd. 1, S. 38–39.
« Je ne voyais ma mère et mon père qu’un moment à leur réveil, et aux heures des repas. Après le dîner, je restais une heure dans le salon; je passais le reste de la journée
dans ma chambre avec mademoiselle de Mars, ou à la promenade toujours seule avec
elle. » GenlisM Bd. 1, S. 22.
Täglich erteilte Marie-Françoise de Mars dem jungen Mädchen eine Stunde
Musik- und zwei Stunden Cembalounterricht. Stéphanie-Félicité berichtet, dass sie
die Mühe des Spielens nach Noten, das ihre Lehrerin von ihr verlangte, so zu umgehen suchte, dass sie sich das entsprechende Stück unter dem Vorwand, es sehr zu
lieben, so lange vorspielen ließ, bis sie es auswendig konnte. Nun tat sie nur noch
so, als läse sie beim Spielen die Noten, während ihre Lehrerin sich über die großen
Fortschritte ihres Zöglings freute.393 Kein Wunder, dass Mme de Genlis in ihrer Harfenschule und anderen Schriften immer wieder die Wichtigkeit des ernsthaften Studiums von Notenlesen und Blattspiel betonte, wusste sie doch selbst, wie leicht es
war, dabei zu schummeln. Später leitete Mlle de Mars ihre Schülerin an, auf dem in
Saint-Aubin vorgefundenen alten Ruckers-Cembalo „sieben oder acht Stücke ganz
passabel zu spielen“, vielleicht aus den Cembalosuiten ihres Vaters.394 Außerdem
lehrte sie sie, „drei oder vier Kantaten von Clérambeault“ zu singen, was die Eltern
entzückte und dem Mädchen die Bewunderung der Nachbarn eintrug.395
Doch nicht nur für den Musikunterricht war Mlle de Mars zuständig, sie war,
wie man heute sagen würde, als Gouvernante eingestellt worden. Lehrerin und
Schülerin scheinen viel Spaß miteinander gehabt zu haben. Einen großen Raum in
der gemeinsamen Zeiteinteilung nahm von Anfang an das gemeinsame Lesen ein.
Mit großem Vergnügen sangen die beiden nach selbst erfundenen Melodien Opern,
zu denen sie Textbücher besaßen. Außerdem beschäftigten sie sich viel mit Religion, welche die Lehrerin dem Kind anhand der Schönheit der Natur nahezubringen
wusste. „Sie war keineswegs eine sachkundige Lehrerin, die mir ernsthafte Stunden
erteilt hätte, sie war ein junges Mädchen von siebzehn Jahren, voller Offenherzigkeit, Unschuld und Gottesfurcht, das mir seine Gedanken anvertraute und ihre Gefühle die meinen werden ließ.“ 396 „Mademoiselle de Mars brachte mir nur sehr wenige Dinge bei, aber ihre Konversation bildete mein Herz und meinen Geist, und sie
gab mir mit ihrer ganzen Person ein Beispiel an Geduld, Milde und vollkommener
Güte. Ich liebte sie und bewunderte sie sehr. Ich fürchtete, ihr in irgendeiner Weise
zu missfallen. Diesen Umstand hätte sie leicht ausnutzen können, wenn sie gewollt
hätte, doch daran dachte sie nicht. Da sie mit meinem Charakter zufrieden war, war
sie auch mit allem anderen zufrieden und hatte nicht die geringste Lust, mich zu
zwingen. Seit dieser Zeit habe ich Geschmack daran, Kinder zu unterrichten.“397
393
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395
396
397
GenlisM Bd. 1, S. 26.
Charles Demars, Premier Livre de Pièces de Clavecin, Paris 1735.
GenlisM Bd. 1, S. 28.
« Ce n‘était point une savante institutrice qui me donnait de graves leçons, c’était une
jeune fille de dix-sept ans, remplie de candeur, d’innocence et de piété, qui me confiait
ses pensées, et qui faisait passer dans mon âme tous les sentimens de la sienne. » GenlisM Bd. 1, S. 28, Übers.: C. S.
« Mademoiselle de Mars m’enseignait fort peu de chose; mais sa conversation formait
mon cœur et mon esprit, et elle me donnait en tout l’exemple de la modestie, de la douceur et d’une parfaite bonté. Je l’aimais et je l’admirais tant, je craignais tellement de
lui déplaire, qu’elle m’aurait donné de l’application, si elle l’eût voulu; mais elle n’y
119
Die Zimmer von Schülerin und Lehrerin lagen direkt nebeneinander. Das der
Letzteren hatte eine kleine Tür, die in den Salon führte, während das von StéphanieFélicité nur durch das Zimmer ihrer Lehrerin zu erreichen war.398 Das Mädchen war
sehr zufrieden mit dem Arrangement, das ihre Mutter getroffen hatte. „Ich führte
ein entzückendes Leben: Morgens spielte ich ein wenig Cembalo und sang, danach
lernte ich meine Rollen und nahm dann meine Tanz- und Fechtstunde. Anschließend las ich bis zum Essen mit Mademoiselle de Mars.“399 Nach dem Essen vergnügten sich die beiden im Salon, wo sie beispielsweise Blumengebinde anfertigten
und gingen spazieren.
Im Alter von etwa zehn Jahren wurde Stéphanie-Félicité nach Paris zu ihrer
Tante gebracht. Mlle de Mars begleitete Mutter und Tochter, musste sich aber von
ihrem Schützling trennen, als der finanzielle Ruin von deren Vater nicht mehr aufzuhalten war. Das Kind war untröstlich und auch „Mademoiselle de Mars war nicht
weniger betrübt. Nicht, dass es für sie nicht leicht gewesen wäre, mit ihrem Können
und ihrem Verstand einen lukrativeren Platz zu finden, umso mehr, als sie in Paris
eine Tante hatte, die ihr sehr half und sie bei sich aufnahm, bis sie einen Platz gefunden haben würde. Sie liebte mich aber wirklich und oft hatten wir uns versprochen, dass wir uns nie voneinander trennen würden!“400 Marie-Françoise de Mars
fand nach der Trennung von ihrem Schützling wirklich eine neue Stellung. Zunächst arbeitete sie bei einer Mme de Voyer, anschließend bei der Prinzessin Louise
de Condé.401 Sie unterrichtete also weiterhin und bestritt damit ihren Lebensunterhalt.
Stéphanie-Félicité reiste mit ihrer Mutter nach Passy zu Mr de la Pouplinière.
Von einem „alten Harfenspieler“, einem Deutschen namens Gaiffre402, erlernte hier
u. a. Mme de Saint-Aubin das Harfenspiel, und auch Stéphanie-Félicité lernte dies
Instrument lieben und nahm in diesem Sommer bei Gaiffre ihre ersten Unterrichtsstunden. Der Unterricht fand zweimal wöchentlich statt und dauerte manchmal an
398
399
400
401
402
120
pensait pas; contente de mon caractère, elle l’était de tout, et elle n’avait nulle envie de
me contraindre. Dès ce temps j’avais le goût d’enseigner aux enfants. » GenlisM Bd. 1,
S. 29, Übers.: C. S. & Ch. S.
GenlisM Bd. 1, S. 29.
« Je menais une vie que me charmait: les matins je jouais un peu du clavecin, et je
chantais; ensuite j’apprenais mes rôles, et puis je prenais ma leçon de danse, et je tirais
des armes. Après cela je lisais jusqu’au dîner avec mademoiselle de Mars. » GenlisM
Bd. 1, S. 46-47, Übers.: C. S. & Ch. S.
« Mademoiselle de Mars n’était pas moins affligée, non qu’il ne lui fût aisé, avec ses
talens et son esprit, de trouver une place plus lucrative, d’autant plus qu’elle avait à Paris une tante fort à son aise, qui la prenait chez elle, jusqu’à ce qu’elle fût placée; mais
elle m’aimait véritablement, et nous nous étions promis tant de fois de ne jamais nous
séparer! » GenlisM Bd. 1, S. 74–75, Übers.: C. S. & Ch. S.
Berligueux, S. 162.
Gemeint ist der Harfenist Georg Adam Goepfert, der mehrfach im Concert Spirituel
aufgetreten war und sich der Weiterentwicklung seines Instrumentes verschrieben hatte.
die drei Stunden.403 Anfang Oktober kehrten Mutter und Tochter nach Paris zurück.
Sie zogen in die Rue Neuve-Saint-Paul in die Nachbarschaft der Familie eines Mr
Le Fèvre, mit dessen vier Töchtern eifrig musiziert wurde. Stéphanie-Félicité spielte auf der Gitarre und dem Cembalo und sang. Sie bekam Unterricht im chant italien bei Ferdinando Pellegrini, der angeblich um sechs Uhr morgens kam, und Generalbassunterricht bei Danican Philidor. Bei einem Mr Zimmermann, der täglich
bei der Familie Le Fèvre verkehrte, erlernte sie außerdem das Spiel auf der Pardessus de viole. Am liebsten aber spielte die junge Musikerin Harfe. Sie übte nach eigenen Angaben „wenigstens fünf Stunden am Tag“ auf diesem Instrument. Stéphanie-Félicité änderte die von Gaiffre verwendeten Fingersätze, setzte auch den kleinen Finger beim Spielen ein und übte aus Mangel an Literatur Cembalostücke,
„bald die schwierigsten, die Stücke von Mondonville, Rameau, schließlich von
Scarlatti, Alberti, Hendel etc.“ Sie berichtet, dass sie am Ende des Winters ihre tägliche Übzeit auf mindestens sieben Stunden erhöht hatte, „oft acht oder neun und
manchmal zehn oder zwölf Stunden.“ Nach 18 Monaten betrachtete sie sich als
Meisterin auf der Harfe mit einer „bis dahin noch nicht gehörten Kraft auf diesem
Instrument.“404 Stéphanie-Félicité hatte von sich selbst die Meinung, dass sie außergewöhnlich schnell ein neues Instrument erlernen könne. So beschreibt sie in ihren
Memoiren, dass sie das Spiel auf dem Tympanon, einem Hackbrett, nach nur 14 Tagen allabendlichem Unterricht und anschließendem täglichen dreistündigen Üben
erlernt habe. Nach drei Wochen spielte sie zwei Airs, das Menuet d’Exaudet und
das Menuet la Furstemberg mit vielen Variationen angeblich ebenso gut wie ihr
Lehrer.405
Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis hatte als Kind, glaubt man ihrem eigenen
Bericht, keinen Unterricht genossen, der sie auf eine spätere professionelle künstlerische Tätigkeit vorbereitet hätte. Ihr eigener Ehrgeiz, aber auch die besondere emotionale Bindung an ihre erste Lehrerin Marie-Françoise de Mars und die daherrührende Motivation versetzten sie neben den gelegten Grundlagen in der Musik in den
Stand, selbst erfolgreich an ihrer eigenen Ausbildung weiterzuarbeiten.
Hélène-Louise de Mars, verheiratete Venier
Die oft mit Marie-Françoise de Mars verwechselte fast gleichaltrige Cousine Hélène-Louise de Mars hatte bereits in ihrer Jugend mehrere von ihr komponierte
Cantatilles (kleine Kantaten) veröffentlicht. 1756, im Todesjahr ihres Vaters, lebte
sie mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern in der Rue S. Thomas du Louvre, Gemeinde S. Germain l’Auxerrois.406 Hélène-Louise de Mars war zu diesem Zeitpunkt
noch ledig, doch kurze Zeit später ehelichte sie den Geiger und Musikhändler Jean403
404
405
406
GenlisM Bd. 1, S. 83–84.
GenlisM Bd. 1, S. 96–97.
Genlis Choix, S. 62–63.
Inventaire après décès de Jean Odo Demars. AN, Minutier central LIII, 348,
12. 11. 1756, nach Hardouin, S. 251.
121
Baptiste Venier, genannt Venieri. Sie galt als vorzügliche Cembalistin und ist im
Tableau de Paris pour l’année 1759 unter den Maitresses pour le clavecin als „Madame Venieri, früher Mademoiselle de Mars, Rue Saint-Thomas du Louvre“ verzeichnet.407 Ihr Mann ist hier unter den Maîtres de violon et pardessus de viole zu
finden. Bereits 1754 war Venier – nicht jedoch seine Frau – als Violinlehrer aufgeführt gewesen und der Jahrgang 1755 nennt unter derselben Adresse eine Musikhandlung mit dem Spezialgebiet „ausländische Musik“ unter seinem Namen.
Auch der Vater Hélène-Louise de Mars’, Jean Odéo de Mars, war Organist gewesen und hatte seine Tochter musikalisch sorgfältig ausgebildet. Sie verheiratete
sich nach seinem Tode mit einem Musikerkollegen und arbeitete als professionelle
Musiklehrerin, um gemeinschaftlich mit ihrem Mann den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Sie hatte bereits als Kind komponiert, beherrschte also auch Generalbass und Harmonielehre und war durch ihr in der Jugend (vermutlich im Elternhaus) erworbenes instrumentales Können als Verheiratete in der Lage, dies gewinnbringend einzusetzen.
3.3
Die französische Claviermethodik
3.3.1 Cembalounterricht
Nach welcher Methode werden die Clavierlehrerinnen unterrichtet haben? Welche
Schulwerke verwendeten sie, welche Literatur? Diese Fragen werfen wenig Probleme auf, wenn die Lehrerin entsprechende Literatur publizierte. Im anderen Falle
sind sie selten befriedigend zu beantworten. Die zeitgenössischen Instrumentalschulen enthalten natürlich eine mehr oder weniger große Anzahl an Übungsstücken,
doch in (nach heutigen Vorstellungen) ausreichender Menge treten diese erst in den
Schulwerken für Hammerclavier auf. Aufschluss über die Praxis früherer Jahre geben eher Manuskripte wie etwa La Pierre408, in denen wenig Text, dafür umso mehr
Stücke notiert wurden. Häufig entspricht sich das Repertoire dieser Manuskripte
und setzt sich aus den ‚Schlagern’ der Zeit zusammen. Neben Tanz- und Variationssätzen gehören dazu häufig Opernarrangements und – im Generalbassunterricht –
sicherlich auch kammermusikalische Werke und Arien. Man kann davon ausgehen,
dass die meisten Lehrenden selbst Unterrichtsmaterial komponierten und arrangierten. Dies war eine Selbstverständlichkeit und führte nicht unbedingt dazu, wirklich
öffentlich als ‚Komponist’ oder ‚Komponistin’ bezeichnet zu werden. Es handelte
sich um einen allgemein üblichen, aus der Tradition und dem Bedarf erwachsenen
Usus. Nach 1700 stieg die Zahl der Druckerzeugnisse stark an und weitere Bevölkerungsschichten bekamen Zugang zu Musik, wodurch insgesamt der Bedarf an Unterrichtenden und mit ihnen die Zahl der musikpädagogisch ausgerichteten Drucke
407
408
122
« Madame Venieri, ci-devant Melle de Mars, rue Saint-Thomas du Louvre », Angabe
nach Brenet-Genlis, S. 4, Anmerkung 1. Auch Brenet vermischt die Identitäten von
Marie-Françoise und Hélène-Louise de Mars.
La Pierre.
stieg.409 Zu den rein auf die Musikpraxis bezogenen Anweisungen trat teilweise die
Behandlung musikpädagogischer und erzieherischer Fragen.
Von Frauen verfasste Cembalolehrwerke sind nicht überliefert. Es existieren
jedoch Manuskripte, die ausdrücklich für Frauen verfasst wurden; so etwa das eben
erwähnte Manuscrit de Mademoiselle La Pierre. Als Manuskript mit klaren pädagogischen Absichten diente es der clavieristischen Schulung jener Mlle La Pierre und
einer Mlle Le Noble. Beide genossen wahrscheinlich den Unterricht derselben Person. Für Mlle Le Noble wurde das Buch übrigens ein zweites Mal beschrieben, diesmal von hinten nach vorn, allerdings ohne den musiktheoretischen Einstieg, der vermutlich von der ersten Niederschrift her erneut verwendet wurde. Das Repertoire,
das die beiden jungen Damen erarbeiteten, ist in großen Teilen identisch, von Mlle
Le Noble ist allerdings auch eine kleine Eigenkomposition, ein Couplet zu den Folies d’Espagne, eingetragen.410
Das Manuscrit de Mlle La Pierre
Mlle La Pierre begann ihren Unterricht am 6. September 1687, wie die Eintragung
auf der ersten Manuskriptseite zeigt: « Mademoiselle de La Pierre a commence
D’apprendre a Joüer du Clavessin Le Sixiesme Jour du mois de Septembre 1687. »
Die Einführung in die Musiklehre beansprucht drei Seiten, daran schließen sich
Spielstücke an, die zum bekannten Repertoire der Zeit gehören, wie etwa Les Zephirs oder die Courante Isis von Jacques Champion de Chambonnières.
Auf der ersten Seite sind die Tonleiter [la Game], der C-Schlüssel [clef de c
sol ut] auf der ersten Linie, der Violinschlüssel [clef de g re sol] auf der zweiten Linie und der F-Schlüssel [clef d’ef ut fa] auf der dritten Notenlinie notiert. Auf der
nächsten Seite folgt die Tablature pour le Clavessin, die Umsetzung der Tonleiter
in das Notensystem, wobei die Kennzeichnung der Noten auf den entsprechenden
Linien durch Notensilben erfolgt. Ähnlich ist das Thema auch in den zeitgenössischen gedruckten Traktaten abgehandelt. Die erste Schule, die sich konkret und ausschließlich dem Cembalospiel widmet, erschien im Jahre 1702. Es handelt sich um
die von Mr de Saint-Lambert veröffentlichten, recht weit verbreiteten Principes du
Clavecin411. Bei ihm ist das Thema des Notenlesens in verschiedenen Schlüsseln
mit der Verbindung zur Klaviatur extrem ausführlich abgehandelt; es beansprucht
immerhin drei Kapitel auf acht Seiten.412 Seine Abbildungen zeigen die drei Notenschlüssel auf den verschiedensten Linien, die nach seiner Aussage allesamt gebräuchlich waren. Für das Erlernen der Notennamen schlägt der Autor vor, erst die
Namen der Noten auf den Linien, anschließend die in den Zwischenräumen und zuletzt die Noten auf den Hilfslinien zu erlernen. Dabei gehe man langsam und methodisch vor: „Man soll die Noten im G-Schlüssel noch gar nicht lernen, wenn man
409
410
411
412
Lescat, S. 27-31.
Zur Beschreibung des Manuskripts siehe Gustafson Bd. I, S. 112–113.
Saint-Lambert.
Saint-Lambert, Kapitel 1–3, S. 1–8.
123
sie nicht bereits vollkommen im C-Schlüssel beherrscht, denn Eile im Studium läßt
zurück- statt vorangehen. Man muß erst sicher die erste Sache beherrschen bevor
man an die zweite geht, niemals mehr als eine auf einmal anvisieren und sich davon
die einfachste und klarste Vorstellung machen, die möglich ist. Und dies gilt für jede Art Studium.“413 Auch die Umsetzung auf die Klaviatur, in deren Abbildung die
Notenschlüssel zur Orientierung eingetragen sind, wird von Saint-Lambert an mehreren Beispielen genauestens erläutert.414 Sicherlich werden Mlle La Pierre und Mlle
Le Noble ähnliche Anweisungen zur Erlernung der Notennamen, wie sie SaintLambert schriftlich fixiert, mündlich erteilt worden sein.
Bei Saint-Lambert sind in der Abbildung der Klaviatur415 die Obertasten mit
Cis, Es, Fis, Gis und B bezeichnet, er geht also noch von einer mitteltönigen Clavierstimmung416 aus. Dasselbe trifft für das Manuskript La Pierre zu. Die übrigen
Halbtöne sind bei Saint-Lambert lediglich in Anmerkungen am Ende seines Traktates erwähnt, sie wurden noch selten verwendet.
Im Manuskript La Pierre schließen sich nun die Zeichen für cadence (Triller)
und Pincé (Mordent), die Double cadence (Doppelschlag), das Harpegement (Arpeggio) und Coulement (Schleifer) an. Die Bezeichnungen und Ausführung der
Verzierungen nehmen in den Lehrwerken für das Cembalospiel üblicherweise einen
breiten Raum ein, sind sie doch allgemein wesentlicher Bestandteil französischer
Barockmusik. In vielen Noteneditionen ist zu Beginn eine Verzierungstabelle abgedruckt, manchmal recht kurz, bei Jean-Henri d’Anglebert aber etwa so detailliert,
dass die Tabelle immerhin 29 Zeichen enthält.417 François Couperin führt in seiner
Cembaloschule L’Art de toucher le Clavecin mittels einer Beschreibung von Doppeltrillern ein Beispiel für die außergewöhnlich gute Eignung der Frauenhände an:
„Bei dieser Gelegenheit möchte ich kurz erwähnen, daß ich eines Tages diese auf
moderne Weise gebundenen Terzen418 von einer jungen Dame ausführen ließ und
dabei versuchte, sie zwei Triller mit derselben Hand gleichzeitig schlagen zu lassen.
Die glückliche Veranlagung, die ausgezeichneten Hände und große Gewandtheit,
die sie erworben, hatten sie so weit gebracht, daß sie beide Triller sehr gleichmäßig
413
414
415
416
417
418
124
« Il ne faut point apprendre les Notes par la clef de Sol, qu’on ne les connoisse parfaitement par la clef d’Ut; car l’empressement dans l’étude fait reculer au lieu d’avancer. Il
faut se rendre sûr d’une premiére chose avant que de passer à une seconde; n’en envisager jamais qu’une à la fois, & s’en faire l’idée la plus simple & la plus nette qu’il
puisse, & ceci regarde toute sorte d’étude. » Saint-Lambert, S. 6, Übers. nach SaintLambertD, S. 12.
Saint-Lambert, S. 6.
Saint-Lambert, S. 6.
Kennzeichen der mitteltönigen Stimmung sind reine Großterzen. Dadurch sind die
Obertasten von Clavierinstrumenten auf b- oder #-Töne festgelegt.
Jean-Henry d’Anglebert, Marques des agréments et leur signification, in: Pièces de clavecin, hrsg. von Kenneth Gilbert, Bd. 1, Paris 1992, S. XIV.
Damit bezieht Couperin sich auf seine Fingersatzvorschläge zur Ausführung von mehreren aufeinanderfolgenden Terzen.
schlug. Ich habe diese junge Dame aus den Augen verloren. Aber wahrlich, gelangte man zu dieser Fertigkeit, so gereichte dies dem Spiel zur großen Zierde. Später
habe ich Gleiches noch von einem übrigens sehr tüchtigen Manne ausführen hören,
aber – möglich, daß er zu spät damit angefangen hatte, – sein Beispiel hat mich keineswegs ermutigt, mich abzuquälen, um selbst eine Ausführung zu erreichen, wie
ich sie haben möchte.“419
Die Auswahl der im Manuskript La Pierre erläuterten musikalischen Zeichen
entspricht den Gepflogenheiten: Gezeigt werden Tenuë (Haltebogen) und Liaison
(Legatobogen), die Zeichen für Reprise und Guidon (Custos) und Renvoy (Rückweiser). Bei einigen anderen Autoren erscheinen noch das Wiederholungszeichen
(Double Barre) und die Fermate (Point d’admiration). Die Pausenzeichen, nämlich
Viertel-, Achtel- und Sechzehntelpause (Soupir, Demie Soupir und Can de soupir)
sowie die Ganze Pause (Pause) und Halbe Pause (Demie pause) sind in La Pierre
an zwei verschiedenen Stellen in die Erläuterungsbeispiele eingeschoben. Auf Seite
3 werden dann die Notenwerte in Verbindung mit dem Takt gelehrt. Die Beispiele
zeigen jeweils einen Viervierteltakt und welche Noten darin stehen können: eine
Ganze (Ronde ou Mesure), 2 Halbe (Blanche 2 a La Mesure), 4 Viertel (Noirs 4 a
La Mesure), 8 Achtel (croche 8 a La Mesure) oder 16 Sechzehntelnoten (double
croche 16 a La Mesure). Die aufgelisteten Taktarten sind der Viervierteltakt (Mesure a 4 temps), der Zweihalbetakt (Mesure a 2 temps), der Takt zu drei Vierteln
(Mesure a 3 temps), der Dreiachteltakt (Mesure triple simple) und schließlich der
Dreihalbetakt (Mesure triple double). Allgemein werden in den Cembaloschulen,
ähnlich wie in La Pierre, die Werte für Ganze, Halbe, Viertel, Achtel und Sechzehntelnoten mit und ohne Punkt gezeigt, erst 1783 in Anton Bemetzrieders Nouvelles Leçons de Clavecin420 tauchen Vierundsechzigstel, Triolen und Sextolen auf.
Für Letzteren sind nunmehr eher die italienischen Kunstwörter wie Allegro oder
Adagio denn das Taktzeichen maßgeblich für die Wahl des Tempos. Bis über die
Jahrhundertmitte hinaus blieb die Bedeutung der Taktzeichen neben dem Grundcha419
420
« A propos de ces tierces coulées à la moderne; Je dirai en deux mots, qu’un jour en les
fesant exercer à une jeune personne, j’essayai de lui faire batre deux tremblemens à la
fois, de la même main. L’heureux naturel, les excèlentes mains; et la grande habitude
qu’elle en avoit aquise, L’avoient fait ariver au point de les batre tres ègalement. J’ai
perdu cette jeune personne de vuë. En verité, sy l’on pouvoit gagner cette pratique, cela
donneroit un grand ornement au jeu. J’en ay entendu faire, cependant, depuis, à un
homme /d’ailleurs fort habile/ mais, soit qu’il sy fût pris trop tard, son exemple ne m’a
point encouragé à me donner la torture pour ariver à les faire comme je souhaiterois
qu’ils fussent faits. » Couperin, S. 30–31, Übers. nach CouperinD, S. 20.
Antoine Bemetzrieder, Nouvelles Leçons de Clavecin ou Instructions générales sur la
Musique Vocale & Instrumentale, sur la Mélodie & l’Harmonie; sur l’Accompagnement & la Composition &c., suivies d’une nouvelle explication géométrique de
l’Echelle Musicale, des Modes & des differens Genres de Musique. De la propagation
de la Quarte, &c., London 1783², R in: Saint-Arroman II, S. 161–176. Das Werk ist
zweisprachig (frz./engl.) abgefasst.
125
rakter eines Stückes wichtigstes Merkmal zur Erkennung des Tempos, also etwas,
dass alle Clavierspielenden erlernen mussten. Als Letztes werden in La Pierre die
Notenwerte mit Punkt erläutert. Darunter steht die Erklärung in Worten und Noten:
« Le point vaut toujours La moitie de La notte qui Le precede. » – Der Punkt zählt
immer halb so viel wie die Note, die ihm vorhergeht. Es schließt sich ein erstes Prélude non mesuré an.
Diese knappen Anweisungen, die immer im Bedarfsfall ergänzt worden sein
dürften – wie sonst wäre das ‚Durcheinander’ in der Anordnung der Pausenzeichen
zu erklären – scheinen mit den verbalen Ergänzungen ausgereicht zu haben, um die
beiden Schülerinnen in den Stand zu versetzen, die gängige Cembaloliteratur der
Zeit zumindest einigermaßen zu bewältigen. Es handelt sich um ein Beispiel musikalischer Ausbildung von Liebhaberinnen. Leider enthalten die einzelnen Seiten des
Buches von Mlle La Pierre keine Erläuterungen zu den Stücken, sodass die weitere
Unterrichtskonzeption nicht deutlich wird. Der hauptsächliche Teil des Lernstoffes
dürfte nur mündlich weitergegeben worden sein. Dennoch kann festgehalten werden, dass vermutlich die meisten jungen Frauen aus derartigen Manuskripten lernten; so wirkt beispielsweise die Tablature pour le Clavessin421, ein anonymes Manuskript aus dem 17. Jahrhundert, fast wie eine Abschrift von La Pierre. Ein ähnliches Repertoire an Unterrichtsliteratur – leider ohne musiktheoretischen Teil, dafür
mit einer Stimmanweisung, enthält das sogenannte Manuscrit Redon.422 Es stammt
aus dem Jahre 1661 und gehörte « Mademoiselle Claude Redon », einem Mitglied
einer Clermonter Familie. Sie wurde um 1650 geboren und verehelichte sich im
Jahr 1668. Zu dem Zeitpunkt, da Mlle Redon aus ihrem Cembalobuch studierte, war
sie also ein junges Mädchen.423 Das Manuskript enthält u. a. ebenfalls die oben erwähnte und weit verbreitete Courante Isis von Chambonnières. Vermutlich wird
auch die junge Mme de Genlis von Marie-Françoise de Mars nach einem ähnlichen
Manuskript unterrichtet worden sein.
Die Erläuterungen des Manuskriptes La Pierre berühren weitgehend drei Punkte:
Notenkunde, Anweisungen zu den Manieren und Spielstücke. Die beiden erstgenannten Themen finden sich bei den meisten Autoren anderer Cembaloschulen.
Spielstücke dagegen findet man in den gedruckten Schulwerken in geringerer Anzahl. Im Normalfall schrieb ein Lehrer die zu erlernenden Stücke in das Notenbuch
der Familie. Immerhin, so betonen viele Autoren, kann man den guten Vortrag mit
dem rechten gout nur bei einem Meister persönlich erlernen. Jean-Léonor Le
Gallois, Sieur de Grimarest geht sogar so weit zu sagen, dass es eigentlich nötig sei,
die Stücke bei ihren Komponisten selbst oder zumindest deren herausragenden
421
422
423
126
Anonym, Tablature pour le Clavessin, Manuscrit o. O., o. J. (17. Jh.), BNF Signatur
Vm7 6307, R in: Saint-Arroman I, S. 93.
MS 55-Redon, Bibliothèque Clermont-Ferrand, Archives départementales du Puy-deDome 2 E 97657.
Gustafson, S. 121.
Schülern zu studieren, da nur diese genau die „Regeln und Schönheiten“ dieser speziellen Kompositionen kennten und zu unterrichten wüssten.424 Dies ist sicher der
Grund, dass die Anweisungen so spärlich sind – sie wurden verbal vermittelt, auch
wenn es eine auffällig hohe Anzahl an Schulen für das Erlernen des Clavierspiels
sans maître, ohne festen Unterricht bei einem Lehrer425 gibt.
Spieltechnische Anweisungen
Das Fehlen von Hinweisen zu spieltechnischen Fragen in den Manuskripten wird
wettgemacht durch die in den Druckerzeugnissen zum Teil sehr ausführlichen methodischen und technischen Anleitungen. Gerade aus der Anfangszeit musikpädagogischer Publikationen gibt es zahlreiche Anweisungen zur Sitzposition und Körperhaltung beim Clavierspiel bzw. Warnungen vor unschönen Angewohnheiten. Dies
ist ein interessantes und für clavierspielende Frauen sicherlich brisantes Thema. Gefordert werden im Allgemeinen vor allem die Bequemlichkeit beim Spielen und die
bonne grace, wie Saint-Lambert426 es ausdrückt, also ein anmutiges Aussehen. Rameau betont, dass der gesamte Körper unverkrampft und locker sein soll.427 Wer in
Händen und Körper verspannt ist, so Jean Denis, wird niemals gut spielen können.428 Anschaulich beschreibt er, welche Unarten ihm bei Clavierspielern besonders missfallen: „Einmal kam ein junger Geck, der sich für sehr gut hielt, und fragte
mich nach einem guten Cembalo oder Spinett. Er schaute immer um sich, ob ich beobachtete, was er spielte und achtete nicht auf das, was er tat. Um sich Gehör zu
verschaffen, schlug er lauter mit seinem Fuß den Takt, als das Instrument klang.
Andere [Spieler] sind noch lustiger anzusehen, die die Hälfte der Triller in der Luft
vollziehen und nur die andere Hälfte hörbar machen. Wieder Andere wackeln ständig knurrend mit dem Kopf, was sehr drollig ist. Ich sah einen jungen Herrn, der
sehr gut spielte, und alle drei Takte so laut mit der Zunge schnalzte, dass ich kaum
an mich halten konnte zu lachen. Ein Organist, der sehr gut Cembalo und Spinett
spielt (und nicht zu den Pariser Organisten gehört), wirft, wenn er etwas spielen
möchte, das er für gut hält, seine beiden Beine auf eine Seite, hält den Körper schief
und runzelt das Gesicht, was für die, die ihn spielen sehen, fast unerträglich ist.“429
424
425
426
427
428
429
Jean Léonor, Sieur de Grimarest, Lettre de Mr Le Gallois a Mademoiselle Regnault de
Solier touchant La Musique, Paris 1680, S. 80–81, R in: Saint-Arroman I, S. 97–101.
Einen ähnlichen Hinweis gibt Saint-Lambert für das Tempo.
So z. B. Nicolas Siret, Pieces de Clavecin [Premier Livre] Paris ca. 1710, R Genf 1982
oder Pierre-Claude Foucquet, Les Caracteres de la Paix. Pieces de Clavecin œuvre Per,
Paris 1751, R Genf 1982.
« La commodité de celuy qui joüe est la premiére regle qu’il doit suivre; la bonne grace
est la seconde. » Saint-Lambert, S. 42.
Rameau, S. 11–12.
Denis, S. 39.
« Des mauvaises coustumes qui arrivent à ceux qui joüent des Instruments. […] Il viendra quelquefois un jeune enfariné me demander un bon Clavecin ou une Espinette, le-
127
– Und wie viel ärgerlicher sollte dieser Anblick nicht bei einer Frau sein, die doch
verstärkt auf ihr Aussehen zu achten hat?
Über die richtige Spielhaltung geben die gedruckten Schulen in mehr oder weniger ausführlicher Form Auskunft. Couperin, der die Unterseite des Handgelenkes
in Höhe der Fingerspitzen wissen möchte, erläutert, wie er eine Fehlhaltung nötigenfalls korrigiert: „Hält jemand das eine Handgelenk beim Spiel zu hoch, so ist
das einzige Mittel, das ich dagegen gefunden, folgendes: Man lasse von einer zweiten Person eine kleine biegsame Gerte so halten, daß diese über das fehlerhaft gehobene Handgelenk hinweg- und gleichzeitig unter dem andern hindurchgeht. Ist der
Fehler entgegengesetzt, so verfahre man umgekehrt. Man tue dem Spieler aber mit
dieser Gerte keineswegs Zwang an. Nach und nach verliert sich dieser Fehler, und
diese Erfindung hat mir schon gute Dienste getan.“430 Ähnlicher Mittel werden sich
auch andere Unterrichtende der Zeit bedient haben. Couperin empfiehlt außerdem
Personen, die spät mit dem Cembalospiel angefangen haben oder zuvor keinen guten Unterricht hatten, „da ihre Sehnen hart geworden sind oder [sie] schlechte Gewohnheiten angenommen haben könnten, darauf [zu] achten, daß sie, ehe sie sich
ans Clavecin setzen, ihre Finger geschmeidig machen oder geschmeidig machen
lassen: d. h., sie müssen die Finger nach allen Richtungen dehnen oder von jemandem dehnen lassen“431.
430
431
128
quel pensant faire des merveilles a plus de peine à tourner la teste, & regarder si je
prends garde à ce qu’il joüe, qu’il ne prends garde à ce qu’il fait, & pour ce faire entendre il fera plus de bruict avec son pied, pour battre la mesure, que l’Instrument qu’il
sonne. Autres font bien plus plaisamment, qui font la moitiée de la cadence en l’air, &
font sonner le reste: Autres branles la teste à chaque moment avec un grondement qui
est assez drolle. I’ay veu un jeune homme qui joüoit fort bien, & de trois mesures en
trois mesures il faisoit un clacq avec sa langue, si haut que j’eus bien de la peine à
m’empescher de rire: Un Organiste qui touche fort bien l’Orgue & l’Espinette, qui n’est
point Organiste de Paris, quand il veut joüer quelque chose qui croit estre bien fait, il
jette ses deux jambes tout d’un costé, & met son corps de travers avec un renfrongnement de visage, ce qui est presque insupportable à ceux qui le voyent toucher. » Denis,
S. 39–40, Übers.: C. S. & Ch. S.
« Sy une personne a un poignet trop hault en joüant, le seul remède que j’aye trouvé,
est de faire tenir une petitte baguétte-pliante par quelqu’un; la qu’elle sera passée par
dessus le poignet déffectueux; et en même-tems par dessous L’autre poignet. Sy le déffaut est opposé, on fera le contraire. Il ne faut pas, avec cette baguétte, contraindre absolument celuy, ou celle qui joüe. Petit a petit ce déffaut se corige; et cette invention ma
servie tres utilement. » Couperin, S. 5, Übers. nach CouperinD, S. 11.
« Les personnes qui commencent tard, ou qui ont été mal=montrées feront attention que
comme les nerfs peuvent être endurcis, ou peuvent avoir pris de mauvais plis, elles
doivent se dénoüer, ou se faire dénoüer Les doigts par quelqu’un, avant que de se
méttre au clavecin; c’est adire se tirer, ou se faire tirer Les doigts de tous les sens. »
Couperin, S. 9-10, Übers. nach CouperinD, S. 12.
Eine große Lockerheit und Unabhängigkeit der Finger sind am Cembalo unabdingbar für einen schönen Vortrag. Sowohl Couperin als auch Rameau432 empfehlen, zu Beginn auf einem Spinett oder mit einem ganz weich bekielten Cembaloregister zu spielen, um eben diese Lockerheit zu erreichen. So heißt es bei Couperin:
„Für den ersten Jugendunterricht bediene man sich lediglich des Spinetts oder nur
eines Manuals auf dem Clavecin, und das eine wie das andre sei nur ganz schwach
bekielt. Dieser Punkt ist von unendlicher Tragweite, denn ein schönes Spiel hängt
mehr von der Geschmeidigkeit und der freien Beweglichkeit der Finger ab, als von
der Kraft. Läßt man ein Kind von Anfang an auf zwei Manualen spielen, so muß es,
um die Saiten zum Erklingen zu bringen, unbedingt seine kleinen Hände überanstrengen, und hieraus entstehen schlechte Handhaltung und Härte des Spiels.“433
Notwendige Voraussetzung für diese große Lockerheit sind möglichst kleine Spielbewegungen. Durch ein zu hohes Heben der Finger wird der Ton laut Couperin434
„trockener“ und „härter“. Sein Ideal ist ein „weicher“ Anschlag435. „Man muß vor
allem das Feingefühl für die Tasten entwickeln und stets ein gut bekieltes Instrument haben.“436 Und gerade im Bereich des Anschlags und guten Cembaloklanges
scheinen die Stärken vieler Frauen gelegen zu haben, glaubt man Cramers Bericht
über die Pariser Liebhaberinnen, die alle so „schön“, „empfindungsvoll“ und
„zärtlich sprechend“ spielten.437
Lehrmethode
Um diesen Anschlag zu erreichen, ist neben Anlage und ausdauerndem Üben natürlich der Unterricht bei einer methodisch gut vorgehenden Lehrkraft von Nöten. Im
Rahmen seiner Überlegungen, was die Eigenschaften eines guten Lehrers seien, befasst sich Saint-Lambert recht ausführlich mit dieser Thematik: „Ein guter Lehrer
432
433
434
435
436
437
Jean-Philippe Rameau, De la Mechanique des doigts sur le clavessin, in Pieces de clavecin avec une table pour les agremens, Paris 1724, S. 5, R in: Saint-Arroman I,
S. 182–183. dt. Übersetzung in: Jean-Philippe Rameau, Pièces de Clavecin, hrsg. von
Erwin R. Jacobi, Basel-Tours-Kassel 41972, S. 16–19.
« On ne doit se servir d’abord que d’une épinette, ou d’un seul clavier de clavecin pour
la premiere jeunesse; et que L’une, ou L’autre soient emplumés tres foiblement: cet article ètant d’une consequence infinie, La belle execution dèpendant beaucoup plus de la
souplesse, et de la grande Liberté des doigts, que de la force; en sorte que dès Les commencemens sy on Laisse joüer un enfant sur deux claviers, jl faut de toutte nècessité
qu’il outre ses petites-mains pour faire parler les touches; et delá viennent les mains
mal-placées, et la dureté du jeu. » Couperin, S. 6–7, Übers. nach CouperinD, S. 11–12.
« Il est sensé de croire, /L’experience àpart/ qu’une main qui tombe de hault donne un
coup plus sec, que sy elle touchoit de prés; et que la plume tire un son plus dur de la
corde. » Couperin, S. 7.
« La Douceur du Toucher ». Couperin, S. 7.
« Il faut surtout se rendre tres dèlicat en claviers; et avoir toujours un instrument bien
emplumé. » Couperin, S. 45, Übers. nach CouperinD, S. 25.
Cramer MAG, 1. Jg., 2. Hälfte, Hamburg 1783, S. 795–796.
129
muß gründlich die unterschiedlichen Dispositionen derer, die sich ihm anvertrauen,
erkennen und sich auf die Fassungskraft und das Vermögen jedes Einzelnen einstellen. Er lehrt die einen wie die anderen in der Art, die für sie am besten geeignet ist.
Er entwickelt so viele verschiedene Methoden wie er unterschiedliche Talente zu
leiten hat. Er spricht kindlich zu Kindern und verständig zu verständigen Personen:
zu den einen wie zu den anderen aber einfach und klar gegliedert. Er erklärt seine
Prinzipien in einer guten Ordnung und beschwert nie das Gedächtnis derer, die er
instruiert mit Anweisungen zur unpassenden Zeit. Er zeigt eine allgemeine Regel
auf als gäbe es keine Ausnahme und wartet die richtige Gelegenheit ab, über diese
Ausnahme zu sprechen, da er weiß, daß man es sich so besser merkt. Wenn er
gleich darüber gesprochen hätte, wäre der Eindruck der allgemeinen Regel beeinträchtigt worden. Er gibt seine erste Regel, als wäre es die einzige, über die jemals
gesprochen werden müßte und wenn die zweite an der Reihe ist, wird nie erwähnt,
daß noch irgendwelche anderen folgen müssen. Wenn es von der Theorie zur Praxis
geht, so weiß der gute Lehrer für jeden seiner Schüler die Stücke auszuwählen, die
am besten zur Disposition seiner Hände passen. Für die, die es brauchen, komponiert er selbst Stücke. Aber nachdem er ihnen zu Beginn einige einfache Stücke zur
Unterhaltung gegeben hat, gibt er ihnen solche, die für ihre Hände schwierig sind,
um ihre Fehler zu korrigieren. Der gute Lehrer bringt diejenigen zu großer Perfektion, denen diese Übungen leichtfallen und noch weiter die, die noch begabter sind.
Er bringt die Schüler, die bessere Voraussetzungen haben als er selbst auch dazu,
besser als er zu spielen. Aber da er weiß, daß man nicht vorwärts kommen kann,
wenn man keine Beziehung zu seiner Übung hat, hat er auch ein spezielles Geheimnis, um den Schülern Spaß am Üben zu vermitteln. Diese Gabe ist eine der wichtigsten für Lehrer, die Kinder unterrichten, da die natürliche Unbekümmertheit der
jungen Kinder oft dazu führt, daß sie, nachdem sie gewünscht hatten, Cembalo spielen zu lernen, beim dritten oder vierten Mal keine Lust mehr haben wegen der
Schwierigkeiten, die sie vorfinden und ihr Mißfallen geht manchmal so weit, daß
eine Übung, die als spielerisch gilt und wirklich spielend erlernt werden sollte, für
sie nur Qual und Tränen bedeutet. Es ist die Aufgabe des Lehrers, seinen empfindsamen Schülern die Schwierigkeiten, die ihnen unangenehm sind, zu erleichtern
und die Schüler so zu behandeln, daß sie ihre kleinen Übungen mit Freude oder wenigstens mit Courage und Ausdauer angehen.“438 Die Wahl eines guten Lehrers ist
438
130
« Un bon Maître sçait connoître à fond les differentes dispositions de ceux qui se mettent entre ses mains; & s’accommodant à la portée & à la capacité de chacun, il les
instruit les uns & les autres dans la maniere qui leur convient les mieux. Il se fait autant
de methodes differentes, qu’il a de differens genies à conduire. Il parle en enfant aux
enfans; raisonnablement aux personnes raisonnables: aux uns & aux autres avec intelligence & netteté. Il expose ses principes dans un bon ordre & les presente toûjours sous
des idées simples & détachées. Il n’embarasse point la memoire de ceux qu’il instruit
par des distinctions hors de saison. Il enseigne une regle generale comme si elle étoit
sans exception, attendant que l’occasion amene cette exception pour en parler, parce
qu’il sçait qu’alors elle se conçoit mieux; & que s’il en eût parlé d’abord elle eût em-
entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg des Unterrichts: „Von dieser Wahl
hängt nämlich der Erfolg des Studiums eines Schülers zumindest so viel ab wie
vom Rest. Der Eine, der hätte geschickt werden können, wenn er gut unterwiesen
worden wäre, bleibt unbeachtet, weil sein Lehrer es war. Ein anderer profitierte im
Gegensatz dazu sehr, obwohl er schlechtere Voraussetzungen hatte, weil sein Lehrer ihn lehrte, aus dem wenigen den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Um gut zu
sein, muß ein Lehrer zwei Qualitäten besitzen: DAS KÖNNEN und die GEWISSENHAFTIGKEIT, denn, damit der Schüler gut wird, bedarf es beim Lehrer ganz
bestimmt zweier Dinge: DES KÖNNENS und DES WOLLENS.“439 So viel hängt
also laut Saint-Lambert von der unterrichtenden Person ab. Das den Frauen in besonderem Maße zugeschriebene Einfühlungsvermögen, ihre natürliche Veranlagung
zur Erziehung und ihre Fähigkeit, eigene Wünsche und Bedürfnisse zugunsten Anderer zurückzustellen, also ausschließlich das Fortkommen der ihnen anvertrauten
Person zu fördern, dies müsste Frauen, welche über einen gesunden Menschenver-
439
pêché l’impression de la regle generale. Il donne sa premiere regle comme si elle étoit
la seule dont il dût jamais parler; & lorsqu’il passe à une seconde, c’est toûjours sans
faire aucune mention de celles qui la doivent suivre. Passant de la Théorie à la Pratique,
le bon Maître sçait choisir pour chacun de ses écoliers les pieces qui conviennet le
mieux à la disposition de leur main. Il en compose même exprés pour ceux qui en peuvent avoir besoin. Mais après avoir mis entre les mains de ses écoliers quelques pieces
faciles pour les divertir au commencement, il leur en donne ensuite qui sont directement opposées à la disposition de leur main pour en corriger le defaut. Le bon Maître
meme loin dans la perfection celuy qui a beaucoup de facilité pour cet exercice; & plus
loin celuy qui en a davantage. Il fait joüer mieux que luy-même les Ecoliers ou Ecolieres qui peuvent avoit plus de disposition que luy. Mais comme il sçait qu’on ne peut
profiter si l’on n’a de l’attache à son exercice, il a encore un secret particulier pour faire
ensorte que les Ecoliers se plaisent à apprendre. Ce talent est un des plus necessaires
aux Maîtres qui ont des enfans à enseigner, car la legereté naturelle des jeunes enfans
fait bien souvent qu’aprés avoir souhaité ardemment d’apprendre à joüer du Clavecin,
ils en sont dégoûtez dés la troisiéme ou quatriéme Leçon à cause de la difficulté qu’ils y
trouvent: & leur dégoût va quelques fois si loin qu’un exercice qui s’appele jeu, & qui
devroit effectivement s’apprendre en joüant n’est pour eux qu’un objet de tristesse & de
larmes. C’est donc aux Maîtres à trouver le moyen de soulager ses tendres éléves qu’on
leur donne de toutes les difficultés qui les rebutent, & d’agir avec eux de maniére qu’ils
s’adonnent à leurs petits exercices avec plaisir, ou du moins avec courage & perseverance. » Saint-Lambert, Avis, S. V–VI, Übers. nach Saint-LambertD, S. 3–4.
« De ce choix dépend du moins autant que du reste, le succés de l’etude d’un écolier.
Tel seroit devenu habile, s’il eût été bien montré, qui est demeuré ignorant parce que
son Maître l’étoit; & tel autre au contraire a beaucoup profité, quoyqu’il eut moins de
disposition, parce que son Maître a sçu luy faire faire un bon usage du peu qu’il en
avoit. Un Maître pour être bon doit avoir deux qualitez, le SÇAVOIR & la PROBITÉ;
parce que pour faire un bon écolier, il faut absolument deux dispositions dans le Maître:
QU’IL LE PUISSE & QU’IL LE VEÜILLE. » Saint-Lambert, Avis, S. V, Übers. nach
Saint-LambertD, S. 3.
131
stand und Überblick verfügen, in den Augen Saint-Lamberts zu ausgezeichneten
Lehrerinnen gemacht haben.
Kinderunterricht
Auch ein auf das Wesen der Kinder eingehender Unterricht wurde um 1700 immer
häufiger überdacht. Einige Publikationen wenden sich direkt an Kinder (so bereits
der erste Teil von Étienne Louliés 1696 erschienenen Éléments ou Principes de Musique440), andere beschäftigen sich mit der Thematik eines für Kinder angemessenen
Unterrichtsstils und Repertoires. Dies ist im Zusammenhang mit den Clavierlehrerinnen interessant, da ja Frauen als besonders geeignet für die Kindererziehung angesehen wurden. Dass der Beginn des Cembalounterrichtes im Kindesalter allgemein üblich war, zeigt eine 1788 im Calendrier musical veröffentlichte Beschreibung, bei der es um „kleine Cembali für Kinder“ geht. Entworfen wurde ein solches
Instrument von Herrn Vernier. Die Tastengröße sei, so heißt es hier, der Kinderhand
angemessen und das Instrument so konstruiert, dass mit wachsender Hand die Klaviatur ausgewechselt und immer wieder angepasst werden könne.441
Saint-Lambert ist der Meinung, das beste Alter für den Beginn mit dem Cembalospiel sei „vor dem 10. Lebensjahr, selbst mit 5 oder 6 Jahren“.442 „Nichtsdestoweniger kann man zum Vorteil der Damen sagen, daß sie durch die natürliche Feinheit ihres Geschlechts mit 30 Jahren eine bessere Disposition der Hand besitzen, als
sie die Männer mit 15 oder 16 Jahren haben.“443 Für François Couperin ist das geeignete Einstiegsalter der Kinder das sechste bis siebte Lebensjahr. „Das soll nicht
etwa ältere Personen ausschließen: aber um die Hände für die Übungen am Clavecin zu modeln und zu formen, ist der früheste Anfang natürlich der beste.“444 „Jungen Menschen lege man in dem Maße, wie sie wachsen, ein mehr oder weniger hohes Kissen unter die Füße, damit diese nicht in der Luft schweben und den Körper
440
441
442
443
444
132
Auf dem Titelblatt von Loulié heißt es: « Tres-clair, tres-facile, & tres-court, & divisez
en Trois Parties. La Premiere pour les Enfans. La Seconde pour les Personnes plus
avancez en âge. La Troisième pour ceux qui sont capables de raisonner sur les Principes de la Musique. »
CM 1788, S. 6.
« Avant dix ans, & meme dés cinq ou six », Saint-Lambert, Avis, S. V, Übers. nach
Saint-LambertD, S. 3.
« Néanmoins on peut dire à l’avantage des Dames, qu’a cause de la delicatesse naturelle de leur sexe, elles ont à trente ans encore plus de disposition dans la mains que les
hommes n’en ont à quinze ou seize. » Saint-Lambert, Avis, S. V, Übers. nach SaintLambertD, S. 3.
« L’âge propre a commencer Les enfans, est de six, a sept-ans: non pas que cela doive
exclure Les personnes plus avancées: mais naturèlement, pour mouler; et former des
mains a L’exercice du clavecin, le plutot, est le mieux. » Couperin, S. 3, Übers. nach
CouperinD, S. 10.
in richtigem Gleichgewicht halten können.“445 Kinder sollen auf einem Spinett oder
leichtgängigen Cembalo zu spielen beginnen. Dazu führt Couperin noch aus: „Es ist
in der ersten Unterrichtszeit besser, die Kinder nicht in Abwesenheit des Lehrers
üben zu lassen: die kleinen Wesen sind zu zerstreut, um sich zu zwingen, die Hände
in der vorgeschriebenen Lage zu halten. Ich nehme deshalb während des Anfangsunterrichtes der Kinder aus Vorsicht den Schlüssel des Instrumentes, auf dem ich
sie unterweise, mit, damit sie in meiner Abwesenheit nicht in einem Augenblicke
verderben können, was ich in aller Sorgfalt ihnen in ¾ Stunden beigebracht habe.“446 Couperin geht also für Kinder von einer Unterrichtsstunde mit 45 Minuten
aus, in denen er anscheinend hohe Konzentration verlangt. Vom Abschließen des
Instruments außerhalb der Unterrichtsstunden berichtet auch der Harmonielehretraktat Anton Bemetzrieders. Hier heißt es: „Wenn ich Kinder unterweise, stecke
ich den Cembaloschlüssel in meine Tasche.“447
Für Rameau steht fest: „Ein noch so junges Kind unterhalten wir gut, indem
wir ihm nach und nach die drei gängigen Tonleitern und alle beschriebenen Regeln
beibringen. Nach einem Jahr wird es sie beherrschen. Die Zeit eilt nicht – und so
viel ist gewonnen. Unterhalten wir es außerdem damit, ihm die Tonleitern in die
Finger zu bringen, so rettet dies vielleicht vor dem Verdruss der üblichen Lektionen
– wenigstens glaube ich das. Die Sache ist ihm schon ein wenig vertraut? Zeigen
wir ihm also Noten von gleichem Wert wie Ganze oder Viertel auf den fünf Linien,
auf denen die fünf Finger liegen werden und bald wird es alle Positionen dieser Noten kennen und auch deren Abstände untereinander.“448 Der Unterricht begann wohl
445
446
447
448
« On doit mettre quelque chose de plus, ou de moins hault sous les pieds des jeunes
personnes, a mesure qu’elles croissent: afin que leurs pieds n’etant point en l’air,
puissent Soutenir le corps dans un juste équilibre. » Couperin, S. 3, Übers. nach CouperinD, S. 11.
« Il est mieux, pendant les premieres Leçons qu’on donne aux enfans de ne leur point
recommander d’étudier en L’absence de la personne qui leur enseigne: Les petites personnes sont trop dissipées pour s’assujètir a tenir leurs mains dans la scituation qu’on
leur a prescrite: pour moy, dans les commencemens des enfans j’emporte par précaution la clef de L’instrument sur lequel je leur montre, afin qu’en mon absence ils ne
puissent pas déranger en un instant ce que j’ay bien soigneusement posé en trois quarts
d’heures. » Couperin, S. 7–8, Übers. nach CouperinD, S. 12.
« Quand je montre à des enfans, j’emporte dans ma poche la clef du clavecin. » Bemetzrieder, S. 20.
« Amusons un enfant, dès e plus bas âge, à s’inculquer peu à peu la mémoire les trois
gammes dont il s’agit, & dans tous les ordres prescrits; lui fallût-il un an pour s’en
rendre maître, rien ne presse, ce seroit autant de gagné: amusons-le de même à lui faire
reconnoître l’ordre de ces gammes sur ses doigts, peut-être cela lui sauvera-t-il l’ennui
des leçons ordinaires, du moins je le crois. La chose lui est-elle un peu familière? Présentons-lui des notes d’égale valeur, comme rondes ou noires, sur les cinq lignes, où il
se rappellera ses cinq doigts; bien-tôt toutes les positions de ces notes lui seront
connues, aussi-bien que les intervalles qu’elles formeront entr’elles. » Rameau, S. 7,
Übers.: C. S.
133
üblicherweise mit kleinen Fingerübungen, Passagen, Arpeggiofloskeln und Verzierungsübungen in einfachen Tonarten449, wie Couperin sie in seiner Schule zeigt.450
„Diese kleinen Übungen, von denen man gar nicht genug geben könnte, sind gleichzeitig stets zur Verfügung stehender Stoff, der bei vielen Gelegenheiten von Nutzen
sein kann.“451 Mit dem Spielen nach Noten beginnt François Couperin erst später:
„Man sollte den Kindern die Tabulatur erst zeigen, nachdem sie eine gewisse Anzahl von Stücken wirklich in den Fingern haben. Wenn die Kinder nämlich ins
Buch sehen, ist es fast unmöglich, daß ihre Finger nicht in Unordnung geraten und
sich verzerren. Selbst wenn die Verzierungen darunter nicht leiden sollten, entwickelt sich doch das Gedächtnis weit besser durch Auswendiglernen.“452 „Wer bis
hierher gelesen, wird wie ich glaube, nicht daran zweifeln, daß ich von der Voraussetzung ausgegangen bin, man müsse den Kindern zuerst die Tonzeichen beibringen.“ 453 Außerdem ermahnt Couperin Eltern und Erzieher der Kinder, genügend
Geduld mitzubringen und der Lehrperson zu vertrauen.454
Woran mag es liegen, dass keine der zahlreichen Cembalolehrerinnen ein Schulwerk veröffentlichte? Gedruckte Lehrwerke und Methoden waren Werbung für ihren Autor und dessen Verleger bzw. dessen weitere Druckerzeugnisse. Oft genug
wurden, besonders in späteren Jahren, den Drucken Ankündigungen über weitere
Werke desselben Autors oder desselben Verlegers beigefügt, wie dies z. B. in dem
Generalbasstraktat von Mme Gougelet der Fall ist.
Die Schule markiert immer einen bestimmten Zeitpunkt im Leben der unterrichtenden Person und repräsentiert eine ganz persönliche Sichtweise und Lehrart.
Darin ist sie eindeutiger als die oft nur spontan verfassten kurzen Anweisungen in
zu Unterrichtszwecken für eine bestimmte Person verfassten Manuskripten wie La
Pierre. Nach der eigenen musikalischen Ausbildung suchte man sich einen Platz im
Musikleben, baute sich einen Kreis von Schülerinnen und Schülern auf. Die dazu
nötige Werbung geschah durch mündliche Empfehlung, aber auch durch Präsenz in
den Auflistungen der unterrichtenden Personen für bestimmte Fächer in den Alma449
450
451
452
453
454
134
Couperin, S. 8.
Couperin, z. B. S. 31–34.
« Ces petits Exercices qu’on ne sçauroit trop multiplier, sont autant, de matéreaux tout
prets à mettre en place; et qui peuvent servir dans beaucoup d’occasions. » Couperin,
S. 9, Übers. nach CouperinD, S. 12.
« On devroit ne commencer à montrer la tablature aux enfans qu’aprés qu’ils ont une
certaine quantité de pieces dans les mains. Il est pres qu’impossible, qu’en regardant
leur Livre, les doigts ne se dérangent; et ne se contorsionnent: que Les agrémens même
n’en soient altèrés; d’ailleurs, La memoire se forme beaucoup mieux en aprenant
par=cœur. » Couperin, S. 12, Übers. nach CouperinD, S. 13.
« Je crois qu’on n’a pas douté en Lisant jusqu’ici, que je n’aye supposé, qu’on a dû enseigner d’abord aux enfans, Le nom des notes du clavier. » Couperin, S. 13, Übers.
nach CouperinD, S. 13.
Couperin, S. 27.
nachen und Adressverzeichnissen. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Namen von
Lehrerinnen sind nur aus derartigen Zusammenhängen bekannt. Ein Lehrwerk
wurde üblicherweise nach Sammlung von etwa zehn bis 15 Jahren Unterrichtserfahrung verfasst, frühestens im Alter von 30 Jahren und zur Wende zum 19. Jahrhundert hin eher immer später.455 In diesen Altersangaben könnte sich ein Grund für die
Tatsache abzeichnen, dass der hohen Anzahl weiblicher unterrichtender Personen
eine solch geringe Menge an Lehrwerken von Autorinnen gegenübersteht. Hatten
die Frauen in jungen Jahren mit dem Unterrichten begonnen, waren sie unter Umständen in einem Alter, in dem Männer ihre Traktate publizierten, bereits verheiratet – eine Werbung in eigener Sache war nicht mehr von Nöten.
Um einen Traktat zu erwerben, musste auch der Käufer mehr Geld investieren,
als wenn es sich um Notenmaterial handelte. Dementsprechend setzte der Druck
durch einen Verleger ein größeres Vertrauen in den Autor, seine Beliebtheit und
den Verkaufserfolg der Publikation voraus. Mag sein, dass dieses Vertrauen Frauen
gegenüber im Vergleich zu ihren männlichen Zeitgenossen geringer war, konnten
sie als Frau ja auch nicht in gleicher Weise auf Öffentlichkeitswirkung als Instrumentalistin hoffen und pochen.
3.3.2 Generalbass und Harmonielehre
Im Allgemeinen lassen sich Generalbassschulwerke nicht von den Kompositionstraktaten trennen, galt doch lange Zeit (und in Frankreich länger als im übrigen Europa, nämlich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein) Generalbass als Grundlage zur
Komposition und war in den zeitgenössischen Harmonielehren und Orgelschulen
vertreten. Noch 1884 erschien mit dem Traité d’accompagnement au piano de la
basse chiffrée du chant donné et de la partition d’Orchestre Emile Durands ein Generalbasstraktat, welcher das Spielen nach Ziffern lehrte.
Stilistisch beschreiben die französischen Generalbassschulen des 17. und 18.
Jahrhunderts einen Continuostil, der sich von demjenigen, wie er in italienischen
und deutschen Quellen der Zeit gelehrt wird, grundlegend unterscheidet. In Frankreich geht es weder um das Erfinden einfallsreicher Improvisationen noch einer
kontrapunktischen Stimmführung, sondern es geht darum, auf Grundlage einer sauberen guten Stimmführung mit raffinierten, geschmackvollen Arpeggien ein farbiges und kontrastreiches Continuo zu gestalten. Diese Sache kann nur erlernt werden, indem man immer wieder gutes Continuospiel hört, im Unterricht vorgespielt
bekommt und selbst ausprobiert. Nur die Schulen von Denis Delair von 1690456 und
Anton Bemetzrieder von 1771457, die auch allgemeine Informationen über das Cembalospiel und Solfège enthalten, beschreiben musiktheoretische Grundlagen, wie sie
in den Cembaloschulen gelehrt werden. Die übrigen Autoren gehen davon aus,
455
456
457
Siehe dazu die Untersuchung in Lescat, S. 18.
Delair.
Bemetzrieder.
135
dass, wer das Accompagnement erlernen möchte, zuvor ein gewisses Können im
Cembalospiel erworben habe.
Die Traktate beschäftigen sich daher eher grundsätzlich mit der Frage, welche
Akkorde an welcher Stelle zu spielen seien. Oft gibt es, gerade in späteren Schulen,
zahlreiche Übungsbeispiele. Die meisten Autoren betonen ausdrücklich, dass sie
Allgemeinverständlichkeit ihres Traktates anstreben. Beschrieben werden Intervalle, Konsonanzen und Dissonanzen, Dur- und Molltonleitern mit den entsprechenden
Ganz- und Halbtonschritten in den unterschiedlichen Modi, teilweise auch Modulationswege, außerdem selbstverständlich die Bedeutung der Ziffern zu den entsprechenden Basstönen. Die kürzeste Quelle überhaupt, diejenige von Jean-Henri
d’Anglebert, enthält laut Autor in fünf (für die heutige Praxis sehr ergiebigen) Beispielen alles, was man zum Akkompagnement wissen muss.458 Die Akkorde ergeben sich bei Autoren wie Delair459 oder Saint-Lambert460 aus den Fortschreitungen
der Bassstimme. Außerdem gibt es zahlreiche Regeln dazu, welche nicht genannten
Ziffern beim Spielen ergänzt werden müssen und wie unter Alternativmöglichkeiten
zur Harmonisierung zu entscheiden sei. Mit demselben Wissen ist es möglich, auch
unbezifferte Bässe ad hoc zu akkompagnieren. Der Pädagoge Jean-François Dandrieu etwa wiederholt in seiner Schule des Generalbassspiels jedes seiner zahlreichen
Übungsbeispiele drei Mal: zuerst mit einer Ziffer für jeden zu spielenden Ton des
Akkordes in der entsprechenden Lage, dann mit der Bezifferung und schließlich
noch einmal ohne Bezifferung, um auch die entsprechenden Harmonien aus der
Bassfortschreitung entnehmen zu lernen.
Die Akkorde des französischen Continuos sollen, passend zum üppigen Klangcharakter der französischen Instrumente, häufig und kunstvoll arpeggiert werden,
um den Cembaloklang biegsam und farbig zu gestalten. Zahlreiche Traktate und
Vorworte zu Cembalobüchern bieten hierzu reichhaltige Anregungen. Da oft weder
die genaue Rhythmisierung noch die gewünschte Art der Ausschmückung, oft nicht
einmal die Stelle notiert ist, an der ein Akkord arpeggiert werden soll, gehören hierzu neben einer sicheren Stilkenntnis und dem bon goût auch gutes Einfühlungsvermögen und Einfallsreichtum, eine gehörige Portion musikalischer Raffinesse. Dies
gilt natürlich nicht für die Orgel.
Sparsam sind auch entsprechend der eingangs ausgeführten Konzeption der
französischen Schulen zum Generalbassspiel die Anweisungen zum Vortrag eines
guten Akkompagnements. Um all die Feinheiten des Generalbassspielens zu erlernen, ist eben die zusätzliche persönliche Unterweisung durch eine lehrende Person
unumgänglich nötig. So heißt es bei Saint-Lambert über eine Akkordwiederholung,
458
459
460
136
Jean Henry d’Anglebert, Preface zu Piece de clavecin von 1689, faksimiliert in: JeanHenry d’Anglebert, Pièces de clavecin, hrsg. von Kenneth Gilbert, Bd. 1, Paris 1992,
S. XVIII.
Delair.
Saint-Lambert NT.
dass man sie sich persönlich zeigen lassen müsse461, denn der größte goût des Accompagements bestehe eben darin, sich dem Sinn der Worte oder dem Affekt des
Stückes so weit als möglich anzupassen.462 Dass die Gabe der Anpassungsfähigkeit
gerade Frauen zugesprochen wurde, wurde bereits ausgeführt.
Eine Generalbassschule, deren Zielgruppe ausdrücklich Frauen sind, veröffentlichte 1754 Jean-François Dubugarre.463 In der an Mesdames gerichteten Vorrede
betont er, dass er auf lange und abstrakte Regeln (eine Lehrart, die ja laut Geschlechtscharakter nicht zu Frauen passt) verzichten und stattdessen die Schwierigkeiten des Akkompagnements in seinem kleinen Werk vereinfachen wolle. In den
ersten beiden Kapiteln erläutert er die Grundlagen: verschiedene Notenschlüssel
und die Umsetzung der Notenschrift auf die Claviatur, dann folgen Erläuterungen
zur Spielart: Stimmenanzahl und Arpeggien, bevor Dubugarre zu den einzelnen Akkorden übergeht. In Kombinationen von zunächst je vier, später auch mehr Akkorden werden nun in einer Art Baukastenprinzip verschiedene Bezifferungen, Dissonanzen mit Auflösungen und Akkordverbindungen erläutert und einstudiert. Daran schließen sich Übungsstücke mit Bässen an, auf die die Régle d’octave464 angewendet werden soll. In jeder neuen Themeneinheit gibt es einen Erläuterungstext
und entsprechende Notenbeispiele. Ein Frage- und Antwortspiel über die Grundlagen des Akkompagnements vervollständigt dieses Unterrichtswerk.
Die Méthode ou Abrégé des règles d’accompagnement de Clavecin et Recueil
d’airs avec Accompagnement d’un Nouveau genre der Mme Gougelet
„Beinahe alle, die bislang Schulen für das Generalbassspiel veröffentlicht haben,
konnten sich nur den Lehrern oder solchen Personen, die in der Komposition bereits
weit fortgeschritten sind, verständlich machen. Dieser Umstand hat mich bewogen,
vorliegende kleine Abhandlung zu verfassen. Ich werde sie so klar und deutlich abfassen, wie es mir möglich ist, ohne zu weitläufig zu werden, sodass alle Welt,
selbst Kinder, sie verstehen oder doch wenigstens in den Stand versetzt werden, die
Arbeiten anderer zu diesem Thema zu verstehen. Von welchem Nutzen ist es
schließlich denen, die bereits die Komposition beherrschen, das Accompagnement
zu erlernen? Mein Traktat richtet sich also an die, welche diese Kunst noch nicht
beherrschen und man muss sie Stückchen für Stückchen instruieren. Es ist absolut
notwendig, ein wenig Vorwissen mitzubringen, bevor man mit dem Accompagnement beginnt. Es wäre hier also überflüssig, musiktheoretische Grundlagen aufzuzeigen. Alle, die dieses Werk lesen, können (mit dieser Methode) selbst das Accom-
461
462
463
464
Saint-Lambert NT, S. 62.
Saint-Lambert NT, S. 63.
Jean-François Dubugarre, Methode plus courte et plus facile que l’ancienne pour l’Accompagnement du Clavecin dediée aux Dames, Paris 1754, R Genf 1972.
Unter der Règle de l’octave versteht man eine Lehrmethode zur Harmonisierung, bei
der jeder Tonleiterstufe auf- wie abwärts ein bestimmter Akkord zugewiesen ist.
137
pagnement erlernen.“465 – so die einleitenden Worte zu Mme Gougelets Generalbassschule.
Die Autorin möchte, wie aus den oben zitierten Worten hervorgeht, die absoluten Grundlagen des Generalbassspiels so einfach, klar und verständlich vermitteln,
dass selbst Kinder sie verstehen können. Sie formuliert damit, wie bereits Dubugarre, ein Defizit an schriftlichen Abhandlungen dieser Art. Nur einige geringe musikalische Vorkenntnisse werden vorausgesetzt. Vergleicht man diese Herangehensweise mit den anderen Traktaten, so wird deutlich, dass sich die Autorin damit tatsächlich an ein ganz anderes Klientel wendet.
Gougelet erläutert zunächst Dreiklänge und Umkehrungen, Sept- und Nonenakkorde in Dur und Moll und Akkorde mit übermäßigen und verminderten Intervallen, jeweils mit Bezifferung. Die Akkorde werden verschiedenen Stufen bzw. Funktionen zugewiesen. Bereits Rameau war das System, anhand der Bezifferungen und
Bassfortschreitungen die Harmonisierung zu finden, zu schwierig erschienen. Er
entwickelte daher eine Theorie, nach welcher man sich über Fingerpositionen die
Akkorde, welche streng in Konsonanzen und Dissonanzen getrennt sind, merkt.
Dies System spiegelt gleichzeitig kontrapunktische Elemente, z. B. die Auflösung
einer Dissonanz, wider. Rameau berichtet, dass nach seiner Methode Personen zwischen 20 und 25 Jahren in weniger als sechs Wochen und mit Spaß das Akkompagnement erlernt hätten.466
Mme de Gougelet verlangt, dass ein Akkord in allen Tonarten geübt werde, bevor man zum nächsten übergeht. Über die Lage und Höhe der zu spielenden Aussetzung äußert sich die Autorin nur recht allgemein dahingehend, dass man aus klanglichen Gründen am Besten immer „in der Mitte der Claviatur“ akkompagniere.467
Die Besonderheit des Generalbasstraktates Mme de Gougelets im Vergleich mit den
übrigen Schulwerken besteht darin, dass sie alle Akkorde auf wenige Grundformen
über gedachten Bass-Grundtönen zurückführt. Die Akkorde erhalten durch dieses
System eine stärkere funktionale Bestimmung, als dies in den früheren Abhandlun465
466
467
138
« Presque toutes les personnes qui ont fait des principes d’accompagnement, n’ont pû
se faire entendre que par les maîtres ou par ceux qui sont déja fort avancés dans la composition: c’est ce qui m’à engagé à donner ce petit essai que je rendrai aussi clair qu’il
me sera possible, afin d’être entendue de tout le monde même des enfans, ou au moins
de les mettre en état de comprendre les auteurs qui ont travaillé sur ce sujet. En effet, de
quelle utilité est il d’apprendre l’accompagnement à ceux qui sçavent déja la composition? C’est donc pour ceux qui ne sçavent pas, qu’il faut écrire, afin de les instruire petit à petit. Il est absolument nécessaire de sçavoir un peu de musique avant d’apprendre
l’accompagnement. Ainsi, il est inutile de parler ici de principes de musique, et toutes
personnes qui la liront, pourront d’eux mêmes (avec cette Méthode) apprendre l’accompagnement. » Gougelet, S. 3, Übers.: C. S. & Ch. S.
Rameau, S. 7, Anmerkung.
« Mais il vaut toujours mieux accompagner dans le médion du Clavecin que dans le
haut, parce que les sons du haut sont trop aigus et dans le bas on ne les distingueroit pas
assez d’avec la basse. » Gougelet, S. 3.
gen der Fall war. Entsprechend gibt es ausgeschriebene Beispiele, in denen eine
zweite (zu denkende) Bassstimme mit einer Bezifferung, welche die Grundform des
Akkords angibt, unter der Aussetzung und eigentlichen Bassstimme notiert ist.
Die Autoren- bzw. Autorinnenzuschreibung der Méthode ou Abrégé des règles
d’accompagnement de Clavecin Mme Gougelets in der Literatur erweist sich als
problematisch. Abwechselnd werden der Pariser Organist und Autor Pierre-Marie
Gougelet468 bzw. Mme Gougelet469 genannt. Die Unsicherheit dürfte früh begonnen
haben. Bereits Tablettes 1785470 nennt eine Methode für Cembalo – identisch oder
nicht mit dem Generalbasstraktat? – ebenso Carl Whistling und Friedrich Hofmeister471. Das Fehlen des Namenszusatzes würde in diesem Fall auf einen Mann hindeuten. Beide, sowohl Mr als auch Mme Gougelet, scheinen musikalisch tätig gewesen zu sein. Die Schule selbst trägt auf dem Titelblatt die Aufschrift « M. De GOUGELET », die an Mme la Comtesse de Rostang gerichtete Zueignung ist unterzeichnet mit « Votre très humble et très obéissante Servante Gougelet ». Dies spricht für
eine Autorin. Gustafson und Fuller 472 bezeichnen sie als „Madame Pierre-Marie
Gougelet“, also die Frau des oben genannten Organisten, im Zusammenhang mit
op. 2 der Komponistin, einer 1771 gedruckten Sammlung von Airs mit akkordischer
Begleitung.
Ein weiterer Generalbasstraktat?
Fétis erwähnt die Möglichkeit, dass Marie-Emmanuelle Bayon die Autorin eines
Clavier- und eines Generalbasstraktates sei. Diese beiden Schulwerke sind allerdings nicht mehr auffindbar und Bayons Urheberschaft ist eher als zweifelhaft zu
betrachten.473 Der Eintrag dazu findet sich im Verzeichniß alter und neuer sowohl
geschriebener als gestochener Musikalien der Wiener Musikalienhandlung Traeg.
Die Titelangaben lauten hier: „Louis (Ph.): Von der Fingersetzung, den Manieren
und dem Geiste des Vortrags auf dem Klavier (Manuskript), 9fl“ und „Grundriß
zum Lehrbegriffe des Accomp. (Man), 9fl.“474
468
469
470
471
472
473
474
Mendel, Fétis.
Dufourcq, Ebel, Fétis, MiLeFé, Cohen, Garvey Jackson.
« Gougelet, a fait plusieurs airs de Guitare & une Méthode de Clavecin. » Tablettes
1785.
« Gougelet, Méthode p. Pfte. Paris, Cousineau 9 FR. » Whistling/Hofmeister, S. 483.
Gustafson/Fuller, S. 266.
« Peut-être est-ce à elle qu’il faut attribuer les deux ouvrages suivants, qui existaient en
manuscrit à Vienne, en 1799, chez l’éditeur de musique Traeg, sous le nom de Louis
(Ph.): 1° Du doigté, des manières et de l’esprit de l’exécution sur le piano – 2° Principes de la doctrine de l’accompagnement. » Fétis.
Verzeichniß alter und neuer sowohl geschriebener als gestochener Musikalien, welche
in der Kunst= und Musikalienhandlung des Johann Traeg zu Wien, in der Singerstrasse
Nr. 957. zu haben sind, Wien 1799, S. 232.
139
Sowohl der deutsche Verlag als auch die falschen Initialen für den Vornamen
sprechen dagegen, dass die beiden Lehranweisungen von Marie-Emmanuelle Bayon, verheiratete Louis, stammen.
3.3.3 Schulwerke für die Harfe
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand aus dem Versuch, die bis dato
rein diatonische Harfe chromatisch zu gestalten, die Haken- und, wohl um 1720 in
Donauwörth (in der Familie Hochbrucker) die in Es gestimmte Pedalharfe. Für jede
diatonische Note gab es ein Pedal zur Erhöhung aller gleichnamigen Saiten. Dieser
Harfentyp sollte sich rasch in den Salons verbreiten. In Paris wurde ein derartiges
Instrument durch den Harfenisten Georg Adam Goepffert, den späteren Lehrer Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis’, bekannt gemacht. Am 25. Januar 1749 stellte er
ihn erfolgreich im Concert Spirituel vor. Zu den wichtigsten Pariser Harfenbauern
zählten u. a. Jean-Henri Nadermann und seine Söhne Pierre-Joseph und Henri sowie
der aus dem Clavierbau bekannte Straßburger Sébastien Erard. Letzterer löste bautechnisch im Jahre 1801 das Problem der doppelten Rückung. Mit seiner Erfindung,
welche zwar 1801 in London bereits das Patent erhielt, aber erst zehn Jahre später
standardmäßig umgesetzt werden sollte – und im Prinzip bis heute gültig ist – können nun durch einfaches oder doppeltes Treten der Pedale alle Töne sowohl erhöht
als auch erniedrigt werden.475
Der Beliebtheitsgrad der Harfe war im 18. Jahrhundert am Hof wie in der Stadt
gleichermaßen hoch. Der Klang und das dekorative Aussehen des Instruments entsprachen dem Zeitgeist in idealer Weise. So gehörte die Harfe neben dem Clavier
und später der Gitarre, zunächst in adeligen, später auch in bürgerlichen Kreisen
(und besonders bei Frauen) zu den beliebtesten Instrumenten. Durch die technischen Neuerungen hatten sich die spieltechnischen Möglichkeiten und das Repertoire dieses Instruments erweitert. Die ersten gedruckten Musikalien erschienen in
den 1770er Jahren, häufig ist die Bezeichnung ‚für Cembalo/Pianoforte oder Harfe’
zu lesen. Dennoch neigten diejenigen, welche sich speziell der Harfe verschrieben
hatten, dazu, Clavierstücke für ihr Instrument abzusetzen. Oft und gern wurde die
Harfe auch als Continuoinstrument verwendet.
Die erste französische Harfenschule wurde im Jahre 1763 veröffentlicht. Es
handelt sich um die Essai sur la vraie manière de jouer la harpe, avec une méthode
de l’accorder Philippe-Jacques Meyers, in den Annonces, Affiches et Avis divers
vom 19. Januar 1764 angekündigt als Méthode pour apprendre à jouer de la harpe
avec plusieurs exemples, leçons et pièces servant à la connoissance parfaite de cet
instrument.476 Die nächsten Instruktionen erschienen in den kommenden Jahren in
475
476
140
Zur Entwicklung des Harfenbaus siehe John Henry van der Meer, Musikinstrumente.
Von der Antike bis zur Gegenwart. Katalog zur Sammlung historischer Musikinstrumente des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, München 1983, S. 124–125 u.
205–207.
Zitiert nach Lescat, S. 177.
rascher Folge. Allgemein galt die Harfe als schwer zu erlernendes Instrument, wie
etwa François-Vinvent Corbelin 1779 in seiner Méthode de harpe betont.477 Die
Schulwerke behandeln im Allgemeinen Fingersätze, Phrasierung, Akkord- und Pedalspiel. Immer wieder wird darauf hingewiesen, wie gut sich die Harfe zur Begleitung der Singstimme eigne. Entsprechend wurden zahlreiche Sammlungen von
Arien und Liedern avec accompagnement de harpe publiziert.
An dieser Stelle sollen drei von Frauen verfasste Harfenschulen betrachtet werden:
diejenigen von Mlle Merelle, Theresia Demar und von Stéphanie-Félicité du Crest
de Genlis. Die vollständigen Titel lauten:
Mlle Merelle, New and Complete Instructions for the Pedal Harp in two Books containing all the necessary rules with exercices, preludes, &c., London ca. 1800478
Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis, Nouvelle Méthode pour apprendre à jouer de
la Harpe en moins de Six Mois de Leçons, et contenant un enseignement et des détails entièrement nouveaux sur les Sons Harmoniques et sur plusieurs autres effets
également neufs que peut produire cet Instrument, Paris 1802479
Theresia Demar, Méthode de Harpe, Paris ca. 1810480
Die verhältnismäßig hohe Anzahl der von Frauen verfassten Schulwerke für die
Harfe verwundert nicht, wenn man bedenkt, wie sehr neben dem Clavier gerade
dies Instrument mit dem Musizieren von Frauen verknüpft war.
Die Harfenschulen von Mlle Merelle und Theresia Demar
Sowohl Mlle Merelle als auch Theresia Demar widmeten ihre Harfenschulen ihren
Schülerinnen und Schülern. Sie vermitteln die Grundlagen der Technik des Harfenspiels. So kündigt das Titelblatt Mlle Merelles an, dieses Werk fördere die „Fertigkeit, Sicherheit und Präzision“ auf dem Instrument.481 „Dieses Buch richtet sich an
Anfänger, die mit der Harfe noch völlig unerfahren sind“482, so heißt es zu Beginn
der Instructions for the Harp. Über musiktheoretische Grundbegriffe wie beispielsweise Notenlehre – in den meisten Cembaloschulen obligatorisch und bei Demar
immerhin elf Seiten umfassend – wird kein Wort verloren, sie werden schlicht vorausgesetzt. Merelles Anweisungen drehen sich um das Harfenspiel selbst. Für den
Klang, so heißt es, ist es wichtig, die Griffe gut vorzubereiten. Daher ist ein gut
477
478
479
480
481
482
François-Vincent Corbelin, Méthode de harpe pour apprendre, seul et en peu de temps,
à jouer de cet instruent; avec un principe très simple pour l’accorder, Paris 1779, Introduction, nach Lescat, S. 96.
Bodleian Library, University of Oxford, Mus. Instr. I, 165 (14).
R Genf 1974. Eine 2. Auflage erschien wohl 1806 oder 1807.
BNF, Signatur VM8 T 12.
“Calculated for acquiring facility, steadiness and precision on the Instrument.” Merelle,
Titelblatt.
“This Book is intended for beginers totally Unacquainted with the HARP.” Merelle,
S. 2.
141
durchdachter und konsequent befolgter Fingersatz wichtig. Auf fünf Seiten mit
Übungen in Oktaven, Sexten und Terzen folgen auf- und abwärts arpeggierte Akkorde in Grundstellung und Umkehrungen und als Septakkorde sowie Tonleitern.
Beide Harfenschulen enthalten Stimmanweisungen. Demar beschäftigt sich außerdem mit der Frage, nach welchem Instrument man die Harfe in einem Orchester
stimmen sollte und empfiehlt hierzu Blasinstrumente.483
Auf Seite 17 und 18 ist bei Merelle An Introductory Lesson to Preludes, Sonatas, and after practising Unions abgedruckt, dem sich die Erläuterung der sieben
Pedale zur Erhöhung der diatonischen Noten anschließt, ein Thema, das bei Demar
sehr ausführlich und mit vielen Beispielen behandelt wird.484 Merelle erläutert des
Weiteren dynamische Zeichen, welche man für das Swell-Pedal oder Soupape, also
ein Schwellpedal, notiert. Nun beginnt eine Folge von 16 Übungsbeispielen, die
reichlich mit Fingersätzen und Anweisungen zur Pedalisierung versehen sind. Die
Harfenschule Mlle Merelles beschränkt sich damit auf knappe Erläuterungen zu den
wichtigsten harfenspezifischen Details und lässt Raum für ausgiebige Noten- und
Übungsbeispiele. Laut Fétis folgten auf diesen ersten Band der Harfenschule noch
zwei weitere Bände.485 Das Titelblatt des ersten Teiles spricht von insgesamt zwei
Bänden (“in two books“). Insgesamt scheint nur noch ein Exemplar des ersten Teilbandes in der British Library London zu existieren.486
Theresia Demar betrachtet auch eine gute Haltung am Instrument als grundlegend für die Entwicklung eines sonoren Klanges. Eine Abbildung zeigt eine Dame
beim Harfenspiel. Außerdem ist auf dem Titelblatt ein kleines Bild mit einer elegant
an eine ebenso große Harfe gelehnte Dame abgedruckt. Demar weist darauf hin,
dass alle Akkorde auf der Harfe grundsätzlich arpeggiert werden. Zahlreiche mit
Fingersätzen versehene Übungsbeispiele bereiten auf zwölf Spielstücke vor: kleine
Préludes und Airs und als Abschluss ein « Marche de Figaro ». Dabei gibt es immer wieder kleine aufführungspraktische und spieltechnische Hinweise, die das
Werk als Studienheft interessant machen. Die Harfenschule ist übrigens angeblich
bereits op. 21 der « Harpiste de la Musique du Roi ».487
Stéphanie-Felicité du Crest de Genlis und ihre Methode des Harfenunterrichts
Ganz anders als die Harfenschulen Mlle Merelles und Theresia Demars präsentiert
sich diejenige von Stéphanie-Felicité du Crest de Genlis: Die Autorin zeigt sich hier
als die bewanderte Schriftstellerin, als welche sie bekannt wurde. In einem ersten
483
484
485
486
487
142
Demar, S. 14–15.
Demar, S. 12–13.
Siehe Fétis, Merelle. Hier heißt es: « On a, sous ce nom, une méthode de harpe, divisée
en trois livres, et intitulée: New and complete instruction for the Pedal Harp; Londres,
1800 ».
Alle weiteren Anfragen an die in RISM AI genannten Bibliotheken (D-LEmi, DK-Kk,
GB-Cu und GB-Ob) blieben ergebnislos.
Demar, Titelblatt.
ausführlichen Kapitel beschäftigt sich Genlis mit der Geschichte der Harfe, den verschiedenen Harfentypen und Berichten über Berühmtheiten unter den Spielenden.
Dabei fügt sie einige autobiografische Details und Informationen über ihre eigenen
Schülerinnen ein, die junge Mlle d’Orléans und Mlle Navoigile488. Die Methode stellt
laut Genlis ein Resümee aus den eigenen Überlegungen zu den Unterrichtsstunden
dieser beiden Schülerinnen sowie ihres Adoptivsohnes und Harfenschülers Casimir
(s. u.) dar. Es folgt ein zweites Kapitel, das sich mit „dem Geschmack, dem Ausdruck und der Instrumentalmusik ganz allgemein“489 beschäftigt. Die Harfe hat laut
Genlis gegenüber dem Clavier den Vorteil einer unendlichen dynamischen Bandbreite. Dies sollte man sich zunutze zu machen wissen.
Die Harfenschule, welche Genlis ihrem Lieblingsschüler Casimir Baecker gewidmet hat, soll auch ohne Unterrichtsstunden durch einen Lehrer oder eine Lehrerin zum Erfolg führen können. Ziel ist ein leichtes und sauberes Spiel. Genlis
spricht sich dafür aus, beim Spiel auf der Harfe alle fünf Finger jeder Hand zu verwenden.490 Diese Technik scheint lediglich in ihrem Umkreis verbreitet gewesen zu
sein. Üblicherweise war (wie heute) der kleine Finger vom Spielen ausgenommen.
Der wahre Ausdruck, so Genlis, liegt darin, auch unabhängig von den durch
die Komponisten angezeigten Piano- und Fortestellen jede Note entsprechend der
ihr eigenen Kraft oder Sanftheit zu spielen.491 Es geht also um ein ausdrucksvolles
und einfühlsames, musikalisches Spiel. Diese Spielart kann letztendlich niemand
vermitteln, denn das Gelingen hängt nur vom „Geschmack“ und der „Seele“492 des
oder der Ausführenden ab. Man wähle, so Genlis, gute Literatur und mache sich
nicht mit allzu vielen geistlosen Bravourstücken lächerlich. Man sorge lieber dafür,
dass die Instrumentalmusik die unumgänglich nötigen Verzierungen erhält, denn
„um zu bezaubern, muss das Spiel abwechslungsreich, beseelt, ausdrucksvoll und
brillant sein.“493 Generell hält sie schnelle Stücke für die Harfe, die nicht in der Lage ist, Töne lang klingen zu lassen, für angemessener als langsame. Ein ziemlich
kurzes Kapitel beschäftigt sich mit Kompositionen für die Harfe. Ausgehend von
der Grundtonart der Harfe, Es-Dur, erläutert Genlis, wie die Pedale einzusetzen sind
und welche Tonarten schwierig, bzw. leicht auszuführen sind. Ein weiterer Ab-
488
489
490
491
492
493
Mademoiselle Navoigille war die Tochter des Geigers Julien oder Hubert-Julien Navoigille le cadet. Sie scheint sich zu einer guten Harfenistin entwickelt zu haben und fand
in den Annonces, Affiches et Avis divers von 1798, S. 2151 Erwähnung, siehe Barry
S. Brook, Navoigille, in: MGG 1962.
« Du Goût, de l’Expression, et de la Musique instrumentale en générale. » Kapitel 2 in
Genlis Harpe, S. 5–10.
Genlis Harpe, S. 17.
Genlis Harpe, S. 6.
« Au goût et à l’âme », Genlis Harpe, S. 6.
« Il faut absolument pour charmer qu’elle soit variée, animée, expressive et brillante. »
Genlis Harpe, S. 6.
143
schnitt behandelt die Auswahl einer guten Harfe. Sie protegiert die neuen Harfen
von Erard. Ihre Abbildung der Saiten zeigt einen Umfang von fünfeinhalb Oktaven.
Erst nach vier einleitenden Kapiteln geht es an das Harfenstudium, an die Manière d’étudier. Hier beschreibt Genlis einen ausgedehnten und ausgefeilten Studienplan: „Ich rate Anfängern, in mehreren Abschnitten (drei oder vier) von einer guten Viertelstunde am Tag zu üben und dies zwei oder drei Wochen. Anschließend
übt man einen Monat in drei Abschnitten von einer halben Stunde. Nach sechs Wochen erhöht man die Übzeit um eine halbe Stunde, im Monat darauf noch einmal
um eine Stunde. Schließlich, nach vier Monaten, perfektioniert man sein Repertoire,
indem man morgens eine Stunde die schwierigsten Passagen aus den Stücken und
aus meinen Übungen und eine Stunde Stücke spielt, also insgesamt zwei Stunden.
Anschließend folgen gesondert je eine halbe Stunde Studien von Harmonien in beiden Händen und Beschäftigung mit Blattspiel, macht drei Stunden Übzeit. Abends
folge dann eine zweite Übzeit von noch einmal zwei Stunden: anderthalb Stunden
an den Stücken und eine halbe Stunde Harmonien. So sollte man sechs Monate studieren. Verfährt man in dieser Art zehn Monate, so wird man eine große Fertigkeit
erlangen. Will man noch besser werden, sollte man eine und eine halbe Stunde täglich mehr investieren, und zwar eine halbe Stunde mit Harmonien (was mit der vorangegangenen Zeit eineinhalb Stunden ausmacht), eine halbe Stunde Blattspiel (was
eine Stunde insgesamt macht) und eine halbe Stunde präludieren, insgesamt also
sechs Stunden. Man fahre so ein Jahr fort und man wird in vierundzwanzig Monaten ein großes Können haben. Wenn man mit einem durchschnittlichen Können zufrieden ist, reichen zweieinhalb Stunden täglich.“494
Die Methode, die Mme de Genlis in ihrer Schule vorstellt, zeigt auf, wie sie
selbst unterrichtete. Sie befürwortet ein Alter von fünf bis sechs Jahren für den Beginn mit dem Harfenspiel. Auch der Erziehungsroman Adèle et Théodore be494
144
« Je conseille dans les commencemens de faire étudier à plusieurs reprises (trois ou
quatre) und bon quart d’heure chacune pendant quinze jours ou trois semaines. Ensuite
à trois reprises d’une demie heure chacune pendant un mois. Au bout de ses six semaines on augmentera le travail total d’une demie heure, le mois d’ensuite on l’augmentera d’une heure. Enfin au but de quatre mois on perfectionnera son répertoire en
jouant le matin une heure des passages les plus difficiles de ses pièces et des passages
les plus difficiles de mes leçons, et une heure des pièces. En tout deux heures. Après
cela une étude à part d’une demie heure toute en sons harmoniques des deux mains, et
une demie heure employée à déchiffrer. Ce qui formera une étude de trois heures. Le
soir seconde étude de deux heures, une heure et demie pour perfectionner ses pièces,
une demie heure de sons harmoniques. Il faut continuer cette étude six mois. On jouera
depuis dix et l’on sera déjà d’une très grande force. Si l’on veut atteindre la supériorité,
il faut après cette étude ajouter une heure et demie de plus, employée ainsi: une demie
heure en sons harmoniques, (ce qui fera avec l’étude précédente conservée une heure et
demie) une demie heure de déchiffrer (ce qui fera une heure en tout) et une demie heure
à préluder. En tout étude de six heures. Qu’on la continue un an et l’on aura acquis en
vingt deux mois un grand talent. Si l’on ne veut qu’un talent agréable deux heures et
demie par jour suffiront. » Genlis Harpe, S. 14–15, Übers.: C. S. & Ch. S.
schreibt, wie sich Mme de Genlis den Harfenunterricht junger Mädchen, die natürlich nicht das volle, oben beschriebene Übungsprogramm durchziehen sollen, vorstellt. Das Mädchen Adèle beginnt auf einer kleine (Kinder-)Harfe. Sie liest Noten
und verbringt mit Musik, Lektüre und Malerei etwa eineinhalb Stunden am Tag in
mehreren Zeitabschnitten. Um die Gleichmäßigkeit der Hände, welche laut Genlis
die Perfektion im Harfen- und Cembalospiel ausmacht, zu trainieren, lässt sie Kinder ein Jahr lang die Hände nur einzeln studieren, Jugendliche und Erwachsene immerhin sechs Monate. Jeden Tag werden immer aufs Neue Verzierungen, Rouladen
und Passagen geübt, Floskeln, die in einem Stück vorkommen können, und dabei
wird verstärkt auf die linke, oft vernachlässigte und daher unkontrolliertere Hand
geachtet. Sie meint, dass diese Art des Lernens von Seiten des Kindes nicht allzu
viel an Aufmerksamkeit beanspruche und es nicht so sehr ermüde, da nicht so viele
Dinge auf einmal wie Notenlesen, Handhaltung, Fingersatz und Zusammenspiel
von Melodie und Bass verlangt werden. Genlis konstatiert, dass kein Lehrer bisher
ihre Methode übernommen habe, da man damit nicht in fünf oder sechs Monaten einen viele Stücke spielenden Schüler produzieren kann und wohl auch der größte
Teil der Eltern unzufriedener wäre, wenn sie sähen, dass ihre Tochter ein Jahr nur
Passagen repetiere. Sie verspricht allerdings auch, dass, wer nach ihrer Methode
vorgehe, in weniger als drei Monaten die übertreffe, die drei Jahre nach der üblichen Art gelernt hätten. Ein Studium des Akkompagnements mit Kindern lehnt sie
ab und möchte dies wegen seiner Abstraktheit erst mit 15 oder 16 Jahren beginnen.495 Damit spricht sich Genlis für eine nach ihrer Meinung kindgerechte und der
kindlichen Auffassungsgabe angepasste Lernmethodik aus und zieht Rückschlüsse
aus ihrer eigenen Geschichte als Schülerin.
An die Einleitung schließen sich in Mme de Genlis’ Harfenschule 15 Lektionen
mit Erläuterungen und Spielübungen an, welche die Sitzposition an der Harfe, das
Erkennen der verschiedenen Saiten, die Ordnung der Finger, den Gebrauch der Pedale, Verzierungen, Läufe und Arpeggiengänge über den gesamten Tonraum, Oktav-, Terzen- und Sextengänge, Daumenübungen, Artikulationen, Vibrato, Akkorde
und Tempoangaben behandeln. Eingeschoben sind einige Erfindungen und Beispiele, welche auf Casimir zurückgehen sollen.
Die Notenbeispiele haben Ähnlichkeit mit denen der Clavierschulen der Zeit,
sie sind speziellen technischen Problemen gewidmet und auf deren Lösung hin ausgerichtet. Daneben ist die Harfenschule durch die zahlreichen allgemeinen Erläuterungen ein aufführungspraktisch wie instrumentengeschichtlich interessantes Dokument.
Im Anschluss an die Methode des Harfenspiels gibt es noch eine Petite Méthode de Harpe pour apprendre à accompagner et à jouer des petits Airs. Nach zwölf
Übungslektionen, welche Arpeggienübungen und eine Anweisung zu deren Pedalisierung, Vorübungen zu Verzierungen sowie als Abschluss einen Satz zu Ah! Vous
dirai-je maman mit drei Variationen enthalten, beendet Mme de Genlis ihr Unter495
Genlis AT, Lettre 11, S. 57–59.
145
richtswerk endgültig mit dem Satz: „Nach diesen zwölf Lektionen sollte man noch
einen Monat bei einem Lehrmeister seine Studien vervollkommnen. Dann wird man
in der Lage sein, allein zu studieren.“496
Einige Schülerinnen und Schüler der Mme de Genlis sind namentlich bekannt: Von
Mlle d’Orléans und Mlle Navoigile berichtet sie in ihrer Harfenschule, Erstere spiele
mit einer Kraft wie sonst kaum eine andere Frau und Letzere, welche drei Jahre bei
ihr das Harfenspiel erlernt habe, spiele dieses Instrument derzeit am allerschönsten.497 Über den Unterricht der Adélaïde d’Orléans berichtet der Erziehungsroman
Adèle und Théodore. Eine weitere Passage über die erste Unterrichtszeit ist in den
Memoiren der Mme de Genlis nachzulesen. Das Mädchen hatte mit fünf Jahren das
Spiel auf der Harfe begonnen und spielte nach zwei Jahren oftmals in den samstäglichen Unterhaltungen. Anscheinend übte sie oft stundenlang mit großer Ausdauer.498 Die ältere ihrer eigenen Töchter war nach den Zeugnissen Mme de Genlis’ außerordentlich begabt und spielte nach nur vier Jahren ebenfalls sehr gut auf der Harfe und dem Cembalo.499 Mme de Genlis’ Begeisterung für ihr Instrument war groß
und so unterwies sie auch die Tochter ihrer Milchfrau, der sie eigens eine kleinere
und handlichere Harfe aus Paris kommen ließ. Weniger erfolgreich war der Musikunterricht bei ihrer Schwägerin. Ihr brachte sie schließlich stattdessen die richtige
Orthografie bei.500
Der Schüler, der die größte Rolle im Leben der Mme de Genlis spielte, war ihr
um das Jahr 1790 herum in Berlin geborene Adoptivsohn Casimir Baecker, dem sie
ihre Harfenschule widmete. Sie nahm den Jungen, der eigentlich Friedrich hieß501,
im Jahre 1799 in ihre Obhut und machte ihn zu ihrem ‚Starschüler’. Casimir erlernte das Harfenspiel nach der in der Schule aufgezeigten Methode. Mme de Genlis ermahnte ihn auch in späteren Briefen immer wieder zu Fleiß und ausdauerndem
496
497
498
499
500
501
146
« Après ces 12. leçons, il faudra garder encore un mois le maitre pour perfectionner
cette étude, ensuite, on sera parfaitement en état d’étudier seul. » Genlis Harpe, S. 65,
Übers.: C. S.
Genlis Harpe, S. 3.
Siehe Genlis Choix, S. 188–189. In ihren Lecons d’une Gouvernante geht die Lehrerin
ebenfalls, nach zwölf Jahren, die sie sich bereits mit der Erziehung Adelaïdes beschäftigt hatte, auf das musikalische Talent ihres Zöglings ein. « Aussi peut-on dire sans
exagération qu’elle est pour son âge un prodige sur la harpe, talent qu’elle ne doit qu’à
moi seule, puisque le Valet-de-chambre Musicien qui l’a fait répéter mes leçons, n’a
nulle connoissance de cet instrument, & ne sait même pas l’accorder. » Genlis LG, Teil
1, S. 221.
Genlis Choix, S. 176–177.
GenlisM Bd. 1, S. 240.
Siehe Dobronić-Mazzoni, S. 25. Entgegen der Erzählung Genlis’ bezeichnet DobronićMazzoni Friedrich Baecker als Waisenjungen.
Üben.502 Um das Jahr 1808 herum trat der junge Virtuose erstmals in Konzerten
auf. Besonders lobte die Kritik, so Fétis, seine brillante und saubere Spielart und die
Klangschönheit seines Spiels.503 Als Achtzehnjähriger war er unter dem Namen Casimir in aller Munde. Er komponierte und spielte gern und häufig eigene Werke und
Arrangements. Die Kritik eines seiner Konzerte in Straßburg in der AMZ aus dem
Jahre 1811 lautet folgendermaßen: „In Strasburg machte Hr. Casimir, ein junger
Componist u. Virtuos auf der Harfe in diesen beyden Eigenschaften bedeutendes
Aufsehen und grosses Glück. Wie man uns schreibt, übertrift er, als Harfenspieler,
besonders in Hinsicht auf Besiegung von Schwierigkeiten, alles, was man gehört
hat, und führt namentlich auch sehr schwere Klavierstücke auf seiner Harfe vollkommen aus. Auch dadurch wird seine Erscheinung noch interessant, dass er, als
Virtuos, ein Schüler der berühmten, unermüdlich thätigen Schriftstellerin, Mad. de
Genlis, ist, welche selbst sehr gut Harfe spielt, und vor kurzem eine Méthode de
Harpe herausgegeben hat, welche gerühmt wird, aber, ausser einer gefälligen
Schreibart, nichts Ausgezeichnetes enthält.“504
Nach seiner Rückkehr nach Paris im Jahre 1813 heiratete Casimir Baecker und
zog sich ins Privatleben zurück. Er lebte mit seiner Familie in Mantes und führte ein
beschauliches Leben, hielt aber engen Kontakt zu seiner Adoptivmutter.505 Diese
liebte den jungen Mann überschwänglich. In den zwischen 1802 und 1830 geschriebenen Briefen wird deutlich, dass sie zeitlebens seine Ratgeberin war und ihre Erziehung (auch nach seiner Eheschließung) niemals beendete. Sie erinnerte ihn daran, dass es wichtig sei, respektvoll, bescheiden, zurückhaltend, diskret und liebens-
502
503
504
505
So heißt es etwa in einem undatierten Brief (vermutlich geschrieben im Jahr 1804) Mme
de Genlis’ an Casimir Baecker: « Allons, mon ami, plus de perte de temps; justifiez par
le plus éclatant succès l’espérance de vos amis, de votre mère et du public, et confondez toute cabale. Six heures et demie par jour pendant un mois vous rendront au-dessus
de tout ce qu’on peut imaginer. » Lapauze, S. 14–15.
Zu Casimir Baecker siehe auch Fétis.
AMZ 1811, Sp. 67–68.
Einen weiteren Schüler erwähnt Mme de Genlis in einigen ihrer Briefe an Casimir: Alfred Le Maire, ein Kind, das von Casimir adoptiert worden war. Im September 1810
teilte sie Casimir einen Tagesablauf des Jungen mit, beginnend mit dem Aufstehen um
halb acht am Morgen und endend mit dem Abendessen um halb zehn. Um zehn Uhr,
spätestens viertel nach zehn ging der Junge schlafen. In diesem Tagesablauf werden die
Unterrichtsstunden aufgezählt, die Alfred üblicherweise absolvierte. Neben Lesen und
Schreiben und genau festgesetzten Ruhezeiten finden sich auch Übzeiten für das Harfenspiel: von elf Uhr an bis zum Mittagessen (vermutlich eine Stunde), dann von viertel
nach eins nochmals eine Stunde, schließlich eine weitere Stunde zwischen vier und fünf
Uhr. Außerdem gehörte das Kopieren von Musik (eine halbe Stunde von acht Uhr bis
halb neun) zum Tagesplan. Sonntags sollte mehr Ruhe gehalten werden. Lapauze,
S. 57–58.
147
würdig zu sein, um in der Gesellschaft Erfolg zu haben.506 Immer wieder ermahnte
sie ihn, treu an die Religion zu denken507 – spürbare Früchte ihrer eigenen Erziehung durch Mlle de Mars. Sie freute sich an seinen Erfolgen, die, wie sie in ihrer
Schule verspochen hatte, durch das genau geplante Übepensum eingetreten waren,
sie ließ all ihre Beziehungen spielen, um Konzerte für ihn zu organisieren und sandte ihm Notenmaterial. Die Schwäche für ihren Adoptivsohn ging so weit, dass Casimir, der wohl begabt, aber eher apathisch und inkonsequent veranlagt und weniger
fleißig war, als seine Mutter es von ihm erwartete, und gern seinem Vergnügen
nachging, ihr in jeder Lage Geld aus der Tasche ziehen konnte. Der Erfolg ihrer
Methode zeigt also eine gewisse Ambivalenz.
3.3.4 Unterricht am Hammerclavier
Die neuen pädagogischen Gedanken und die Entwicklung des pianistischen Virtuosentums bedingten auch veränderte Lehrmethoden, die sich in den zahlreichen ausführlichen Etüdenwerken des 19. Jahrhunderts widerspiegeln. Die lehrende Person
war nicht mehr alleinverantwortlich für Lehrart und Literaturauswahl, sondern man
unterrichtete nach der ‚Schule von’, bekannte sich zur Methode eines bedeutenden
Künstlers oder Pädagogen. Marie Bigot de Morogues etwa besaß, „obgleich sie
selbst komponierte, niemals die Schwäche (wie gewöhnlich die Lehrer), ihre eigenen Kompositionen studieren zu lassen. Diesen, wenn auch klein an der Zahl, wurde die Ehre zu Teil, nach ihrem Tod zum klassischen Repertoire des Instrumentes
gezählt zu werden.“508
Im Vergleich mit den Cembaloschulen fällt auf, dass die Lehrwerke für das
Spiel auf dem Pianoforte deutlich weniger Text, dafür aber mehr etüdenhafte
Übungsbeispiele enthalten, die oft „nach Schwierigkeitsgrad geordnet“ sind. Die
Notwendigkeit vieler neuer Schulwerke wird begründet mit der rasch voranschreitenden Weiterentwicklung der Spieltechnik, bedingt durch das neue Instrumentarium. Während die Cembalistinnen wie ihre männlichen Kollegen meist auch Orgeldienste verrichteten und die Schulwerke bis etwa 1780 oftmals ganz allgemein für
Clavierinstrumente gedacht sind, zeichnet sich nun eine neue Entwicklung ab. Das
Pianoforte hielt Einzug in Häuser, Konzertsäle und auch, zunächst gemeinsam mit
506
507
508
148
« Pour réussir dans la société où tu es, sois toujours respectueux, modeste, réservé, discret, complaisant. » Undatierter Brief (ca. 1811) Mme de Genlis’ an Casimir Baecker, in
Lapauze, S. 106–107, hier S. 106.
Siehe die Briefe der Mme de Genlis an Casimir Baecker. In einem anderen Brief vom
22. 9. 1810 heißt es beispielsweise in den Abschiedsworten: „Je t’embrasse maternellement. Dieu, la mort et l’Éternité. Honore partout et toujours la religion. » Lapauze,
S. 58–61, hier S. 61. Ähnliche Formulierungen finden sich häufig am Ende der Briefe.
« Quoique elle ait elle-même composé, elle n’eut jamais la faiblesse, si ordinaire aux
professeurs, de faire étudier sa musique; mais ses ouvrages, trop peu nombreux, obtiendront l’honneur posthume de devenir classiques pour l’instrument. » Miel, S. 317,
Übers.: C. S.
dem Cembalo, in die Titel der Instrumentalschulen: Der Terminus clavecin (Cembalo) taucht immer noch auf, wenn die Tendenz zum Hammerclavier auch bereits
deutlich und der Sprachgebrauch mitunter nicht eindeutig ist. Erst kurz vor der Jahrhundertwende verschwand das Cembalo endgültig von den Titelblättern. Die spieltechnischen Änderungen sind aus heutiger pianistischer Sicht eher gering, es sind
die Stilistik und die Ansprüche an Instrumentalunterricht, die eine Wandlung erfuhren.
Zu den Einfluss nehmenden Schulen zählten insbesondere die Methode pour le
piano forte von Ignace Pleyel und Johann Ludwig Dussek aus dem Jahre 1797509
sowie die Schulen von Louis Adam, die Méthode nouvelle pour le piano, à l’usage
des élèves du Conservatoire510, erschienen 1802, sowie die bereits 1798 gemeinsam
mit dem Prager Ludwig Wenzel Lachnith veröffentlichte Méthode ou principe général du doigté pour le forte piano511. Diese Pianoforteschule wurde ebenso wie die
von beiden Autoren gemeinsam verfassten Exercices préparatoires par le piano
(o. J.) vom Conservatoire national offiziell für den Clavierunterricht verwendet.
Louis (Johann Ludwig) Adam, seit 1797 Professor für Pianoforte am Pariser
Conservatoire, war u. a. Lehrer von Friedrich Kalkbrenner, Franz-Joseph (FrançoisJoseph) Hérold und Mlle Renaud d’Allen, später verheiratete Mme de Grammont.
Viele Studierende seiner Klasse erlangten künstlerische Anerkennung. Im Jahr 1818
begründete Adam am Conservatoire einen Kurs, der den jeunes filles, den Schülerinnen, vorbehalten war.
Das Alphabet Pour le Piano von Mme Duhan
Anders als es beim Cembalo der Fall gewesen war, veröffentlichten auch Frauen
Lehrwerke für das Spiel auf dem Pianoforte. Mme Duhan scheint nicht nur Clavierlehrerin, sondern auch Musikverlegerin gewesen zu sein.512 Ihr Alphabet Pour le Piano baut, wie gleich aus dem Titelblatt hervorgeht, auf ihrem Alphabet Musical
auf,513 das an späterer Stelle beschrieben wird. Die Schule soll in kurzer Zeit zu
Fingerfertigkeit, Unabhängigkeit der Hände (womit insbesondere ein deutlicher Anschlag aus dem Fingergrundgelenk gemeint ist) und Sicherheit beim Clavierspiel
verhelfen.514 Dazu dienen 102 Tafeln und 32 Übungsbeispiele, die von einem Mr
509
510
511
512
513
514
Ignace Pleyel, Johann-Ludwig Dussek, Methode pour le piano forte, Paris 1797.
Louis Adam, Méthode de Piano du Conservatoire, Paris 1802.
Louis Adam, Ludwig-Wenzel Lachnith [Lachnitz], Méthode ou principe général du
doigté pour le Forte Piano adoptée par le conservatoire de Musique de Paris pour servir à l’Instruction des Elèves dans cet Etablissement. Die 1. Auflage erschien 1798, eine 2. im Jahr 1801 in Paris. R in Roudet I, S. 75-239.
Gardeton, S. 54 nennt Mme Duhan als Verlegerin von Dusseks Méthode pour le piano.
Mme Duhan, Alphabet Pour le Piano faisant suite à l’Alphabet Musical composé et dedié à Mademoiselle Adelle Thourin par M.me Duhan, BNF Signatur Vm8 s 272.
Duhan, Avis préliminaire, S. S.A.
149
L. Jadin komponiert und hier mit Fingersätzen versehen und den entsprechenden
Tafeln zugeordnet abgedruckt sind.
Die Methode spiegelt den Unterricht wider, den Mlle Adèle Thourin, der das
Werk auch gewidmet ist, bei Mme Duhan erhalten hatte. Demnach reichen, so die
Autorin, 28 bis 30 Leçons aus, um sicher Clavier zu spielen und ihre Schülerin war
bereits nach zwölf Leçons im Stande, nach den großen Claviermethoden (gemeint
sind wohl Schulen wie die von Adam oder Pleyel-Dussek) zu arbeiten. Mme Duhan
legte großen Wert darauf, dass jedes Beispiel erst stumm, d. h. mental geübt werde.
Erst wenn auf diese Art alles erfasst ist, sollte man sich ans Instrument begeben.
Der Reihe nach werden zu jeder Dur- und im Anschluss daran zu den (melodischen) Molltonarten jeweils Tonleiter, Intervalle und Arpeggien mit Fingersätzen
abgebildet. Die Hände sollen zunächst einzeln, dann zusammen geübt werden. Es
folgt die der Tonart zugeordnete Leçon. Die Übungsstücke steigen im Schwierigkeitsgrad an; sie behandeln verschiedene Taktarten, Tempi, Rhythmen, Artikulationen und musikalische Charaktere. Meist befindet sich in der rechten Hand eine Melodie, während die linke Hand mit verschiedenen Mustern begleitet.
In gewisser Weise ähnelt Mme Duhans Methode in ihrem Aufbau den Vorstellungen François Couperins: Anhand von Passagen und kleinen Floskeln wird eine
Fingerfertigkeit erreicht, die eingebettet in kleine musikalische Übungsstücke zu einem guten Clavierspiel führen sollen.515
Der Cours complet pour l’Enseignement du Forté Piano von
Hélène de Montgeroult
Besonders eindrucksvoll ist die dreibändige Schule Hélène de Montgeroults. Dieser
Musikerin gebührt der Ruhm, als erste Clavierprofessorin am Pariser Conservatoire
national de Musique et de Déclamation tätig gewesen zu sein. Ihr Cours complet
pour l’Enseignement du Forté Piano conduisant progressivement des Premiers Eléments aux plus Grandes Difficultéz erschien nach 1812, aber vor 1820 im Druck.
Hélène de Montgeroult widmet einen eigenen Passus der Wahl eines geeigneten Tasteninstruments, die mit Sorgfalt durchgeführt werden soll. Wichtig ist, dass
die Claviertasten keine Nebengeräusche beim Spielen verursachen, dass die Mechanik nicht zu leichtgängig ist (das genaue Gegenteil zu den Äußerungen Couperins
und Rameaus für den Anfangsunterricht), die Tasten genügend Tiefgang haben und
die Dämpfung gut funktioniert. Auf einem guten Pianoforte lassen sich viele Abstufungen mittels des Anschlags erreichen und jede Unregelmäßigkeit des Spielenden
515
150
Schilling ENC und Gaßner nennen insgesamt drei Schulen: Das Alphabet musical
(s. u.), die Méthode ou Alphabet pour apprendre le Doigter et posséder en peu de Tems
l’Aplomb du Pfte und das Alphabet p l. Pfte., et 32 Leçons, außerdem mehrere Clavierwerke. Sie sind der Meinung, dass ihre Schulwerke Mme Duhan als „eine denkende und
geschickte Lehrerin in der Musik, namentlich im Clavierspiele, charakterisiren“ (Schilling ENC). Vermutlich haben diese Autoren bereits keines der Werke Mme Duhans
mehr zu Gesicht bekommen.
wird sofort hörbar. Man wähle zum Arbeiten immer das beste Instrument, um sich
selbst kritisch zu schulen.516 Die Autorin geht von einem Lernen mit hohem Anspruch aus.
Im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Schulen, in denen das Hauptaugenmerk auf einer gleichmäßigen Virtuosität liegt, setzt Montgeroult einen weiterreichenden Schwerpunkt. Ihr erklärtes Ziel ist es, dass das Clavier den Gesang und all
die Modulationen imitiere, deren eine gute Stimme fähig ist.517 Als wichtigstes Mittel dazu sieht die Autorin die Atmung, also die Phrasierung an. Sie vergleicht das
Spiel am Pianoforte mit einer Orchesteraufführung mit Gesang: Während das Orchester immer genau im Takt spielt, nimmt sich der Sänger Freiheiten in der Gestaltung seiner Phrase und trifft teilweise nur an deren Ende genau mit dem Orchester
übereinander. Beim Clavierspiel entspricht die rechte Hand der Gesangspartie, während die linke gleichsam als Orchester begleitet. Mit jedem Phrasenende des imaginären Sängers kann die rechte Hand ihre Position auf der Tastatur verändern (Lagenwechsel) und gleichzeitig etwa so lange zögern, wie eine Atmung bräuchte.518
Diese Imitation des Gesangs, eine der Grundregeln barocker Rhetorik im neuen Gewand, bietet laut Montgeroult mehrere Vorteile: Das Volumen des Klanges vergrößert und verbessert sich. Außerdem gewöhnt man sich rasch an ein gutes Legatospiel, welches einen reichen Klang ergibt. Weiterhin ist es durch geschickte Artikulationen und Dynamik möglich, die Akzentuierung einer Stimme nachzuahmen.
Dieser Effekt lässt sich durch Ornamentik noch weiter unterstützen.519
Montgeroult möchte mit ihrem Lehrwerk Kindern und Jugendlichen, die keine
Gelegenheit haben, guten Unterricht zu bekommen und deren Eltern selbst keine
musikalischen Kenntnisse besitzen, zu dem verhelfen, „was man heutzutage einen
talentvollen Vortrag nennt”520. Dazu benötigt man gutes Stilgefühl, Eleganz und einen „großen und edlen Ausdruck”.521 Zu einem guten Clavierspiel gehören damit
laut Montgeroult nicht nur die technischen, sondern auch unbedingt die entsprechenden musikalischen Fähigkeiten. Ihre Schule möchte von den ersten Grundbegriffen ausgehend die Lernenden – und damit sind junge Menschen angesprochen –
zur Meisterung der größten Schwierigkeiten hinführen. Der Stoff ist dazu in drei
Teilbände aufgeteilt. Der erste Band enthält im Anschluss an eine zwölfseitige theoretische Einleitung die elementaren Übungen, mit denen das Clavierspiel begonnen
werden soll. Der Schwierigkeitsgrad dieser Übungen wird im ersten wie im zweiten
Band kontinuierlich gesteigert und ergänzt durch die „vierzig Etüden, Fugen und
516
517
518
519
520
521
Montgeroult Bd. 1, S. VI, Avertissement.
Montgeroult Bd. 1, S. I, Preface.
Montgeroult Bd. 1, S. I-II, Preface.
Montgeroult Bd. 1, S. II-III, Preface.
« Ce qu’on nomme aujourd’hui talent d’exécution », Montgeroult Bd. 1, S. III, Preface.
« D’un beau style, d’une élégance appropriée à tous les genres, et d’une grande et noble
expression », Montgeroult Bd. 1, S. IV, Preface.
151
anderen klassischen Stücke”522 des dritten Teilbandes. Die Übungen sind in thematische Kapitel unterteilt, denen jeweils ein einführender Text über die zu bewältigenden Schwierigkeiten vorangestellt ist. Der Textteil ist damit im Vergleich zu den
übrigen zeitgenössischen Schulwerken außerordentlich hoch. Die Literaturauswahl
soll den Geschmack bilden und nicht so niveaulos sein wie viele der Übungen, mit
denen man oft Kinder beginnen lässt.523 Damit spricht sich Hélène de Montgeroult
ausdrücklich gegen eine Mechanisierung des Clavierspiels aus.
Hinweise zu spieltechnischen Problemen
Montgeroult bezeichnet die bequemste Körperhaltung als die beste für das Spielen.524 Man soll in der Mitte des Claviers sitzen. Die bei den meisten Autoren zu lesende Anweisung, dass die Ellenbogen nicht viel höher als die Hände auf der Claviatur zu sein brauchen, setzt Montgeroult noch in den Kontext zur nicht mehr vorteilhaften „alten Methode“, welche das Gegenteil vorschrieb und den Gebrauch des
Daumens und damit die freie Bewegung der Hand behindert habe.525
Die Unabhängigkeit der Finger und ein gleichmäßiges, nicht prinzipiell von
der Metrik beeinflusstes Spiel treten auf dem Hammerclavier mehr und mehr in den
Mittelpunkt der technischen Unterweisung. Die Hand nimmt im Laufe der Zeit eine
immer flachere Position ein. Laut Montgeroult sollen die Handrücken etwas höher
als die Ellenbogen sein. Der Erläuterungstext zu einer Abbildung mit Händen in der
gewünschten Haltung informiert außerdem darüber, dass der Daumen „ganz unter
den Zeigefinger gestreckt“ und an allen Gelenken gerundet sein soll. Die Finger
sind leicht gestreckt, nur das zweite Glied ein wenig gerundet. Der Anschlag erfolgt
mit der Fingerkuppe, keinesfalls mit dem Nagel. Nur der fünfte, der kürzeste Finger
ist gänzlich gestreckt und soll zusammen mit dem Daumen einen doppelten Stützpunkt der Hand bilden. Die Hände sind so weit in die Tastatur hineingeschoben,
dass die Finger auf den Obertasten stehen können, ohne dass die Position der Hände
gestört wird.526 Damit sind vorrangig zwei Unterschiede zur früheren Technik formuliert: die geringere Handwölbung und die weiter in die Tasten geschobene Handposition.
Ein durchgängiges Legatospiel wird zum Normalfall. Eine ruhige Position des
Körpers und des Spielapparates sind weiterhin äußerst wichtig und entsprechen den
ästhetischen Vorstellungen der Zeit. Da die Claviaturen der frühen Hammerflügel
sehr leichtgängig sind, verbieten sich größere Spielbewegungen von selbst, will ein
sauberes Spiel gewährleistet sein. Schultern und Oberarm bleiben am Spiel unbetei522
523
524
525
526
152
« La Troisième partie toujours progressive, arrive aux plus grandes difficultés de l’art,
et contient outre quarante Etudes, des Fugues et autres morceaux dans un genre classique. » Montgeroult Bd. 1, S. V, Avertissement.
Montgeroult Bd. 1, S. V, Avertissement.
Montgeroult Bd. 1, S. VI, Avertissement.
Ebd.
Montgeroult Bd. 1, S. VII, Avertissement.
ligt. Auch Montgeroult stellt einen Zusammenhang zwischen Anschlag und Haltung
her: Die nötige Kraft für den Anschlag kommt ganz aus der Hand und nicht aus anderen heftigen Bewegungen des Handgelenks oder aus dem Arm. Letztere sind
sorgfältig zu vermeiden.
Fingersatzregeln
Anweisungen zum Fingersatz geben Pleyel und Dussek in einem ausführlichen,
Regles pour le Doigter (Regeln für den Fingersatz) betitelten Kapitel.527 Sie betreffen vor allem Tonleitern und gleichen nicht mehr dem in den meisten Cembalotraktaten beschriebenen alten Fingersatz mit guten und schlechten Fingern, sondern den
aus unserer Sicht modernen Fingersätzen. Von den Skalenfingersätzen leiten sich
alle anderen Passagen ab. Terzentonleitern können noch mit dem alten Fingersatz
(2. und 4. Finger seitlich versetzt) oder modern gegriffen werden. Die erste Art wird
als brillant, die zweite als gebundener und folglich zarter bezeichnet.528 Arpeggienähnliche Gänge leiten ihre Fingersätze von den entsprechenden Akkorden ab. Bei
Frédéric Thiéme529 wie auch bei Anton Bemetzrieder530, beide Werke von 1796,
findet man zusätzlich Fingersätze für chromatische Tonleitern. Viguerie, ebenfalls
von 1796, beschreibt den stummen Fingerwechsel als wichtiges Mittel in „akkordischen und gebundenen Stücken.“531 Neu sind Repetitionsübungen, wie sie beispielsweise 1797 bei Nonot532 zu finden sind.
Montgeroult bezeichnet allgemein den Fingersatz als den Besten, welcher „den
schönen Händen die Anmut bewahrt, welche die Natur ihnen gegeben hat und die
anderen verschönert“. Mit diesem Fingersatz lassen sich alle Schwierigkeiten mit
der größten Leichtigkeit und dem geringsten Bewegungsaufwand ausführen.533 Entscheidend für die Auswahl des Fingersatzes ist, dass er die Schwächen des Instruments, „das Hämmern, die Trockenheit und Kleinheit des Tons“ 534 überwindet,
527
528
529
530
531
532
533
534
Pleyel/Dussek, S. 18–40.
Pleyel/Dussek, S. 31–32.
Frédéric Thiéme, Principes abrégés de musique pratique pour le Forté Piano avec
Gammes Exercices, Préludes et Airs Connus disposés Méthodiquement et en forme de
Leçons pour parvenir en peu de temps à la Connoissance du doigté de cet Instrument
pour les Tons les plus usités de la Musique Moderne suivie de Six Petites Sonates formées d’Airs connus, Rouen 1796, S. 9, R in: Roudet I, S. 171–210.
Anton Bemetzrieder, Nouvelles leçons de clavecin ou piano-forte, Paris ca. 1796, S. 6,
R in: Roudet I, S. 111–122.
« Il est essentiel de s’accoutumer aussi à substituer un doigt à la place d’un autre, sans
relever la touche; cela facilite surtout l’exécution de la musique qui est dans le genre
harmonieux et lié. » Bernard Viguerie, L’Art de Toucher le Piano-Forte, Paris ca. 1796,
S. 8, R in: Roudet I, S. 123–161.
Nonot, S. 18-21.
Montgeroult Bd. 1, S. VII, Avertissement.
« Le martelé, la sécheresse, l’exiguïté du son », Montgeroult Bd. 1, S. VII, Avertissement.
153
denn diese Eigenschaften sind nicht geeignet zum Ausdruck von Emotionen auf
dem Pianoforte. Da die Klänge möglichst dicht werden sollen – man bedenke den
zarten und besonders in der Höhe oft wenig tragfähigen Ton dieser Instrumente – ist
eine gute Bindung, also ein deutliches Legato- bzw. sogar Überlegatospiel unerlässlich. So kann laut Montgeroult nicht nur das Klangvolumen vervierfacht, sondern
auch die Möglichkeit der Klangdifferenzierung gesteigert werden.535 Weiter heißt
es: „Die Kleinheit des Tons kommt daher, dass die Tasten nicht GEFÜHLT, sondern GESCHLAGEN werden. Die Finger haben also nicht das Gefühl, dass es sich
wirklich um eine Berührung handelt.“ Anschlagskunst und Fingersatz ermöglichen
ein differenziertes Spiel und bewirken laut Montgeroult, „dass das Piano […] seine
Vorzüge und Effekte völlig verändert.“536
Die Übungsbeispiele
Allgemein werden die Übungsbeispiele zahlreicher und sind in der Regel sehr technisch ausgerichtet. So schließen sich etwa an sieben Seiten Einleitung bei Adam/
Lachnith 13 Seiten mit Tonleitern in Dur und Moll an; es folgen Übungsvarianten
und Passagen in Achteln, Triolen und Sechzehnteln in unterschiedlichen Tonarten,
Oktavenübungen, Tonrepetitionen, Arpeggien, Etüden zum stummen Fingerwechsel, Verzierungen sowie Beispiele zum Überschlagen der Hände anhand gebrochener Arpeggien über mehrere Oktaven.
Montgeroult betont, dass es wichtig sei, erst die sieben ersten Folgen des ersten Bandes der Schule vollständig zu beherrschen, ehe man mit dem zweiten Teil
beginnt. Täglich soll drei Stunden, aufgeteilt in zwei Übephasen, exerziert werden.
Dies hält sie für ausreichend, damit ein Kind von sieben Jahren im Verlauf eines
Jahres diesen Stand erreichen kann.537 Von Kindern wird anfangs kein allzu großer
Ausdruck erwartet. Wichtig ist, dass man das Alter und die dafür angemessenen
Leidenschaften berücksichtigt. Alles andere wäre lächerlich und schockierend und
würde einen schlechten Einfluss auf die weitere Geschmacksbildung haben. Kinder
sollen zu einem natürlichen Ausdruck und einer guten Ausführung angeleitet werden: „Man lasse sich den Schüler also bis zum Jugendalter nur mit dem mechani-
535
536
537
154
Montgeroult Bd. 1, S. VII, Avertissement.
« L’exiguité du son vient de ce que les touches ne sont pas SENTIES mais FRAPPÈES.
Les doigts, alors, sont privés d’un sens qui agit réellement sur la touche. La grande
quantité de son, dépend donc de l’art avec lequel on sait, par un bon doigté, soutenir la
note, soit en la pressant fortement après qu’elle a résonné pour en prolonger la vibration, soit en s’étendant moëlleusement sur une succession de notes sans les quitter; ce
procédé est un des secrets de la grande exécution, et il est vrai de dire que le Piano joué
ainsi, change absolument de qualité et d’effets. » Montgeroult Bd. 1, S. VII, Avertissement. Eine weitere Begründung für das Legatospiel liegt natürlich im Vergleich mit der
Singstimme.
Montgeroult Bd. 1, S. VIII, Avertissement.
schen Teil des Spiels beschäftigen und mit den verschiedenen in der Musik angezeigten (notierten) Abstufungen. Dies soll er täglich üben.“538
Im ersten Band von Hélène de Montgeroults Clavierschule gibt es insgesamt
972 Übungen, welche in 17 Folgen oder Abschnitte unterteilt sind, die sich verschiedenen Problemen der Spieltechnik widmen. Es gibt Übungen zum Anschlag,
zur Steigerung des Tempos, zu Arpeggien, Oktav- und Terzgängen, zur Abwechslung der Hände, zu gehaltenen Noten für die Unabhängigkeit der Finger, zu Artikulationen, Synkopen und Verzierungen. Montgeroult spricht sich gegen den allgemein üblichen Beginn mit Tonleitern aus, zu denen eine Veränderung der Handposition (aus dem Fünftonraum heraus) zu einem Zeitpunkt von Nöten ist, da die richtige Haltung noch nicht verinnerlicht ist.539 Dem Daumenuntersatz kommt eine so
entscheidende Bedeutung zu, dass die Einrichtung der Hand vor Erlernung dieser
wichtigen Technik als grundlegend betrachtet wird.
Jede Übung soll sehr langsam einstudiert werden (für Montgeroult die beste
Methode um zu lernen, später schnell zu spielen), wobei der Daumen und der kleine
Finger ihre Tasten beständig halten. Jede Note soll „mit Kraft, doch ohne zu klopfen“540 angeschlagen werden. Auch bei kräftigem Anschlag darf das Tastengefühl
nicht verloren gehen. Zunächst sollen die Hände einzeln geübt werden und anschließend zusammen. Dies fördert die Unabhängigkeit der Finger, deren absolut
freie Beweglichkeit das erste und wichtigste Ziel ist. Die folgenden 93 ein- bis
zweitaktigen Übungen der ersten Lektion erscheinen in Tonarten mit bis zu sieben
Vorzeichen und verwenden verschiedenste Fingerkombinationen. An der ersten
Übung wird verdeutlicht, wie das Tempo allmählich gesteigert werden soll: Nach
einer Notation in Vierteln erscheint dieselbe Tonfolge in Achteln, Sechzehnteln und
Zweiunddreißigsteln. Es schließen sich 214 Tonleiterübungen in allen Dur- und
Molltonarten über ein und zwei Oktaven an, in denen verschiedenste Handbewegungen erlernt werden. Dabei soll besonders auf den Daumen geachtet werden. Jede
überflüssige und ruckartige Handbewegung ist zu vermeiden. Die nächsten 113
Übungen erweitern die Handrückung durch seitliches Versetzen und Fortrücken in
Passagen und Arpeggien, Batteries genannt. Langsam tauchen einige Beispiele auf,
die speziell auf clavieristische Klangeigenschaften eingehen, dynamische Angaben
fehlen jedoch gänzlich. Die dabei erscheinenden Doppelgriffübungen verlangen
eine hohe Flexibilität der Hand und reichen bereits an hohe Schwierigkeitsgrade
heran.
538
539
540
« On laissera donc l’élève s’occuper uniquement, jusqu’à son adolescence, du mécanisme de son jeu et des diverses nuances indiquées dans la musique qui sera l’objet de son
travail journalier. » Montgeroult Bd. 1, S. VIII, Avertissement. Übers.: C. S.
Montgeroult Bd. 1, S. 2, Premiere Partie, Exercices préliminaires, Ire. Suite
d’Exercices.
« Il touchera la note avec fermeté, sans pourtant la taper », Montgeroult Bd. 1, S. 2,
Premiere Partie, Exercices préliminaires, Ire. Suite d’Exercices.
155
Systematisch wird der Bewegungsduktus erweitert. Das 5. Kapitel beschäftigt
sich mit der Steigerung des Spieltempos; dabei ist auf absolute Gleichmäßigkeit zu
achten. Unter die 88 Übungsbeispiele sind, wie in den anderen Kapiteln auch, immer wieder kurze Erläuterungen eingeschoben. Ab Übung 45 wird das Spiel in Oktaven von kleinen Imitationen und parallelen Gängen in Sexten oder Dezimen unterbrochen. Das 6. Kapitel beschäftigt sich mit gebrochenen Arpeggien in Parallelund Gegenbewegung und dem Oktavenspiel. An dieser Stelle kann laut Vorwort parallel mit dem zweiten Band begonnen werden.
Im ersten Band schließen sich 49 Übungsbeispiele zum Erlernen gebundener
Terzgänge und ein Kapitel zu Arpeggien und Handkreuzungen an. Nach zehn Vorübungen, in welchen die Hände abwechselnd spielen, gibt es solche, in denen eine
Hand jeweils um die andere begleitende herumspringt. In einem weiteren Schritt
springt die eine Hand zwischen Doppelgriffe der anderen. Das 10. Kapitel widmet
sich der Unabhängigkeit der Finger bei gleichzeitiger Fesselung der Hand durch eine oder mehrere gehaltene Noten, allerdings ohne stumme Fingerwechsel, sodass
kein vollständiges Legato entsteht. Im folgenden Kapitel werden Seitenbewegungen
der Hände in gleichen und unterschiedlichen Intervallfolgen und akkordisches Spiel
(mit bis zu fünf Tönen in einer Hand) erarbeitet. Darauf folgen in Kapitel 12
Übungsbeispiele mit punktierten Noten. Dabei sollen sowohl die punktierte als auch
die nachfolgende kürzere Note artikuliert werden. Kürzere Artikulationen werden
an Beispielen wie Bögen oder in einem durch kurze Pausen durchbrochenen Satz
geübt. In der 34. Übung, der letzten dieses Teils, tauchen erstmals Keile auf. Im
nächsten Abschnitt, der in 23 Übungen Synkopen behandelt, geht es vorwiegend
um deren dynamische Inhalte, ein crescendo und einen damit verbundenen höheren
Druck des Fingers auf die Taste in Abhängigkeit von Harmonie und Metrum.
Kapitel 14 geht ausführlich auf verschiedene Artikulationen, legato und staccato, ein. Gebundene Noten verlangen demnach große Anschlagsdelikatesse. Die
erste Note wird gehalten (betont), die letzte Note unter dem Bogen locker abgesprungen, wobei der Finger die Taste nur streift. Daher gleitet die Hand gleichsam
über das Clavier, ohne sich jemals zu heben. Beim Staccato ist darauf zu achten,
dass die Noten so angeschlagen werden, dass ihre Schwingungen sich mit denen der
nächsten Note verbinden, der Klang also nicht zu trocken ist. Dazu ist es wichtig,
einen geeigneten Fingersatz zu verwenden, der es auch ermöglicht, den Tönen Farbe zu geben. Nur ein wirklich guter Fingersatz gibt einer Folge von Zweier- oder
Dreierbindungen ihre wahre Nuancierung. Der optimale Klang entsteht, wenn man
auf dem Pianoforte das Martellato der Streichinstrumente nachzuahmen sucht. Dazu
wird entweder die Taste mit einer plötzlichen Bewegung angeschlagen und gleichzeitig die Fingerspitze unter die Hand zurückgezogen oder man gibt der Taste einen
kleinen, trockenen Stoß und lässt dann den Finger fast senkrecht in die Ausgangsposition zurückfallen. 541 Im 15. Kapitel folgen 71 Stücke zu Trillern (Cadences)
541
156
Montgeroult Bd. 1, S. 200, Premiere Partie, Exercices préliminaires, 14me. Suite
.
d’Exercices.
und Doppeltontrillern (Tremendo). Triller bilden laut Montgeroult den schwierigsten Teil der Claviertechnik, da sie gleichzeitig der Kraft, der Geschmeidigkeit, der
Geschwindigkeit, Gleichmäßigkeit und Unabhängigkeit der Finger542 bedürfen. Sie
beginnen immer auf der oberen Nebennote und enden mittels eines (nunmehr) obligatorischen Nachschlages auf der Hauptnote. In Kapitel 16 geht es um „kleine Noten“ (Petit Notes), Vorschläge und Vorhalte. Diese dienen dazu, den Melodien Farbe und Kolorit zu verleihen und ihren emotionalen Gehalt zu verstärken. Entsprechend richtet sich die Ausführung der kleinen Note(n) nach dem Charakter der jeweiligen Stelle. Das letzte Kapitel zeigt anhand einer Cara negli occhi tuoi betitelten Arie des italienischen Komponisten Nicola Antonio Zingarelli mit Variationen
von Tommaso Marchesi verschiedene Möglichkeiten der adäquaten Ornamentierung einer Melodie auf dem Pianoforte.
Kennzeichnend für den ersten Band der Clavierschule Montgeroults ist eine
ungeheure Fülle an Übungsmaterial, dass jedes Kapitel von sehr leichten bis zu
höchst anspruchsvollen Beispielen führt, wie sie auch heute noch in den schwersten
Klavieretüdensammlungen zu finden sind. Dynamische und interpretatorische Angaben fehlen völlig. Es geht um ein Fingerexerzitium, um technische Gewandtheit
und ein Umsetzen musikalischer (charakterlicher) Inhalte über die Anschlagskultur.
Da bereits nach etwa einem Jahr parallel zu diesen technischen Übungen mit
dem zweiten Band der Clavierschule begonnen werden soll, bleiben diese Inhalte
nur im allerersten Zeitraum unberührt, stehen sie doch im zweiten und dritten Teil
des Lehrwerks deutlich im Vordergrund. Es mangelt nicht an musikalischen Anweisungen. Enthalten sind im zweiten Band insgesamt 70 klangvolle Etüden, deren
Übungszweck entweder für die eine, die andere oder beide Hände bestimmt sind.
So geht es z. B. um die Verdeutlichung einer auf beide Hände aufgeteilten Melodie
in gebrochenen Akkordtönen (Etüde Nr. 5), um melodisches und gleichmäßiges,
klanglich ausgewogenes Terzenspiel (Etüde Nr. 12) oder um Triller und Synkopen
(Etüde Nr. 70). Die Bände der Clavierschule sind damit deutlich aufeinander abgestimmt. Jeder Etüde ist eine Tempoangabe (d’après le Métronom de Maelzel) vorangestellt, zu jeder Nummer erfolgt eine verbale Erläuterung zur gewünschten Ausführung, über die zu erwartenden Schwierigkeiten und das Ziel dieser Übung. So
heißt es z. B. zu Nr. 51, der „zehnten Etüde für die linke Hand“: „Diese Etüde gibt
Gelegenheit zu sehr häufiger Anwendung der ersten, gleichzeitig wichtigsten Regel
über die Einrichtung der Hand, nämlich den Daumen unhörbar unterzusetzen. Der
Schüler wird dieses Ziel erreichen, wenn er oft und aufmerksam die Tonleitern des
ersten Teils dieses Werkes gearbeitet hat. Unter dem Gesichtspunkt des Ausdrucks
bietet dieses Stück eine schwierig zu fassende Schattierung. Spielt man die Noten
von Oberstimme und Bass zu exakt übereinander, wird die Melodie davon trocken.
Auf der anderen Seite resultiert aus einer zu starken Trennung ein affektierter Ausdruck, der dem Stück seinen Zusammenhang und seine Intention nimmt. Wir be542
« La force, la souplesse, la rapidité, l’égalité et l’indépendance des doigts. » Montge.
roult Bd. 1, S. 206, Premiere Partie, Exercices préliminaires, 15me. Suite d’Exercices.
157
trachten das Stück demzufolge als sehr geeignet, um das musikalische Talent des
Schülers zu testen. Der Bass muss exakt im Takt gespielt werden und so gebunden
wie möglich. Der Ausdruck der Melodie darf nur von einer leichten Veränderung
des Taktes in der rechten Hand herrühren.“543
Der dritte Band setzt diese Art der Etüden fort, sodass mit dem zweiten und
dritten Band insgesamt 114 von der Autorin selbst komponierte Etüden als musikalisches Spielmaterial zusätzlich zu den Übungen des ersten Bandes zur Verfügung
stehen. Hinzu kommen noch drei Themen mit Variationen von Händel, ein Kanon,
drei Fugen, ein Thême varié dans le genre moderne und eine Fantasie. Mit ihrem
dreibändigen Cours complet pour l’Enseignement du Forté Piano legte Hélène de
Montgeroult also ein groß angelegtes, systematisch aufgebautes und durchdachtes
Übungswerk vor. Die zugrunde liegende Claviertechnik ist noch die des ausgehenden 18. Jahrhunderts, doch die Art der Vermittlung ist neu.
Laut den Berichten des Barones de Trémont, eines engen Freundes Hélène de
Montgeroults, ist die Entstehung der Clavierschule einem Freundschaftsbeweis zu
verdanken: Ein namentlich nicht genannter Freund – möglicherweise er selbst – ,
der den Sommer bei der Musikerin auf dem Lande verbrachte, lehrte sie die italienische Sprache, sie erteilte ihm im Gegenzug Clavierstunden. Die einzelnen Lektionen sollten anhand von Kompositionen Mme Montgeoults einerseits technischen
Fortschritt bringen, andererseits, unterstützt durch die schriftlichen Erläuterungen,
unterschiedliche musikalische Charaktere lehren und dies so, dass auch Kinder danach lernen konnten.544 Sicher geht dieses ausgearbeitete, durchdachte und ineinandergreifende Konzept nicht nur auf die Erfahrungen eines Sommers zurück, sondern
spiegelt eine langjährige Berufspraxis, vielleicht auch den bereits seit Längerem
gehegten Plan zu einem Lehrwerk wider. „Mme de Montgeroult lehnte es lange ab,
ein Werk drucken zu lassen, das sie aus Zuneigung, ohne Blick auf eine breite Öf543
544
158
« Cette étude fournira l’accasion de faire très fréquemment l’application de la première,
comme de la plus importante règle du mécanisme de la main, qui est de passer le pouce
d’une manière insensible. L’élève aura atteint ce but s’il a travaillé souvent et avec attention les exercices de Gammes de la première partie de cet ouvrage. Sous le rapport
de l’expression, ce morceau offre une nuance difficile à saisir. Si l’on fait marcher avec
trop d’exactitude les notes de dessus avec la basse, le chant en contractera de la sécheresse; et d’un autre còté, si on les sépare trop, il en résultera une affectation d’expression, qui enlévera au morceau son ensemble et son intention. Nous le considérons
donc comme très propre à éprouver le talent musical de l’élève. Il faut que la basse soit
jouée exactement en mesure, et le plus lié possible. L’expression du chant ne doit produire qu’une légère altération dans quelques mesures de la main droite. » Montgeroult
Bd. 2, S. 144, N°. 51, 10me. Etude de main gauche, Pour parcourir le clavier d’une ma.
nière liée. Observations. Übers.: C. S. & Ch. S. Montgeroult bezieht sich hier auf das
bereits im Avertissement am Beispiel einer Orchesteraufführung mit Gesang beschriebene Rubato.
Trémont, S. 755.
fentlichkeit komponiert hatte. Sie entschloss sich dazu erst 1812, glaube ich“545, so
noch einmal der Baron de Trémont. Dies ist die genaueste Jahresangabe, die uns zur
Entstehung des Cours complet pour l’enseignement du forte-piano vorliegt. Allerdings erwähnt Grétry bereits 1797, dass Mme Montgeroult ihre „Unterrichtserfahrungen“ aufgezeichnet habe.546 Wahrscheinlich verwendete sie ihre Etüden auch im
Unterricht mit den Studenten am Conservatoire nationale. Da die Clavierschule
1820 bei Janet et Cotelle au dépôt légal am 1. Februar und in der Bibliographie de
la France am 5. Februar angezeigt547 ist, wäre der Druck erst zwischen 1812 und
(allerspätestens) Anfang 1820 anzusetzen. Die Zeitschrift Le Dilettante stellt im
Jahr 1833 in einem De l’Education musicale des femmes betitelten Artikel die Clavierschule Montgeroults auf eine Stufe mit den Lehrwerken Muzio Clementis, Daniel Steibelts, Benoît-Auguste Bertinis, Frédéric Kalkbrenners und Ignace Moscheles’.548
Besonders interessant ist im Zusammenhang mit der Rezeption der Clavierschule Hélène de Montgeroults das Zeugnis Antoine-François Marmontels. Dieser
war seit 1827 Gesangsschüler am Conservatoire und studierte Clavier in der Klasse
Pierre-Joseph-Guillaume Zimmermanns. 1837 wurde er zum Gesangslehrer am
Conservatoire ernannt, vertrat 1846 Henri Herz als Clavierdozenten und trat 1848
die Nachfolge seines Lehrers Zimmermann an. Er war einer der angesehensten Professoren des Instituts und hinterließ ein musikalisches wie literarisches Œuvre mit
größtenteils didaktischem Hintergrund. Marmontel berichtet: „Es war die Methode
von Mme de Montgeroult, nach der ich vor mehr als fünfzig Jahren mit dem Clavierspiel begonnen habe. Dieser zeitliche Abstand könnte glauben machen, dass der
theoretische Teil und die ästhetischen Betrachtungen dieses Werkes mittlerweile
überholt seien. Es ist indessen nicht so, und, um nur eines von tausend Beispielen
zu nennen, brauchen wir uns nur einige Ratschläge aus dem Vorwort der Autorin
anzusehen. Ihre Grundsätze über die Phrasierung sollten jedem der lärmenden Virtuosen heutzutage gegenwärtig sein, die oft anscheinend nur das eine Ziel kennen,
ihr Können zur Schau zu stellen, indem sie durch ihre Muskelkraft Saiten und Hämmer ruinieren.“549 Er zitiert eine Passage des Vorwortes und lobt besonders Mont545
546
547
548
549
« Made. de Montgeroult se refuse longtems a faire graver un œuvre composée par affection, sans vüe de publicité. Elle ne s’y détermina je crois que vers 1812. » Trémont,
S. 755, Übers.: C. S. & Ch. S.
Grétry Bd. 3, S. 373. Siehe auch das Kapitel Ausbildung.
Bouton/Gétreau, S. 74.
De L’education des Femmes, in: Le Dilettante: Journal de musique 1833, Bd. 1 Nr. 5
(20. 10., S. 1–2), Nr. 6 (27. 10., S. 1–2) und Nr. 7 (3. 11., S. 1–2), Angabe nach Johnson, S. 22.
« C’est par la méthode de Mme de Montgeroult que j’ai commencé, il y a plus de
cinquante ans, l’étude du piano. Cette date pourrait faire croire que la partie théorique
et les considérations esthétiques en sont entièrement surannées. Il n’en est rien cependant, et, pour ne citer qu’un exemple entre mille, nous ne pouvons mieux faire que de
transcrire, quelques lignes des conseils donnés par l’auteur dans la préface de son
159
geroults Weg, das singende Clavierspiel zu erlernen, die Imitation der Gesangsstimme, also nicht die rein mechanische, sondern eine musikalische Erziehung. „Besser
kann man es nicht ausdrücken. Das ganze Vorwort ist mit derselben Klarheit und
demselben guten Menschenverstand abgefasst. Die Methode steigt im Schwierigkeitsgrad kontinuierlich von den Grundprinzipien bis zu den größten Schwierigkeiten an. Dieser dreibändige Kurs enthält nicht nur zahlreiche mechanische Übungsbeispiele und die Basis all dessen, was zu einer guten Ausführung notwendig ist,
sondern auch die Grundlagen zur Akzentuierung, Ornamentierung und zur Geschmacksbildung und all dies mit einem vollkommenen Gefühl und einem Verstand
voller Eklektizismus550, wie es zu einer praktischen Methode gehört, welche die erreichten Fortschritte zusammenfasst. Besondere Kapitel behandeln die Klangbildung, geschmackvolle und ausdrucksstarke Noten. Sie sind sorgfältig und ausführlich geschrieben und bilden eine exzellente Grundlage für die Betrachtungen der
Lehrer wie der Schüler.“551 Mit ihren Ausführungen beweist die Autorin des Cour
complet pour l’enseignement du forte-piano seiner Meinung nach die Beobachtungsgabe und Analysefähigkeit, welche wahre Professoren ausmachen.552
Trotz all dieses Lobes verkaufte sich das Lehrwerk nicht gut. Es war zu ausgedehnt, zu kostspielig und in seinen Anforderungen für die meisten bürgerlichen
Haushalte des 19. Jahrhunderts zu hoch gegriffen.
Weitere Schulwerke
Die im Jahre 1800 im Journal de Paris angekündigte Pianoforteschule einer Mme
Hutin ist leider verschollen.553 Lediglich die Anzeige vom 2.me Jour complémentaire des Jahres VIII zeugt noch von ihrer Existenz. Hier heißt es: « MÉTHODE
550
551
552
553
160
cours. Ses axiomes sur le ,bien dire’ devraient être présents à la pensée des virtuoses tapageurs qui semblent n’avoir qu’un but l’étalage de leurs forces musculaires, brisant
cordes et marteaux pour faire montre de talent. » Marmontel S. 258. Übers.: C. S. &
Ch. S.
Eklektizismus: mechanische Vereinigung zusammengetragener Gedanken- und Stilelemente.
« On ne peut mieux dire. La préface entière a la même netteté et le même bon sens;
quant à la méthode, elle conduit progressivement des principes élémentaires aux plus
grandes difficultés. Le cours, divisé en trois volumes, renferme non-seulement de nombreuses formules de mécanisme et tout l’arsenal des traits qui forment la base d’une
bonne exécution, mais encore les principes d’accentuation, d’ornementation et de goût,
étudiés avec un sentiment parfait et l’esprit d’électisme que convient à une méthode
pratique condensant et résumant les progrès accomplis. Les chapitres spéciaux traitant
de la sonorité, des notes de goût, de l’expression, sont écrits avec un soin minutieux, et
offrent des bases excellentes à l’observation des maîtres, comme à celle des élèves. »
Marmontel, S. 259, Übers.: C. S. & Ch. S.
Marmontel, S. 258.
Siehe Lescat, S. 173. Hier heißt es Localisation inconnu. Sämtliche Anfragen an Bibliotheken und RISM-Stellen blieben leider ergebnislos.
simple & facile pour vaincre en peu de temps, toutes les difficultées de Piano-Forté,
par M.me HUTIN, professeur de Musique, rue de faubr Honoré, n.o 20, maison du
charcutier. – Prix 2’. »554
Unter Marie Bigots drei veröffentlichten Opera befindet sich zwar keine Schule,
wohl aber eine Suite d’études, ähnlich den Etüden Clementis, Cramers oder Chopins. Es handelt sich um sechs musikalisch attraktive Kompositionen, jede bestimmten technischen Problemen wie etwa schnellen kleinen Fingerbewegungen,
Handgelenksdrehungen, der Gleichmäßigkeit in langen Passagen, Oktavenspiel,
lockeren Artikulationen oder Skalen mit gefesselten Fingern zur Stärkung der Außen- oder Innenhand gewidmet. Der Druck ist im Vergleich mit früheren Noteneditionen reich mit interpretatorischen Zeichen versehen. Klanglich sind die Etüden
nur noch auf dem Hammerclavier zufriedenstellend darstellbar.555
3.3.5 Theoretischer Unterricht
Im Gegensatz zu den frühen deutschen Instituten waren am Pariser Conservatoire
von Anfang an auch Frauen in den Instrumentalklassen vertreten. Für die weiblichen Studierenden gab es eigene Kurse, für die Lehrerinnen benötigt wurden. So
kam es, dass ein Teil der ehemaligen Studentinnen hier Stellen erhielt, ein anderer
Teil begann eine private Lehrtätigkeit. Die von Frauen verfassten theoretischen
Werke, die im Druck erschienen, richten sich denn auch genau an diese Zielgruppe:
an Kinder und junge Frauen.
Die Lettres sur la musique von Mme Cœdès
1806 erschienen die Lettres sur la musique, avec des exemples gravés556 von Mme
Cœdès, geborene Lechantre. Dies Buch enthält auf 84 Seiten vier Briefe, deren erster eine allgemeine Einleitung enthält, der zweite von den Grundlagen der Musik
und der dritte von der Harmonielehre handelt und der vierte schließlich Unterrichtsmethodik zum Inhalt hat.557 Die beschriebene Claviertechnik ist eher retardierend
und steht keineswegs im Zentrum der Schrift.
Laut Fétis war Mme Cœdès Professeur de musique in Paris und hatte das Clavierspiel bei Jean-Baptiste-Léopold-Bastien Désormery und Harmonielehre bei
Jean-Joseph (?) Rodolphe studiert.558 Im Vorwort beschreibt sie die Entstehung ih554
555
556
557
558
JdP 19. 9. 1800.
Eine Neuausgabe, hrsg. von Calvert Johnson, erschien 1992 in der Reihe Historical
Women Composers for the Piano: Marie Bigot, Vivave Press 1992. Originaldruck in
BNF.
Lettres sur la Musique, avec des exemples gravés par Madame Cœdès, Paris 1806,
BNF Signatur V-5225.
Siehe Fétis und Lichtenthal Bd. 4, S. 116. Letzterer nennt die Autorin « Madame Coeder ».
Siehe den Artikel Cœdès in Fétis.
161
rer Lettres sur la musique: Sie waren ursprünglich an eine Freundin und Mutter gerichtet, die zurückgezogen auf dem Lande lebte und sich ganz der Erziehung ihrer
Töchter widmete. An eine Publikation sei nicht gedacht gewesen. Auch die gedruckte Ausgabe richtet sich an Mütter, die „einen sicheren und leichten Führer“559
suchen, wenn sie auf dem Lande keine guten Lehrmeister vorfinden und somit ihre
Kinder selbst in der Musik unterrichten. Diese Idee erinnert an Mme de Genlis’ Erziehungsroman Adèle et Théodore. Die vermittelten Kenntnisse sollen das Erlernen
der allgemeinen musikalischen Grundregeln und der Harmonielehre ermöglichen
und damit zu einer korrekten und brillanten Spielweise auf dem Pianoforte verhelfen. Die veröffentlichten Texte seien Kopien von Briefen, welche sie selbst an ihre
Tochter zur Unterweisung ihrer Enkelin geschrieben habe. Im ersten Brief spricht
sich Mme Cœdès gegen den üblichen Beginn mit Solfège aus, den sie als eine „fremde Sprache“ bezeichnet. Aus diesem Grund nimmt die Harmonielehre einen solch
großen Stellenwert bei Mme Cœdès ein, denn alle drei Grundbausteine: Harmonielehre, musikalische Elementarlehre und Fingersatz bilden zusammen den Weg, die
Schülerinnen560 schnell und leicht zu einem guten Clavierspiel zu bringen. Der Unterrichtsbeginn der Kinder wird mit sieben bis zehn Jahren benannt.561 Um das Erlernen eines guten und brillanten Clavierspiels zu erreichen, ist es wichtig, der
Tochter ein Instrument mit – im Gegensatz zu Montgeroults Anweisung – leichtgängiger Claviatur zur Verfügung zu stellen, damit die Kinderhand nicht zu viel
Kraft aufwenden muss 562 – eine ganz in der alten Tradition verhaftete Aussage.
Während des ersten Jahres soll die Schülerin nur langsam spielen, und zwar vorwiegend Tonleitern und Passagen, die dann auch zum Präludieren dienen und in den zu
erlernenden Liedern und kleinen Sonaten nützlich sind. Ein gut durchdachter Fingersatz ist dabei Grundvoraussetzung für ein geschmeidiges, gleichmäßiges und damit letztendlich gutes und brillantes Clavierspiel. „Nur mit großer Pein“ kann Mme
Cœdès die Lehrmethoden manch berühmter Lehrer betrachten, die mit Kindern auf
einem schwergängigen Clavier zu spielen beginnen und dann wünschen, dass die
Kinder alle Stücke wie Erwachsene in der richtigen Geschwindigkeit spielen: So
komme der harte und meckernde Anschlag zustande, den die Schülerinnen angeblich niemals verlieren können.563
Nach dem Lehrplan der Mme Cœdès sollen die Schülerinnen, so versichert sie,
nach nur sechs Monaten im Stande sein, in Konzerten (gemeint sind wohl häusliche
Konzerte und Abendveranstaltungen) aufzutreten und nach zwei Jahren Studium
nicht nur gut spielen, sondern auch in der Lage sein, die Werke aller Autoren, wie
schwer sie auch seien, eigenständig richtig einzustudieren, gut zu spielen und
559
560
561
562
563
162
« Un guide sûr et facile », Cœdès, Avant-Propos. Übers.: C. S.
Da sich Mme Cœdès ausdrücklich an Mütter und Töchter richtet, ist in diesem Fall im
Deutschen immer das Wort „Schülerinnen“ verwendet.
Cœdès, S. 3.
Ebd.
Cœdès, S. 4.
schließlich von der guten und korrekten auch zu einer brillanten Ausführung zu gelangen.564 Zu diesem Zeitpunkt hat laut Cœdès die musikantische Erziehung einzusetzen, die Fähigkeit, Melodien und Passagen mit Anmut und dem ihnen eigenen
Geschmack zu gestalten und „mit Seele“ zu spielen. Man erarbeitet dazu gemeinsam mit den Schülerinnen den Charakter der Melodien „großer Meister“.565 Dabei
soll die Lehrerin sanft und doch lebhaft in jeder Unterrichtsstunde sein, klar und mit
so wenig Worten wie möglich erklären und alles geduldig wiederholen, bis der
Stoff verstanden worden ist. Allerdings soll die Erklärung nicht immer gleich sein,
sondern jedes Mal etwas anders. Wenn die Schülerinnen etwas nicht verstehen, so
ist es, weil die Lehrerin es ihnen schlecht erklärt hat. Demzufolge muss Letztere ihre Erklärungen verbessern.566 Soweit der Inhalt des ersten Briefes.
Im zweiten Brief geht es um die Grundlagen der Musik, besonders das Notensystem und den Takt. Dabei werden alle Erklärungen auf Tafeln mit Notenbeispielen verdeutlicht. In einer Abhandlung über die „Präzision“ wird mithilfe eines imaginären Pendels versucht, das Tempo und die Temporelationen der Noten zu erfassen.
Der dritte Brief behandelt die Harmonielehre. Cœdès führt die Akkorde auf
vier Grundmuster zurück: den Grundakkord (accord parfait) und drei Septakkorde
(septième seconde, septième dominante, septième diminuée). Sie bestimmt den
Basston als die jeweilige Grundnote (note grave) des Akkords; der Grundton (note
fondamentale) dagegen kann bei einer Umkehrung natürlich in einer anderen Stimme liegen. Entspricht die Bassnote nicht einem der übrigen Akkordtöne, so nennt
sie dies einen Accord dérivé oder Accord d’emprunt. Die einzelnen Akkorde, welche Mme Cœdès im Folgenden genauer bespricht, werden durch Notenbeispiele (jeweils mit C als Ausgangspunkt) vor Augen geführt und sind bestimmten Stufen zugeordnet. In den Notenbeispielen verdeutlichen Ziffern die Zusammensetzung der
Akkorde.
Besonderes Interesse weckt der vierte Brief, überschrieben mit Sur la méthode
à suivre pour l’enseignement, also von der Unterrichtsmethodik, und dargestellt am
Beispiel des Clavierunterrichts. Hier geht es ausführlich um den Fingersatz. Dazu
gibt Mme Cœdès zwei allgemeine Regeln, nämlich erstens so oft als möglich die
Akkorde so zu greifen, dass man die Hand so wenig wie möglich versetzt und zweitens sich für große Intervalle häufig der beiden Außenfinger zu bedienen.567 Zwei
ausführliche Tafeln mit Erläuterungen beschreiben die (auch heute üblichen) Tonleiterfingersätze in Dur und Moll für beide Hände. In einer Anmerkung wird darauf
hingewiesen, dass alle Übungen sowohl mit der rechten als auch mit der linken
Hand so lange einzeln und langsam zu üben sind, bis die Finger eine absolute Geschmeidigkeit und vollkommene Gleichmäßigkeit beim Spiel erlangt haben. Dies
564
565
566
567
Cœdès, S. 4–5.
Cœdès, S. 5.
Cœdès, S. 5–6.
Cœdès, S. 67.
163
wird mittels Triller- und Fesselübungen erreicht.568 Während die Finger den Anschlag trainieren, erlernt die Schülerin die Noten im G-Schlüssel zu lesen. In einem
zweiten Schritt werden Tonleitern mit bis zu fünf Vorzeichen auf- und abwärts mit
den richtigen Fingersätzen erarbeitet. Auch hier werden die Töne nicht nur gespielt,
sondern gleichzeitig gelesen. Außerdem tritt der F-Schlüssel hinzu. Die Tonleitern
werden nach dem Studium jeder einzelnen Hand auch im Zusammenspiel geübt,
wobei es nicht so sehr auf die Präzision, als auf das genaue und exakte Lesen des
Notentextes ankommt. Diese Art Übung soll dazu verhelfen, sich beim Anblick der
geschriebenen Noten deren Klang vorzustellen und danach zu spielen.569
Um die Grundlagen der Musiktheorie begreiflich zu machen, erklärt man der
Schülerin in einem dritten Schritt eine Tonleiter ohne Vorzeichen und ihren Aufbau
in Ganz- und Halbtonschritten auf den Tasten und dann die Bedeutung und Auswirkung der Vorzeichen. Es folgen die anderen Tonarten. Mit diesem Wissen ist es
möglich, Akkorde zu begreifen und zu bilden, wobei mit dem Grundakkord begonnen wird. Als Übungsbeispiel gibt es dazu ein kleines Prélude als Modell für eigene
Erfindungen. Nebenbei sollen die Kinder, um nicht den Spaß zu verlieren, immer
wieder kleine Stücke, bekannte Melodien oder Tänze spielen. Außerdem empfiehlt
Mme Cœdès zur Vorbereitung auf größere Sonaten das Studium anspruchsvoller Variationen. 570 Nebenbei werden Improvisationsmodelle mit arpeggierten Akkorden
und kleine Préludes geübt. Eingeführt wird auch die Bezifferung, um eine sichere
Zuordnung der Akkorde zu den entsprechenden Tonleiterstufen zu gewährleisten.
An dieser Stelle ist der in dem vierten Brief von Mme Cœdès festgehaltene
Weg zur Erlernung der Musik abgeschlossen. Die jungen Schülerinnen haben eine
Menge gelernt, sie spielen gut Clavier und Generalbass, haben harmonisches Verständnis und können kleine (oder große) Préludes und Variationen improvisieren.
„Diese Methode lässt Ideen geboren werden und bereitet das Genie auf die Komposition vor.“571 Das Clavier dient dabei nur als Vehikel für ein größeres Lernziel. So
erstaunlich dies zunächst klingen mag, liegt mit diesen vier Briefen eine anspruchsvolle und ausgearbeitete Methode mit einem ‚ganzheitlichen’ Ansatz vor, welche
gleichzeitig enorme Ansprüche an eine unterrichtende Mutter stellt.
Mme Duhans Alphabet Musical
Mme Duhans bereits erwähntes theoretisches Schulwerk heißt mit vollständigem Namen Alphabet Musical ou Méthode sure Pour apprendre aux plus jeunes Elèves en
très peu de tems, les prémiers Elémens de la Musique.572 Veröffentlicht wurde das
568
569
570
571
572
164
Cœdès, S. 72–73.
Cœdès, S. 76.
Cœdès, S. 78.
« Cette méthode fait naître des idées, et prépare le génie pour la composition. » Cœdès,
S. 84, Übers.: C. S.
DuhanM, BNF Signatur Vm8 268.
Werk in Paris und zwar mit Sicherheit vor dem Claviertraktat, eine genaue Jahresangabe fehlt allerdings.
Auffallend ist, wie auch bereits in der Clavierschule, der Hinweis auf die Kürze der Zeit, in der das Lernziel erreicht werden kann. Außerdem richtet sich das
Buch ganz explizit an junge Kinder. Es kann z. B. als Vorstufe zum Instrumentalunterricht eingesetzt werden. Natürlich, so sagt Duhan, ist fast alles, was sie aufzuzeigen hat, bereits an anderer Stelle geschrieben worden, doch habe sie auch etwas
Neues zur Vermittlung der Musiktheorie zu sagen.573 Dies Neue betrifft vorrangig
das Notenlesen. Und so wird erst der G-Schlüssel, dann der F- und anschließend der
C-Schlüssel erarbeitet und zwar sämtliche Noten einschließlich derer auf den Hilfslinien. Gleichzeitig mit dem beharrlichen Studium der Notennamen werden die Notenwerte erlernt574, die im gesamten Verlauf der Methode konsequent auf Achtelschläge zurückgeführt werden. Durch die gleich zu Beginn erworbene Sicherheit im
Notenlesen sind alle weiteren zu erlernenden Dinge wie Taktarten, Tonleitern,
Ganz- und Halbtonschritte, Vorzeichen oder Modi wesentlich einfacher und letztendlich, so Duhan, führt dieser Weg schneller zum Erfolg. Ganz im Sinne SaintLamberts insistiert die Autorin, wie wichtig es sei, erst dann etwas Neues zu beginnen, wenn das Alte wirklich verstanden und verinnerlicht sei.575 Entscheidend sind
die richtige Reihenfolge und klare und deutliche Erklärung vonseiten der lehrenden
Person. Nach dieser Einleitung und Darlegung ihrer Vorstellungen beginnt Mme Duhans Lehrwerk, das auf 103 Seiten in 224 kurzen Kapiteln die musiktheoretischen
Grundlagen erläutert.
Eine marktstrategisch geschickte Annonce in Carl Friedrich Whistlings und
Friedrich Hofmeisters Handbuch der musikalischen Literatur untermauert übrigens
die These, dass Mme Duhan als Musikverlegerin tätig gewesen sei. Das Alphabet
Musical gab es demnach in drei Varianten zu kaufen: das Schulwerk allein zum
Preis von 20 Francs, ohne die Kartons kostete es lediglich 10 Francs, diese letzteren
alleine waren für 12 Francs zu erwerben.576
Mme de Grammont und Mlle Lesne
Die Schulen zweier weiterer Lehrerinnen, die nach Hélène de Montgeroult am Pariser Conservatoire unterrichteten, sollen an dieser Stelle noch genannt werden, da
diese Lehrwerke nur wenige Jahre nach dem behandelten Zeitraum erschienen: Mlle
Renaud d’Allen, später verheiratete de Grammont, war seit etwa 1802 Schülerin am
Conservatoire und wurde anschließend dort Lehrerin in den Fächern Gesang, Cla573
574
575
576
« Mais aussi je dois espérer que l’on approuvera la publication de mes moyens d’enseignement, lorsqu’on observera qu’ils sont absolument neufs. L’usage en fera
connaître l’utilité. » DuhanM, S. i, Avis préliminaire.
DuhanM, S. iii, Avis préliminaire.
DuhanM, S. ii, Avis préliminaire.
Whistling/Hofmeister, S. 587, Vermischte theoretische Werke. Auf S. 482 ist unter der
Rubrik Lehrbuecher für das Pianoforte auch der Clavertraktat Mme Duhans angezeigt.
165
vier und Harmonielehre. Im Jahr 1817 eröffnete sie Elementarmusikkurse, für welche sie ihre noch im selben Jahr erschienenen Principes de Musique 577 schrieb.
Nach ihrer Heirat mit Mr de Grammont im Jahre 1821 zog sie sich aus dem Lehrberuf zurück.578
Die 31 Seiten umfassenden Principes de Musique sind unterteilt in vier aufeinander aufbauende „Klassen“, in deren jeder in Form eines Frage- und Antwort-Dialoges bestimmte theoretische Aspekte der Musiklehre behandelt werden. So geht es
in der Premier Classe zunächst um das Wesen der Musik selbst, um Notenlinien
und Hilfslinien, um Notenwerte, den Verlängerungspunkt und die Pausenzeichen.
Die Seconde Classe beschäftigt sich in acht Teilabschnitten mit acht verschiedenen
Notenschlüsseln. Diese Vielzahl der Schlüsselpositionen erinnert stark an SaintLamberts Cembaloschule von 1702. Außerdem geht es um die Begriffe „hoch“,
„mittel“ und „tief“, die entsprechenden Stimmbezeichnungen und den Takt, wobei
Mme de Grammont ausführlich auf die speziellen Betonungsmuster der Taktangaben
eingeht. Auch die Beschreibungen der Taktzeichen erinnern an Saint-Lambert, Mme
de Grammont geht jedoch verstärkt auf die Benennung der mit zwei Zahlen notierten und zu Saint-Lamberts Zeit weniger gebräuchlichen Taktarten ein. Des Weiteren werden Triolen, Wiederholungen und Synkopen behandelt. In der Troisieme
Classe geht es um Intervalle, Vorzeichen und Tongeschlechter, die Quatrieme Classe schließlich hat zunächst Harmonielehre zum Inhalt (Tonarten, die Reihenfolge
der Vorzeichen, Tonleitern in Dur und Moll, die Tongeschlechter und Transpositionen). Es folgt ein Dialog, in dem die Bewegung, also das Tempo, bestimmt wird.
Mme de Grammont nennt dazu, wie dies auch bei Montgeroult und Duhan der Fall
ist 579 , die italienischen Fachtermini mit französischen Erläuterungen. Die Liste
reicht von Grave („Grave, le plus lent de tous les mouvemens“, also die langsamste
Bewegung überhaupt) bis hin zu Prestissimo („Très-vif“, also sehr lebhaft). Daran
schließt sich eine Liste mit zehn zusätzlichen Bestimmungsworten wie con espressione oder non troppo an. Eine lange Aufzählung widmet sich dynamischen und
ausdruckssteigernden Angaben wie etwa con delicatezza oder accelerando. Des
Weiteren werden Artikulationszeichen, Bögen, Verzierungen, der Orgelpunkt und
weitere musikalische Zeichen behandelt. Eine letzte Passage behandelt das Streichertremolo und Oktavierungen.
Eine Mlle Lesne, die 1818580 einen Traktat mit 64 Seiten, Grammaire musicale basée sur les principes de la grammaire française genannt, veröffentlichte, war Professorin für Solfège und Clavier am Pariser Conservatoire. Fétis schreibt dazu er577
578
579
580
166
Principes de Musique, rédigés par Mme. de Grammont, née de Renaud d’Allen, pour
servir a l’étude des élèves de ses classes, Paris 1818, BNF Signatur 311 966 44. Mir
liegt die 2. Auflage von 1820, ebenfalls in der BNF Signatur 311 966 45, vor.
Fétis.
Montgeroult Bd. 1, S. IXXV.
Eine 2. Auflage erschien laut Lichtenthal Bd. 4, S. 119 im Jahre 1820.
läuternd (und vernichtend): „Die Autorin der Grammaire musicale bedient sich aller Begriffe der allgemeinen Grammatik, um die Begriffe der Musik zu erklären. So
sind in ihrem Buch die Buchstaben durch die Klänge, das Alphabet durch die Tonleiter, die Artikel durch die Schlüssel, die Notenzeichen durch Substantive, Kreuze,
b-Vorzeichen und Auflösungszeichen durch Adjektive dargestellt. Takte entsprechen Verben, die Abschnitte sind die Taktzeiten etc. Nichts davon hat eine wirkliche Grundlage noch ist es von Wichtigkeit. Es handelt sich lediglich um ein Wortspiel.“581
3.4 Angélique Diderot – eine Clavierschülerin im 18. Jahrhundert
Angélique Diderot (1753–1824) war die Tochter des Enzyclopädisten Denis Diderot. Sie erhielt bis zu deren Eheschließung Clavierunterricht bei Marie-Emmanuelle
Bayon. Mehrmals erwähnt Denis Diderot die Musikerin in seiner Korrespondenz.
Er scheint nicht nur die Heirat der jungen Frau mit einem seiner Freunde arrangiert
zu haben, sondern auch von der Künstlerin beeindruckt gewesen zu sein. So schrieb
Diderot am 24. August 1768 an seine Freundin Sophie Volland: „Gestern morgen
führte ich meine beiden Engländer zu Mlle Bayon, die ich vorher benachrichtigt hatte. Sie spielte wie ein Engel. Ihre Seele war ganz und gar in ihren Fingerspitzen.“582
Angélique Diderot war nur sieben Jahre jünger als ihre Lehrerin. Der Altersunterschied war damit noch geringer als derjenige zwischen Stéphanie-Félicité du
Crest de Genlis und Marie Françoise de Mars, der Anschluss an die Diderots und im
581
582
« L’auteur de la Grammaire musicale s’est servi de tous les termes de la grammaire générale pour expliquer ceux de la musique; ainsi, dans son livre, les lettres sont représentées par les sons, l’alphabet par la gamme, les articles par les clefs; les figures de notes
sont les substantifs ; les dièses, bémols et bécarres les adjektivs; les mesures sont des
verbes, parce qu’elle ont des temps, etc. Rien de tout cela n‘a de base réelle ni d’utilité,
ce n’est qu’un jeu de mots. » Fétis, Übers.: C. S.& Ch. S. Die Datierung Fétis’ auf 1820
bezieht sich auf die 2. Auflage, die AMZ (Jg. 1819, Sp. 106) nennt das Werk bereits
1818. Der Autor dieser Nachricht, der ebenfalls die Wortparallelen erwähnt, behält sich
vor, „nächstens weitläufiger über dieses Werk zu reden, sobald mir dasselbe wird zu
Gesichte gekommen seyn“. Es scheint kein Exemplar erhalten zu sein.
« Hier matin, je conduisis mes deux anglois chez madelle Bayon, que j’avois prévenue.
Elle joua comme un ange. Son âme étoit toute entière au bout de ses doigts. » Brief Denis Diderots an Sophie Volland vom 24. 8. 1768, Autograph in BNF,
Mss. N.a.fr. 13. 729, fol. 122-123, Abdruck in Diderot Bd. 8, S. 94, Übers. nach Diderot ÄS, S. 321. Wenige Wochen später, am 19. 9. 1768, zählt Diderot die Orte auf, zu
denen er sich mit Vorliebe begab, wenn er zu Hause Frau und Tochter „in Harnisch gebracht“ habe und gibt auch damit seiner Verbundenheit an die junge Künstlerin Ausdruck: „Wohin? Auf Ehre, das weiß ich vorher selbst nicht. Zuweilen zu Naigeon oder
zu Damilaville. Ein andermal zu Mademoiselle Bayon, die sich meinetwegen an ihr
Klavier setzt und mir alles vorspielt, was ich mir wünsche. Meine letzte Rettung ist der
Bücherquai.“ Brief Denis Diderots an Sophie Volland vom 10. 9. 1768, Diderot
SV, S. 281-291, hier S. 281.
167
Besonderen an Angélique aber, obgleich Mlle Bayon nicht in der Familie ihrer Schülerin lebte583, offenbar noch enger. Der Unterricht erstreckte sich auf die Jahre 1765
bis 1769584. Mehrmals wird in der Schrift, die den Unterricht beschreibt, den Angélique im Anschluss an die Stunden bei Mlle Bayon durch Anton Bemetzrieder erhielt, auf die frühere Lehrerin Angéliques Bezug genommen.
In der Schule Bemetzrieders wird berichtet, dass Angélique Kompositionen
von Leontzi Honauer, Johann Gottfried Eckard, Johann Schobert und Georg Christoph Wagenseil spielte – Werke, die sie sicher im Unterricht bei ihrer vorherigen
Lehrerin erarbeitet hatte. Über deren eigene Kompositionen urteilt die Schülerin,
dass sie „mit Delikatesse und Geschmack“ gespielt werden müssten.585 Auch Marie-Emmanuelle Bayon selbst wird von Angélique in an Bemetzrieder gerichteten
Worten auf dessen Nachfrage beschrieben: „Eine zauberhafte Frau, bei der man
nicht weiß, was man zuerst loben soll: den Geist, den Charakter, die Sitten oder das
Talent. Warten Sie, ich muss Ihnen eines ihrer Stücke vorspielen … Finden Sie
nicht, dass ihre Komposition Leichtigkeit, Ausdruck, Anmut und eine schöne Melodie besitzt?“586
Welches Bild entwirft dies von dem Unterricht, den Marie-Emmanuelle Bayon erteilte? Obgleich die Lehrerin, wie ihre Kompositionen beweisen, selbst über ein
profundes musiktheoretisches Wissen verfügt haben muss, erlernte Angélique Diderot in diesen Stunden kein Generalbassspiel, sie improvisierte nicht. Der Unterrichtsinhalt beschränkte sich auf das Erlernen zeitgenössischer moderner Kompositionen. Laut eigener Aussage konnte Angélique („lediglich“) die Stücke „fast aller
Komponisten dahinstottern“587 und dies mehr oder weniger aus dem Kopf. Diese
technisch und musikalisch anspruchsvollen Kompositionen scheint sie allerdings
ziemlich gut hervorgebracht zu haben. So lobt Bemetzrieder die geläufigen Finger
seiner Schülerin und ihre gut eingerichtete Hand, außerdem ihre Verstandeskraft.588
Etwas unparteiischer als dieses Lob (die Schule Bemetzrieders wurde immerhin von
Diderot überarbeitet und herausgegeben) dürfte das Charles Burneys sein, der Angélique Ende 1770 spielen hörte und über den Besuch bei ihrem Vater berichtet:
„Mademoiselle Diderot, seine Tochter, ist eine der besten Flügelspielerinnen in Pa583
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586
587
588
168
Laut dem Titelblatt des Druckes der 6 Claviersonaten lebte Mademoiselle Bayon 1769
in der Rue du Four, vis-a-vis le Caffé.
Siehe Deborah Hayes, Madame Louis, in: Glickman/Schleifer 4, S. 93–105, hier S. 93.
« Alberti veut être joué avec délicatesse & goût, il en est de même des piéces de mon
Amie, Mad. Louis. » Bemetzrieder, S. 152.
« Une femme charmante dans laquelle en ne sçait quoi louer de préférence, l’esprit, le
caractere, les mœurs ou le talent. Tenez ; il faut que je vous joue une de ses pieces …
Ne convenez-vous pas que sa composition a de la facilité, de l’expression, de la grace,
du chant …? » Bemetzrieder, S. 117–118, Übers.: C. S.
« L’Eleve: Tout mon sçavoir se réduit à anoner, comme vous voyez, presque tous les
Auteurs. » Bemetzrieder, S. 117.
Bemetzrieder, S. 118–119.
ris, und für ein Frauenzimmer besitzt sie ungewöhnlich viele Kenntniß von der Modulation; indessen, ob ich gleich das Vergnügen gehabt habe sie verschiedene Stunden zu hören, so hat sie doch platterdings nichts von französischer Komposition gespielt sondern alles war italiänische und deutsche Arbeit; und hieraus läßt sich
leicht auf des Herrn Diderots Geschmack in der Musik schließen.“589
Angélique Diderot war also geübt im Vortrag von Kompositionen im italienischen und deutschen Stil und hatte es hierin, unter Anleitung ihrer Lehrerin, zu großer Fertigkeit gebracht. Über die mit „Goût“ und „Delikatesse“ zu spielenden Stücke von Alberti und Bayon berichtet Burney nicht. Es wäre jedoch höchst erstaunlich, wenn sie die Werke ihrer eigenen Lehrerin nicht ebenso gut vorgetragen hätte.
Ob die fehlenden theoretischen Instruktionen auf die vorrangigen Wünsche Diderots zurückgingen oder dem Ermessen der Lehrerin oblagen, ist nicht bekannt. Vermutlich spiegelt dieser Fall einfach die übliche Vorgehensweise im Clavierunterricht wider, Mädchen mit möglichst wenig Wissen zu ‚belasten’. Festzuhalten
bleibt, dass es Mlle Bayon gelungen ist, eine Clavierschülerin auf ein hohes technisches und musikalisches Niveau zu bringen.
Am 30. Juni 1770 berichtete Denis Diderot an Friedrich Melchior von Grimm
von der Hochzeit Mlle Bayons mit „Louis, dem Architekten des Königs von Polen“.590 Damit endeten die Unterrichtsstunden. Und kurze Zeit darauf entstand der
letzte Brief, den es zu erwähnen gilt, und den Diderot nunmehr an das Ehepaar
Louis richtete. Er empfiehlt dem Ehemann nochmals das Glück der jungen Frau an,
die er immer wieder als seinen „Engel“ bezeichnet: „O mein Freund Louis, Ihre
Frau ist ein Engel; sie komponiert wie ein Engel, sie spielt wie ein Engel, sie singt
wie ein Engel, sie hat die Hände, den Charakter und alle Vorzüge eines Engels. Ich
liebe sie ebenso zärtlich wie mein eigenes Kind.“ Der ganzen Familie Diderot habe
sie „die Köpfe verdreht“.591 Der Kontakt riss auch nach dem Umzug der Louis’
nach Bordeaux nicht ab. Im Gegenteil, als sich mit den Jahren das Zusammenleben
mit Victor Louis immer schwieriger gestaltete und Marie-Emmanuelle Louis in den
Revolutionsjahren stark unter den musikalischen und gesellschaftlichen Einschränkungen litt, war Angélique, mittlerweile verheiratete Vandeul, ihrer ehemaligen
589
590
591
Burney, S. 300.
« Nous venons de conjoindre madelle Bayon avec Louis, l’architecte du Roy de Pologne. » Brief Denis Diderots an Fr. M. von Grimm vom 30. 6. 1770, Autograph in
BNF, Mss. N.a.fr. 24. 930, fol. 61, Abdruck in Diderot Bd. 10, S. 79.
« O mon ami Louis, votre femme est un ange; elle compose comme un ange, elle joue
comme un ange, elle chante comme un ange, elle a les mains, le caractère, toutes les
qualités d’un ange. Je l’aime aussi tendrement que mon enfant. Je vous recommande
son bonheur. Si jamais vous lui donniez la peine la plus légère, j’irois vous arracher les
deux yeux. Sur les deux yeux de votre tête, que mon ange, que le vôtre soit heureuse.
Elle a tourné toutes nos têtes; songez que vous êtes menacé d’une nuée d’ennemis, si
vous ne marchez pas droit. Jour de Dieu, marchez droit. » Brief Denis Diderots an das
Ehepaar Louis, geschrieben nach Juni 1770, Autograph in BNF, Mss. N.a.fr. 24.932,
fol. 118, in Diderot Bd. 10, S. 87–88.
169
Lehrerin eine gute Freundin und fortwährende Vertraute. Sie hegte deutlich keine
großen Sympathien für den Architekten, dem seine Karriere, Geld und Spiel wohl
außerordentlich viel bedeuteten. Die Freundschaft der beiden Frauen aber dauerte
fort. Aus dem Jahre 1796 ist überliefert, dass Angélique bevorzugt eine Mme Houdon, Mlle Sedaine sowie ihre alte Freundin Mme Louis empfing und nach dem Tod
ihres Mannes lebte Mme Louis einige Zeit bei ihrer Freundin.592 Angélique de Vandeul und Marie-Emmanuelle Louis verbrachten viel Zeit miteinander, auch gemeinsame Konzertbesuche sind überliefert.593 „Wir leben wie zwei Tauben, meine gute
Freundin und ich“, so Angélique 1797 an ihren Ehemann, „vom Abendessen bis
Mitternacht ruhen wir auf unseren Sesseln.“594
Die Leçons de Clavecin, et Principes d’harmonie von Anton Bemetzrieder
Wesentlich kürzer als die Studienzeit bei Marie-Emmanuelle Bayon war diejenige,
die Angélique Diderot bei Anton Bemetzrieder verbrachte. Dieser war 1766 nach
Paris gekommen und unterrichtete das junge Mädchen etwa sieben bis acht Monate
im Cembalospiel, in Harmonielehre und Generalbass. Ein interessantes Dokument
über diesen Unterricht liegt mit den Leçons de Clavecin, et Principes d’harmonie
Bemetzrieders aus dem Jahre 1771 vor,595 da in diesem Buch die einzelnen Unterrichtsstunden des jungen, musikalisch talentierten und intelligenten Mädchens beschrieben werden. Die Leçons de Clavecin sind Bemetzrieders erstes Lehrwerk, das,
mit einem Vorwort Diderots versehen, den Musiker in seinem Erscheinungsjahr in
Paris schlagartig bekannt machte. Laut Gerber habe das Werk „alle seine Vorgänger
an Gründlichkeit und Deutlichkeit übertroffen“.596 Es enthält eine Fülle an Details
über den Ablauf damaligen Unterrichts.
Diderot spricht sich in seinem Vorwort dafür aus, dass Eltern an den Unterrichtsstunden ihrer Kinder teilnehmen sollten, da sie dann mehr bei der Sache wären
und neben der Hilfestellung an die Kinder auch noch selbst davon profitieren könnten.597 Entsprechend taucht Diderot selbst ab und an in den Dialogen als Le Philosophe (Philosoph) auf, während seine Tochter als L’Elève (Schülerin) und Bemetzrieder als Le Maître (Lehrer) bezeichnet werden. Diderot liebte es, wenn seine
Tochter Angélique ihm ihre Übungen vorspielte, hörte ihr zu, half ihr und wies sie,
so weit es ihm aufgrund seiner Kenntnisse möglich war, auf Spielfehler hin. So berichtet er bereits vor Bemetzrieders Zeit am 31. Juli 1762 in einem Brief an Sophie
592
593
594
595
596
597
170
Diderot Bd. 15, Paris 1970, S. 250.
Siehe Deborah Hayes, Madame Louis, in: Glickmann/Schleifer 4, S. 93–105, hier S. 94.
« Nous vivons comme deux colombes, ma bonne amie et moi“, disait-elle de Mme
Louis à son mari le 8 messidor An V ... „Depuis le dîner jusqu'à minuit, nous sommes
restées sur nos fauteuils. » Angélique de Vandeul am 8. Messidor an V (1797). Biest,
S. 11, Übers.: C. S.
Anton Bemetzrieder, Leçons de Clavecin, et Principes d’Harmonie, Paris 1771.
Gerber LEX.
Bemetzrieder, S. V.
Volland: „Ich bin von meiner Kleinen entzückt, weil sie mit ihren Gedanken bei der
Sache ist. ,Angélique, diese Stelle bereitet dir wohl Schwierigkeiten? Sieh auf dein
Blatt.’ – ,Der Fingersatz steht nicht auf meinem Blatt, deshalb komme ich nicht
weiter.’ – ,Angélique, ich glaube, du hast einen Takt vergessen.’ – ,Wie sollte ich
ihn vergessen haben, ich greife doch eben noch den Akkord!’“598
Wir erfahren weiterhin aus einem Dialog zwischen Diderot und Bemetzrieder,
dass bereits Vier- bis Fünfjährige mit dem Cembalospiel begannen und oft mindestens 15 Jahre Übung nötig waren, um „mittelmäßig“ zu spielen.599 Der Unterricht
Bemetzrieders im Hause Diderot scheint in den sieben oder acht Monaten, die er
währte, fast täglich stattgefunden zu haben. Diderot lädt Bemetzrieder, von dessen
Können und Worten er überzeugt ist, ein, jeden Abend „um halb sieben“ zu kommen. Bei dieser Gelegenheit soll Angélique von ihm etwas Geschichte und Geografie lernen, „die übrige Zeit soll für Clavier und Harmonielehre verwendet werden.“
Bemetzrieder fungierte also gleichzeitig als Hauslehrer. Weiterhin lautete die Vereinbarung zwischen Bemetzrieder und Diderot, die beim ersten Zusammentreffen
der beiden Männer getroffen wurde, nach der Beschreibung des Letzteren folgendermaßen: „Sie werden jeden Tag ihr Gedeck vorfinden, und zwar zu allen Mahlzeiten. Da die Beköstigung allein aber nicht genügt, sondern da Sie auch Wohnung
und Kleidung bestreiten müssen, werde ich Ihnen fünfhundert Livres im Jahr geben.
Das ist alles, was ich für sie tun kann.“600 Im siebten Dialog des Generalbasstraktates fragt die Schülerin den Lehrer, wo er so lange geblieben sei – seit sieben Tagen
habe sie ihn nicht mehr gesehen.601 Ab und an gab es also Unterbrechungen in der
regelmäßigen Abfolge der Unterrichtsstunden.
Im Anschluss an die Stunde erhielt der Lehrer ein sogenanntes cachet, ein Billet, für welches, nach Ansammlung einer bestimmten vereinbarten Anzahl, der Lehrer sein Honorar bekam. Nach Angéliques Musikstunde wurde üblicherweise gemeinsam zu Abend gegessen. Nur einmal, am Ende des vierten Dialogs, ist der Lehrer in Eile, nimmt rasch seinen Hut und Stock und verabschiedet sich.602 Lilo Gersdorf vermutet wohl zu Recht, dass er zu einem weiteren seiner zahlreichen Schüler,
welche Diderot mehrfach in anderen Zusammenhängen erwähnt,603 eilte.604
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603
Brief Denis Diderots an Sophie Volland vom 31. 7. 1762, zitiert nach Diderot SV,
S. 173–178, hier S. 177–178.
Bemetzrieder, S. 3. Entsprechend heißt es in Rameaus Neffe: „ER: Wenn man Euch
nun ganz gehorsamst bäte, könnte man von dem Herrn Philosophen nicht erfahren, wie
alt ungefähr Mademoiselle seine Tochter ist? ICH: Acht Jahre könnt ihr annehmen. ER:
Acht Jahre! Schon vier Jahre sollte sie die Finger auf den Tasten haben.“ Denis Diderot: Rameaus Neffe, in: Diderot ÄS, hier S. 424.
Denis Diderot, Über die Klavierschule und die Prinzipien der Harmonie von
Bemetzrieder, in: Diderot ÄS, S. 329–330.
Bemetzrieder, S. 153.
Bemetzrieder, S. 110.
Z. B. in seinen Briefen an Charles Burney vom 18. 8. und 28. 10. 1771. Diderot ÄS,
S. 323–325, hier S. 324 und S. 326–328, hier S. 327.
171
Angélique, erklärter Liebling ihres Vaters, war bereits vor Unterrichtsbeginn
bei Anton Bemetzrieder eine gute Spielerin gewesen, die anspruchsvolle Literatur
bewältigte. Die Musik übte sie „zur Freude des Papa“ aus.605 Sie absolvierte ein
breites Übepensum. Im fünften Dialog berichtet der Philosophe dem Maître, die
Schülerin habe bereits morgens zwischen fünf und sechs geübt und er höre „Tonleitern und Triller morgens, nach dem Essen und abends.“606 Noch 1820 erwähnt Jacques-Henri Meister in einem Brief an Angélique deren schönes Clavierspiel. Bezug
nehmend auf ihr erstes Zusammentreffen zu einem Zeitpunkt, da Angélique „etwa
fünfzehn oder sechzehn Jahre alt“ war607 (also bei Mlle Bayon Unterricht erhalten
haben müsste), schrieb Meister am 3. Oktober 1820: „Ich bewahre immer noch die
lebhafteste und zärtlichste Erinnerung an den Eindruck, den Sie auf mich machten,
als ich zum ersten Mal das Glück hatte, Sie im Arbeitszimmer ihres Vaters zu sehen
und so reizend das Clavier spielen zu hören.“608
Bemetzrieder hatte den Auftrag, das Mädchen in Harmonielehre sowie in der
Vortragskunst zu unterweisen. Zum Amusement seiner aufgeweckten Schülerin, die
ihren Lehrer immer wieder durch ihre Fragen anregt und erfreut, werden die zu
übenden harmonischen Folgen, ausgehend von erweiterten Kadenzen, in moderne
Spielfiguren verpackt, welche im zwölften Dialog dann in ein kleines improvisiertes
Prélude609 Angéliques münden. Während der theoretischen Erläuterungen sitzt Angélique am Clavier. Nur um mancherlei harmonische Verbindungen und Besonderheiten, die Angélique nicht aus dem Stegreif spielen kann, hörbar zu machen, wechseln Schülerin und Lehrer die Plätze. Dass der Unterrichtsstil Bemetzrieders sehr
vom Instrument ausgeht, zeigt auch die Tatsache, dass grundsätzlich alle Übungen
in sämtlichen Tonarten ausgeführt werden. In den notierten Batteries und Bassfiguren zeigt sich Angéliques virtuose Spieltechnik. Bemetzrieder ist sehr zufrieden mit
seiner Schülerin, sie lernt sehr schnell. 610 Nach Ende der Unterrichtszeit wird
schließlich berichtet, dass die Schülerin nun alles wisse und Bemetzrieder ihr nichts
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608
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610
172
Lilo Gersdorf, Marie Angélique Diderot und die Leçons de Clavecin et Principes
d’Harmonie von Anton Bemetzrieder. Paris 1771, ungedr. Dissertation, Salzburg 1992,
S. 105.
« Je fais de la Musique pour le plaisir de Papa….“ Bemetzrieder, S. 134.
Bemetzrieder, S. 122.
« Tout ce que je sais, mon excellente amie, c’est que la première fois où je vis Mademoiselle Angélique Diderot, elle pourait avoir environs quinze à seize ans. » Brief J.H.Meisters vom 8. 5. 1816, in Biest AD, S. 7.
« Je n’en conserve pas moins le plus vif et le plus tendre souvenir de l’impression que
vous m’avez faite la première fois que j’eus le bonheur de vous voir dans le cabinet de
Monsieur votre père touchant délicieusement du piano. » Brief J.-H.Meisters vom
3. 10. 1820, in Biest AD, S. 7. Übers.: C. S. & Ch. S.
Bemetzrieder, S. 303–306.
« L’Eleve: Vrai, vous êtes satisfait? – Le Maître: Très-satisfait. On ne va pas plus
vîte. » Bemetzrieder, S. 154, und an anderer Stelle: « Le Maître: Je vous en fais mon
compliment; vous êtes bien plus habile que vous ne pensez. » Bemetzrieder, S. 202.
mehr beizubringen habe. „Die Schülerin: Mein Papa, alles ist fertig, alles. Der Herr
behauptet, dass er mir nichts mehr beizubringen hat, gar nichts.“611
Nach Abschluss ihrer Studien bei Bemetzrieder erhielt Angélique Clavierstunden bei Johann Gottfried Eckard. Ihr Musizieren endete aber wohl bald nach ihrer
Verheiratung. Diderot war denn auch mit seinem Schwiegersohn außerordentlich
unzufrieden, der die sorgfältige Erziehung, die Diderot seiner Tochter hatte angedeihen lassen, nicht zu schätzen wusste: „Ich habe meine Tochter einem Menschen
zur Frau gegeben, der zur Hälfte ein kleiner Geck ist. Ich hatte mein Kind dazu erzogen, nachzudenken, Bücher zu lesen, am zurückgezogenen Leben Gefallen zu
finden, all jene albernen Nichtigkeiten zu verachten, die das ganze Leben einer Frau
in Dunst aufgehen lassen; ich hatte sie daran gewöhnt, sich bescheiden zu kleiden
und Geschmack an der Musik und allen guten Dingen zu finden. Doch dieser kleine
Herr wünscht, daß seine Frau vom frühen Morgen an ihm zu Gefallen sich
schmückt wie eine Puppe und den Tag über so bleibt. Er sieht es ungern, wenn sie
sich bei der Rückkehr von einem Besuch dieses hinderlichen und prunkvollen Rüstzeugs entledigt. Wie er selbst sagt, liegt die Harmonie im Optischen. Das Kind, das
noch an den alten Irrlehren des Vaters festhält, empört sich, beklagt sich, speit Funken und schickt sich absolut nicht in die faden und platten Lehren ihres Stutzers und
Pedanten. [...] Dieser Mensch läßt jede Urteilsfähigkeit, jedes Feingefühl und jede
Kenntnis seiner Wahren Interessen vermissen“ 612 , so heißt es in einem Brief an
Grimm vom 9. Dezember 1772. Angélique Diderot ging damit den Weg so vieler
Frauen des 18. Jahrhunderts. Durch ihren interessierten Vater war ihre Ausbildung
sicherlich qualifizierter als die vieler anderer Mädchen, nach ihrer Heirat lag aber
auch bei ihr das musische Talent brach und wurde höchstens noch im Rahmen der
Familie genutzt.
611
612
« L’Eleve: Mon papa, tout est fini. Tout. Monsieur prétend qu’il n’a plus rien à
m’apprendre, mais rien. » Bemetzrieder, S. 281, Übers.: C. S.
Brief Diderots an Fr. M. von Grimm vom 9. 12. 1772, Übers. nach DiderotBR, S. 387–
390, hier S. 387–389.
173
4
Berufsentwicklung
4.1
Hélène de Montgeroult – Clavierprofessorin am Conservatoire National
de Musique et de Déclamation
Das Leben Hélène de Montgeroults glich laut Michel Brenet „einem Roman“.613 Erzogen nach den Maßstäben, die für ein reiches und adeliges Mädchen galten, erhielt
die junge Hélène seit 1776 auch eine profunde musikalische Ausbildung. NicolasJoseph Hüllmandel war ihr erster (namhafter) Clavierlehrer, gefolgt von Muzio Clementi (1784) und Johann Ladislav Dussek (1786). Laut Marmontel nahm Hüllmandel regen Anteil an den Fortschritten seiner Schülerin. Er lehrte sie den „eleganten
und korrekten Stil“ seines eigenen Lehrers Carl Philipp Emanuel Bach.614 Clementi
und Dussek brachten ihre Schülerin zu „bemerkenswerter Kraft und Männlichkeit,
ohne den feinen Glanz von Eleganz zu verändern, der das Privileg und die natürliche Gabe von Virtuosinnen ausmacht.“615 Unter dieser Anleitung entwickelte sich
die junge Frau zu einer höchst angesehenen Künstlerin. Bei Fétis heißt es: „Beschenkt mit einem erlesenen Gefühl sowie einem analytischen Verstand erwarb sie
auf dem Clavier das schönste Können, das eine Frau ihrer Zeit besaß.“616 Sie trat
beispielsweise im Hause der Familie Rochechouart auf und war eng befreundet mit
dem berühmten Violinisten Jean-Baptiste Viotti.
Ange Marie Eymar berichtet über die junge Musikerin in seinen Anecdotes sur
Viotti. Er nennt sie darin nach der Muse der lyrischen Poesie und des lyrischen Gesanges Euterpe: „Euterpe verbrachte die schöne Jahreszeit auf dem Land im Tal
von Montmorency. Ihr Haus war heiter: Es vereinte in der schönsten Lage all den
Charme der Schlichtheit, der Reinlichkeit und der Eleganz; es war ein Tempel der
Freundschaft, der Begabungen und des Geschmacks.“ 617 Eymar beschreibt einen
Besuch bei Hélène de Montgeroult, in deren Haus Viotti um 1780 oft zu finden gewesen sein soll, beschreibt das Entzücken des Besuchers (also das Eymars selbst)
über die schöne Natur dieser Gegend und seine Freude, sobald das Clavierspiel der
jungen Hélène sein Ohr erreicht. Selbstvergessen sitzt sie am Clavier, Viotti arrangiert derweil Blumen. Doch als das Spiel Hélène de Montgeroults immer aus613
614
615
616
617
174
Brenet Teil II, S. 142.
Marmontel, S. 254.
« Une force, une virilité remarquables, sans altérer toutefois cette fine fleur d'élégance
qui est le privilége et comme l'attribut naturel des femmes virtuoses », Marmontel,
S. 255, Übers.: C. S. & Ch. S.
« Douée d'un sentiment exquis et de l'esprit d'analyse, elle acquit sur le piano le plus
beau talent qu'une femme ait possédé de son temps. » Fétis, Übers.: C. S.
« Euterpe passait la belle saison à la campagne dans la vallée de Montmorency. Sa
maison était riante; elle réunissait, dans la situation la plus heureuse, tous les charmes
de la simplicité, de la propreté, de l'élégance; c'était le temple de l'amitié, des talens et
du goût. » Eymar, S. 14, Übers.: C. S.
drucksstärker wird, greift er zur Violine und die beiden improvisieren gemeinsam.618 Der Autor ist völlig hingerissen: „Kommt und hört Euterpe und Viotti: wie
sie sich folgen, wie sie sich gegenseitig durchschauen, wenn sie aufeinander antworten! Diese beiden Virtuosen sind gleichermaßen von der Wissenschaft um die
Harmonie durchdrungen und nicht nur in der Aufeinanderfolge der Akkorde, musikalischen Phrasen und in der natürlichen Folge leidenschaftlicher Akzente, sondern
auch in der Kenntnis und bei der Verwendung aller kleinen Hilfsmittel, durch welche man Effekt und Ausdruck steigern kann, gleichermaßen versiert. Beide sind mit
der seltenen Gabe der Erfindung und mit höchst erstaunlichem Einfallsreichtum beschenkt. Der Himmel hat sie mit dem tiefsten Gefühl und dem reinsten Geschmack
beschenkt.“ Die beiden verlieren sich weiter in ihren Improvisationen, bis die Nacht
hereinbricht. Niemand vermag aufzubrechen, sind doch alle noch wie gebannt vom
Zauber der soeben gehörten Musik. „Euterpe bleibt einige Zeit unbeweglich und
still. Ich selbst glaube, die beiden noch immer zu hören, und lasse meiner stark bewegten Seele ganz und gar freien Lauf, als Euterpe sich plötzlich lebhaft erhebt,
verlangt, dass man die Fenster schließe und eine Fackel bringe. Während man diesen Befehlen Folge leistet, legt sie einen Schleier um ihren Kopf, zieht die Falten
des Tuches, das ihren Busen bedeckt, in die Länge und drapiert es um sich in der
Form eines Leichentuches. Sie platziert sich in der Tiefe des Salons auf einem Sofa.
Dort liegend, gibt sie ihrer Haltung, ihren Zügen und ihrer Physiognomie den Charakter und den Ausdruck einer Frau, die, in einem Grab niedergestreckt, aus dem
Schoß des Todes erwacht. Dieses Schauspiel bietet sich unseren Augen, als das
Licht eintrifft. Wie findet ihr, fragt uns Euterpe, diese (Denkmal-) Gestalt?“ „Tiefe
Emotionen“ erschüttern den Autor, zahlreiche Empfindungen, Ideen und Gefühle
werden noch einmal aufgeworfen, und er sinniert darüber nach, wie weit ein schöpferischer Mensch sich mit seiner Kunst verausgaben kann. Hélène de Montgeroult
„hatte in ihren Adagios alle Akzentuierungen der Leidenschaften und des Schmerzes vollkommen ausgedrückt. Ihr Kopf und ihre Hand waren ermüdet, ihre Vorstel618
« Ah! c'est Euterpe, qui pourrait s'y tromper? J’accours, et je la trouve préludant sur
son piano. Viotti, qui déjà est auprès d'elle, ne s'aperçoit point de mon arrivée; il est
profondément occupé à réunir, à déplacer, à rapprocher encore des fleurs qu’il a
cueillies et qu'il cherche à assortir dans un bouquet. Cependant Euterpe promène une
main légère sur les touches de l'instrument. Elle parcourt et enchaîne les modulations;
elle essaie plusieurs traits de chant, en passant successivement dans tous les tons par les
accords les plus inattendus et par les transitions les plus savantes. Viotti, toujours occupé de ses fleurs, ne lui donne que par intervalles quelques momens d'attention. Mais
lorsque les chants d'Euterpe deviennent expressifs; lorsque sa main, semblant partager
l'émotion qui commence à régner dans son ame, presse plus fortement et paraît s'arreter
sur les cordes qui caractérisent plus particulièrement l'expression, alors Viotti l'écoute
avec une extrème attention: peu-à-peu ses fleures, qu'il oublie, échappent de ses mains;
il se lève sur la pointe du pied, va chercher son violon, l'accorde doucement; il
s'approche, et les sons du violon commencent à se faire entendre avec ceux du piano. »
Eymar, S. 17–18.
175
lung aber war weit weg und alle Einfühlsamkeit ihrer Seele war nicht mehr erschöpft. Sie hatte die Hoffnung darauf aufgegeben, den Tod durch Klänge darstellen zu können und wusste nun ein Mittel zu finden, ihn irgendwie sichtbar und
greifbar zu machen. Sie war in diesem Moment eine grandiose Bildhauerin, so wie
sie zuvor eine großartige Musikerin gewesen war, denn das Genie, welches Meisterwerke erschafft, ist in allen Künsten dasselbe.“619
619
176
« Venez entendre l'Euterpe et Viotti: comme ils se suivent! comme ils se devinent!
comme ils se répondent tour-à-tour! ces deux grands virtuoses sont également profonds
dans la science de l'harmonie; également versés, non-seulement dans l'enchaînement
des accords, des phrases musicales, et dans la succession naturelle des accens passionnés, mais encore dans la connaissance et la pratique de tous les moyens accessoires
par lesquels on peut ajouter à l'effet et à l'expression; tous deux sont doués du don si rare de l'invention et de la plus étonnante fécondité. Le ciel leur a départi avec le sentiment le plus profond, le goût le plus pur: l'art leur a donné l'exécution la plus brillante
et la plus facile. Rien n'est comparable à la douceur des chants qui sortent du tendre
violon de Viotti; Euterpe sur le piano sait avec un discernement exquis tirer parti de
cette inappréciable et pourtant sensible altération des sons et des dissonnances même,
qui donne à chaque ton un caractère particulier. Elle possède éminemment l'art de retarder ou d'accélerer à propos quelques-unes des parties dans lesquelles la mesure se subdivise, et par ce moyen d'ajouter sans changer de rhythme au pathéthique de son expression. C'est elle qui tantôt invente et conduit la mélodie, et dont la verve maîtrisant
celle de Viotti, l'entraîne irrésistiblement. Tantôt le génie de Viotti s'élevant à son tour,
commande à Euterpe de le suivre et de l'accompagner par ses accords. La partie principale et celle d'accompagnement passent ainsi successivement de l'un à l'autre, sans que
ce changement ait jamais rien de brusque, de vide ou de languissant. On ne s'en aperçoit même que par la variété d'effets qui naît de la difference et des moyens particuliers
qui tiennent à la nature des deux instrumens. Est-ce la même ame qui les anime, le
même Dieu qui les inspire? Oui, car c'est le même sentiment. Pendant qu'ils improvisent ainsi, les heures se passent et le jour commence à baisser. La nuit devait nous
rendre à Paris; mais comment se résoudre à partir, dans l'état où nous ont laissé des
émotions si vives et si profondes? La mélancolie qui s'empare de Viotti, au déclin du
jour, pèse plus fortement encore que de coutume sur son cœur. Euterpe reste quelques
tems immobile et silencieuse. Quant à moi qui crois les entendre encore, j'abandonne
mon ame fortement émue à toute son agitation, lorsque tout-à coup Euterpe se lève
avec vivacité, elle demande qu'on ferme les fenêtres et qu'on apporte un flambeau. Tandis qu'on obéit à ses ordres, elle jette un voile sur sa tête, elle allonge les plis du
mouchoir qui couvre son sein, elle drape en forme de linceul funéraire le vêtement qui
la couvre, et va se placer dans le fond du salon, sur un sopha. Là, à demi couchée, elle
donne à son attitude, à ses traits et á sa physionomie, le caractère et l'expression d'une
femme qui, étendue sur un tombeau, se réveille du sein de la mort. Tel est le spectacle
qui s'offre à nos regards lorsque la lumière arrive. Comment trouvez-vous, nous dit Euterpe, cette figure de monument? […] Les profondes émotions ébranlent à-la-fois toutes
les puissances de notre ame; elles rappellent toutes les sensations, toutes les idées, tous
les sentimens qui leur sont analogues: jetée hors d'elle-même dans ces momens, l'ame a
besoin de réaliser pour ainsi dire le sentiment dont elle est remplie. C'est lorsque
l'homme inspiré, Ecrivain, Musicien, Peintre ou Statuaire se trouve dans cette situation,
Hélène de Montgeroult ist hier ganz Künstlerin, aber auch ganz Frau. Sie besitzt großen Charme und setzt ihren weiblichen Körper bewusst ein. Gleichzeitig
gibt Eymar in dieser Erzählung auch den ersten, mir bekannten Bericht über eine
französische Musikerin, deren Improvisationen und Schaffen im Lichte eines neuen
Künstlerbildes dargestellt werden: eines Künstlers, der aus sich heraus schaffen
muss und sich (und seine Seele) dabei völlig verausgabt. Nach diesem neuen Bild
sind es nicht mehr Begabung, Kompositionsaufträge oder wirtschaftliche Notwendigkeit, die zum Schaffen animieren, sondern es ist die Seele des Musikers, des
Komponisten, die ihn drängt, seine Gefühle zu offenbaren. Damit ist auch die Weiche zur Trennung von Komponieren, Virtuosentum und Lehrtätigkeit gestellt. Die
Künstlerin Hélène de Montgeroult steht gleichwertig neben ihren männlichen Kollegen. Sie ist eine Frau, die in den Augen ihrer Zeitgenossen männliche und weibliche Attribute glücklich in sich vereint. Sie wusste, wie die obige Szenerie zeigt, mit
dieser Einschätzung umzugehen, ja, sie auch bewusst einzusetzen.
Im Jahr 1784 heiratete die Künstlerin André-Marie Gaultier, den Marquis de Montgeroult.620 Er starb bereits neun Jahre nach der Hochzeit im Krieg. Das Paar hatte
u. a. in den Salons von Mme de Staël und der berühmten Malerin Vigée-Lebrun verkehrt. Letztere berichtet aus der Zeit dieser Ehe Mme de Montgeroults in ihren Erinnerungen, dass diese trotz ihrer Jugend „doch die ganze, wirklich recht anspruchsvolle Gesellschaft durch ihren wundervollen Vortrag und Ausdruck in Erstaunen“
versetzte, denn „sie ließ die Tasten sprechen“.621 Unschwer lassen sich in diesen
Beschreibungen die in ihrem Clavierlehrwerk propagierten Prinzipien wiederfinden.
Am 14. Februar 1793 wurde Hélène de Montgeroult vom Revolutionstribunal
als Adelige angeklagt und anschließend zur Guillotine verurteilt. Über ihre Errettung gib es zwei unterschiedliche Geschichten. Die erste stammt aus den Erinnerungen des Baron de Trémont, eines Freundes, vermutlich sogar Liebhabers in späteren
Jahren. Demnach versprach ein gewisser „Mr xxx“, den sie aus seiner Zeit als Redakteur beim Moniteur kannte, sie vorübergehend als Schutzmaßnahme zu heiraten.
Mme de Montgeroult habe das großzügige Angebot angenommen und während die-
620
621
qu'il épuise toutes les ressources de son Art, et qu'au besoin le les appelle tous à son
aide. Alors viennent en foule s'offrir à son imagination toutes les idées, tous les souvenirs, toutes les images qui peuvent avoir quelques rapports avec son modèle, et il s'en
sert pour achever de le représenter avec la même vérité et la même force qu'il l'a conçu.
Voilà ce qui était arrivé à Euterpe. Elle avait rendu parfaitement dans ses adagio les
accens des passions et ceux de la douleur. Sa tête et sa main en étaient fatiguées, mais
son imagination avait été plus loin, et toute la sensibilité de son ame n'était plus encore
épuisée. Désespérant de figurer la mort par des sons, elle sut trouver le moyen de la
rendre en quelque sort visible et palpable. Elle fut un moment aussi grand statuaire
qu'elle avait été auparavant grande musicienne, parce que le génie qui crée des chefd’œuvres est le même dans tous les Arts.“ Eymar, S. 18–21, Übers.: C. S. & Ch. S.
Jérome Dorival, Montgeroult, in: MGG 1999.
Vigée-Lebrun Bd. 1, S. 57.
177
ser Ehe einen Sohn geboren.622 Obwohl der Baron de Trémont noch selbst aus dem
engen Bekanntenkreis Hélène de Montgeroults stammt, lässt sich die Geschichte in
genau dieser Form nicht anhand der erhaltenen Akten verifizieren. Ja, es gab eine
solche Eheschließung, die nur kurze Zeit dauerte und aus der ein Sohn hervorging,
doch die Jahreszahlen stimmen nicht. Eine andere Version über ihre Rettung vor der
Guillotine lautet, dass sie ihr Leben durch das Spielen von Variationen über die
Marseillaise auf dem Clavier vor den Mitgliedern des Tribunals retten konnte.623
Eine ähnliche Begebenheit wird von Claude-Bénigne Balbastre erzählt. Er war wegen seiner engen Kontakte zur königlichen Familie angeklagt worden und wurde
schließlich durch Veröffentlichungen seiner Arrangements der Revolutionslieder
Ça ira und Marseillaise rehabilitiert. 624 Ein Freund und Bewunderer Hélène de
Montgeroults, Bernard Sarrette, hätte, sollte diese Geschichte die wahren Ereignisse
wiedergeben, den entscheidenden Hinweis auf die außergewöhnliche Kunst der
Musikerin geliefert und ihre Begnadigung damit erfolgreich begründet, sie werde
als Lehrerin des neuen Conservatoires dringend benötigt.625
1795 wurde sie zur Lehrerin am Pariser Conservatoire National ernannt. Als
Professeur de piano unterrichtete sie die première classe.626 Nur eine weitere Frau
findet sich auf der Liste der Professeurs von 1795627: Louise Rey unterrichtete gegen ein Gehalt von 1600 Livres als Professeur de troisième classe628 von 1795 bis
1797 Solfège. Hélène de Montgeroult begann ihre Arbeit am 22. November. Laut
Marmontel waren es ihre große Begabung als Musikerin und ihre Virtuosität, ihr
aristokratischer Rang und ihre Position als Emigrantin, die sie schnell zu einer sehr
populären Lehrerin machten.629 Zu Hélène de Montgeroults Schülern zählten LouisBarthélemy Pradères (oder Pradher), Alexandre-Pierre-François Boëly und IgnaceAntoine-François-Xavier Ladurner. Pradher gewann in den Jahren 1797 und 1798
mit 15 bzw. 16 Jahren einen ersten Preis bei den Jahresprüfungen im Fach Clave622
623
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625
626
627
628
629
178
Trémont, S. 753–754.
MiLeFé und Brenet Teil II, S. 143.
Ein weiterer Schritt Balbastres bestand darin, um 1793 ausschließlich für Hammerclavier, das Instrument, das im Gegensatz zum Ancien Régime mit dem neuen Bürgertum
assoziiert wurde, zu komponieren. Siegbert Rampe, Zur Sozialgeschichte des Claviers
und Clavierspiels in Mozarts Zeit, Teil 1 in: Concerto Juni 1995, S. 24–28, hier S. 27.
Während der Herrschaft des Terrors lebte Hélène de Montgeroult (größtenteils incognito) in Berlin, wo sie Kontakte zu dem Organisten Peter Schramm unterhielt. Vgl.
Édouard Monnais, Esquisses de la vie d’artiste, par Paul Smith, Paris 1844.
Pierre, S. 452.
Liste des Professeurs admis au concours à compter du Ier Frimaire An IV
[22. 11. 1795], AN O² 65a, hier nach Pierre, S. 129.
Pierre, S. 129 und 408. Louise Rey war vermutlich die Tochter von Jean-Baptist Rey,
ebenfalls einem Musiker, und lehrte am Conservatoire Solfège. Roger Cotte, Rey, in:
Grove 2001.
Marmontel, S. 256–257.
cin630, und wurde am 20. November 1800 zum Professeur de deuxième classe ernannt631. Auch Ladurner war Clavierlehrer am Conservatoire, und zwar von 1797
bis zum Jahre 1802. Wie Pradher unterrichtete er die deuxième classe.632 Boëly holte sich oft Ratschläge bei der Lehrerin Montgeroult.633 Camille Petit, ein im Jahre
1800 geborener Schüler von Pradher und Montgeroult, ging später nach London,
wo er sich mit großem Erfolg in einigen Konzerten hören ließ und selbst als Clavierlehrer und Komponist bekannt wurde.634 Er gehörte, wie auch Boëly, zu Hélène
de Montgeroults Privatschülern. Marmontel zählt auch die Schüler Pradhers zur
„Klasse Montgeroult“ und nennt sie ihre Enkelschüler: die Brüder Jacques und
Henri Herz, Henri Rosellen und Félix le Couppey (den Nachfolger seines Lehrers
Pradher).635
Der Titel Professeur de première classe besagte, dass Hélène de Montgeroult
die männlichen Studenten der höchsten Klasse unterrichtete. Ihr Gehalt betrug 2500
Livres jährlich.636 Sogar bis Deutschland drang der Ruhm der Lehrerin am Conservatoire. Bei Gerber heißt es: „Es soll dies ein Frauenzimmer von ausgebreiteten
Kenntnissen, und als Professorin beym Konservatorium mit angestellt seyn.“ 637
Nach zwei Jahren verschwand der Name Hélène de Montgeroults aus den Lehrerlisten des Conservatoires – in der Liste des Jahres VII (1798) gilt ihr Platz als vakant.638 Die Gründe für ihr Ausscheiden sind nach wie vor unbekannt, sind aber
vermutlich in ihrer Heirat mit Charles-Hyacinte His (s. u.) zu suchen.
Der Baron de Trémont, ein Bewunderer Hélène de Montgeroults, rühmt die große
Schönheit der Marquise: „Sie gehörte zu der kleinen Zahl an Frauen, denen man
nicht begegnen konnte, ohne innezuhalten und sie zu betrachten: eine große Frau
mit einer imposanten Gestalt, die Haut von dieser Feinheit und diesem braunen
Teint des warmen Klimas, die Haare und Augen vollkommen schwarz, ihr Blick abwechselnd durchbohrend und dann wieder von einer bezaubernden Empfindsam630
631
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638
Pierre, S. 512, 513. Als sein Lehrer ist hier bereits Louis-Geneviève-Jules Gobert angegeben.
Pierre, S. 131 und 454.
Pierre, S. 409.
Marmontel, S. 257.
Unger, S. 238–239.
Marmontel, S. 257.
Johnson, S. 21.
GerberNL.
Pierre, S. 409. Ein Jahr später zeigt die Liste eine Unterscheidung in Piano homme, unterrichtet von Nicolas Séjan in der Premier classe und in Piano femme, unterwiesen
von Hyacinthe Jadin in der Seconde classe. In Letzterer gab es außerdem drei weitere
Lehrkräfte, die ausdrücklich Jungen und Männer unterrichteten, nämlich FrançoisAdrien Boieldieu, Benoit-François Mozin (jeune) und François Nicodami, Louis-Geneviève-Jules Gobert dagegen unterrichtete weiterhin schlicht das Piano. Pierre, S. 410.
Diese Aufteilung ist in den nächsten bei Pierre angedruckten Listen nicht mehr existent.
179
keit, die eine lebendige Vorstellungskraft und tiefe Gefühle verrieten. Ihr Geist war
ebenso vornehm wie ihre Person. Ihre Freundin Mme de Staël machte davon viel
Aufhebens und redete von ihr als ihrer Kaiserin.“639 Marmontel nennt Hélène de
Montgeroult eine „Königin der Schönheit“ mit lebhaftem und durchdringendem
Blick und allen Vorzügen der alten Aristokratie wie Vornehmheit, einer ausgesuchten Höflichkeit und angeborenem Charme.640
Trémont achtet in seiner Beschreibung Hélène de Montgeroults aber auch darauf, dem Weiblichkeitsideal Genüge zu tun. Zunächst formuliert er seine Meinung
über Frauen, die männliche Eigenschaften anzunehmen wünschen: Benehmen sie
sich nicht wie Frauen, so vergeuden sie angeblich die Ressourcen, die ihnen Gott
geschenkt hat und die ihnen aufgrund ihres Geschlechts eigen sind. Versuchen sie,
es Männern gleichzutun, so ermüden sie bald. Er hebt die häuslichen Tugenden,
mütterliche Zärtlichkeit, Hingabe, die anhaltende Sorge und Zartheit hervor, welche
von Frauen bis zu einem von Männern nur selten erreichten Punkt gebracht seien.
Wenn sich also Frauen so entwickeln, dass sie ihre Vorzüge aufgeben, um die der
Männer anzunehmen, dann können sie laut seiner Aussage zwar mit Erstaunen und
selbst mit Bewunderung rechnen, sie verlieren aber auch ihren weiblichen Charme,
sie werden „messerscharf“ und man hält sie oft für pedantisch.641 – Man beachte
seine Beschreibung von Hélène de Montgeroults abwechselnd sanftem und einfühlsamem, dann wieder messerscharfem Blick.
Anschließend geht der Baron de Trémont in seinen Ausführungen auf die geistigen Gaben der Frauen ein: Allgemein schreibt er dem weiblichen Geschlecht weniger Verstand und größere Schwierigkeiten bei komplexen Überlegungen zu ernsten Themen zu. Eine vollkommene Frau besitzt laut Trémont eine „glückliche Mischung“ aus weiblicher Moral und männlichem Geist. Und genau dies besaß seiner
Meinung nach Hélène de Montgeroult. Es sind ihre Menschenliebe, eine noble (und
damit ‚altmodische’) Erziehung, Charme, starke Gefühle und Herzensbewegungen,
die wohl in Kombination mit ihren Leistungen, ihrem Verstand und starkem Willen
den Zauber dieser Frau auf ihre Zeitgenossen ausmachten. Sie blieb, solange die äußeren Umstände dies erlaubten, innerhalb der Grenzen ihres Standes als Adelige
und als Frau: Ihr Ruf als Virtuosin und Improvisatorin war groß, ihr Salon galt als
einer der wichtigsten von Paris. Sie musizierte als eine Virtuosin von großem Ruhm
daheim und in den Salons, nicht aber im öffentlichen Konzert. Ihre Lehrtätigkeit am
639
640
641
180
« Elle etait du petit nombre de ces femmes qu'on ne peut rencontrer sans s'arrêter pour
les regarder. Une taille élevée, la tournure imposante, la peau de cette finesse et de cette
teinte brune = unie des climats chauds: les cheveux, les yeux parfaitement noirs, et ce
regard tour à tour perçant où d'une sensibilité enchanteresse qui annonce une imagination vive et des sentiments profonds. Son esprit etait aussi distingué que sa personne.
Son amie Made. de Staël en faisait grand cas, et elle la nommait mon impératrice. »
Trémont, S. 750, Übers.: C. S. & Ch. S.
Marmontel, S. 260.
Trémont, S.790–791.
Conservatoire beendete sie, als sie sich 1797 mit Charles-Hyacinte His, dem Vater
ihres Sohnes, verheiratete642 (möglicherweise die von Trémont genannte ‚Revolutionsehe’) und gegen die Drucklegung ihres Schulwerkes sträubte sie sich zunächst.
Hélène de Montgeroult wirkte bis an ihr Lebensende als aktive Künstlerin und als
Lehrerin, doch immer im engeren Kreis, nicht auf öffentlichen Bühnen und nicht
mehr an der großen, international anerkannten Lehranstalt, dem Conservatoire National de Musique et de Déclamation. Erst um 1830 scheint sie sich vom Unterrichten zurückgezogen zu haben.643
Hélène de Montgeroult war eine adelige Virtuosin von großer Reputation, der ihr
Können möglicherweise das Leben rettete, die den Spagat zwischen Frausein und
Professionalität erfolgreich meisterte, eine außergewöhnlich erfolgreiche Künstlerin
in einer Umbruchzeit, der das Unterrichten ebenso wie das eigene Musizieren eine
Passion war und die von keinerlei finanziellen Nöten zu dieser Tätigkeit bestimmt
wurde.
4.2
Die Revolutionsjahre und neue Voraussetzungen für den Beruf der
Clavierlehrerin
Hatten die Clavierlehrerinnen um 1700 – so weit mit Élisabeth-Claude Jacquet de la
Guerre und Marie Françoise Certain nachvollziehbar – luxuriös und finanziell gut
gestellt gelebt, so scheint sich bereits in den mittleren Jahren des 18. Jahrhunderts
dieses Bild leicht gewandelt zu haben: Mädchen aus Musiker- und musikverbundenen Familien wurden musikalisch gut und fundiert unterwiesen, um
1. als junge Mädchen durch Konzertieren, Unterrichten und Notenkopieren zum
Familieneinkommen beitragen zu können,
2. eventuell ihre Heiratschancen zu verbessern, sollten sie in den entsprechenden
Salons auftreten können,
3. im Falle einer Heirat, die üblicherweise im selben Berufsmilieu geschlossen
wurde, beim Verdienst mithelfen zu können,
4. im Falle einer Nichtverheiratung unter Umständen die alt gewordenen Eltern, in
deren Haus die Mädchen wohl meist blieben, durch musikalische Tätigkeiten
und insbesondere das Erteilen von Unterrichtsstunden zu versorgen und selbstständig nach deren Tode den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten und
schließlich
5. auch als Witwe ihr Auskommen zu haben. Über die tatsächliche finanzielle Situation dieser Frauen lassen sich selten genauere Angaben machen. Um den Lebensunterhalt zu bestreiten, scheint ihr Einkommen in den meisten Fällen (min642
643
Jérome Dorival, Montgeroult, in: MGG 1999.
Johnson, S. 22.
181
destens) ausreichend gewesen zu sein, wenn auch der große Luxus wohl bereits
fehlte.
In der Revolutionszeit entwickelte sich wiederum ein neues Schema. Dafür scheint
es zwei Gründe zu geben: Einmal gab es mittlerweile wesentlich mehr Frauen, die
Musikunterricht erhalten hatten; musikalische Bildung war in größeren Bevölkerungsteilen und Gesellschaftsschichten anzutreffen. So entwarf beispielsweise
Rousseau über den musikalischen Werdegang einer Frau folgendes Bild: „Sophie
besitzt natürliche Talente; sie ist sich ihrer bewußt und hat sie nicht verkümmern
lassen: da sie aber nicht in der Lage war, viel Kunst für ihre Bildung aufzuwenden,
hat sie sich damit begnügt, ihre hübsche Stimme im richtigen und gefälligen Gesang
zu üben, ihre Füßchen federleicht und graziös zu setzen, in jeder Situation ihre Reverenz frei und ungehemmt zu machen. Im Übrigen hat sie als Gesangslehrer nur
ihren Vater gehabt und ihre Mutter als Tanzlehrerin; ein benachbarter Organist gab
ihr auf dem Spinett etwas Unterricht im Begleiten, den sie später allein fortsetzte.
Zunächst dachte sie nichts anderes, als ihre Hand vorteilhaft auf jenen schwarzen
Tasten zur Geltung zu bringen, dann fand sie heraus, daß der scharfe und harte Ton
des Spinetts den Klang ihrer Stimme weicher machte; nach und nach wurde sie empfänglich für Harmonie, endlich, als sie erwachsener wurde, begann sie die Reize
der Ausdruckskraft zu begreifen und die Musik um ihrer selbst willen zu lieben.
Das aber ist eher eine Neigung als ein Talent; sie kann kaum eine Melodie nach Noten lesen.“644 Natürlich wäre die imaginäre Sophie nicht in der Lage, Clavierunterricht zu erteilen, aber selbst sie, die nur zu den frauenspezifischen Tätigkeiten angeleitet wird, erhält ein geringes Maß an musikalischer Förderung. Allgemein hatte
sich in der Nachfolge Rousseaus das Ideal der Kindererziehung weit reichend geändert. Man suchte Kinder nicht nur auf eine andere Art zu formen als in den vorhergehenden Jahrhunderten, sondern man trachtete auch danach, sie weit gefächert zu
fördern. Mme de Genlis beschreibt in ihren Memoiren den Wandel der Erziehungsmaßstäbe und konstatiert, dass seit Louis XIV. ein deutlicher Verfall der Kultur
stattgefunden habe. 645 Das Erziehungsideal hatte sich verändert und einer neuen
Einstellung zu Vergnügungen und Bildung Platz gemacht. Dies bedeutete auch für
Lehrende eine neue ‚Standortbestimmung’, bewirkte, dass sich wesentlich mehr
Frauen – wenn auch vielleicht nicht auf höchstem Niveau – ein Unterrichten zutrau644
645
182
Rousseau, S. 790–791.
« Les parents ne menaient point jadis dans la société des enfants de sept à huit ans; on y
menait même bien rarement une fille de quinze ou seize. Aujourd'hui on ne peut plus se
séparer de ses enfants; on en est idolâtre, on en est esclave; ce qui n'empêche pas les
veufs et les veuves de se remarier, et souvent de mettre une partie de leur bien à fonds
perdu.“ „Quand on a des filles de quinze à seize ans, c'est pour elles qu'on va dans le
monde et qu'on se trouve à toutes les fêtes, qu'on suit tous les bals. C'est pour elles
qu'on se pare à peu près comme elles; c'est pour elles qu'on leur fait mener un genre de
vie qui ôte toute possibilité d'acquérir de vrais talents et une solide instruction. » Genlis
Choix, S. 270–272.
ten und deutete sich bereits bei dem (schlechten) Verkauf der Clavierschule Hélène
de Montgeroults an.
Ein weiterer Grund für eine Änderung des Berufsbildes der Clavierlehrerin ist darin
zu suchen, dass sich mehr Frauen, sei es durch Verlust des Ehemannes oder des Familienvermögens, sei es durch Scheidung gezwungen sahen, selbst für sich zu sorgen – Hélène de Montgeroult bildet hier eine deutliche Ausnahme. Hatten bereits in
früheren Jahren Eheprobleme z. B. Genovieffa Ravissa zum Unterrichten gebracht,
so wurde nun gerade Trennung oder Scheidung zu einem akzeptablen Grund, den
Beruf der Clavierlehrerin zu ergreifen. Der als Kind erhaltene Musikunterricht wurde somit auch für Frauen ganz anderer Herkunft und in anderen Lebenslagen zu einer Ressource. Dies zeigen die Beispiele der folgenden vier Frauen.
Beispiel 1: Julie Candeille – Versorgung von Angehörigen
Julie Candeille war die Tochter des Komponisten und Sängers Pierre-Joseph Candeille. Sie führte ein schillerndes, von Höhen und Tiefen geprägtes Leben. Ihre
Freundin Louise Fusil meinte, Julie Candeille habe von einem Glück geträumt, wie
man es nur „in Romanen oder in den Nestern der Turteltauben“ finden könne.646 Sie
besaß eine schöne Stimme, sie tanzte, spielte Harfe, Cembalo und Pianoforte. Sie
komponierte Opern, Romanzen, Instrumentalkonzerte und -sonaten und schrieb Romane.
Pierre-Joseph Candeille ließ seine Tochter früh in den wichtigen musikalischen Salons der Zeit auftreten. In den 1780er Jahren war Julie Candeille mehrfach
erfolgreich im Concert spirituel zu hören: So spielte sie 1783 Konzerte von Muzio
Clementi und Johann Schobert, später auch eigene Kompositionen, die veröffentlicht wurden. Über ihr Spiel an dem neuartigen Instrument, dem Hammerclavier, im
Concert spirituel berichtete der Mercure: „Diese junge Virtuosin ist eine außergewöhnlich gute Musikerin. Sie besitzt eine sehr brillante Hand, eine perlende Ausführung, viel Geschmack und Präzision und erhielt viel Applaus, obgleich das Instrument im Allgemeinen wenig Eindruck im Konzert macht.“647
Doch Julie Candeille trat nicht nur als Clavierspielerin, sondern auch als Sängerin auf. 1782 debütierte sie nach nur einem Jahr Unterricht an der Opéra. Der
Mercure beschreibt sie nach der Vorstellung als „von angenehmer und interessanter
Gestalt, vorteilhafter Figur, mit einer sanften und einfühlsamen Stimme und einer
646
647
« Elle ,rêvait d’un bonheur que n’existe que dans les romans ou dans les nids de tourterelles.’ » Terrin, S. 405.
« La seule nouveauté qu’ait offerte le concert du 16 août est un concerto de M. Clementi, exécuté sur le forté-piano organisé par Mlle Candeille, de l’Académie royale de musique. Cette jeune virtuose est extrêmement bonne musicienne; elle a la main très
brillante, l’exécution perlée, beaucoup de goût et de précision; elle a été fort applaudie,
quoique cet instrument fasse, en général, peu d’effet au concert. » Mercure, Aug. 1783,
zitiert nach Pougin, S. 365, Übers.: C. S.
183
großen Kenntnis der Musik, ihr ganzes Spiel voller Seele und Intelligenz.”648 Nach
zwei Spielzeiten zog sie sich jedoch zurück: Ihre Stimme galt als zu klein. Keiner
ihrer vielen Vorzüge, so hieß es im Mercure, könne die grundsätzlichen Fehler ihrer
Stimme wettmachen.649 Sie widmete sich nun dem Studium der Vortragskunst und
spielte ab 1785 an der Comédie-Française regelmäßig tragische Rollen, allerdings
mit eher mäßigem Erfolg. Erst die Veränderung in das komische Fach, der sich
1790 mit dem Wechsel an das Théâtre du Palais-Royal, das spätere Théâtre de la
République, vollzog, bildete den Beginn ihrer großen Karriere als Schauspielerin.
Auch ihr privates Leben war von zahlreichen Umschwüngen geprägt. Von immerhin fünf Heiratskontrakten spricht Julie Candeille in ihren Memoiren: zwei Projekten, einer Annullierung und zwei rechtskräftigen Ehen.650 Über die zwei ‚Projekte’ ist nichts mehr bekannt. Ihre erste, am 18. Brumaire des Jahres III (8. November
1794) mit dem Arzt Nicolas Delaroche heimlich geschlossene Zivilehe, wurde bereits am 13. Dezember 1797 wieder getrennt. Während ihrer Ehejahre komponierte
Julie Candeille und setzte ihre eigenen Stärken in diesen Stücken besonders gut in
Szene. Nach mehreren Misserfolgen (sie selbst spricht in einem Brief an die Redaktion des Journal de Paris von „Ungerechtigkeit“, „Verleumdung „und „heimtückischen Verdächtigungen“ und bezeichnet das Theater und die Schriftstellerei als ihre
einzigen Arbeitsmöglichkeiten651) brach Julie Candeille im Jahr 1796 nach Holland
und Belgien auf. Sie gab hier zahlreiche Clavierkonzerte und lernte Jean Simons
kennen, einen reichen Wagenbauer aus Brüssel, den sie am 11. Februar 1798 (also
kurz nach der Trennung von ihrem ersten Mann, dessen Namen sie nie trug) heiratete. Sie nannte sich in der Folge häufig Julie Simons-Candeille. Doch auch diese
648
649
650
651
184
« Une figure agréable et intéressante, une taille avantageuse, une voix douce et sensible, und grande connaissance de la musique et une action pleine d’âme et d’intelligence. » Mercure, Jan. 1783, zitiert nach Pougin, S. 365, Übers.: C. S.
Mercure 29. 10. 1785, nach Pougin, S. 366.
Mémoires de Julie Candeille, nach Terrin, S. 415.
Der vollständige Text lautet: « Au Rédacteur du Journal de Paris. CITOYEN, Quand la
persecution me poursuit, quand l’injustice & la calomnie s’attachent à ma ruine, je dois
à mes défenseurs, je me dois à moi-même, de repousser les insinuations perfides de
ceux qui voudroient encore me ravir l’estime du public après avoir trompé tous les
efforts que j’ai fait pour lui plaire. Jamais un orgueil insensé, jamais une prétention arrégante ne dirigèrent mes pas dans la carrière des arts. La soumission & la nécessiité
me mirent au théâtre; l’habitude & l’amour du travail m’ont enhardie à écrire. Ces deux
ressources réunies sont mes seuls moyens d’existence; ma famille à soutenir, d’autres
charges plus onéreuses, mes besoins actuels & sur-tout l’inquiétude de l’avenir, voila
mes motifs pour les faire valoir: j’ose croire que, s’ils eussent été connus, mes détracteurs eux-mêmes n’auroient pû se déterminer à me rendre l’objet du ridicule & de
l’aversion quand je devois être celui de l’indulgence & de l’encouragement. Ne refusez
pas à mon malheur, citoyen, le dédomagement que je sollicite de votre bien-veillance.
Ce ne sera pas la première ni la plus foible obligation que je vous aurai eue sans vous
connoître. Julie Candeille, femme de R. » JdP 11. Pluvoise, An III (30. 1. 1795), S. 530.
Ehe stand unter keinem guten Stern, und die Eheleute trennten sich nach einigen
Jahren. Ohne ihren Mann und nur mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattet
kehrte Julie Candeille 1802 nach Paris zurück. Zu diesem Zeitpunkt begann sie, ihr
künstlerisches Talent nicht nur als selbst Ausübende, sondern auch als Lehrende zu
nutzen. Die nächsten Jahre verbrachte sie mit Clavierunterricht, Gesangs- und Vortragsstunden,652 um für sich und ihren Vater zu sorgen.653 Sie publizierte außerdem
Musikalien, Essays und Novellen. Während der Hundert Tage (1. 3.–18. 6. 1815)
musste sie wegen einer bourbonenfreundlichen Schrift nach England flüchten. Auch
hier unterrichtete sie und veranstaltete literarische wie musikalische Soireen, an denen u. a. auch Giovanni Battista Viotti, Charles–Philippe Lafont, Johann Baptist
Cramer und Ferdinand Sor teilnahmen.
Zurückgekehrt nach Paris lebte sie von einer ihr von Louis XVIII. bewilligten
Pension und weiterhin vom Unterrichten. Im Jahr 1819 annoncierte Julie Candeille
in den Annales de la musique folgendermaßen: „Mme Simons-Candeille, Lehrerin
für das Piano, Rue Caumartin Nr. 30, benachrichtigt alle, welche ihr [bereits] Vertrauen geschenkt haben, dass sie ihren Kurs mit Clavierstunden wieder aufgenommen hat. Zwei Mal in der Woche erteilt Mme Simons Unterricht in ihrem Haus an
junge Personen. Nach Übereinkunft mit den Eltern und gemäß den mit Mme Simons
getroffenen Vereinbarungen ergänzt sie ihre Clavierstunden durch die Grundzüge
der Vortragskunst und einige Elemente aus Geschichte und Literatur.“654 Mehrere
Dinge sind an dieser Anzeige auffällig: Mme Simons-Candeille, wie sie sich hier
nennt, unterrichtet ausschließlich das Pianoforte – von einer Vielzahl an Tasteninstrumenten ist ein einziges übrig geblieben. Der Unterricht findet, wie bei den Pensionsinhaberinnen einige Jahrzehnte früher, in ihrem Hause statt, die Schülerinnen
und Schüler – mit dem Neutrum „Personen“ sind sicherlich beide Geschlechter gemeint – wohnen allerdings nicht bei ihrer Lehrerin. Wie zuvor kann das Unterrichtsangebot durch weitere Fächer ergänzt werden, doch wird auf eine genaue Absprache mit den Eltern hingewiesen. Dies weist auf eine Art Unterrichtskontrakt hin,
652
653
654
Bekannt ist von ihren Schülerinnen einzig Delphine Gay, die spätere Mme de Girardin,
siehe Terrin, S. 416.
« Pendant dix ans, elle donna assis des leçons de musique et de littérature pour soutenir
elle et son père. » Trémont Can S. 10. Ihr Vater, mittlerweile Witwer, hatte seit 1805
keine Arbeit, bis ihm in der Restauration eine Pension bewilligt wurde. Julie Candeille
unternahm jede Art von Anstrengung, seine Versorgung zu sichern und schrieb in diesem Zusammenhang zahlreiche erhaltene Briefe, heute BNF, Section de Musique, manuscrits autographes #1, #9, #11, #12, #13, #14, #18, #19 und Bibliothèque de l’Opéra;
weitere Bittbriefe befinden sich in AN unter den Signaturen AJ13 80 und AJ13 54.
« Mme Simons-Candeille, professeur de piano, rue Caumartin, n° 39, prévient les personnes qui lui ont accordé leur confiance, qu’elle a repris son cours d’enseignement du
piano. Deux fois la semaine Mme Simons donne leçon, chez elle, aux jeunes personnes.
Selon la convenance des parens et les arrangemens avec Mme Simons, elle joint à ses leçons de piano des principes de déclamation et quelques élémens d’histoire et de littérature. » Annales de la musique 1819, zitiert nach Pougin, S. 403. Übers.: C. S. & Ch. S.
185
auch wenn er vielleicht nur mündlich geschlossen wurde. Der Hinweis auf die Entscheidungen der Eltern bekräftigt die Aussage Mme Simons-Candeilles, nach welcher sich das Unterrichtsangebot an „junge Personen“, an Kinder und Jugendliche,
richtet.
Im Jahre 1822 heiratete Julie Candeille, deren zweiter Mann 1821 verstorben
war, den Maler Hilaire-Henri Périe de Senovert. Im Jahr 1827 zogen die beiden
nach Nîmes. Hier fühlte die Künstlerin sich nicht wohl. Ihr fehlte das anregende
Umfeld der französischen Hauptstadt. Julie Candeille widmete sich in diesen Jahren
hauptsächlich schriftstellerischen Tätigkeiten. Wie Stéphanie-Félicité du Crest de
Genlis hinterließ sie Memoiren, die sie hier verfasste und die sich heute in der Bibliothèque municipal de Nîmes befinden sollen. Sie sind auf dem Titelblatt mit
„15. November 1829“ datiert.655 Außerdem erschienen seit 1809 bis zu ihrem Lebensende mehrere Romane. In dieser Zeit der durch ihren Mann gewährleisteten finanziellen Sicherheit unterrichtete sie nicht mehr.
Julie Candeille diente der Unterricht als eine Geldquelle in Zeiten der Not, um
sich selbst und Angehörige zu versorgen, nicht jedoch in ihren Ehezeiten, in denen
sie sich ihren anderen künstlerischen Interessen widmete. Unterrichten war nicht
mehr Selbstverständlichkeit, sondern ein Notanker.
Beispiel 2: Sophie Gail – Tochter einer in der Revolution verarmten Adelsfamilie
Sophie Gail wurde unter dem Familiennamen ihres Mannes bekannt. Sie war die
Tochter Claude-François Garres, eines angesehenen Arztes und Leibchirurgen des
Königs, der 1785 geadelt wurde, und seiner Frau Marie-Louise-Adélaïde Calloz, die
aus einer alten Adelsfamilie stammte. In ihrem Elternhaus verkehrten regelmäßig
Künstler und Literaten wie etwa Luigi Boccherini. Das junge Mädchen nahm an deren Zusammenkünften teil, hörte intensiv zu und galt bereits mit zwölf Jahren als
eine bemerkenswerte Clavierspielerin und Sängerin. Mit 14 Jahren veröffentlichte
sie in den Gesangs-Journalen von Chevardière und Bailleux ihre ersten Romances.
Im Jahr 1794 wurde Sophie Garre mit dem um 20 Jahre älteren Hellenisten
Jean-Baptist Gail verheiratet, trennte sich aber bald von ihrem Mann. Laut Fétis war
daran eine „Unvereinbarkeit der Gemüter und Geschmäcker“656 schuld. Sophie Gail
behielt den Namen ihres ehemaligen Mannes. Sie wurde als Schülerin am Pariser
Conservatoire aufgenommen und studierte Gesang bei Bernardo Mengozzi. In den
nächsten Jahren unternahm sie eine erfolgreiche Tournee durch den Süden Frankreichs und durch Spanien. Während der Revolutionszeit hatten die Eltern Garre ihr
Vermögen verloren, doch die Arbeit als Sängerin und die Publikation von Romances verschafften Sophie Gail das nötige Auskommen. Außerdem erteilte sie Musikunterricht – Fétis spricht von ihren „sehr guten Schülern“657.
655
656
657
186
Terrin, S. 422. Nachfragen in Nîmes blieben leider ergebnislos.
« Une incompatibilité d’humeur et de goûts amena, au bout de quelques années, une séparation devenue nécessaire. » Fétis.
Fétis.
Zwischen etwa 1808 und 1810 unterhielt Sophie Gail einen Salon, in dem man
Auszüge aus aktuellen Opern und geistliche Musik aufführte: „Madame Gail war in
dieser Pléiade wie ein großer Stern, um den glänzende Satelliten wirbelten; trotz
mangelnder Anmut hatte sie einen so lebhaften Gesichtsausdruck, eine so leidenschaftliche Seele, entwickelte sie eine so perfekte Fähigkeit, aus jedem Menschen
das Beste hervorzuholen, ihr Geist hatte eine solche Flexibilität, unnachsichtig zu
verspotten oder gewandt und liebenswürdig zu parlieren, sie sprudelte in jedem Augenblick von so feinsinnigen Antworten und klugen Bemerkungen, die ihre Konversation in ein fortwährendes Feuerwerk verwandelten, dass überaus distinguierte
Männer sich häufig gerne von ihr leiten ließen.“658
Sophie Gail selbst studierte weiter: diesmal Komposition bei François-Joseph
Fétis, später bei François Louis Perne und Sigismund Neukomm. Außerdem komponierte sie Bühnenwerke. Auf den ersten riesigen Erfolg 1813 mit der komischen
Oper Les Deux Jaloux folgten allerdings mehrere Misserfolge und Sophie Gail
wandte sich wieder verstärkt ihrem ursprünglichen Genre, dem Gesang zu.659 In Paris erschienen zahlreiche Romances im Druck, mit welchen sie den Geschmack des
Publikums traf.660 Noch einmal, 1818, gelang ihr mit La Sérenade ein großer Erfolg
als Opernkomponistin. Ein Jahr später starb sie in Paris an den Folgen einer Lungenerkrankung.
Sophie Gail war als Tochter einer Adelsfamilie in künstlerisch anregenden
Verhältnissen aufgewachsen und erzogen worden; sie faszinierte durch ihre Intelligenz und ihr Talent. Zu einer kurzen unglücklichen Ehe gedrängt und von der Revolution und den damit verbundenen Schwierigkeiten zu ernsthaftem musikalischem Studium und Beruf geführt, begann sie erst spät ihre professionelle Laufbahn.
Beispiel 3: Pauline Duchambge – eine Scheidung mit großen Problemen
Pauline du Montet stammte aus Martinique. Hier wurde sie im Jahr 1778 als Tochter einer wohlhabenden adeligen Familie geboren. Das Mädchen wurde in einem
658
659
660
« Madame Gail était, dans cette pléiade, comme l’étoile principale autour de laquelle
tourbillonnaient de brillants satellites; malgré les disgrâces de son extérieur, elle avait
une physionomie si animée, une âme si ardente, elle saisissait avec tant d’art le secret
de mettre chacun en relief, son esprit avait tant de souplesse pour railler avec la
raillerie, deviser avec les causeurs à la mode, faisant jaillir à chaque instant de ces reparties fines, de ces mots ingénieux qui rendaient sa conversation un feu d’artifice continuel, que des hommes fort distingués ont été bien des fois soumis à son empire. » Michaud, Übers. nach Launay, S. 3–4.
1816 trat sie z. B. in London, Deutschland und Wien mit der Sängerin Angelica Catalani auf.
Auch in Deutschland war eine ihr zugeschriebene Barcarole (die lt. Huys, S. 13 von
François-Joseph Fétis stammt und Sophie Gail gewidmet ist) äußerst beliebt und wurde
mehrfach in der AMZ (1820, Sp. 201 und 1821, Sp. 402 und 720) erwähnt.
187
Pariser Kloster erzogen, wo sie auch Clavierstunden erhielt. Im August 1792 kehrte
sie zu ihren Eltern nach Martinique zurück. Vier Jahre später verheiratete man sie
mit dem Baron Philibert-Auguste-Gustave-Maximilien-Désiré Duchambge, Baron
von Elbhecq, Schatzmeister von Martinique. In der Folge gebar Pauline zwei Kinder: den Sohn Edouard, der bereits im Kleinkindalter starb und die Tochter MarieClémentine.
Zwei Jahre nach der Hochzeit starben beide Elternteile Paulines und sie verlor
den gesamten Familienbesitz. Ihre Ehe war nicht glücklich und schon bald nach
dem Tod der Eltern begann der erbitterte Kampf um die Scheidung, der drei Jahre
dauern sollte. Ihr Mann hoffte, dass sich die Scheidungsgesetze vom September
1792 wieder ändern würden, die bestimmten, dass Scheidung „für den Fall der geistigen Umnachtung, der Verurteilung zu Strafen, die mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verbunden sind, für den Fall von Misshandlungen oder schweren
Beleidigungen, von sittenwidrigem Lebenswandel, der Aufgabe der gemeinsamen
Wohnung, des Ausbleibens jeglicher Nachricht über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg oder der Auswanderung“661 möglich sei. Im Falle der „Unvereinbarkeit
der Gemüter“ mussten beide Ehepartner in gegenseitigem Einverständnis die Scheidung beantragen. Philibert Duchambge spielte auf Zeit, tat alles, um den Ablauf des
Verfahrens zu verlangsamen. Als ein im Geist des Ancien Régime erzogener Mann
war er wohl mit einer Trennung, nicht aber mit dem Zivilakt Scheidung einverstanden. So „raubte“ er662 die Tochter Clementine, brachte sie zu seiner Mutter und von
dort in ein angesehenes Mädchenpensionat – weg von der Mutter Pauline. Als die
Scheidung am 25. März 1807 endlich rechtskräftig wurde, verlor Pauline damit
auch ihr Kind, das sie viele Jahre lang nicht sehen durfte, da die Familie des Mannes jeglichen Kontakt zwischen Mutter und Tochter unterband – ein Sieg mit bitterem Beigeschmack.663 Nach der Scheidung blieb Pauline Duchambge eine kleine
Pension, gerade ausreichend zu einem sparsamen Leben. Sie entschloss sich, ihre
musikalischen Talente weiter auszubilden, nahm Unterricht in Harmonielehre,
Komposition und Clavierspiel und machte rasch große Fortschritte. Sie trat sowohl
am Clavier als auch als Sängerin auf, wobei sie sich selbst begleitete. Fétis beschreibt ihre Erscheinung als „etwas melancholisch, voller Zartheit und Charme“664.
1814 verlor Pauline Duchambge infolge der politischen Ereignisse ihre Pension und war gezwungen, aus ihren Talenten Profession zu machen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie veröffentlichte einige Kompositionen, besonders Romances (von denen sie an die 400 schrieb). Außerdem widmete sie sich, soweit es
ihre körperliche Konstitution zuließ, vollständig dem Unterrichten. Mendel bezeich661
662
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664
188
Jean-Paul Bertaud, Alltagsleben während der Französischen Revolution, dt. von Christine Diefenbacher, Würzburg 1989, S. 146.
Ambrière, S. 298, ohne Quellenangabe.
Ambrière, S. 297–298.
« Son entretien, où régnait toujours une certaine mélancolie, étain plein de douceur et
de charme. » Fétis.
net sie als „vortreffliche und berühmte französische Musiklehrerin“, die „viele anerkannte Pianisten und Sängerinnen gebildet und mit Erfolg in die Oeffentlichkeit geführt“ habe.665 Leider sind keine Namen aus ihrem Schülerkreis bekannt. „Sie besaß
eine schöne Stimme“ und eine grand art de bien chanter, die sie an viele Schülerinnen vermittelte. Dabei ging es ihr nicht darum, Sängerinnen für die Bühne oder die
großen Salons auszubilden, sondern die Kunst zu vermitteln, à chanter simplement
pour le charme intime et pour le timide écho de la maison666. Dies formulierte Unterrichtsziel trifft genau den Kern des Ideals der Mädchenerziehung: Im kleinen
Kreise wird musiziert, der Gesang soll einfach und nicht künstlich sein, nicht
prunkvoll und beeindruckend, sondern eindrücklich mit intimem Charme, wobei
das Mädchen sich möglichst selbst am Clavier begleitet.
Zwar führte auch Pauline Duchambge einen Salon, in dem sich bekannte Persönlichkeiten trafen, an sich lebte sie jedoch eher zurückgezogen in ihrem engen
Freundeskreis und mied das große Leben. Ihre intimste Freundin war die Poetin
Marceline Desbordes-Valmore (1786–1859), ihre enge Vertraute, die sie 1815 kennen gelernt hatte und von der Duchambge einige Gedichte vertonte.667 Das Schicksal Marceline Desbordes-Valmores ähnelte dem Pauline Duchambges: Nach einer
unglücklichen Ehe lebte sie nun in einfachen Verhältnissen von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit. Die Freundschaft hielt bis zu Paulines Tod im Jahr 1858. Beide besuchten sich regelmäßig und schrieben sich.
Pauline Duchambge: eine Frau mit einem romantisch anmutenden Schicksal,
die nicht aus einem künstlerischen Umfeld stammte. In einem Kloster erzogen, hatte sie als Kind musikalischen Unterricht erhalten, war auf diesem Gebiet aber nicht
besonders aufgefallen. Eine schwere Scheidung bestimmte die Waise, sich ein neues Umfeld zu suchen. Dies fand sie in Künstlerkreisen. Sie war in der Lage, ihre als
Kind erworbenen musischen Fähigkeiten auszubauen, sodass das Unterrichten sie
vor existenzieller Not bewahrte.
Beispiel 4: Marie Bigot de Morogues – Begründerin einer eigenen ‚Schule’
Marie Kiéné war die Tochter des Musikerehepaares Joseph Kiéné, einem Cellisten,
und seiner Frau, der Pianistin Catherine Leyer. Beide Elternteile scheinen in Colmar
Instrumentalunterricht erteilt zu haben.668 Das junge Mädchen erhielt, wie Mendel
sich ausdrückt, „eine fein wissenschaftliche und musikalische Erziehung“669. Die
ersten Clavierstunden erteilte ihr die Mutter. Im Jahr 1791 zog die Familie nach
Neuenburg. Hier heiratete Marie Kiéné im Jahr 1804 den bretonischen weit gereis665
666
667
668
669
Mendel.
J. Janin, in: Le Ménestrel, 6. 6. 1858, S. 3, nach Herbert Schneider, Duchambge, in:
MGG 1999.
Auch andere berühmte Dichter der Zeit wie François Chateaubriand oder Victor Hugo
schrieben für sie.
Michaud.
Mendel.
189
ten Adeligen Paul Bigot de Morogues. Er besaß Begabung für moderne Sprachen
und hatte sich durch diese Voraussetzung einen Platz in den diplomatischen Kanzleien gesichert. Außerdem war er ein großer Musikliebhaber.670 Das junge Paar verließ Neuenburg am 21. Juli, nur wenige Wochen nach der Hochzeit, und zog nach
Wien, wo Paul Bigot de Morogues die Stelle eines Bibliothekars des Grafen Andrej
K. Rasumovskij erhielt. Rasumovskij, seit 1793 Botschafter in Wien, kannte zahlreiche Musiker, u. a. Beethoven. Marie Bigot de Morogues konnte durch ihn schnell
Kontakte zur Wiener Musikszene knüpfen.671
Im künstlerischen Umfeld Wiens blühte die junge Musikerin, die sich durch
ihr Clavierspiel rasch einen Namen machte, weiter auf. Sie kannte Antonio Salieri
und Joseph Haydn672 ebenso wie den achtjährigen Franz Schubert, dem sie, sehr
von dem Jungen angetan, Ratschläge erteilte.673 Am 1. Mai 1805 trat sie öffentlich
in einem der Augarten-Konzerte auf: „Ihr Klavierspiel hat wirklich entschiedene
Vorzüge: ihr Vortrag ist rein, angemessen, und am gehörigen Orte delikat und
fein“674, urteilte die AMZ. Laut Hanslick konzertierte Marie Bigot de Morogues
nicht häufig öffentlich, doch wenn, dann meist mit Werken Beethovens.675 Ihre enge Freundschaft mit dem Komponisten ist bekannt. Er schenkte ihr das Autograf
seiner Sonata Apassionata op. 57.676
Die politischen Ereignisse bestimmten das Ehepaar im Jahr 1809, nach Paris
zu ziehen. Schon bald ließ sich Marie Bigot de Morogues auch hier als Pianistin hö670
671
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673
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676
190
Michaud.
Perreau, S. 61.
Die Überlieferung sagt, dass Haydn sie, als sie ihm das 1. Mal eine seiner Kompositionen vorspielte, in seine Arme schloss und ausrief: „Mein liebes Kind, das ist nicht meine Komposition, das haben Sie komponiert, nicht bloß gespielt!“; und auf den Umschlag des Stückes schrieb er: „Am 20. Februar 1805 ist Joseph Haydn glücklich gewesen.“ Nohl-H, Bd. 3, S. 239 und Nohl-B, S. 216–217.
« Un soir, après une brillante exécution d’œuvres de Mozart et de Salieri, l’un des assistants lui présenta son fils, âgé de 8 ans, qui, affirmait-il, donnait déjà les plus belles
espérances en matière de musique. Enthousiaste, généreuse et prime-sautière, Marie seprit aussitôt d’affection pour le bambin, l’attira chez elle et lui prodigua ses conseils.
L’enfant, qui devait plus tard magnifiquement réaliser les espoirs placés en lui, s’appelait Franz Schubert. » Krumpholtz, S. 130.
AMZ 1805, Sp. 536.
Hanslick, S. 213.
Das Manuskript befindet sich heute in der Bibliothèque du Conservatoire/BNF. Die
Geschichte dazu ist folgendermaßen überliefert: Mit der fertigen Abschrift der Sonate
in Händen und unterwegs zur Wohnung der Bigot de Morogues’ wurde Beethoven vom
Regen überrascht, der das Manuskript beinahe unleserlich machte. Marie Bigot de Morogues jedoch nahm die Noten, stellte sie auf ihr Clavier und spielte die neue Komposition trotz aller Regenwasserflecke so gut vom Blatt, dass Beethoven völlig überrascht
war. Nach erneuter Abschrift schenkte er ihr das Manuskript. Perreau, S. 62–63 und
Nohl-B, S. 245–246.
ren, vorwiegend mit Kompositionen Mozarts und Beethovens. Marmontel bezeichnet sie als die einzige Clavierspielerin, die Hélène de Montgeroult das Wasser reichen konnte. Zum Freundeskreis Marie Bigot de Morogues’ zählten u. a. Luigi Cherubini, Johann Ladislav Dussek und Johann Baptist Cramer. Außerdem gehörte sie
wie Hélène de Montgeroult zum Kreis um Pierre Marie François de Sales Baillot.
Bei Cherubini und Auber nahm sie Unterricht in Harmonielehre und Komposition.
Im Hause der Morogues’ trafen sich bald die berühmtesten Künstler ihrer Zeit. Die
Musik, die anregenden Gespräche und nicht zuletzt das Clavierspiel der Gastgeberin waren unweigerlich ein Anziehungspunkt.
1812 geriet Paul Bigot de Morogues, der an Napoleons Russlandfeldzug teilnahm, in Wilno in Gefangenschaft. Erst 1817 kehrte er nach Paris zurück. In der
Zwischenzeit verdiente seine Frau den Lebensunterhalt für sich selbst und ihre beiden Kinder mit Clavierstunden. Ihr Unterricht war so erfolgreich, dass die Tage
bald mit zahlreichen Verpflichtungen wie Lektionen, Konzerten, Repetitionen und
der Erziehung ihrer eigenen Kinder ausgefüllt waren. „Bei der Ausbildung von Pianisten kam es Mme Bigot immer darauf an, sie zu Musikern zu erziehen. Zu diesem
Ziel führte eine strenge Auswahl der zu studierenden Werke. Sie setzte ihren Schülern nie etwas anderes vor als Stücke, die sich durch einhellige Zustimmung als
würdig erwiesen hatten; und obgleich sie selbst komponierte, zeigte sie niemals die
Schwäche (wie es gewöhnlich die Lehrer tun), nur ihre eigenen Kompositionen studieren zu lassen. Diesen, wenn auch klein an der Zahl, wurde die Ehre zu Teil, nach
ihrem Tod zum klassischen Repertoire des Instrumentes gezählt zu sein. Wenn es
ihr Wunsch war, unabhängig zu sein und für sich und ihre Kinder selbstständig zu
sorgen, so wurde sie in ihrem Entschluss noch bestätigt durch das Wissen, in ihrer
Kunst nützlich zu sein. Leider entsprachen ihre körperlichen Kräfte nicht ihrer moralischen Energie. Die Erschöpfung zehrte sichtlich an ihrer Gesundheit, sie rief
ihre Mutter und Schwester zu sich, um ihr – Schülerin der einen und Lehrerin der
anderen – beizustehen. In diesen beiden fand sie Kolleginnen, die fähig waren, sie
zu ersetzen. Ihre Schule zeichnete sich durch eine außerordentliche Reinheit der
Prinzipien und eine vollkommene Einigkeit in der Tradition aus: Selbst ihre Tochter, die ihre Anlagen geerbt hatte, konnte sie weitergeben. Damit wurde eine völlig
neue Idee realisiert: die Familie Mme Bigot de Morogues’, Vater, Mutter und
Schwester, die mittlerweile seit dreißig Jahren in der Schweiz lebten, verließen
Neuenburg und kamen voller Hoffnungen nach Paris; trafen Mme Bigot de Morogues allerdings bereits bettlägerig an.“677 Mutter und Tochter stürzten sich dennoch
677
« En formant des pianistes, Mme Bigot se proposait surtout de faire des musiciennes.
Un choix sévère des morceaux d’étude devait la conduire à ce but. Jamais elle ne mit
sous les yeux de ses écolières que des productions consacrées par une longue unanimité
de suffrages; et quoique elle ait elle-même composé, elle n’eut jamais la faiblesse, si ordinaire aux professeurs, de faire étudier sa musique; mais ses ouvrages, trop peu nombreux, obtiendront l’honneur posthume de devenir classiques pour l’instrument. Si le
désir d’arriver à l’indépendance et d’assurer le sort de ses enfans soutenait son courage,
elle se sentait aussi affermie dans sa résolution par la certitude d’être utile à l’art qui
191
in die Arbeit, „ihr teuerster Wunsch war damit realisiert: Ihre Schule überlebte sie,
ihre Mutter und Tochter führten ihre Arbeit fort und zahlreiche Talente zeugten lange Zeit davon.“678
Diese Beschreibungen sind recht aufschlussreich. Mme Bigot de Morogues soll
darin nicht nur in einem äußerst positiven Licht erscheinen, ihr Wesen soll auch einerseits dem idealen Frauenbild entsprechen, andererseits eine ernst zu nehmende
Künstler- und Pädagoginnenpersönlichkeit darstellen: Marie Bigot de Morogues besitzt Überblick über ihr Tun. Ihre Planung ist gut organisiert und durchdacht. Sie
sorgt in bewundernswerter Weise für ihre Kinder, ist aber gleichzeitig von schwacher Konstitution, kränklich und ermüdet von der Arbeit. Sie selbst ist die Schülerin
ihrer Mutter und die Lehrerin ihrer Schwester und Tochter: Eine Frau gibt ihr Wissen innerhalb ihrer Familie weiter. Die Frauen der Familie sind es auch, welche die
Kranke tatkräftig unterstützen. Marie Bigot de Morogues begründet – laut der Überlieferung mit Bedacht und Vorsatz – eine eigene Schule, in der ihre Lehre rein und
unverfälscht weitergegeben wird. Als bescheidene Frau lehrt sie allerdings nicht
mithilfe ihrer eigenen Kompositionen oder gar einem eigenen Schulwerk, sondern
sie bedient sich der großen, sicheren Erfolg versprechenden Meisterwerke. Ihre eigenen Kompositionen werden vorwiegend nach ihrem Tode – posthum – gewürdigt.
Sie wie auch die von ihr begründete Tradition des Clavierspiels sollen dafür sorgen,
dass die Künstlerin nicht in Vergessenheit gerät.
Die berühmtesten Schüler und Schülerinnen Marie Bigot de Morogues’ waren
zweifellos die damals elfjährige Fanny und ihr Bruder, der achtjährige Felix Mendelssohn-Bartholdy, die 1816 in Paris weilten. Zweimal erwähnt Felix Mendelssohn-Bartholdy die Familie Bigot de Morogues in einem (späteren) Brief. 679 Eine
678
679
192
était l’objet de son culte; malheureusement, les forces du corps ne répondaient pas chez
elle à l’énergie morale, la fatigue altérait visiblement sa santé; elle venait d’appeler auprès d’elle sa mère et sa sœur pour la seconder; disciple de l’une, maîtresse de l’autre,
elle trouvait dans toutes deux des collaboratrices capables de la suppléer. Son école, remarquable par la pureté des principes, l’eût encore été par la parfaite unité des traditions: sa fille même, héritière de ses dispositions, pourrait propager sa doctrine. Cette
idée vraiment neuve allait se réaliser: la famille de Mme Bigot, établie en Suisse depuis
trente ans, avait quitté Neuchâtel; un père, une mère, une sœur arrivent à Paris, pleins
d’espérances; mais déjà Mme Bigot était alitée. » Miel, S. 317. Übers.: C. S. & Ch. S.
« Son vœu le plus cher s’est réalisé, son école lui a survécu; sa mère et sa fille la continuent, et les nombreux talents qui en sont sortis lui assurent une longue durée. »
Michaud, Übers.: C. S.
Zunächst heißt es: „Ich lebe übrigens wie ein Heide; Abends und Mittags aus; heute bei
Baillot, morgen bei einer mit Bigots befreundeten Familie, übermorgen Valentin, Montag Fould, Dienstag Hiller, Mittwoch Gérard, und so schon die ganze vorige Woche“,
dann, etwas später: „Den Anfang machte ein Quintett von Bocherini, eine Perrücke,
aber mit einem ganz liebenswürdigen, alten Herrn darunter; dann forderten die Leute
eine Sonate von Bach. Wir nahmen die aus A dur. Mir dämmerten sehr alte Töne dabei
auf, wie sie Baillot mit Mde Bigot spielte; wir trieben einer den andern vorwärts; das
Ding wurde lebendig, und machte uns beiden und den Leuten so viel Spaß, daß wir
weitere Schülerin war die Tochter eines ihrer Freunde: Auguste Baillot, geboren am
9. Mai 1810. Ihr Vater hielt Erinnerungen an diese Zeit in seinem Journal fest: „Juni 1816. Am zehnten dieses Monats gab Mme Bigot Dir Deine erste Clavierstunde.“
„24. Januar 1820. Wir haben Dir einen neuen Clavierlehrer – Mr Boëly, einen der
besten in Paris, verschafft. Die Gesundheit Mme Bigots erlaubt es ihr nicht, Dir so
viel Zeit zu widmen, wie es Ihrem Interesse an Deinen Fortschritten entspräche.“680
Mit nur 34 Jahren starb Marie Bigot de Morogues an einer Lungenerkrankung.
„Allein der zarte Körper der B. war den ungewohnten Anstrengungen einer anhaltenden Lehrthätigkeit nicht gewachsen. Ein Brustleiden kam bald bei ihr zum Ausbruch und sie erlag bereits am 16. Septbr. 1820 dieser Krankheit“, heißt es bei Mendel.681
Marie Bigot de Morogues, eine großartige Musikdilettantin, wurde durch
Kriegsereignisse bestimmt, ihre bisherige Liebhaberei zur Profession zu machen.
Dabei ging sie so systematisch und wohl überlegt vor, dass man von ihrer ‚Schule’
sprach. In den Gedankengängen ihrer Zeitgenossen war damit aber auch die ‚Überforderung’ ihres weiblichen Körpers vorprogrammiert. Sie hatte sich über die Grenzen, die ihr ihre Geschlechterrolle zuwies, in männliches Terrain vorgewagt und
zahlte dafür mit ihrem frühen Tode den Tribut. Entkräftung und Tod aufgrund von
Überforderung durch das Unterrichten, dies ist eine Argumentationskette, die in
Deutschland nach 1800 ebenfalls auftritt.
680
681
gleich die aus E dur darauf setzten, und nächstens die vier andern vornehmen wollen.“
Brief Felix Mendelssohn-Bartholdys vom 20. 12. 1831, in: Mendelssohn, S. 302–307,
hier S. 303 u. 305. Zu Marie Bigot de Morogues’ Aufführungen Bach’scher Werke siehe Palm.
« Juin 1816. C’est le 10 de ce mois que Mme Bigot t’a donné ta première leçon de
piano. » „24 janvier 1820. Nous t’avons donné pour maître de piano M. Boëly, un des
meilleurs de Paris, la santé de Mme Bigot ne lui permettrant pas de donner le temps nécessaire à tes progrès et ses forces ne répondant malheureusement plus à l’intérêt
qu’elle te porte. » Aus den Souvenirs de Baillot, nach François-Sappey, S. 172. Übers.:
C. S.
Mendel.
193
Teil II
Schweiz und Niederlande
In diesem Abschnitt werden die Schweiz und die Niederlande, jeweils in den heutigen Landesgrenzen, betrachtet. Diese Länder besitzen auf den ersten Blick deutliche Gemeinsamkeiten, stehen sie doch in stark reformierter Tradition. Außerdem
suchten beide mangels ausreichender Anzahl eigener professioneller Musizierender
(was in den Niederlanden sicherlich auch auf die Landesgröße zurückzuführen ist)
Kontakte zum Ausland. Dies bedeutete für die Schweiz, dass man bemüht war,
möglichst viele ausländische Musiker und Musikerinnen im Land zu halten. Allerdings mussten diese wiederum strenge Auflagen erfüllen, um die Schweizer Musiker selbst nicht zu übervorteilen. In den Niederlanden wünschte man am reichen
kulturellen Leben Frankreichs zu partizipieren und von dort zu lernen. Das deutsche
Ideal der Frau als Hausfrau, Gattin und Mutter war aber so stark im Wertekanon
verhaftet, dass es auf den späteren Lebensweg der niederländischen Mädchen entscheidenden Einfluss nahm. So gestaltete sich, wie sich zeigen wird, die Situation
für die Musiklehrenden beider Länder deutlich unterschiedlich.
1
Die Schweiz
1.1
Das Musikleben in der Schweiz
Bietet das französische Musikleben, bedingt vor allem durch die starke Zentralisierung auf die Hauptstadt Paris, das recht einheitliche Bild eines hoch entwickelten
kulturellen Lebens, so sah dies in der heutigen Schweiz völlig anders aus. Da über
das Musikleben dieses Landes wenig bekannt ist und geforscht wurde, soll eine
kleine Einführung in das kulturelle Leben der Städte gegeben werden, aus denen
Clavierlehrerinnen bekannt sind.
Die Schweiz – das war im 17. und 18. Jahrhundert ein armes Land, angewiesen auf Getreide- und Salzeinfuhr. Man exportierte Vieh und Käse, außerdem gab
es kleinere Textilunternehmen. Daneben besaßen die Schweizer aber einen guten
Ruf als Hauslehrer und waren während des 18. Jahrhunderts in allen europäischen
Ländern als Privatlehrer zu finden. Die Aufklärung ging von Genf aus und sprang
von dort in die reformierten Städte über. Zuletzt setzten sich die neuen Ideen in
Bern und den Bergkantonen durch, die sich eher zurückhaltend verhielten. Im Jahr
1761 wurde die Helvetische Gesellschaft gegründet, eine freundschaftliche Vereinigung, deren Mitglieder aus allen Kantonen kamen. Sie bildete ein Diskussionsforum für die Fragen der Zeit; hier entwickelte man auf ethischer Grundlage die Haltung des Helvetismus. Daraus ergab sich u. a. die (praktizierte) Forderung nach Toleranz zwischen den Konfessionen und Religionen.
Die Schweiz – das war aus musikalischer Sicht ein bis zum 18. Jahrhundert
ziemlich unbeschriebenes Blatt. Hatte sich in den katholischen Gebieten zumindest
die Tradition der Kirchenmusik weiterentwickelt, so war in den übrigen Landesteilen von der Reformation an bis etwa 1800 fast ausschließlich das Singen von Psalmen erlaubt und üblich. Noch bis 1860 galt Psalmengesang offiziell als geeignetes
Erziehungsmittel für die Jugend. Tanzen war strikt verboten, weltliche Musik spiel-
197
te eine untergeordnete Rolle. Die Entwicklung hierzu wurde von außen, besonders
von Deutschland, angestoßen. Nicht ohne Grund nahm dabei die Stadt Neuenburg
(Neuchâtel) eine Vorreiterrolle ein.
Neuenburg
Neuenburg gehörte von 1707 bis 1848 zum preußischen Herrschaftsgebiet, konnte
sich aber eine weitgehende Selbstverwaltung bewahren. Diese Autonomie verschaffte dem kleinen Kanton eine Sonderstellung. Politisch gesehen bildete Neuenburg für das Preußische Reich zwar eine Pufferzone, war aber gleichzeitig durch ein
Bündnis mit der Eidgenossenschaft in der Lage, sich in Krisensituationen abwechselnd auf seine Zugehörigkeit zu Preußen oder Bern zu berufen. Dies führte dazu,
dass die Stadt einerseits von Kriegen größtenteils verschont blieb, hier aber andererseits eine besonders große Toleranz und Offenheit herrschen konnte. Es ist der Ort,
an den Jean-Jacques Rousseau 1762 unter dem Schutz Friedrichs II. von Preußen
floh, nachdem in Paris Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Er lebte bis 1766
in dieser Gegend. Nicht zuletzt wurde in Neuenburg, Sitz der Société typographique
de Neuchâtel, einem der bedeutenden Verlage für französische Bücher der damaligen Zeit, 1777 bis 1779 die Quart-Ausgabe der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de Lettres gedruckt.
1754 entstand in Neuenburg die erste Schweizer Académie de Musique mit
etwa 20 Konzerten pro Saison, die anfänglich in den Adels- und hohen Bürgerhäusern stattfanden. Als Interpreten waren neben den Amateuren der Stadt durchreisende Virtuosen und Virtuosinnen zu hören. Die Société de la Salle de Musique der
Stadt Neuenburg, die für die Ausrichtung der Konzerte verantwortlich zeichnete,
unterhielt ein festes Orchester und errichtete im Jahre 1769 sogar eine eigene Maison du Concert.682 Das Neuenburger Orchester, das während der vier Monate dauernden Wintersaison einmal wöchentlich probte, bestand aus den Liebhabern der
Stadt, vorwiegend Streichern, und den für diese Personen tätigen Lehrkräften (überwiegend Italiener und Deutsche). Die fehlenden Positionen wurden durch professionelle Musiker ergänzt. Der Leiter des Orchesters hatte immer in der jeweils benötigten Stimme auszuhelfen. Außerdem war er neben seiner Orchesterarbeit verpflichtet, Gesangsstunden zu erteilen und mit seiner Klasse in jedem Konzert wenigstens
ein Vokalwerk aufzuführen. Im Jahr 1760 hatte die Société de la Salle de Musique
ein großes zweimanualiges Cembalo des ortsansässigen Instrumentenbauers
Speissegger (1727–1782) angeschafft, das 1785 wieder verkauft wurde. Im Jahr
1779 erwarb man ein Hammerclavier.683 Eines dieser Instrumente spielte Genovieffa Ravissa während ihrer Arbeit als Cembalistin dieses Orchesters.
682
683
198
Zum Musikleben Neuchâtels s. a. Fallet.
Frdl. Hinweis von Pierre-Laurent Haesler. Lt. Inventarverzeichnis vom 1. 5. 1823 besaß die Société de la Salle de Musique zu diesem Zeitpunkt ein „altes Cembalo“ und
ein „Pianoforte in schlechtem Zustand“. Instruments à Cordes et a Vent appartenant a
In der Schweiz gab es im Gegensatz zu Deutschland keine Höfe. Dies schränkte die Berufsmöglichkeiten für die Schweizer Musiker stark ein. Allgemein war ihr
Sozialstatus denkbar schlecht. Oft war die Unterrichtstätigkeit Bestandteil des musikalischen Engagements. Der Organist Alexandre Speissegger etwa hatte laut Anstellungsvertrag Schüler auf verschiedenen Instrumenten zu unterrichten und erhielt
dafür im Jahre 1751 insgesamt 100 Francs, teils von den Schülern, teils von seinem
Dienstherrn.684 Sein Nachfolger Simon Pfannenschmidt aus Basel war als Maître de
Clavessin nach Neuenburg gekommen. Er begann seine musikalische Laufbahn hier
als Cembalist des Orchesters. Ein weiterer Cembalolehrer, Joseph Seytz de Burnany, kam 1766 nach Neuenburg: Die Stadt war durch ihr reiches Musikleben zu einem Anziehungspunkt geworden. Auch Gouvernanten und Hauslehrer priesen ihre
musikalischen Kenntnisse an, wie eine Anzeige aus der Feuille d’avis de Neuchâtel
en Suisse vom 4. August 1785 zeigt: „Eine Person in reifem Alter und von sehr solidem Charakter, viel gereist und mit Kenntnissen in Geschichte, Geografie, Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie, Vermessung und Nivellierung685 wie in der Vokalund Instrumentalmusik und mit guten Zeugnissen, sucht einen Platz als Gouverneur
oder einem ähnlichen, seinen Fähigkeiten entsprechenden Beruf in einem guten
Haus in der Stadt oder auf dem Land. Man wende sich an den Maître de Musique
Sieur Gaillard686 in Neuenburg.“687 Leider war den reinen Gesangs- und Instrumentallehrkräften in den Einwohnerverzeichnissen 688 keine eigene Sparte gewidmet.
Somit ist es nicht möglich, die tatsächliche Anzahl der Lehrenden festzustellen.
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688
la Direction du Concert au 1er Mai 1823, Registre de la Direction de la Sale de
Musique 1776, BPU Neuchâtel, Ms A 703.
Zu Alexandre Speissegger siehe Fallet, S. 196–206.
Gemeint ist Feld- und Höhenvermessung.
Monsieur Gaillard (Vorname unbekannt), frz. Herkunft, war seit 1782 in Neuenburg als
„Primgeiger der dortigen Académie de musique“ engagiert und wird noch 1820 in der
Stadt als Orchesterdirigent erwähnt. Siehe Refardt.
« Une personne d’un âge mûr & d’un caractere fort solide, ayant beaucoup voyagé à
joignant aux connoissances de l’histoire, de la géographie, de l’arithmétique, de la
géometrie, de la trigonométrie, de l’arpentage & du nivellement celle de la musique
vocale & instrumentale, & étant munie de bons certificats, desiroit être placée dans
quelque ville ou à la campagne, dans une bonne maison, soit en qualité de gouverneur,
ou d’une autre manière convenable & analogue à ses talens. On s’adressera au Sieur
Gaillard, maître de musique, à Neuchâtel. » Feuille d’avis de Neuchâtel en Suisse,
4. 8. 1785, Übers.: C. S.
Über die Zahl der in Neuenburg ansässigen Musikerinnen und Musiker geben die
Einwohnerverzeichnisse Auskunft. Sie stieg von zwei (1779 und 1780), 3 (1781) und
vier (1782 und 1783) auf fünf im Jahre 1784 und fiel dann in den nächsten beiden
Jahren wieder auf drei bzw. zwei Musiker. Im Jahr 1787 wurden fünf Musiker
verzeichnet, in den Jahren 1788 bis 1792 schließlich sechs. Diese Auflistung wurde
freundlicherweise von Olivier Giradbille, AVN, zusammengestellt.
199
Lausanne
Ganz ähnlich sah es in Lausanne aus. Seit 1536 bestand die Berner Hoheit, unter
der die Reformation eingeführt wurde und die bis 1798 bestehen blieb, als mit Hilfe
der Franzosen die unabhängige République Lémanique ausgerufen wurde. Im Jahr
1803 wurde Lausanne zur Hauptstadt des neuen 19. Schweizer Kantons: der Waadt.
In Lausanne689 gab es wie in vielen anderen Orten der Umgebung eine École
de Chant, die für alle Kinder zur Gesangserziehung, dem Singen von Psalmen, offen war, egal, aus welcher Bevölkerungsschicht sie stammten. Der Unterricht, in
dem auch Grundlagen der Musiktheorie wie Tonleitern, Intervalle und Tonschritte
gelehrt wurden, wurde nach Geschlechtern getrennt erteilt. Orgeln wurden gebaut
und Musiker eingestellt. Von diesen kamen viele, besonders Organisten, aus
Deutschland.
Das weltliche Musikleben spielte sich während des 18. Jahrhunderts in den privaten Salons ab, geschlossenen Gesellschaften, in denen sich Aristokraten, Intellektuelle und Künstler beiderlei Geschlechts trafen. Es gab einen Salon in der Rue de
Bourg, einen zweiten in der Rue de la Cité und einen weiteren in der Rue de la Palud, in denen man sich mit Künsten und Wissenschaften beschäftigte. Jeder Salon
bildete einen in sich geschlossenen Kreis, an dem etwa 20 Häuser teilnahmen, was
30 bis 40 Personen bedeutete. Man aß gemeinsam, die Frauen spielten, man musizierte oder amüsierte sich bei szenischen Spielen. Den professionell Musizierenden
boten diese Zusammenkünfte ein ideales Terrain, sich zu präsentieren, Kontakte zu
knüpfen sowie für ihre Lehrtätigkeit zu werben. Wie langsam und vorsichtig sich
derartige Kontaktaufnahmen entwickelten, wird das Beispiel von Angletine de
Charrière de Sévery und Genovieffa Ravissa zeigen. Von Zeit zu Zeit wurde außerdem eine Reihe von Subskriptionskonzerten angeboten. Mit Unterbrechungen existierten diese Concerts d’Abonnement in Lausanne bis 1867. Auch im Alltag spielte
das Musizieren eine Rolle. So beschrieb etwa Catherine de Chandieu, die Mutter
der eben erwähnten Angletine de Charrière de Sévery, in ihrem Tagebuch einen
Ausflug im Juni 1773 folgendermaßen: „Nach dem Mittagessen waren wir in Montricher. Hier trafen wir niemanden an. Wir sangen, spielten Cembalo, besuchten all
die letzten Winkel des alten Schlosses, tranken Tee und kehrten abends nach Sévery
zurück.“690
Was jedoch immer wieder zu fehlen schien, waren qualifizierte Lehrkräfte. So
schrieb z. B. Charlotte Thomasset des Granges am 21. Mai 1785 an ihre Freundin
Angletine de Charrière de Sévery: „Zur Zeit haben wir hier keinen Cembalolehrer.
689
690
200
Zum Musikleben Lausannes siehe Burdet.
« Nous avons, écrit-elle, été, après dîner, à Montricher. Il n’y a avait personne. Nous
avons chanté, joué du clavecin, visité tous les trous de ce vieux château, pris du thé, et
sommes revenus le soir à Sévery. » Journal de ce qui se passe à l’Isle, nach Sévery,
S. 183, Übers.: C. S.
Ich übe ganz für mich allein. Ich habe Konzerte von Giordani.“691 Drei Jahre später,
am 30. April 1788, schrieb sie dann: „Seit ungefähr sechs Monaten habe ich zu meiner Freude einen Cembalolehrer. Ich war aus Mangel an Stunden gezwungen, mit
dem Musizieren (fast) ganz aufzuhören, was mir große Pein bereitet hat. Jetzt entschädige ich mich dafür: Ich bin beinahe den halben Tag an meinem Instrument zu
finden!“692 Anfänglich waren es wie anderorts auch die Mitglieder der Aristokratie
und des reichen Bürgertums gewesen, die ihren Kindern Musikunterricht hatten erteilen lassen. Dabei kamen die Lehrkräfte für das Instrumentalspiel überwiegend
aus dem Ausland, den deutschsprachigen Ländern, Frankreich und Italien. Viele
blieben nur vorübergehend in der Lausanner Gegend, andere wiederum Jahrzehnte,
so Antoine Nicoli, der mit seiner Schwester Catherine und deren Ehemann Gaëtan
Bassi aus Neapel gekommen war. Überhaupt unterrichteten hier eine ganze Reihe
Frauen, in der Regel Clavierspiel oder Gesang. Einige von ihnen sollen später eingehender besprochen werden.
Im Jahr 1782 bestimmte der Conseil der Stadt Lausanne, dass es niemandem,
weder Einwohnern, tolerierten Personen noch Durchreisenden erlaubt sein solle, ohne Erlaubnis des Stadtrates Unterricht in Wissenschaften oder Künsten zu erteilen.
Die in der Stadt ansässigen Lehrkräfte, die nicht den Status von Einwohnern besaßen, konnten nur unter der Voraussetzung eine Aufenthaltsgenehmigung erlangen,
dass sie dieselben Steuern und Abgaben wie die Einwohner zahlten. Außerdem waren sie verpflichtet, in jedem Monat eine gewisse Anzahl an Unterrichtsstunden als
finanzielle Garantie zu erteilen. Auch der Preis für diese Stunden war in Lausanne
vom Stadtrat festgelegt: Er betrug für Unterricht im Zeichnen, in Sprachen, Vokalund Instrumentalmusik monatlich acht Livres für ein oder zwei Familienmitglieder,
zwölf Livres für drei oder vier Personen aus derselben Familie, zehn Livres für
zwei verschiedene Familien und vier Livres pro Kopf für drei oder vier Personen
aus verschiedenen Familien.693 Lehrerinnen und Lehrer verdienten somit genau dasselbe für eine Unterrichtsstunde.
Bern
In Bern, Hauptstadt des zweitgrößten Schweizer Kantons, zu dessen Hoheitsgebiet
Lausanne gehörte, fand das kulturelle Leben694 ebenfalls hauptsächlich in den Sa691
692
693
694
« Nous n’avons point de maître de clavecin à présent. Je m’exerce toute seule. J’ai des
concertos de Giordani. » Brief Charlotte Thomassets an Angletine de Charrière de Sévery vom 21. 5. 1785, nach Burdet, S. 446, Übers.: C. S.
« J’ai le plaisir d’avoir un maître de clavecin depuis six mois environ. J’allois être obligé de quitter entièrement la musique, manque de secours, ce qui me faisoit beaucoup de
peine. Je m’en dédommage à présent: je suis à peu près la moitié de la journée à mon
instrument. » Brief Charlotte Thomassets an Angletine de Charrière de Sévery vom
30. 4. 1788, nach Burdet, S. 446, Übers.: C. S.
ACL D 153, S. 193–195, 4. 7. 1782, in ACV, hier nach Burdet, S. 485–486.
Siehe dazu ausführlich Capitani, bes. S. 75–121 und Capitani/Oester, S. 1–38.
201
lons statt, in Lesegesellschaften, in Logen und den zahlreichen gelehrten und patriotischen Gesellschaften, die sich in der Stadt und auf dem umliegenden Land bildeten. Die alten Männergesellschaften, die in früheren Jahren für die Ausbildung des
musikalischen Nachwuchses gesorgt hatten, waren weitgehend vom Salon nach
französischem Vorbild abgelöst worden. Hier trafen sich Männer und Frauen, unterhielten sich, musizierten, lasen, diskutierten, spielten, tranken Kaffee, Tee und
Schokolade und tanzten. Die Musik gewann einen anderen Stellenwert und wurde
plötzlich durch ein neuartiges Publikum und veränderte Gegebenheiten geprägt.
Über den Schulunterricht wurde weiterhin der Psalmengesang verbreitet, aber
auch ein Repertoire an geistlichen moderneren Liedern. So heißt es in einer Vorschrift für die Berner Mädchenschulen im Jahr 1765: „Die Pflicht der Singmeisterin
besteht darin, daß sie den Töchtern die Anfänge der Singkunst mit Bekanntmachung der Schlüsseln, Noten und andern nöthigen Dingen beybringe, folgends zuerst mit ihnen die Psalmen, wie auch schöne geistliche Lieder in der Seelenmusik
oder in des Bakofens695 Halleluja und des Schmidlins696 Gesangbuch fleißig singe.
Wobey sie nach der Fähigkeit der Töchteren und nach dem herrschenden Geschmack der Musik richten mag.“697 Eigens eingestellte Singmeisterinnen gab es
erst seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an vier der Berner Lehranstalten.698
Genf
Bis zur Eröffnung des Genfer Conservatoire de musique im Jahr 1835 lag die musikalische Unterweisung hier in den Händen der Société de musique de Genève. Wenig ist über diese Zeit bekannt. Im Jahr 1738 ist ein Herr Beauregard als „Leiter einer Musikschule“ genannt, der sich anbot, mit seinen Schülern (und Schülerinnen?)
vierstimmige Psalmen an der Kathedrale St. Pierre zu singen.699 Des Weiteren wirkten hier als Lehrer Mitglieder einer aus Grenoble stammenden Familie Scherer. Sie
waren Organisten, Orgelbauer, Komponisten und eben auch Musiklehrer.700 Fried695
696
697
698
699
700
202
Gemeint ist der Kantor Johann Kaspar Bachofen (1695–1755). Sein „Musikalisches
Halleluja oder schöne und geistreiche Gesänge, mit neuen und anmutigen Meldeyen begleitet, Zürich 1728 besteht aus 115 dreistimmigen, 64 zweistimmigen und 27 einstimmigen Liedern, weitere erweiterte Auflagen erschienen 21733, 31735, 41743, 51750,
7
1759, 81767, 91776, 101786 und 1803. Siehe Refardt.
Der Pfarrer Johannes Schmidlin (1722–1772) veröffentlichte diverse Sammlungen
mehrstimmiger Choräle mit Bc, siehe Refardt.
Zitiert nach Capitani, S. 90. Dieser bezieht sich auf eine Stelle in Zulauf, S. 61.
Siehe Zulauf, S. 61.
Siehe Refardt. Dieser bezieht sich auf die „Kollektaneen (Registerauszüge usw.) des
Herrn R. Aloys Mooser in Genf“.
Während seines Genfer Aufenthalts in den Jahren 1767 und 1768 nahm ein mecklenburgischer Prinz Unterricht bei einem der Scherers, vermutlich bei Nicolas, der seit
1756 als Organist an St. Pierre wirkte. Er wie auch sein Verwandter, der Orgelbauer
Jean-Jacques Scherer, werden 1791 in Genf als Clavier- und Violinlehrer genannt, ein
Scherer arbeitete noch 1808 als Musiklehrer in der Stadt. Siehe Cherbuliez, S. 324.
rich Schwind(e)l aus Deutschland, geboren in Amsterdam, soll 1776 eine Musikschule errichtet haben. Genaueres hierüber ist nicht bekannt.701 Cherbuliez nennt als
Lehrer weiterhin den Violinisten Christian Haensel, den Harfenisten Joseph Elouis
(auch bekannt aus London, Paris und Basel) und Johann Kaspar Weiss, ebenfalls in
London genannt.702 Das Niveau scheint in den Privathäusern allerdings unterschiedlich hoch gewesen zu sein. So bemerkt der Korrespondent der AMZ des Jahres
1815 recht bissig: „Fast alles liebhabert nämlich, und lässt sich schon très fort nennen, wenn es nur einen raschen Tanz oder eine süsse Romanze im Takt spielen
kann.“703
Unter den vier ersten Lehrkräften für Clavier bei der Neugründung des Conservatoire befand sich immerhin eine Frau, Louise Henry, die für ein Jahr hier unterrichtete. (Ihr bekanntester männlicher Kollege war Franz Liszt, von 1835 bis
1836 Professeur honoraire am Genfer Conservatoire.) 1836 wurden je zwei Frauen
und Männer für dieses Fach neu eingestellt.704
Am 19. März 1788 trat in Genf, seit Jahrhunderten Zentrum des Calvinismus,
ein staatliches Tanz- und Musiklehrerreglement in Kraft. Hier heißt es gleich im
ersten Artikel, dass „alle Personen, die die Absicht haben, Musik- oder Tanzstunden
zu geben, die Erlaubnis der staatlichen Behörde einholen müssen. Fremde, die es
sich einfallen lassen, ohne eine solche Erlaubnis Musikunterricht zu erteilen, werden der Stadt und des Landes verwiesen. Die Behörde führt ein Register mit den
Namen derjenigen, welche die Unterrichtsbewilligung besitzen. Die Musiklehrer
sollen mindestens 16 Lektionen zu je einer Stunde im Monat erteilen. Den erstklassigen Musiklehrern ist es verboten, mehr als 51 Genfer Florins (Gulden) zu verlangen oder anzunehmen, und zwar als Monatspauschale. Musiklehrer, die sich nur
kurz in Genf aufhalten und zu unterrichten wünschen, müssen ebenfalls von der Behörde die Erlaubnis dazu erhalten, wobei ihnen entsprechend ihren Fähigkeiten der
Preis ihrer Stunden vorgeschrieben wird. Den Einheimischen, die die festgesetzten
Preise überschreiten oder höhere Honorare annehmen, kann eine Unterrichtssperre
auferlegt werden. Anfang November werden jedenfalls alle Musiklehrer in Genf vor
die Behörde zitiert und ihre Unterrichtserlaubnisscheine erneuert, wobei ihnen das
vorliegende Reglement vorgelesen wird, damit niemand behaupten könne, es sei
ihm unbekannt!“ 705 – Strenge Regeln, die das Unterrichtswesen genau ordneten,
wohl aber für Frauen keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mit sich brachten –
immerhin unterrichteten hier Henriette Appia und die beiden „Damen Haensel“ Suzanne Haensel, geborene Adorn und ihre Schwägerin.
701
702
703
704
705
Cherbuliez, S. 325.
Cherbuliez, S. 325.
AMZ 1815, Sp. 153.
Henri Bochet, Le Conservatoire de Musique de Genève 1835–1935, Genf 1935, S. 146.
Cherbuliez, S. 325–326.
203
Die deutschsprachige Schweiz
In der deutschsprachigen Schweiz scheinen Frauen eher als Sängerinnen denn als
Instrumentalistinnen präsent gewesen zu sein.706 Man kann davon ausgehen, dass
das Musikleben in der französischen Schweiz, das bisher deutlich besser erforscht
ist als das der deutschsprachigen Landesteile, wohl reger, in unseren Augen fortschrittlicher war als das der übrigen Landesteile. Frauen standen hier anscheinend
mehr Möglichkeiten offen, als dies in den nördlicheren deutschsprachigen Kantonen der Fall war. Die Einflüsse Frankreichs und Deutschlands waren auf dieser
Ebene spürbar. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts waren Frauen in allen Rollen anzutreffen, in denen sie für Männer keine oder wenig Konkurrenz darstellten. Dazu
zählten in der Hauptsache die pädagogischen Berufe.
Institutionalisierte Ausbildungsstätten für Musik entstanden spät: In Genf öffnete das Conservatoire de musique im Jahr 1835 seine Pforten. Das Conservatoire
der Stadt Neuenburg dagegen wurde, um ein zweites Beispiel zu nennen, erst am
13. April 1918 eröffnet. Bis dato war die musikalische Ausbildung privat organisiert. Und erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es an den Schweizer Konservatorien Klassen zur musikalischen Berufsausbildung.
1.2
Zwei Berner Konkurrentinnen: Mme Latour und Mme Cortaillod
Instrumentalunterricht, den man in Bern früher ausschließlich bei den städtischen
Spielleuten hatte erhalten können, wurde nun, im 18. Jahrhundert, immer häufiger
von freischaffenden Musiklehrkräften erteilt. Gesangsunterricht und Clavierstunden
gehörten zum guten Ton und zur Grundausbildung der Mädchen ‚besserer’ Familien; im Erziehungsplan der Jungen spielte Musik eine geringere Rolle. Carl Durheim, ein großer Musikliebhaber, berichtet über seine musikalische Ausbildung, begonnen etwa 1795, dass sein Vater ihm erlaubte, „eine kurze Zeit“ Violinstunden
„zu zehn Kreüzer per Stund“ zu nehmen.707 Nach etwa zwei Monaten wurde der
Unterricht als zu kostspielig befunden, und der Junge bildete sich autodidaktisch
fort. Er entwickelte sich zu einem eifrigen Musikdilettanten, spielte mehrere Instrumente und trat in der Berner Musikalischen Gesellschaft später sogar als Operntenor auf.
Das Repertoire der Clavierstunden in den bürgerlichen Haushalten bestand aus
Tänzen, Liedern und Sonaten, wie es etwa die für eine Clavierschülerin angefertigte
706
707
204
Studien zum Musikleben in Winterthur in Fehr, zu Zürich in Briner und Friedrich Jakob, Die Musik, in: Hans Wysling (Hrsg.), Zürich im 18. Jahrhundert, Zürich 1983,
S. 253–265. Interessant ist außerdem die Arbeit von Cherbuliez.
Rudolf von Fischer (Hrsg.), Aus den Lebenserinnerungen Karl Jakob Durheims, in:
Berner Erinnerungen aus der Zeit des Übergangs, Bern 1956, S. 34, hier nach Capitani, S. 110.
Handschrift in Murtener Privatbesitz zeigt.708 Wer in Bern Musikunterricht erteilte,
bot häufig ein weiteres Unterrichtsfach neben der musikalischen Unterweisung an.
So heißt es in einem Inserat im Hoch-Oberkeitlichen-Privilegierten Wochenblatt
vom 16. März 1776: „Eine Demoiselle aus dem Waadt-Land, welche die Musik beherrscht und Cembalo spielt, wünscht eine Anstellung in einem guten Haus zu finden, in dem sie Stunden in Musik und Handarbeiten an junge Mädchen erteilen
kann.“709
Trotz der großen Nachfrage an musikalischer Unterweisung war der Wettkampf unter den in einer Stadt ansässigen Lehrkräften sicherlich groß, wie zwei Inserate aus dem Berner Wochenblatt des Jahres 1794 zeigen. Beide Ausgaben sind
leider nicht erhalten; Hans Bloesch konnte sie wohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts
bei seiner Arbeit über die Bernische Musikgesellschaft noch einsehen. Er schreibt:
„Einen weiteren Rückschluss auf die rege Musikpflege jener [1790er-]Jahre lässt
auch die Ansiedlung mehrerer privater Musiklehrer zu. Durch ein Inserat im Wochenblatt vom 22. Wintermonat 1794 sucht eine Mme. Latour Stunden zu geben für
Klavier, Gesang und Harfe und empfiehlt sich dabei mit dem interessanten Hinweis,
dass sie eine ,bonne clavecinniste, elève du célèbre Mozart’ sei. Mit dieser gefährlichen Konkurrentin ist aber Mme. Cortaillod gar nicht einverstanden und sofort
rückt sie ihrerseits ein bezeichnendes Inserat im Wochenblatt ein (13. Christmonat
1794): ,Mme. Cortaillod tut noch immer hie und da vernehmen, dass von ihren
Missgönnern ausgestreut wird, als gebe sie keine Lectionen mehr auf dem Pianoforte. Sie darf hiermit das Gegenteil versichern... sie hat auch die neue Methode von
dem berühmten Hrn. Milchmeyer gelernt und viel neue Musik angeschafft....’ Ob
der berühmte Mozart oder der berühmte Hr. Milchmeyer die Oberhand gewonnen,
wissen wir leider nicht.“710
Die Pianoforteschule Peter Johann Milchmeyers
Weitere Informationen über diese beiden Clavierlehrerinnen scheinen nicht mehr zu
existieren. Immerhin verrät das Inserat Mme Cortaillods die Lehrmethode, nach der
vermutlich diese Lehrerin, wohl aber nicht Mme Latour, unterrichtete. Peter Johann
708
709
710
Siehe dazu ausführlich Capitani/Oester, S. 1–38. In der Berner Stadt- und Universitätsbibliothek befindet sich heute ein Exemplar einer Kleine[n] Musiklehre oder Klavierund Generalbassschule: sowohl für Anfänger im Klavierspielen als für diejenigen, welche sich eine gründliche Kenntniss der Musik durch Selbstunterricht verschaffen wollen des Schullehrers und Organisten S. König in Burgdorf, gedruckt in Biel, datiert
zwischen 1800 und 1840. Wann diese Methode erstmals in Bern verwendet wurde, ist
nicht festzustellen. Frdl. Auskunft von Herrn Andreas Berz, Schweizerische Landesbibliothek Bern.
« Demoiselle du Pays-de-Vaud qui entend la musique et joue le Clavecin, souhaiterait
trouver condition dans une bonne maison pour donner des leçons de musique et d’ouvrages à des jeunes demoiselles. » Hoch-Oberkeitliches-Privilegierten Wochenblatt
16. 3. 1776, zitiert nach Capitani, S. 109, Übers.: C. S.
Bloesch, S. 28–29.
205
Milchmeyer, laut den Titelblättern seiner Werke „Hofmechanikus Sr. Durchl. des
Churfürsten von Baiern, Pianoforte=und Harfenmeister“, publizierte zahlreiche pädagogische Werke für das Clavier.711 Geboren gegen 1750 in Frankfurt/Main, hatte
er lange Jahre in Frankreich gelebt. 1780 ließ er sich in Mainz als Hofmechanikus
nieder. Er starb 1813 als Clavierlehrer in Straßburg. Sein großes Schulwerk Die
wahre Art das Pianoforte zu spielen erschien allerdings erst 1797, drei Jahre nach
den Berner Anzeigen, in Dresden im Druck. 712 Möglicherweise besaß Mme Cortaillod handschriftliche Aufzeichnungen ähnlicher Art.
Die AMZ widmete diesem Unterrichtswerk eine ausführliche Rezension. 713
Demnach spiegelt Milchmeyers Lehre die derzeit übliche Methode aus Paris und
Lyon wider, wo der Verfasser sie selbst während seinem „a c h t z e h n j ä h r i g e n
A u f e n t h a l t “ gehört habe. Der Rezensent bemängelt gleich als Erstes, dass
Milchmeyer nicht nur das Cembalo, sondern auch das Clavichord – das in Deutschland üblichste Tasteninstrument für das Erlernen des Clavierspiels – verwerfe. In
insgesamt sechs Kapiteln bespricht Milchmeyer genau wie später in seiner Kleinen
Pianoforte=Schule Körperhaltung, Fingersatz, Manieren, Ausdruck und die „Veränderungen“, also die Registermöglichkeiten des Fortepianos. Diese scheinen ihm
besonders am Herzen gelegen zu haben (was dem Rezensenten außerordentlich
missfiel).
Mir liegen sieben Hefte einer etwas späteren Ausgabe der Methode Milchmeyers vor, die Kleine Pianoforte=Schule für Kinder, Anfänger und Liebhaber.
Nach steigender Schwierigkeit des Spiels geordnet, mit Ausdruck, Manieren und
Fingersatz für kleine und große Hände bezeichnet, Dresden [1801?]714, deren erster
Band unter dem Titel Anfangsgründe der Musik, um das Pianoforte, sowohl in
Rücksicht des Fingersatzes als auch der Manieren, des Ausdrucks und richtigen
Vortrags, mit der größten Vollkommenheit spielen zu lernen715 erschien. Da Mme
Cortaillod sich ausdrücklich darauf beruft, nach Milchmeyers Methode zu lehren,
darf man davon ausgehen, dass sie die von ihm formulierten Leitsätze befolgte und
für richtig befand. Demnach müsste sie häufig Kinder unterrichtet und für einen
Unterrichtsbeginn „im sechsten, siebenten oder achten Jahre“716 plädiert haben, da
711
712
713
714
715
716
206
Siehe RISM A I, Bd. 5, S. 549, M 2758–2764.
Siehe RISM A I, Bd. 5, S. 549, M 2759 und RISM B ²VI, S. 582. Im selben Jahr begann, ebenfalls in Dresden, die Publikation des 1. Jg. der Pianoforte-Schule, oder
Sammlung der besten für dieses Instrument gesetzten Stücke aus den Werken der berühmtesten Tonkünstler ausgewählt, nach steigender Schwierigkeit des Spiels geordnet,
und mit Fingersatz, Ausdruck und Manieren bezeichnet..., RISM A I, Bd. 5, S. 549,
M 2758. Die ersten beiden Jahrgänge erschienen in 12 Heften 1797–1799.
AMZ 1798, Sp. 117–122 und 135–137.
BSB, Sign. 4 Mus. Th. 2054u, Beibände 1–7.
BSB, Sign. 4 Mus. Th. 2054u.
Milchmeyer Vorrede, S. 3.
dann ein Schüler717 „vorausgesetzt daß er viel natürliche Anlagen hat, im zwanzigsten oder vier und zwanzigsten Jahre in seiner Kunst sehr vollkommen seyn [kann].
Vollenden wird er sie freylich nie.“718 Dabei wird allerdings deutlich zwischen dem,
was angehende professionelle Musiker erlernen müssen und dem, was Milchmeyer
für Liebhaber für angemessen hält, getrennt, denn „es ist ein großer Unterschied, ob
sich jemand der Tonkunst aus Liebhaberey widmet, oder ob er sie aus der Absicht
erlernt, um dereinst selbst Künstler zu werden. Dem Liebhaber steht es frey, in jedem Alter anzufangen, so viel Zeit darauf zu verwenden, als es seine Umstände und
Geschäfte erlauben, nach Willkühr fortzufahren oder aufzuhören, einen hohen oder
niedern Grad der Vollkommenheit darin erreichen zu wollen. Ganz anders verhält
es sich mit dem, der sie zu seinem Hauptgeschäfte wählt, dem er sein ganzes Leben
widmen will, um einst Ehre und Vermögen dadurch zu erwerben. Bey ihm, dem
künftigen Künstler, müssen sich natürliche Talente, Gelegenheit, Mittel, unüberwindliche Geduld und unermüdeter Fleiß vereinigen, wenn er einst in seinem Fache
groß werden soll.“719 Ein angehender Musiker soll neben der Tonkunst „deutsch,
französisch und italienisch sprechen, lesen und schreiben können, etwas Latein verstehen, einige Kenntniß in der Algebra und eine Fertigkeit in der Rechenkunst besitzen“.720 Wessen Instrument das Pianoforte ist, der „muß wenigstens noch ein anderes Instrument, die Flöte oder die Violine, spielen, um seine künftigen Schüler
beym Spielen begleiten zu können.“721 Milchmeyer geht also ganz selbstverständlich von einer späteren Unterrichtstätigkeit des Musikers aus. Für das Erlernen all
dieser Fertigkeiten veranschlagt er „einen Zeitraum von zwölf Jahren, mit einer
sechsstündigen Arbeit des Tages bestimmt“.722 Gehen wir davon aus, dass Mme Cortaillod all diese Bereiche beherrschte, haben wir es sicherlich mit einer umfassend
gebildeten Frau zu tun.
Der Aufwand, den Eltern für die pianistische Ausbildung ihrer Kinder zu betreiben haben, ist hier wesentlich größer und kostspieliger, als es bei den französischen Clavierspielerinnen, die größtenteils aus musikverbundenen Familien stammten, den Anschein hatte: „Aeltern, deren Sohn also Virtuose auf dem Pianoforte
werden soll, müssen etwas bemittelt seyn, und keine Kosten scheuen. Daher auch
zu rathen ist, dem Sohne gleich anfangs ein sehr gutes Instrument anzuschaffen;
denn je besser es ist, desto mehr wird er Verlangen tragen, es bald benutzen zu können, und sich beeifern, so viel Fertigkeit zu erwerben, daß er sich vor seinen Freunden und Bekannten könne hören lassen.“723 Der Kreis hatte sich erweitert: Die Musikausübung und damit die Chance auf einen späteren musikalischen Beruf hatte
717
718
719
720
721
722
723
Milchmeyer verwendet ausschließlich die männliche Form.
Milchmeyer Vorrede, S. 3.
Milchmeyer Vorrede, S. 3.
Milchmeyer Vorrede, S. 3.
Milchmeyer Vorrede, S. 3.
Milchmeyer Vorrede, S. 3.
Milchmeyer Vorrede, S. 4.
207
größere Bevölkerungskreise erfasst. Damit ging aber auch die Selbstverständlichkeit dieser Tätigkeit zumindest für die Frauen verloren: Eltern mussten bereit sein,
ihre Tochter zu fördern wie einen Jungen, sie mussten in einer Stadt wohnen, in der
eine angemessene Unterweisung möglich war, oder eine entsprechend gute Lehrkraft zu sich ins Haus holen. Sie mussten also genügend Geld zur Verfügung haben
und dies auch einsetzen, um dem Mädchen – sollte es überhaupt Talent besitzen
und Neigung zur Musikausübung verspüren – angemessenen Instrumentalunterricht
zu ermöglichen. Leider wissen wir nicht, ob sich Mme Cortaillod wirklich solch anspruchsvollem Unterricht widmen durfte oder eher den Kindern der Musikliebhaber
Stunden erteilte. Gemäß den neuen Verhältnissen schreibt nämlich Milchmeyer seine Clavierschule „1) für Liebhaber, welche bloß zum Vergnügen das Pianoforte
wollen spielen lernen; 2) für Aeltern, die es in dieser Kunst zu einem gewissen Grade gebracht haben, allein wegen Mangel an Uebung einen solchen Leitfaden zum
Unterrichte brauchen; 3) für unbemittelte Künstler, welche vielleicht nicht auf rechtem Wege sind und durch dieses Werk – wie ich mir schmeichle – mit Ersparung
vieler Zeit und Kosten dahin gewiesen werden können; 4) für Hauslehrer und Gouvernanten auf dem Lande und in kleinen Städten, denen es an Gelegenheit fehlt,
über den Unterricht ihrer Schüler sich mit großen Künstlern zu unterhalten; 5) für
die sich in ähnlicher Lage befindenden Schulmeister und Kantoren auf den Dörfern
und in kleinen Orten; 6) für alle Musiker, welche die Komposition erlernen und dabey auf dem Pianoforte nothwendig einige Fertigkeiten haben müssen.“724 Die Zielgruppen dieser Sammlung werden noch einmal deutlich an seinen Anweisungen zu
den gegebenen Fingersätzen. Dazu heißt es als Vorbemerkung zu den Stücken: „Die
Fingersetzung in dieser kleinen Pianoforte=Schule, ist für die kleinen Hände der
Kinder und Anfänger eingerichtet, jedoch ist sie auch für große Hände brauchbar.
Dieß darf also kein Lehrer übersehen, wenn bey einigen Gängen der den großen
Händen angemessene Fingersatz vermißt werden sollte.“ 725 Der geforderte Anschlag ist die „gebundene Spielart“ (also ein durchgehendes Legato), statt der „geklopften und gehackten Noten“726, die Milchmeyer am Pianoforte nicht hören mag.
Er setzt sich damit deutlich von der auf älteren Clavierinstrumenten üblichen Spielart, für die ja der Name Mozart noch steht, ab.
Unter Zugrundelegung von Milchmeyers Stundenplanung könnte Mme Cortaillod folgendermaßen vorgegangen sein: In den ersten 20 Minuten, wo die Aufmerksamkeit am größten ist, wurde Notenlesen und Blattspiel („Lesen“) geübt. Anschließend wurden weitere 20 Minuten mit „musikalischen Gängen“, also technischen Übungen zugebracht. Erst im „letzten Theil der Stunde“ ging es an Literaturstücke „um den Schülern ein Vergnügen zu machen und die Aeltern zu befriedigen,
weil diese leicht glauben können, ihr Kind lerne nichts, wenn es nicht bald ein paar
724
725
726
208
Milchmeyer, S. 4.
Milchmeyer 2. Heft, Vorbemerkung.
Milchmeyer, S. 28.
Stückchen spielt.“727 Hier erfolgen also wesentlich praxisorientiertere pädagogische
und kindbezogene Überlegungen, als sie in den zeitgenössischen französischen Claviermethoden formuliert werden. Die ausgewählten Literaturstücke beginnen im
zweiten Heft (das übrigens auf dem Titelblatt zwei Frauen zusammen an einem Pianoforte zeigt) mit einfachsten kleinen Stückchen, wie man sie aus Klavierschulen
des 19. Jahrhunderts kennt. Das erste Stückchen ist ein Amoroso „Del. Sig. Pleyel“.
Das siebte Heft schließlich beinhaltet zwei vierhändige Sonaten von Daniel Gottlieb
Steibelt. Die kleine Pianoforteschule soll als Vorbereitung zur großen angesehen
werden.
Mme Latour und Mme Cortaillod im Wettbewerb
Milchmeyers Schulwerk mit seinen genauen Vorstellungen und vielen Literaturvorschlägen scheint als Unterrichtswerk für eine Clavierlehrerin wie Mme Cortaillod,
die doch in relativ großer musikalischer Provinz lebte, wie geschaffen. Die Berufung auf den modernen Milchmeyer, dessen Schule bereits ausdrücklich für das Pianoforte bestimmt ist, lässt sie als eine fortschrittliche und moderne Lehrerin ihrer
Zeit erscheinen. Dies ist ihre Antwort auf das Inserat Mme Latours, welche ihre Klientel mit dem Hinweis auf Wolfgang Amadeus Mozart anzulocken sucht. Mozart
selbst war noch der älteren Spieltechnik verhaftet,728 seine Unterrichtsmethode richtete sich wohl vorrangig nach dem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen des von ihm sehr verehrten Carl Philipp Emanuel Bach, erschienen bereits 1753,
bzw. der zweite Teil 1762 in Berlin. Dieses Werk war immer noch sehr beliebt.
Bach jedoch galt eben auch als der Clavichordspieler par excellence. Dass Milchmeyers Schule, verglichen mit den Clavier-Traktaten Carl Philipp Emanuel Bachs
und Daniel Gottlob Türks, „in Ansehung der neuern, modernen und galanten
Figuren mehr ins Specielle gehet“ und es daher „besonders von denen, welche von
den allgemeinen Grundsätzen dieser Männer die Anwendung auf solche Figuren zu
machen nicht im Stande sind – neben B a c h und T ü r k allerdings mit Nutzen gebraucht werden“ könne, das räumt sogar der doch insgesamt mit Milchmeyer recht
unzufriedene Rezensent der AMZ ein.729 Mme Latour wirbt damit mit dem bekannteren Spieler und Komponisten, mit der Berühmtheit Mozarts, Mme Cortaillod mit
der Modernität ihrer eigenen Ausbildung und Lehrmethode.
727
728
729
Milchmeyer, S. 40.
Carl Czerny berichtet: „Auch hat mir in späteren Jahren Beethoven erzählt, daß er
Mozart mehrmals spielen gehört und daß dieser, da zu seiner Zeit die Erfindung das
Fortepiano noch in ihrer Kindheit war, sich auf den damals gebräuchlichen Flügeln [gemeint sind Cembali] ein Spiel angewohnt hatte, welches keineswegs für die Fortepiani
paßte ... Mozart habe ‚ein feines, aber zerhacktes Spiel gehabt, kein ligato’.“ Uli Molsen, Die Geschichte des Klavierspiels in historischen Zitaten von den Anfängen des
Hammerklaviers bis Brahms, Balingen-Endingen ²1983, S. 46.
AMZ 1798, Sp. 137.
209
Beide Lehrerinnen, beide Lernmethoden werden ihre Anhängerschaft gehabt
haben, wie auch alle Instrumententypen zu dieser Zeit in Bern vertreten gewesen
sein dürften. In der Stadt lebten mehrere Bauer von Tasteninstrumenten. Das Berner
Adressbuch von 1810 vermerkt etwa einen Theophile Gottlieb Gleiniger, der seit
1766 in Bern als facteur de clavecins et forte-pianos arbeitete730, außerdem Joseph
Howard, der anscheinend bereits vorwiegend Hammerclaviere fertigte. Sein älterer
Bruder Hans (1730–1800) und dessen Sohn Johannes, geboren im Jahr 1757, waren
ebenfalls als Instrumentenbauer tätig.731 Im Jahr 1775 erstand die Lausanner Familie de Charrière de Sévery ein Pianoforte bei « Mr. Hell à Berne » zum Preis von
« 336 L ». Gemeint ist ein Instrument des Cembalo- und Hammerclavierbauers Johann Ludwig Hellen732, der bis zu seinem Tod im Jahre 1781 als „Claviermacher“
in Bern wirkte. Seine Arbeiten waren sehr geschätzt, besonders wurde der schöne
Ton seiner Instrumente gelobt.733 Die große Anzahl der Instrumentenbauer spiegelt
sicherlich den Bedarf und damit die Beliebtheit des Claviers in der Berner Bevölkerung wider.
Dass Herr Milchmeyer im Übrigen auch in Geschlechterfragen durchaus das
Denken der Zeit repräsentierte, zeigt seine Beschreibung des Vierhändigspiels: „Sonaten für vier Hände sind Stücke, welche von zwey Personen auf einer und ebenderselben Klaviatur gespielt werden. Um sie ganz vollkommen darzustellen, sollte
die Diskant- oder Gesangsstimme von einem Frauenzimmer, die Baßstimme aber
von einer Mannsperson vorgetragen werden, das Stück würde dann in seinem natürlichen Charakter erscheinen. [...] Bey solchen vierhändigen Sonaten müssen die Ellenbogen der Spielenden immer geschlossen seyn, damit sie einander nicht im Spielen hindern; überdies verlangt es auch die Höflichkeit, das man dem Frauenzimmer
etwas mehr Platz lasse.“734
1.3
Genovieffa Ravissa und einige andere Clavierlehrerinnen der
französischen Schweiz
Die Turinerin Genovieffa Maria Ravissa, geborene Vignola, trat für uns heute nachvollziehbar erstmals in ihrer Pariser Zeit als Musiklehrerin in Erscheinung. Nach
der finanziellen Misere ihres Mannes und dem darauf folgenden Umzug in die französische Metropole suchte sie ihre Talente hier in mehrfacher Hinsicht bekannt zu
machen. Dies zeigt besonders deutlich eine Annonce, die im Almanach musical
1778 die Publikation ihrer sechs Cembalosonaten op. 1 ankündigte. Hier heißt es:
730
731
732
733
734
210
Theophile Gottlieb Gleiniger (auch Gleinicher), 1766–1823 in Bern. Boalch, S. 71.
Joseph Howard, manchmal auch Hauert, 1749–1824. Boalch, S. 94.
Johann Ludwig Hellen (auch Hehlen), 1716–1781, wird ein heute im Musikinstrumentenmuseum Preußischer Kulturbesitz Berlin befindliches Kombinationsinstrument zugeschrieben. Siehe Kielclaviere, S. 401.
Eine genaue Beschreibung findet sich in Kielclaviere, S. 401.
Milchmeyer, S. 49.
„Sechs Sonaten für Cembalo oder Fortepiano op. I von Mme Ravissa, Lehrerin für
Cembalospiel und italienischen Gesang. Diese Sonaten sind brillant, und man bemerkt in ihnen diese kühnen Übergänge, welche die Italiener lieben, die sich unsere
furchtsamen französischen Komponisten aber nicht zu erlauben wagen. Der Charakter und die Ehrbarkeit der Madame Ravissa, ihre Talente und der Erfolg der Unterrichtsstunden, die sie seit einigen Monaten hier in unserer Stadt erteilt, lassen alle, die sie kennen, wünschen, dass es möglich sein werde, sie noch lange hier zu
halten.“735
Diese Ankündigung verdeutlicht die Mittel, mit denen Genovieffa Ravissa versuchte, sich ein eigenes Profil zu erarbeiten: Als Italienerin beherrschte sie nicht nur
den goût italien, der zu dieser Zeit in Paris in Mode gekommen war, sondern sie besaß auch den Mut zu „kühnen Wendungen“, die in Frankreich nicht alltäglich waren. Die Sonaten, die sicher gleichermaßen als Unterrichtsmaterial wie auch zum
Vortrag durch ihre Autorin verwendet wurden, sind brillant, also glänzend – wie
wohl ihre Komponistin oder zumindest deren Clavierspiel auch. Genovieffa Ravissa
selbst zeichnet sich durch einen ‚untadeligen’ Charakter aus, sie ist – für eine Frau
überaus wichtige Attribute – ehrbar und tugendhaft. Schließlich erfahren wir aus
der Ankündigung des Almanach musical noch, dass Genovieffa Ravissa Unterricht
im Cembalospiel und im „Italienischen Gesang“ erteilte und dass ihre Unterrichtsstunden wohl erfolgreich waren. Wie wichtig dies Unterrichten für die finanzielle
Situation der Familie gewesen sein mag, zeigt die Erwähnung der Lehrtätigkeit
selbst auf dem Titelblatt der Sonatenpublikation.
Diese Unterrichtstätigkeit, hier wohl nur ein Teil der Einnahmequellen, sollte
später zum hauptsächlichen Standbein werden, nämlich in Genovieffa Ravissas Zeit
in der heutigen französischen Schweiz. Getrennt von ihrem Mann, war sie seit 1780
in Neuenburg ansässig. Hier wirkte sie mehr als zehn Jahre als Musiklehrerin736, er735
736
« Six Sonates pour le clavecin ou le forte-piano, par Mad. Ravissa, Maîtresse de clavecin & de chant italien, op. I; au Bureau du Journal de musique, 6 L. Ces Sonates sont
brillantes, & l’on y remarque de ces transitions hardies que les Italiens aiment, & que
nos timides Compositeurs n’osent pas se permettre. Le caractere & l’honnêteté de Madame Ravissa, ses talens & le succès des leçons qu’elle donne depuis quelques mois
dans cette Capitale, font desirer à tous ceux qui la connoissent qu’il soit possible de l’y
fixer. » AM 1778, S. 77. Übers.: C. S.
In diese Neuenburger Zeit fallen mindestens ein, wenn nicht mehrere weitere Aufenthalte Genovieffa Ravissas in Paris, bei denen sie ebenfalls als Lehrerin tätig war. In
Tablettes 1785 wurde sie im Abschnitt über die „bekanntesten Komponisten, Virtuosen, Amateure und Instrumentallehrer für Saiteninstrumente und Clavier“, die sich zu
der Zeit in Paris aufhielten unter der Sparte Clavecin & Forte-Piano folgendermaßen erwähnt: « Ravissa (Madame), excellente Maîtresse pour le Clavecin, la vocale & le goût
du chant, Rue de la Harpe. » Als Unterrichtsmaterial dürften Genovieffa Ravissa neben
zeitgenössischen populären Kompositionen und den eigenen Sonaten op. 1 auch ihre
später entstandenen drei Sonaten für Hammerclavier mit begleitender Violine (Trois
Sonates pour le Forte-Piano avec Accompagnement du Violon ad libitum, BNF Signatur MS. D. 11743) gedient haben.
211
teilte Clavier- und Gesangsstunden und war ein Jahr (Wintersaison 1781/1782)
Cembalistin des Orchesters der Société de la Salle de Musique737. Wie hoch der
Stellenwert dieser Unterrichtstätigkeit in Neuenburg war, belegt u. a. das Abschiedszeugnis, das der Musikerin ausgestellt wurde, als sie 1792 die Stadt verließ.
In diesem wird bescheinigt, dass „die Dame Geneviève Ravizza, geborene Vignola
aus Turin“ in Neuenburg Cembalo- und Gesangsstunden gegeben habe und „dass
die besagte Dame Ravizza in der gesamten Zeit, die sie bei uns lebte, ihre Talente in
der Musik in vielfältiger Weise und zur Zufriedenheit all derer, die von ihrer Unterweisung profitiert haben, ausgeübt hat. Mit Bedauern sehen wir sie die Stadt verlassen, in der sie nützlich war und in der man gewünscht hätte, dass es ihr beliebte,
noch länger hier zu bleiben.“738
Auch in Lausanne, wohin Genovieffa Ravissa im Jahr 1792 mit ihrer jüngsten
Tochter zog, konzertierte die Musikerin in den Salons der Adeligen und reichen
Bürger, den wichtigsten Raum jedoch scheint das Unterrichten eingenommen zu haben. So wirkte sie als Lehrerin Angletine de Charrière de Séverys bei einer der angesehensten Familien Lausannes. Genovieffa Ravissa starb am 20. Februar 1807 in
Lausanne. Sie war ihren Weg trotz vieler Hindernisse recht erfolgreich gegangen.
Sie hatte sich in eine Gegend zurückgezogen, in der ihre musikalischen Talente
durch die allgemein wenig entwickelte Situation besonders gesucht und gefragt wa-
737
738
Da das Orchester in dieser Zeit von einem Mr Bedaulx geleitet wurde, der selbst nicht
Cembalo spielte, musste man den Posten extern besetzen. Lt. Sitzungsprotokoll des Comité der Société de la Salle de Musique vom 11. 11. 1781 erhielt die « Dame Ravissa »
wie auch ihre männlichen Kollegen als Cembalistin 8.8 Livre pro Konzert, die Probe
eingeschlossen. Siehe Registre de la Direction de la Sale de Musique 1776, BPU Neuchâtel, Ms A 703.
« Certificat pour Dame Ravizza. Nous les Quatre Ministraux de la Ville de Neuchâtel
en Suisse, certifions à tous ceux qu'ils appartiendra que par devant nous a comparu
Dame Geneviève Ravizza née Vignola de Turin, maîtresse de clavecin et donnant des
leçons de chant, demeurant depuis passé onze ans dans cette ville, laquelle nous a exposé que voulant se rendre à Madrid, elle nous suppliait très humblement de vouloir lui
accorder un certificat de sa conduite; et comme témoignage de vérité ne peut être refusé, nous déclarons et attestons que durant tout le temps que ladite Dame Ravizza a demeuré ici elle a exercé ses talents pour la musique avec beaucoup de suffisance et à la
satisfaction de tous ceux qui ont profité de son enseignement, c'est avec regret qu'on la
voit quitter cette ville où elle était utile et où l'on aurait souhaité qu'il lui eut convenu
de rester plus longtemps; à ces causes nous la recommandons à la protection de
tous chefs et magistrats et à la bienveillance des personnes de qui elle pourrait réclamer les bons offices sous offre de réciprocité en pareil cas. En foi de quoi nous
avons aux présentes signées par le secrétaire de notre Conseil fait apposer le sceau
ordonné de nos armes; Donné audit Neuchâtel en Suisse le cinq mai mil sept cent
quatre vingt-douze. » Certificat pour Dame Ravizza, Registre des Certificats, Publications et Procuration 1792–1800, folio 18, AVN. Übers.: C. S.
212
ren. Sie hatte persönliche Zugeständnisse gemacht739, gleichzeitig aber genügend
Geld verdient, um in einer respektablen Gegend in nicht beengten Wohnverhältnissen zu leben und Reisen740 zu unternehmen. Genovieffa Ravissa konzertierte und
unterrichtete in den hohen gesellschaftlichen Kreisen Neuenburgs und Lausannes,
sie war ohne männlichen Beistand eine angesehene ‚Alleinunternehmerin’.
Die Lebensumstände der Clavierlehrerinnen in der französischen Schweiz
Einige Punkte im Leben Genovieffa Ravissas sollen hier noch einmal genauer betrachtet werden, da sie ein Bild der Lebensumstände und -zusammenhänge der Musiklehrerinnen in der französischen Schweiz geben:
1. Die Selbstvermarktung, die Präsentation der eigenen Person und des fachlichen
Könnens war eine wichtige Voraussetzung für den beruflichen Erfolg.
Die Pariser Strategie der 1770er Jahre hatte auf Mme Ravissas Herkunft als Italienerin, ihren Charakter und persönlichen Charme gesetzt. In Neuenburg war es
ihre Tätigkeit als Orchestermusikerin, die ihr Bekanntheit, Ansehen und Renommee verschafft haben dürfte. In der Saison 1781/1782, in der sie als Cembalistin im Orchester engagiert war, gab es die stattliche Anzahl von immerhin
238 Subskribenten für die von der Société veranstalteten Konzerte. In der Wintersaison wurden etwa 24 Konzerte veranstaltet, die jeweils montags von 17 bis
20 Uhr im Salle de Musique der Maison du Concert stattfanden. Die Proben
waren für die Samstage jeweils von 9 bis 12 Uhr angesetzt. Es ist davon auszugehen, dass Genovieffa Ravissa als Cembalistin den größten Teil der Konzerte
und Proben spielte und sich dabei vor großen Kreisen der Stadt hören ließ. Für
die folgende Saison war keine Cembaloaushilfe mehr nötig. Genovieffa Ravissa, mittlerweile in der Stadt bekannt, trat sicher weiterhin in den privaten Salons als Cembalistin, Pianistin und Sängerin auf. Ihre Unterrichtstätigkeit spielte sich in den aristokratischen Häusern der Stadt ab. In der musikinteressierten
Gesellschaft Neuenburgs war es sicher, gerade mit ein wenig ‚ausländischem
Flair’, nicht allzu schwierig, eine Schülerklientel anzuwerben. So zählten beispielsweise zur typischen Ausbildung eines jungen Mädchens aus dem Neuenburger Pensionnat de Montmirail um 1781 Lesen und Schreiben in Französisch
und Deutsch, Arithmetik, Choralgesang und Cembalospiel.741
739
740
741
Etwa die Angabe eines falschen Namens für ihren Ehemann und Vater ihrer jüngsten
Tochter, siehe ausführlich in Schweitzer/Schröder, Kapitel 13 und 18.
Etwa nach Paris, wie Tablettes 1785 belegt, oder 1802, direkt nach dem Abzug der frz.
Besatzungstruppen, mit ihrer Tochter nach Turin, vgl. Registre des Passeports à
l’extérieur commencé le 24 Aout 1801 et fini le 9 juin 1902, ACV, H 347 C, N° 617 ET
3000.
Siehe Fallet, S. 220.
213
Ein noch deutlicheres und bewusst eingesetztes Marketing der eigenen
Person zeigte bereits das Beispiel der beiden Berner Clavierlehrerinnen Mme
Latour und Mme Cortaillod.
2. Die Clavierlehrerinnen waren häufig in einen festen familiären Zusammenhalt
eingebunden.
Die Lehrerinnen der Pariser Adressverzeichnisse waren entweder verheiratet
oder lebten häufig mit Familienangehörigen zusammen. Soweit nicht, wie besonders in den Revolutionsjahren spürbar, rein wirtschaftliche finanzielle Notwendigkeiten die Frauen zur Ausübung der Lehrtätigkeit zwangen (wie etwa
Pauline Duchambge), waren sie oft eingebettet in familiäre Traditionen und Zusammenhänge. Letztere sind auch bei Genovieffa Ravissa sichtbar, obgleich sie
nicht aus einer Musikerfamilie stammte. Ihr Vater bestimmte trotz der durch
den katholischen Glauben eigentlich untersagten Trennung von ihrem Mann in
seinem letzten Testament seine „Tochter Genovieffa Vignola, die Frau des Signor Cristoffaro Ravizza“ als seine Haupterbin, während ihrem in Turin lebenden Bruder lediglich ein Geldbetrag zugesprochen wurde.742 In Lausanne lebte
Genovieffa Ravissa im Hause von Jean-Christian Helmode, in dessen Haus sie
eine Etage gemietet hatte. Bei dem Hauseigentümer handelte es sich um einen
weithin bekannten Hersteller von Pastellfarben. Dass ihr Vater, der Pittore in
miniature Gioanni Vignola, und Jean-Christian Helmode sich kannten, ist
durchaus möglich. Auch der Besuch des Jahres 1802 in der alten Heimat, der
vermutlich einer ihrer älteren Töchter galt, spricht für eine enge familiäre Bindung.
Auf andere Art äußerte sich dieser Zusammenhalt in der Familie Haensel.
Der in Sankt Petersburg aufgewachsene Violinist Christian Haensel, der sich
mit seinem Vater und seinen Geschwistern 1787 in Genf niedergelassen hatte,
fand in Lausanne seine Frau, Suzanne Adorn. Die Heirat fand am 7. November
1795 in Prilly statt.743 Das Ehepaar Haensel lebte von 1796 bis 1798 in Lausanne, auch zwei der fünf Kinder wurden hier geboren. Im Jahr 1798 zog die
Familie nach Genf, wo Christian Haensel eine große Karriere erwartete. Burdet
berichtet von den „Damen Haensel“, die in Lausanne als Musiklehrerinnen tätig
waren.744 Vermutlich sind damit die Schwester Christian Haensels und seine
Frau gemeint. Auch in Genf lebten diese (wohl unverheiratete) Schwester und
742
743
744
214
Testamento del Signor Gioanni Vignola, 20. 12. 1788, Insinuazione Torino 1789, Libro 1, S. 1–4, Archivio Stato di Torino. In diesem Testament wurde weiterhin eine Enkelin Gioanni Vignolas, Margarita Ravissa, bedacht, die, falls nötig, die Pflege Gioanni
Vignolas übernehmen sollte. Vermutlich handelte es sich hierbei um eine der Töchter
Genovieffa Ravissas: die 1768 geborene Maria Francesca Margarita oder die 1776 geborene Maria Margarita Clotilda.
ACV, Eb 110/3.
Burdet, S. 483.
der Vater Christian Haensels ganz in seiner Nähe und waren musikalisch aktiv.
Ganz selbstverständlich trugen also die Frauen der Familie, im Falle von Suzanne Haensel sogar trotz der Kinder, das Ihre zum Familieneinkommen bei
und dies auf die in Musikerkreisen nächstliegende Art und Weise: durch Unterrichten.
3. Der Kontakt zu Landsleuten und Berufskollegen im Ausland lebender Musikerinnen und Katholikinnen war eng.
In der Schweiz waren katholische und reformierte Gemeinden trotz gegenseitiger Toleranz streng voneinander getrennt. Beim Gottesdienst trafen sich die
wenigen in der Waadt ansässigen katholischen Gläubigen. In Neuenburg wurde
das Mädchen Frédérique-Elise, Genovieffa Ravissas jüngste Tochter,745 in der
katholischen Kirchengemeinde von Cressier getauft, einem Ort in etwa zehn
Kilometer Entfernung von Neuenburg. Frédérique-Elise heiratete am 10. Dezember 1804 den Bankier Juste Frédérick Masson aus Ecublens bei Lausanne.
Bei einem Blick in die Ergebnisse der Volkszählung des Jahres 1798 (s. u.) fällt
auf, dass eine Masson aus Ecublens in dem Wohnhaus der Ravissas beschäftigt
war. Vermutlich kam es damit zu einem Kontakt nach Ecublens, wo auch eine
katholische Gemeinde ansässig war.
Ignace Le Comte746, Sohn des Turiner Violinisten und Tanzlehrers Claude
Le Comte, lebte bereits seit 1781 in der Lausanner Gegend.747 Am 9. Mai 1785
heiratete er in Roche-les-Blamont die achtzehnjährige Caroline-Justine de
Saint-Laurent, eine gebürtige Holländerin. Da Caroline-Justine dem reformierten, Ignace Le Comte aber dem katholischen Glauben angehörte, war eine
Hochzeit in Lausanne nicht möglich. In Roche-les-Blamont, in der zu Württemberg gehörenden Grafschaft Montbéliard gelegen, wurden dagegen interkonfessionelle Ehen durchgeführt, auch wenn der Waadtländer dazu die Beglaubigung
eines Neuenburger Pfarrers benötigte. Das junge Paar zog nach Lausanne zurück und führte hier ein ruhiges Leben.
Alle Mitglieder der Familie Cazenove liebten Musik und musizierten so
eifrig, dass ein reicher Londoner Onkel, Heinrich Cazenove, der dies nicht verstehen konnte, gesagt haben soll: „Warum machen sie Musik! Musik hören genügt ...!“748 Möglicherweise arbeitete Genovieffa Ravissa als Musiklehrerin in
der Familie Cazenove, die auch gesellschaftliche Kontakte mit der Familie de
745
746
747
748
Frédérique-Elise Ravissa wurde am 26. 3. 1788 geboren und am 27. 4. 1788 getauft.
Ich danke Herrn Guy Le Comte, Président de la Société d’histoire de Genève, herzlich
für alle Auskünfte über seine Vorfahren.
Er war zunächst von Mai bis Dezember dieses Jahres als Musiklehrer der Familie Burman im Château de Mathod angestellt, dann im Dienste der Familie Bonstetten in Valeyres-sous-Rances und in Bern, bis er sich schließlich 1783 endgültig in Lausanne als
Musiklehrer, hauptsächlich für Violine, niederließ. Siehe Burdet, S. 481.
Frdl. Mitteilung von Herrn Guy Le Comte.
215
Charrière de Sévery pflegte. Igance Le Comte jedenfalls hatte seine Frau auf
diesem Wege kennen gelernt: Sie war seine Schülerin gewesen. François, der
älteste Sohn Genovieffa Ravissas, war mit einem der Söhne des Ehepaares Le
Comte, der sich in Ecublens (bei Lausanne) niedergelassen hatte und wie François Ravissa kaufmännisch tätig war, eng befreundet. Die Familien Ravissa und
Le Comte hatten bereits in Turin im selben Stadtviertel gelebt, sodass Ignace
Le Comte die ungefähr gleichaltrige Genovieffa Ravissa möglicherweise bereits aus diesen Tagen kannte.
Als die Turinerin Henriette Appia, die in Genf als Clavierlehrerin ihren
Lebensunterhalt verdiente, zu krank war, um diesen Beruf weiterhin voll auszuüben, wandte sie sich in ihrer Not an den Rat der Bourse italienne, die dafür zuständig war, italienischen Protestanten zu helfen. Von dort erhielt die 58-jährige
eine monatliche Pension von 21 Francs.749 Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie als Pensionärin in Cartigny.
4. Neben der Unterrichtstätigkeit traten Clavierlehrerinnen häufig konzertierend
auf.
Dabei konnte es sich um größere Konzertreihen handeln, wie etwa bei Genovieffa Ravissa, die im Pariser Concert spirituel gesungen hatte oder in ihrer
Neuenburger Zeit zum dortigen Orchester gehörte, oder aber die Lehrerinnen
traten ausschließlich bei privaten Akademien und in den Salons der Reichen
und Angesehenen auf. Das Konzertieren war ein durchaus wichtiger Aspekt,
konnte doch auf diesem Wege das eigene Können oder, falls auch eine Schülerin oder ein Schüler auftraten, der Erfolg des Unterrichts präsentiert werden.750
Eine solche, in diesem Falle recht spontane ‚Präsentation’ ist aus dem Leben Marie Desauberts überliefert. Diese wirkte zwischen 1730 und 1775 in
Lausanne. Sie unterrichtete zahlreiche Personen im Kreise der Société de Musique751 und verkehrte bei den einflussreichen Familien der Stadt und Umgegend.
Salomon de Charrière de Sévery, ein wichtiger Lausanner Bürger, schrieb an
seine Frau über einen Besuch bei einer befreundeten Familie: „Wir waren zum
Mittagessen bei General von Mollens (de Watteville) eingeladen, wo ich einen
Besuch machte. Sie haben zwei Töchter, die beide sehr hübsch zu werden versprechen. In vier oder fünf Jahren werden sie von sich reden machen. Ich traf
hier die Desaubert, die ihnen Stunden gab und die erfreut war, den Mann von
749
750
751
216
Brief an die Société du Conseil de la Bourse italienne, BPU Genève, MS supp. 781 No.
5, nach Le Comte, S. 9.
Am 15. 12. 1797 erhielt in Yverdon nahe Lausanne eine Muscienne de Turin, möglicherweise ebenfalls Genovieffa Ravissa, die Erlaubnis, am diesem Tag im großen Saal
des Rathauses ein Konzert zu geben. (« On accorde à une Musicienne de Turin la permission de donner un concert aujourd’hui à la grande Sale de l’Hotel de Ville. » Eintrag im Registre du Conseil vom 15. 12. 1797, ACY, AA 94.)
S. a. Burdet, S. 482.
Mlle Catherine de Chandieu752 zu treffen. Mir zuliebe ließ sie die kleine Demoiselle ,Je vais te voir charmante Lise’ singen.“753
Hatte man einmal Fuß bei einer der tonangebenden Familien gefasst,
wirkte dies wie ein Sprungbrett, öffnete Tür und Tor für zahlreiche
Möglichkeiten, die nicht auf die Stadt selbst beschränkt blieben. Dies zeichnet
sich bei Genovieffa Ravissas Umzug von Neuenburg nach Lausanne und in den
Hinweisen der Toleranzschreiben auf „Berner Damen“ ab, die sie bereits in
Neuenburger Zeiten unterrichtet habe.754 Ein derartiges Beispiel ist auch von
einem Hausangestellten „der sich auf Musik versteht“ überliefert, dessen
Vermittlung ein Thema in der Korrespondenz zwischen dem Neuenburger
Adeligen und Freund Jean-Jacques Rousseaus Pierre-Alexandre Du Peyroux755
und der Familie de Charrière de Sévery in Lausanne bildete.756
5. Das Verhältnis zwischen Lernenden und Unterrichtenden blieb nicht auf die
Unterrichtsstunden, die eher punktuell als regelmäßig wöchentlich
stattgefunden zu haben scheinen, beschränkt.
Dies zeigt das Tagebuch der jungen Adeligen Angletine de Charrière de
Sévery. Angletine-Livie-Wilhelmine, geboren am 17. November 1770 (und
damit etwa 20 Jahre jünger als ihre Lehrerin) war das zweite Kind von Salomon
de Charrière de Sévery und Catherine de Chandieu. Ihr Tagebuch berichtet
nicht nur über Unterrichtsstunden, die sie in den Jahren 1795 und 1800 bis
1802 bei Genovieffa Ravissa nahm, es berichtet auch über gesellschaftliche
Kontakte wie gemeinsame Mahlzeiten, Besuche und nicht zuletzt Konzerte, die
die Lehrerin in den privaten Salons der aristokratischen Häuser gab.757 Aus den
kurzen und einsilbigen Aufzeichnungen Angletines lassen sich einige
aufschlussreiche Informationen gewinnen: Genovieffa Ravissa scheint von Mr
de la Pottrie eingeführt worden zu sein. Dreimal werden diese beiden Namen
vor dem Beginn des eigentlichen Unterrichts am 21. September 1795758 zusam752
753
754
755
756
757
758
Marie Desaubert hatte auch im Elternhaus Catherine de Chandieus, der Frau Salomon
Charrière de Séverys unterrichtet.
« Nous sommes invités à dîner chez le général de Mollens (de Watteville) j’y suis allé
faire visite; ils ont deux filles qui paraissent devoir être très jolies. Dans quatre ou cinq
ans d’ici, elles feront parler d’elles; j’y trouvai la Désaubert qui y donnait leçon et qui
fut bien aise de voir le mari de Melle Catherine de Chandieu et qui, en ma faveur, fit
chanter à la petite demoiselle: ‘Je vais te voir charmante Lise, etc.’ » Brief Salomon de
Charrière de Séverys an seine Frau, zitiert nach Sévery, S. 131. Übers.: C. S.
Bitte um Toleranzverlängerung, ACV, Bb 25/28, folio 664, 665.
Pierre-Alexandre Du Peyrou gab 1788 in Genf die erste vollständige Ausgabe von
Rousseaus Werken heraus.
Sévery, S. 96.
Die gesamten Einträge sind abgedruckt in Schweitzer/Schröder, S. 117–120.
21. 9. 1795: « Commencé les Leçons avec la Ravissa. » JAC.
217
men in dem Tagebuch erwähnt: am 5. Januar sowie am 1. und 8. September
1795.759 Die Duval de la Pottries waren eine alte angesehene Adelsfamilie, mit
der Genovieffa Ravissa anscheinend Reisen zusammen unternahm, gibt doch
das Tagebuch einmal den Hinweis, La Ravissa und Mr de la Pottrie seien in die
Stadt zurückgekehrt.760 Angletines Familie selbst sorgte einmal für den Transport des Koffers der Musikerin – vermutlich war Mme Ravissa mit ihrer Schülerin zu deren Landsitz gereist.761 Dem Beginn der Unterrichtsstunden gingen einige persönliche Zusammentreffen in gesellschaftlichem Rahmen voraus.762
So knapp diese Passagen ausfallen, bilden sie doch ein wertvolles Zeugnis
über die damalige Unterrichtssituation. Wichtig scheint ein guter Kontakt gewesen zu sein, eine Person, die in die entsprechende Gesellschaft einführte.
Vielleicht gehörten Mme Duval de la Pottrie oder eine ihrer Töchter zu den in
den Toleranzschreiben erwähnten „Berner Damen“, die Mme Ravissa schon in
Neuenburg unterrichtet hatte. Alsdann kann man sehen, dass der Unterricht sich
eher phasenweise, dann aber an mehreren Tagen hintereinander abspielte. So
gab es etwa häufigen Unterricht vom 2. Januar bis 3. März 1800 (insgesamt 16
Unterrichtsstunden sind in dem Tagebuch vermerkt), denen dann aber eine Pause von fast einem Jahr folgte. Die Musiklehrerin war einerseits von den Launen
und Lebensgepflogenheiten der Adeligen abhängig, andererseits öffnete ihr dieser Umgang, gerade mit der höchst angesehenen Familie de Charrière de Sévery, viele Türen.
Auch Angletines Mutter (Louise-Jacqueline-) Catherine de Chandieu
(1741–1796) hatte ihrerseits als noch Unverheiratete in ihrem Tagebuch, dem
sogenannten Journal de ce qui se passe à l’Isle, am 20. Januar 1755 festgehalten, sie hätten die Musiklehrerin Mlle Desaubert in Lausanne getroffen, wohin
die Familie de Chandieu für vier Tage von ihrem Landsitz aus gereist war.763
Dies ist übrigens die einzige Bemerkung, die über die in Lausanne verbrachte
Zeit fällt. Dass Marie Desaubert im Hause der Eltern Catherine de Chandieus
vertraut verkehrte, belegt ein weiterer Tagebucheintrag vom 15. Juli 1751:
759
760
761
762
763
218
5. 1. 1795: « Passé la Soirée chez Mad Polier de Loÿs, avec Mr de la Pottrie & La
Ravizza pour repêter de la musique. », 1. 9. 1795: « Mr de la Pottrie & Mad. Ravissa
sont venus pour le Diner. », 8. 9. 1795: « Mr de la Pottrie & Mad Ravissa sont
retournés à Laus. » JAC.
Siehe die Eintragung vom 8. 9. 1795.
JAC, Eintragung vom 27. 10. 1795: « On a envoyé la mallo de la Raissa. »
Zu den bereits genannten Eintragungen kommen noch der Besuch eines Konzertes von
Angletine und ihrem Bruder William, das Genovieffa Ravissa am 31. 1. 1795 bei einer
Mme Polier gab sowie ein Treffen mit Angletine de Charrière de Sévery in Lausanne am
19. 9. 1795, also zwei Tage vor Beginn des Unterrichts, möglicherweise zur Absprache
gewisser Modalitäten. Siehe JAC.
« 1755. Le 20 [janvier], nous avons été ramener Mlle Desobert à Lausanne. Le 23, nous
sommes revenues. » Journal de ce qui se passe à l’Isle l’an 1755, zitiert nach Sévery,
S. 19.
„Mlle Desaubert hat das Leben meines Distelfinks gerettet, den die Katze gefangen hatte.“764 (Catherine de Chandieu war zu diesem Zeitpunkt etwa zehn Jahre
alt.)
Die Maitresse Musicienne Mlle Marie Catherine Vollon erhielt in Yverdon
am 4. März 1752 eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr. Sie lebte bei Mlle
Perrier, die anscheinend für die Musikerin bürgte. Es scheint, als solle Marie
Catherine Vollon dies ganze Jahr im Hause der Yverdoner Bürgerin, wahrscheinlich einer Gönnerin und Schülerin, verbringen.765
6. In der französischen Schweiz wurde der Unterrichtstätigkeit der ausländischen
musikalischen Lehrkräfte ein relativ hoher Stellenwert beigemessen.
Die Stellung der ausländischen musikalischen Lehrerinnen scheint deutlich besser als die der Einheimischen gewesen zu sein. In einer Gegend, da es wenig eigene musikalische Traditionen gab und man auf Künstler aus dem Ausland angewiesen war, brachte man allen durchziehenden professionellen Musikern eine
hohe Wertschätzung entgegen. Entschlossen sie sich, ihr Domizil hier aufzuschlagen, waren Tolérance genannte Aufenthaltsgenehmigungen von Nöten,
die etwa in Lausanne in regelmäßigen Abständen erneuert werden mussten. Ein
wichtiges Kriterium zur Erteilung der Tolérance war der Nachweis der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Dies zeigt sich in den entsprechenden Dokumenten zu Genovieffa Ravissas Aufenthalten in Neuenburg und Lausanne:
In Neuenburg bekam sie am 8. November 1788 die Tolérance d’Habitation, die für Fremde nötig war, um in der Stadt leben und arbeiten zu dürfen. In
Genovieffa Ravissas Fall bedeutete dies, wie auch bei anderen in der Stadt lebenden ausländischen Musikern, dass die Tolérance mit der Auflage, mindestens 20 Unterrichtsstunden im Monat zu erteilen, verbunden war.766 Diese Zahl
wurde offenbar als ausreichend empfunden, um die Liquidität der Zugezogenen
zu gewährleisten. Eine solche Toleranz konnte willkürlich vergeben und jederzeit widerrufen werden. Neu Zugezogene erhielten in Neuenburg jeweils einen
764
765
766
« 1751. Le 15 juillet, Mlle Desaubert a sauvé la vie a mon chardonnet que le chat avait
attrappé. » Journal de ce qui se passe à l’Isle l’an 1751, zitiert nach Sévery, S. 15.
Übers.: C. S.
« Dlle Marie Catherinne Vollon Maitresse Musicienne, demeurant avec Madlle Perrier
Regente dans cette Ville, s’est presentée pour prier qu’on voullet bien la tolerer dans
cette Ville, Sous la Susde Relation, ayant produit des Certificats de Sa Bourgeoisie
d’Alaman, & autres, qui Luy ont tous été rendus. On Luy accorde la Tolerance demandée, pour le Cours de cette année. » Registre du Conseil vom 4. 3. 1752, ACY, AA 64,
S. 428.
« Dlle. Ravissa tollerée. La tolérance a été accordée à Dlle Geneviève Ravissa, Italienne,
comme Maitresse de Clavecin aux conditions qu’elle donne au moins vingt leçon par
moi. » Tolérance de Genovieffa Ravissa. Manuel du Conseil général de Ville, 1779–
1784, Séance du 8 novembre 1780, AVN, N 26.
219
unterschiedlichen Status zugeteilt: Es gab die als habitante (finanziell gut ausgestatteten) und die als tolleré bezeichneten Personen.
Die Steuerverzeichnisse in den Archiven der Stadt Neuenburg, die Livres
& Roller de tous les habitants, zeigen, dass „Genevieve Ravissa“ bis zum Jahr
1790 Steuern zahlte (jeweils 40 Livres pro Jahr767). Die Listen vermerken weiterhin die Steuern und Abgaben für Brennholz, die sich auf weitere 40 Livres
jährlich beliefen, vermerken ihren Status in der Stadt mit „tolérée“ sowie die
Tatsache, dass sie kein eigenes Haus besaß.768 Das eingangs zitierte Abschiedszeugnis, das Genovieffa Ravissa von der Regierung Neuenburgs ausgestellt
wurde, zeigt die Wertschätzung des Musikunterrichts und ihrer Lehrtätigkeit.
1793 erhielt Genovieffa Ravissa in Lausanne für sich selbst wie auch für ihren
Sohn François durch die zuständige Berner Regierung eine Toleranz für vier
Jahre. Der im Zusammenhang mit ihrer Unterrichtstätigkeit interessante Eintrag769 findet sich im Extrait des Régistres du Conseil de la Ville de Lausanne
vom 16. Juli 1793: „Ihre Exzellenzen haben der Dame Geneviève Ravizard eine Toleranz auf vier Jahre erteilt. Wir haben ihr erlaubt, in dieser Stadt in den
kommenden vier Jahren gegen Bezahlung zu unterrichten.“
Extrait des Régistres du Conseil de la Ville de Lausanne, 16. 7. 1793770
767
768
769
770
220
In den Jahren 1783, 1785 und 1789 erfolgten Zahlungen von 80 Livres „für 2 Jahre“.
Eine genaue Auflistung der geleisteten Zahlungen findet sich in Schweitzer/Schröder,
S. 70–71.
Der erste Eintrag stammt vom 9. 4. 1793, er befindet sich im Manaux du Conseil de
Lausanne (AVL, D 104, folio 28, 9. 4. 1793) und hält, wie auch die Ratsmanualen der
Stadt Bern vom 16. 5. 1793 (Staatsarchiv des Kantons Bern, A II 1012 (RM 426),
S. 71) die Toleranz Genovieffa Ravissas für vier Jahre schriftlich fest.
Extrait des Registres du Conseil de la Ville de Lausanne du 16me Juillet 1793, ACV,
Bb 25/28, folio 666. Derselbe Eintrag findet sich im Manaux du Conseil de Lausanne
desselben Tages (AVL, D 104, 16. 7. 1793, folio 70).
Nach Ablauf der vier Jahre erfolgte eine Erneuerung und Verlängerung der
Aufenthaltsgenehmigung. Das Bittschreiben, in dem um diese Verlängerung
gebeten wird, nimmt Bezug auf die erfolgreiche Unterrichtstätigkeit Genovieffa
Ravissas „in den besten Häusern“– und bildet ein weiteres Indiz auf ihre ehemalige Neuenburger Tätigkeit. Die Bitte um Verlängerung der Toleranz wird so
begründet: „Die große Zahl ihrer Schüler, die bis zu diesem Tag davon Beweis
geben, zeigen ihre Nützlichkeit in dieser Stadt und bezeugen, dass sie sich der
Gunst, um die sie Ihre Exzellenzen bittet, würdig erweist.“771
Ähnliches lässt sich für die übrigen Musiker sagen, auch sie bedurften alle
paar Jahre einer neuen Tolérance. Die Aufenthaltsgenehmigung Christian
Haensels, erteilt in Lausanne am 9. Mai 1797 für vier Jahre, betont, dass er „zu
keinen gegründeten Klagdten Anlaß geben“ dürfe.772 Die Frauen der Musiker
tauchen in diesen Schreiben höchstens als ‚Anhängsel’ ihres Mannes auf – kein
Vergleich zu Genovieffa Ravissa, die sogar als ‚Familienoberhaupt’ über ihren
erwachsenen Sohn mit Familie galt. So heißt es in der Tolérance der Familie
Haensel vom 29. Mai 1798: „Aufenthaltsgenehmigung erteilt an den Bürger
Haenzel, Maitre & Compositeur de Musique russischer Herkunft, seine Frau
und seinen Sohn bis zum 1. November mittels der Summe von – .“773 Sogar die
Dauer der Aufenthaltsgenehmigungen schwankte: Der Singmeister Igance Le
Comte erhielt am 19. April 1784 gemeinsam mit einem Dichter („Prosaligten“),
Jean Rodoni aus Parma, die Tolérance für – diesmal nur – zwei Jahre. Am 21.
März 1786 wurde die Erlaubnis für den Musiker und seine Frau auf weitere vier
Jahre verlängert.
Als die finanziellen Nöte Henriette und Charles Appias zu groß wurden,
zogen sie von Coppet nach Genf, wo ein Bruder des Ehemannes lebte. Man begab sich also in familiäres Umfeld. Nachdem ihr Mann sie 1792 verlassen hatte,
stellte Henriette Appia den Antrag, als Alleinstehende in Genf bleiben zu dürfen, was ihr auch gewährt wurde. Ihr Vermieter jedoch musste für sie bürgen:
„Ich, der Unterzeichnende, bürge vor den öffentlichen Börsen der Stadt und des
Landes dafür, dass Henriette Appia, geborene Le Conte ihre Steuern regelmäßig zahlen wird. Ich verspreche dies für den gesamten Zeitraum, für den ihr eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.“774 Ein Versäumnis im Nachkommen der
771
772
773
774
« Le grand nombre d’écolieres que l’exposante a eu jusqu’à ce jour, démontre son utilité dans cette ville et les témoignages ci-jointes quelle s’est rendue digne de la faveur
qu’elle sollicite de Vos Excellences. » ACV, Bb 25/28, folio 664, 665. Übers.: C. S.
Autorisation de séjour du Christian Haensel et sa femme vom 9. 5. 1797, ACV, Bb
25/31.
« Accordé une Tolérance au Citoyen Haenzel Maitre & Compositeur de Musique Natif
Russe, pour sa femme & son fils jusqu’au 1 er 9.bre moyennant l’adhésion de la
somme – . » Tolérance de Chrstian Haensel, 29. 5. 1798, ACV, H 80h. Übers.: C. S.
« Je soussigné cautionne en faveur des Bourses publiques de la ville et du territoire que
Henriette Appia née Le Conte ne tombera point à leur charge, m’engageant à cet effet
pour tout le temps que durera la permission de séjour qui lui sera accordée. Fait et passé
221
Zahlungspflichten hätte mit Sicherheit den Verlust der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zur Folge gehabt. Außerdem brauchte diese Frau, die sich bekanntermaßen in finanziellen Schwierigkeiten befand, einen Bürgen.
7. Alleinstehenden Frauen bot das Unterrichten eine angemessene Einkommensquelle.
Hatten etwa die beiden „Dames Haensel“ selbstverständlich mitgeholfen, das
Familieneinkommen aufzubessern, so bot sich eine musikalische Unterrichtstätigkeit anscheinend besonders den Frauen als ‚Rettungsanker’ an, die nach einer Trennung von ihrem Mann ein neues Standbein und eine andere Lebensbestimmung finden mussten. Verlief dieser Prozess bei Genovieffa Ravissa außerordentlich günstig und erfolgreich, so hatte die ebenfalls aus Turin stammende
jüngste Schwester Igance Le Comtes, Henriette Appia775, mit wesentlich größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Nach ihrer gescheiterten Ehe mit Giacinto
Massa, der Trennung von diesem Turiner Ehemann und erneuter Eheschließung
mit einem jungen Pfarrer der Valdeser Kirche mit Namen Jean Charles Appia
am 11. Juli 1776 arbeitete Henriette Appia als Cembalistin und Clavierlehrerin,
um die bereits verschuldete Familie mit zu ernähren. Sechs Jahre nach der 1786
vor einem Genfer Notar erfolgten Gütertrennung verließ ihr Mann sie aus politischen Gründen. Im Jahr 1798 wurde Henriette Appia in ihrem Wohnort Genf
offiziell als musicienne, als Musikerin, geführt.776 Sie bestritt die Kosten für ihren Lebensunterhalt aus den Einnahmen professioneller musikalischer Tätigkeit, die zum größten Teil aus Unterrichten bestanden haben dürfte. 1809
schließlich war die mittlerweile fast 60-jährige nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Sie bezog bis an ihr Lebensende finanzielle Hilfe von der italienischen
Börse in Genf, zunächst in Form einer kleinen Pension, später zahlte die Börse
für sie die Lebensunterhaltskosten bei einem Bauern in Cartigny, einem kleinen
Ort, der heute aus acht Häusern besteht.
8. Die Wohnverhältnisse der meisten Clavierlehrerinnen waren gut.
Zu den Wohnverhältnissen der Musiklehrerinnen gibt es Hinweise in unterschiedlichen Quellen. Während in Neuenburg die übrigen Musiker – alle anderen namentlich erwähnten sind männlich – in der Altstadt lebten, taucht Genovieffa Ravissa (ohne Berufsbezeichnung) in der einzigen während ihres Aufent-
775
776
222
en la Chambre des étrangers le 5 novembre 1792. » Livre des cautionnements pour les
permissions de séjour à l’usage de la Noble Chambre des Etrangers, Étranger A 10,
AEG, nach Le Comte, S. 9, Übers.: C. S. Die monatlichen Abgaben betrugen anfänglich 2 Francs, welche Henriette Appia in Trimestern zahlte und wurden 1798 auf 7 Florin verringert. Die Aufenthaltserlaubnisse galten teils 3 oder 6 Monate, die späteren
auch für einen längeren Zeitraum. Siehe Etrangers A 6, AEG, nach Le Comte, S. 10.
Alle biografischen Angaben nach Le Comte.
Recensement Genève 1798, AEG, B 6, S. 149 (Arrondissement du Parc) No. 2974.
halts in Neuenburg Namen und Straßen erwähnenden Volkszählung vom 20.
August 1789 in der Domaine du Faubourg, heute Faubourg de l’Hôpital auf.
Das Quartier du Faubourg, Teil des damaligen ‚Neubaugebietes’ der Stadt, war
Wohnort der höheren Gesellschaft.
In Lausanne wurde im Jahr 1789 eine umfassende Volkszählung durchgeführt.777 Genovieffa Ravissa lebte demnach im Mai dieses Jahres im Quartier
de Saint-Laurent in der Rue Saint-Jean 56, zweite Etage. Eigentümer des Hauses war der oben genannte Jean Christian Helmode, der hier mit seiner Familie
wohnte. Die Musikerin Citoyenne Ravizza teilte die Wohnung mit ihren beiden
Kindern nebst einer aus Genf stammenden Dienerin. Des Weiteren wohnte in
diesem Haus der Citoyen Major Violliome mit seiner Bediensteten Nannette
Masson (aus dem Nachbarort Ecublens). Ganz in der Nähe, ci-devant Maison
Forneret, en Saint-Laurent778, lebten bis 1793 Ignace Le Comte und seine Familie, dann zogen sie in die Rue de la Mercerie im Quartier de La Palud um, in
einen Stadtteil, der eine eigene Société de Musique besaß. Die Familien Ravissa
und Le Comte lebten demnach nicht in Musikervierteln, sondern möglichst nahe bei den Adeligen und reichen Bürgern, für die sie arbeiteten.
Christian Haensel und seine Frau wohnten nach den Angaben der Volkszählung im Jahr 1798 in der Cheneau-de-Bourg 11 und galten als seit 1796 in
Lausanne gemeldet. Aus der Sterbeakte779 Suzanne Haensels geht hervor, dass
die Familie zu diesem Zeitpunkt im Quartier de Plainpalais in Genf lebte, einem damals eher ländlichen Bezirk, der sich damals noch außerhalb der Stadtmauern befand.
Henrietta Appia lebte 1798, nach der Trennung von ihrem zweiten Ehemann, im Maison Huaut Nr. 219, Arrondissement du Parc. Es handelte sich um
ein recht gemischtes Viertel, in dem Adelige neben einfacheren Leuten lebten.780 Die Einrichtung ihrer Wohnung scheint spärlich gewesen zu sein: Laut
ihrem am 26. September abgefassten Testament bestanden ihre wertvollsten
Habseligkeiten aus einem silbernen Essgeschirr, sechs mit den Buchstaben EL
geschmückten silbernen Kaffeelöffeln und einer ebenso verzierten goldenen
Dose mit Ketten, aus einer kleinen Bibliothek, einem Schrank aus Nussbaumholz, ihrer Kleidung und Wäschestücken.781 (Erstaunlicherweise befindet sich
unter den aufgezählten Gütern kein Instrument.) Kein Vergleich also zu dem
Luxus, der in den Wohnungen der beiden Pariser Clavierlehrerinnen Marie
Françoise Certain und Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre zu Beginn des
777
778
779
780
781
Population du Mai 1798, District de Ste-Croix. Verzeichnis der Lausanner Volkszählung vom Mai 1789, ACV, Ea 14/107–126.
Inserat Ignace Le Comtes am 4. 7. 1797 in den Feuille d’avis de Lausanne.
Registre inhumations cimetière protestant 4ème tour fossé A–C, AVG, cote 552.A.1/10.
Ihr Name wird hier mit „Ador“, derjenige ihres Mannes mit „Kaendel“ angegeben.
Frdl. Hinweis von Herrn Jacques Barrelet, AEG.
Nach Le Comte, S. 10.
223
Jahrhunderts geherrscht hatte. Auch der letzte Umzug Henriette Appias als Pensionärin in die Gemeinde Eaumorte dürfte ihre Lebensverhältnisse kaum entscheidend verbessert haben. Sie starb verarmt auf dem Lande und scheint in
dieser Hinsicht im Vergleich mit ihren Berufskolleginnen eine Ausnahme zu
bilden.
224
2
Die Niederlande am Beispiel dreier Clavierlehrerinnen
Elisabeth Jeanne Broes aus Amsterdam galt als eine „treffliche“782 Clavierspielerin.
Die AMZ berichtet im Jahr 1815 von einem ihrer Konzerte: „Sie ist Dilettantin,
leistet aber sehr viel. Sie erhielt hier allgemeinen Beyfall. Ihr Vortrag ist mehr angenehm, als brillant; was sie spielt, trägt sie sehr gut und mit viel Ausdruck vor.“783
Nach anfänglichem Musikunterricht in ihrer Geburtsstadt hatte die junge Elisabeth
ihren Vater nach Paris begleitet, wo sie seit 1805 Unterricht in Harmonielehre und
Clavierspiel erhielt und rasche Fortschritte machte. 1814 war Elisabeth Jeanne
Broes, bedingt durch die politischen Ereignisse, in ihr Vaterland zurückgekehrt.
Hier erteilte sie Clavierstunden und war 1815 und 1817 als Pianistin, zum Teil mit
eigenen Kompositionen, in den Konzerten der Felix Meritis Gesellschaft zu hören784. Laut ihrem Lehrer Fétis wurde sie als eine der besten Clavierlehrerinnen
Amsterdams betrachtet.785 Sie wusste also das in Paris angeeignete Wissen umzusetzen und erfolgreich weiterzugeben. Im Alter von 24 Jahren heiratete Elisabeth
Jeanne Broes den um fünf Jahre älteren Kaufmann Carel Joachim Wylep. Zwischen
1820 und 1824 gebar sie fünf Kinder786. Einige Jahre später zog sie mit ihrem Mann
nach Pernambuco/Brasilien, wo noch einmal sechs Kinder geboren wurden.787 Elisabeth Jeanne Wylep-Broes spielte weiterhin Clavier.788 Ob sie jedoch noch unterrichtete und damit Geld verdiente, ist wohl eher fraglich.
Über ihre etwas früher lebende Amsterdamer Kollegin Martha Burghorst sind
die Informationen noch wesentlich spärlicher – nur ein Satz in Friedrich Wilhelm
Marpurgs Kritischen Briefen über die Tonkunst verweist auf ihre Existenz: „Burghorst (Martha) eine tugendreiche Jungfer in Amsterdam; singet, philosophirt und
spielt schön. Giebt Unterweisung an vornehme Damen.“789 Natürlich gibt die Quel782
783
784
785
786
787
788
789
Mendel.
AMZ 1815, Sp. 320.
GAA, Archief 59, Felix Meritis inventairs nummer 335.
Fétis.
Geburtsurkunden in GAA.
Metzelaar, S. 85.
De Navorscher 1854, S. 188, nach Metzelaar, S. 66.
Marpurg Briefe, S. 464. In der bei Marpurg abgedruckten Liste aus dem Jahr 1762,
S. 463–477, die zahlreiche im niederländischen und norddeutschen Raum bekannte und
ansässige Musiker enthält, finden sich neben Martha Burghorst nur noch zwei weitere
Frauen: Anna, „Kron=Prinzeßin von Groß-Brittannien, Gemahlin Wilh. Car. Heinr. Frisonis, weyland Printzen von Oranien, Erb=Statthalters der vereinigten Niederlande“,
besonders gelobt für Ihren Gesang und ihr Generalbassspiel, die „bey gesunden, vergnügten Tagen jeden Abend ein öffentliches zwostündiges Concert zu halten“ pflegte
und Anna Steen, eine „vornehme Jungfer zu Amsterdam“, bezeichnet als „ein Wunder
ihrer Zeit“ wegen ihrer vollendeten Beherrschung verschiedener Sprachen, des großen
Umfangs ihrer Singstimme und ihrer „Composition von italienischen Arien“.
225
le keine explizite Auskunft darüber, dass Martha Burghorst Clavierunterricht erteilt
habe, doch ist davon auszugehen, dass ihr Instrument, wie bei Frauen üblich, das
Clavier war und sie (neben dem Gesang) vermutlich das Spiel auf eben diesem Instrument unterrichtete.
Musikerinnen und Musiklehrerinnen im öffentlichen Leben
Elisabeth Jeanne Broes und Martha Burghorst, sie beide gehörten zu einer kleinen
Gruppe niederländischer Frauen, die als Musikerinnen öffentlich in Erscheinung
traten. Wie Helen H. Metzelaar790 darstellte, war diese Gruppe (ebenso wie etwa die
der männlichen niederländischen Komponisten) sehr klein, kamen doch die meisten
Musiker aus dem Ausland. Verglichen mit der Schweiz waren die Ansprüche an das
Niveau der musikalischen Erziehung höher definiert. In diesem Zusammenhang ist
etwa Elisabeth Broes’ Ausbildung in Paris zu sehen. Ihre Biografie zeigt allerdings
auch den typischen Lebensweg der niederländischen musizierenden Frauen auf:
Selbst sie, die über die Grenzen ihres Vaterlandes hinaus bekannt geworden war,
beendete ihre Karriere mit der Heirat. Sie entsprach damit dem typischen Weiblichkeitsideal, der ihr zugedachten Geschlechterrolle. Da in der Regel nur Frauen höherer sozialer Klassen eine musikalische Ausbildung erhielten, galt dieser Weg als
selbstverständlich und offenbar bindend. Die „tugendreiche Jungfer“ Martha Burghorst blieb wohl ledig und kam somit ihren weiblichen Aufgaben auf anderem Wege nach, nämlich in der Hingabe und Aufopferung an ihre Schülerinnen.
Gertrude van den Bergh
Die dritte niederländische Pädagogin, Anna Gertruda Elizabeth van den Bergh, unterrichtete überwiegend in ihren späteren Lebensjahren und fällt daher eigentlich
aus dem betrachteten Zeitraum heraus. Da sie jedoch Ähnlichkeiten mit einem Typus norddeutscher früherer Lehrerinnen aufweist (Louise Reichardt und Charlotte
Bachmann), soll sie hier ebenfalls Erwähnung finden.
Die 1794 geborene Gertrude van den Bergh lebte seit 1818 in Den Haag, dem
zur damaligen Zeit neben Amsterdam wichtigsten Musikzentrum der Niederlande,
wo viele Aristokraten und Regierungsbeamte eine große intellektuelle Klasse bildeten. Als Pianistin wurde sie besonders für ihre Beethoveninterpretationen gelobt (es
ist, nebenbei bemerkt, doch auffällig, wie viele Frauen als Interpretinnen dieser so
‚männlichen’ und ‚heroischen’ Musik berühmt waren), außerdem galt sie als Wiederentdeckerin der Werke Johann Sebastian Bachs in den Niederlanden. Sie komponierte, leitete mehrere Chöre und unterrichtete, u. a. Mitglieder der Königsfamilie
und Aristokraten. Mit diesen Einnahmen beglich sie nicht nur ihre eigenen Lebenshaltungskosten, sondern sie sorgte auch für ihre alte Mutter, die bei ihr lebte. Ihre
Schülerin Marie Cornélie van Wassenaer, von 1825 bis zu ihrer Heirat im Jahr 1831
Hofdame der Prinzessin Anna Paulowna, ebenfalls eine Schülerin van den Berghs,
790
226
Metzelaar.
trug die zwischen 1827 und 1833 erhaltenen Clavierstunden in ihr Rechnungsbuch
ein. Hier sind 17 Musikstunden für das Jahr 1827, sechs für 1828, 16 in 1829 und
15 Stunden für 1830 verzeichnet. In den Jahren 1831 bis 1833 lautet der Eintrag lediglich „Rechnung von Miss Van den Bergh“. Die Summen, die ausgezahlt wurden,
sind wesentlich höher als diejenigen der Jahre zuvor, allerdings belaufen sie sich
auf „Musikstunden und Noten“, sodass sie keinen Rückschluss mehr auf die Anzahl
der Stunden zulassen.791 Im Vergleich mit den Tagebucheintragungen über den Unterricht, den Genovieffa Ravissa ihrer Schülerin Angletine de Charrière de Sévery
erteilte, scheinen die Stunden hier regelmäßiger stattgefunden zu haben, wenn auch
noch nicht so häufig, wie es laut einem 1812 veröffentlichten Bericht der AMZ
(s. u.) zu vermuten gewesen wäre.
Um 1830 erschienen Gertrude van den Berghs in französischer Sprache abgefasste Principes de musique 792 , eine allgemeine musikalische Einführung in vier
Kapiteln und gedacht für den Unterricht, den die Autorin, ähnlich wie Mme de
Grammont in Paris, zweimal wöchentlich an kleine ‚Klassen’ aristokratischer Schülerinnen und Schüler (in gemischten Gruppen) erteilte. Dieser Unterricht fand in ihrer eigenen Wohnung statt, selbst Personen aus hohen Gesellschaftsschichten kamen also in das Haus der Lehrerin. Ihr Tagesplan sah für den gesamten Morgen bis
in die späten Nachmittagsstunden hinein Clavier- und Gesangsstunden vor: Sie
muss also sehr viele Schülerinnen gehabt haben. Zu diesen zählten neben den bereits Genannten die beiden Töchter des Königs William I., Prinzessinnen Willhelmina Frederika Louise Paulina Charlotta (1800–1806) und Wilhelmina Frederika
Louise Charlotta Marianne (1810–1883), sowie die Frau William III., Prinzessin
Sophia von Württemberg (1818–1877).793 Eine Lehrerin also, die von früh bis spät
wirkte, die unterrichtete und einen Traktat für ihre eigenen Zwecke verfasste. Ähnlich unermüdlich werden die beiden Deutschen Louise Reichardt und Therese aus
dem Winckel geschildert. Alle drei Frauen entsprachen damit dem Bild der immer
geschäftigen Hausfrau, die sich stets „in nimmer ruhender Betriebsamkeit“794 befand.
Gertrude van den Bergh genoss hohe Anerkennung und nahm aktiven Einfluss
auf die Entwicklung des Musiklebens in Den Haag. So war sie z. B. an der Organisation des großen, am 16./17. Oktober 1834 stattfindenden Den Haager Musikfestes
intensiv beteiligt. Es waren diese Tätigkeiten, die ihr im Besonderen und nachhaltiger einen Bekanntheitsgrad sicherten als ihre Lehrtätigkeit am Clavier bzw. ihr
eigenes Auftreten als Künstlerin oder Komponistin. Ein neuer Typus der musika791
792
793
794
Inventaris van het Huisarchief Twickel, Inv. Nr. 1228, nach Metzelaar, S. 179.
Eine eingehendere Besprechung findet sich bei Metzelaar, S. 180–183 und Helen Metzelaar, Gertrude van den Bergh, in: Helen Metzelaar (Hrsg.), Zes vrouwelijke componisten, Zutphen 1991, S. 21–51, bes. S. 34–36.
Siehe Metzelaar, S. 177.
Conversations-Lexikon oder Handwörterbuch für die gebildeten Stände, Bd. 4, Leipzig/Altenburg ³1815, S. 211, nach Hausen, S. 366.
227
lisch tätigen Frau war hier offenbar im Entstehen begriffen: Sie war Chorleiterin,
Ausbilderin, Zuarbeiterin für die großen Aufführungen, die dann letztendlich von
den namentlich genannten Männern geleitet wurden. ‚Lediglich’ als „Musiklehrerin“ wird denn auch diese so erfolgreiche niederländische Musikerin in ihrem Totenschein bezeichnet.795 Immerhin – eine Berufsbezeichnung ist für Gertrude van
den Bergh bereits angegeben. Elisabeth Jeanne Wylep-Broes und vermutlich auch
Martha Burghorst verblieben offiziell im Lager der Dilettantinnen.
Clavierunterricht für Mädchen
In den Niederlanden, einer Gegend, in der die Künste früh einen außerordentlich
hohen Standard erreicht hatten (man denke an die großen niederländischen Maler
wie Peter Paul Rubens, Rembrandt oder Frans Hals, an Jan Pieterszoon Sweelinck
und seine einflussreiche Orgelschule und an berühmte Cembalobauerfamilien wie
die Ruckers, die Couchets oder Dulckens), in einem Land, da man immer wieder
Frauen an Tasteninstrumenten abbildete, wie etwa die um 1670 entstandene „Junge
Frau am Virignal“ von Johannes Vermeer van Delft796, da formulierte bereits im
Jahr 1746 der Algemeene Spectator die Maxime, eine Frau solle versuchen, es in
ihrem Können Männern gleichzutun, solle aber immer sorgsam darauf achten, ihre
Kompetenzen zu verbergen, um nicht Gefahr zu laufen, lächerlich gemacht zu
werden.797
Bereits im 17. Jahrhundert erhielten zahlreiche Mädchen musikalischen
Unterricht: Zum Teil sind sogar Ausbildungskontrakte erhalten, in denen die
‚Lehrzeit’ und das Unterrichtsziel festgelegt wurden. So sollten etwa die beiden
Töchter des Hans Pieters in Amsterdam im Jahr 1640 bei Johannes Hartogh eine
eineinhalbjährige Ausbildungszeit beginnen, in der sie in täglichem Unterricht das
Cembalospiel und Singen „perfekt“ erlernen sollten. 798 Als Unterrichtsliteratur
dienten den niederländischen Mädchen üblicherweise eigens angefertigte
Sammlungen mit Clavierstücken. Die meisten der erhaltenen Bücher dieser Art
stammen denn auch aus dem Besitz von Frauen. Das früheste bekannte ist das 1599
entstandene Susanne van Soldt-Manuskript aus dem Besitz der Tochter eines Ant795
796
797
798
228
Sterbeurkunde 1130, GADH, siehe Metzelaar, S. 184.
Zum Realitätsbezug der Abbildung von Musizierenden auf niederländischen
Bildquellen vgl. Karel Moens, Musizierende Frauen in moralisierenden Bildquellen des
16. und 17. Jahrhunderts aus den alten Niederlanden, in: Frauen und Musik im Europa
des 16. Jahrhunderts. Infrastrukturen – Aktivitäten – Motivationen, hrsg. von Nicole
Schwindt, Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik Bd. 4, 2004, Kassel-BaselLondon-New York-Prag 2005, S. 171–193.
“Een vrouw moet zo bequaam als een man tragten te worden maar altoos zorgvuldig
haare bequaamheid tragten te bedekken, want zo dra zy met haare mannelyke
bequaamheden pronkt word zy zo wel van mannen als vrouwen bespot.” Algemeene
Spectator 1746, nach Metzelaar, S. 15.
Siehe Metzelaar, S. 34.
werpener Emigranten.799 Das Dimpna Isabella und das Maria Therese Reijnders
Manuskript, beide aus der Zeit um 1700, gehörten den beiden Töchtern des Arztes
Hendrik Reijnders und seiner Frau Anna Belmans aus Meerhout.800 All diese Bücher enthalten einfache Clavierarrangements, in der Regel ohne Nennung eines
Komponistennamens. Viele Stücke zeigen keine nennenswerten technischen
Schwierigkeiten auf, andere sind in gutem Satz mehrstimmiger und imitatorischer
konzipiert.
Die meisten Mädchen erhielten, wie es auch die zeitgenössischen Gemälde
zeigen, Unterricht bei Männern; sie musizierten an Cembalo, Spinett, Virginal oder
einer Kabinettorgel, später am Hammerclavier. Waren Kielclaviere und Orgeln gern
als Generalbassinstrumente genutzt, so wurde das Hammerclavier zum Instrument
der Liedbegleitung. Das Tasteninstrument war in jedem Fall Mittelpunkt des häuslichen Musizierens. Im 18. Jahrhundert gehörte Clavierspiel zum guten Ton, und viele Mädchen wurden wie Elisabeth Jeanne Broes mit etwa 14 Jahren für meist zwei
bis vier Jahre zur Verfeinerung ihrer Erziehung ins Ausland, meist nach Paris, geschickt. Die im Jahr 1750 vermutlich in Amsterdam geborene Elizabeth Joanetta
Catherine von [van] Hagen hatte z. B. in ihrer Jugend eine so gute pianistische Ausbildung erhalten, dass sie nach ihrer Heirat mit Peter Albrecht van Hagen und der
1774 erfolgten Emigration in die USA dort als konzertierende Clavierspielerin, als
Komponistin und Musikverlegerin tätig sein konnte. Seit 1799 erteilte sie Clavierstunden in Salem und Boston und war nach dem Tode ihres Mannes im Jahr 1803
dessen Nachfolgerin als Organistin an der King’s Chapel.801
Tätigkeitsfelder
Das Interesse an musikalischem Unterricht war in den Niederlanden groß. Im Jahr
1812 beschrieb die AMZ in einem bereits erwähnten Bericht den – nach Meinung
des Rezensenten recht traurigen – „Zustand der Musik in Amsterdam“ und vermerkte dabei: „Wer [...] nur satt werden will, muss sich hier auf ein beliebtes Instrument legen und viele, sehr viele Informationen geben. Dies lohnet noch, wenn man
einmal einigen Ruf hat: denn an Liebhabern, welche lernen wollen, fehlt es gar
nicht; es lohnet – wie es allmählig abstumpft und das eigene Fortschreiten fast unmöglich macht. Wer sich dazu nicht verstehen kann, und wol überdies ein Instrument übt, das nicht die Dilettanten reizt, der muss jetzt freylich, soll er von seiner
799
800
801
Heute British Museum, London Add. 29485, moderne Ausgabe in: Monumenta Musica
Neerlandica III, Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis, Amsterdam 1961.
RAA, Fonds de Menten de Horne 729 und 748bis, moderne Ausgaben, in: Zuid-Nederlandse Klavecimbelmuziek, Monumenta Flandriae Musica 4: Drie Handschriften uit
het Rijksarchief Antwerpen: Arendonk, Dimpna Isabella en Maria Therese Reijnders,
Leuven-Peer 1998.
Sie selbst starb 1809/1810 in Suffolk Co., MA. Siehe GroveW, S. 207–208.
229
Kunst leben, sich dürftig genug behelfen.“802 Viele, viele Unterrichtsstunden waren
also laut diesem Bericht nötig, um Lehrenden das Überleben zu sichern (wobei man
sich unweigerlich an Gertrude van den Berghs Tagesablauf erinnert fühlt). Eigenes
künstlerisches Tun musste dabei zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Der Beruf
nahm langsam eine Eigendynamik an: Man war nicht mehr vielfältig, musizierend,
unterrichtend, vielleicht auch noch schriftstellerisch tätig, sondern das Berufsfeld
grenzte sich langsam aber sicher auf den Unterricht ein und gewann schließlich im
Verlauf des 19. Jahrhunderts ein anderes Profil.
Trotz aller Bemühungen um die musikalische Ausbildung der Töchter blieb
die Domäne des Musizierens der Frauen und Mädchen das eigene Heim. Die Mädchen wurden zu Dilettantinnen mit oft hervorragenden Fähigkeiten herangebildet,
verdienten aber kein Geld mit ihrer Kunst. Wenn sie öffentlich auftraten, so spielten
sie nicht im Orchester, sondern traten wie die deutschen Musikliebhaberinnen solistisch als Sängerinnen oder Clavierspielerinnen auf.803 Dabei wurden Frauen expliziter für die einfühlsamen denn die virtuosen Stärken gelobt, wie es die eingangs zitierte Passage über Mlle Broes zeigt. Umso erstaunlicher ist die Vorliebe für das
Werk Beethovens im Repertoire der konzertant auftretenden Clavierspielerinnen.
Elisabeth Jeanne Wylep-Broes beendete ihre Karriere als Pianistin und Lehrerin mit
der Heirat und wohl endgültig mit der Auswanderung nach Brasilien. Gertrude van
den Bergh war zwar als Pianistin öffentlich anerkannt (wobei neben technischer
Virtuosität besonders die Bescheidenheit ihres Auftretens, ein zu ihrer Geschlechterrolle passender Charakterzug, gelobt wurde), dennoch: Weit bekannter wurde die
Künstlerin durch ihre Rolle als Chorleiterin. Sie bereitete wie Louise Reichardt den
Chor vor, während die großen Aufführungen mit Orchester dann von Männern geleitet wurden. Gertrude van den Bergh entsprach damit genau der im Algemeene
Spectator geforderten Maxime, zwar das gleiche Können wie Männer zu besitzen,
aber, um sich nicht lächerlich zu machen, schön bescheiden im Hintergrund zu bleiben.
802
803
230
Gegenwärtiger Zustand der Musik in Amsterdam, in: AMZ 1812, Sp. 233–242, hier
Sp. 235.
Neben Mlle Broes war zu Beginn des 19. Jahrhunderts z. B. eine weitere Dilettantin,
Louise Charlotte de Neufville, geb. Ritter (1779–1859), die Tochter eines Malers, bekannt.
Teil III
Deutschland und Österreich
1
Die Situation in Deutschland
1.1
Der Geschlechtscharakter und die Erziehung deutscher Mädchen
In Deutschland war man in punkto Mädchenerziehung stark von François de Salignac de la Mothe Fénelons Traité de l’éducation des filles aus dem Jahre 1687 beeinflusst, einem Lehrwerk, das bereits nach wenigen Jahren von August Hermann
Francke ins Deutsche übersetzt und von diesem an seinem um 1700 in Halle gegründeten Gynäzeum in den Grundzügen erprobt worden war. Man orientierte sich
stark an einer zweckmäßigen, auf die späteren Lebensumstände vorbereitenden Erziehung, was für die niederen Stände die Erwerbstätigkeit im Sinne der Industrialisierung, für den Mittelstand aber den künftigen „weiblichen Beruf“804 bedeutete.
Die Geschlechtscharaktere galten als klar definiert und umrissen. Sie wurden seit
dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts „als eine Kombination von Biologie und
Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmale in das Innere der Menschen verlegt“805. In Deutschland waren es vor allem die Philanthropen um Joachim Heinrich Campe und Johann Bernhard Basedow, die diese Bewegung vertraten. Männlicher, außerhäuslicher, und weiblicher, häuslicher, Beruf wurden miteinander verglichen und als gleichrangig bewertet, was für die Stellung der
Frauen zunächst einmal eine ideelle Aufwertung innerhalb des Hauswesens bedeutete, sie aber in ihrer außerhäuslichen Position immer weiter einschränkte. Ihre Tätigkeiten waren auf das Heim begrenzt, auf ihre Rolle als „beglückende Gattinnen,
bildende Mütter und weise Vorsteherinnen des innern Hauswesens“ 806. Nur so können laut Campe Frauen zu einer „reinen und dauerhaften Glückseligkeit“807 gelangen. Sein Väterlicher Rath für meine Tochter von 1796 ist „vornehmlich für junge
Frauenzimmer des glücklichen Mittelstandes, nicht für junge Damen von Stande“808
geschrieben, also für die Frauen, deren Erziehung die Theoretiker in den folgenden
Jahrzehnten große Aufmerksamkeit schenken sollten. Diesen bürgerlichen Frauen
gilt Joachim Heinrich Campes Aufruf: „Du bist ein Mensch – also bestimmt zu allem, was der allgemeine Beruf der Menschheit mit sich führt. Du bist ein Frauenzimmer – also bestimmt und berufen zu allem, was das Weib dem Manne, der
menschlichen und der bürgerlichen Gesellschaft sein soll. Du hast also eine zweifache Bestimmung, eine allgemeine und eine besondere, eine als Mensch und eine als
Weib.“809 Und einige Seiten weiter heißt es: „Bestrebe dich, und zwar schon jetzt in
den Jahren der Vorbereitung, dir wahre, aber wohlverstanden! Weibliche Verdienste
zu erwerben, um einst deinen Wirkungskreis als Gattinn, Hausfrau und Mutter ganz
804
805
806
807
808
809
Mayer, S. 18.
Hausen, S. 369–370.
Campe, S. 16–17.
Campe, S. 10.
Campe, Vorrede von 1789, S. VIII.
Campe, S. 7.
233
ausfüllen zu können und dich dadurch nicht bloß der Liebe und Dankbarkeit, sondern auch der Hochachtung deines Gatten zu versichern.“810 Denn Frauen sollen
„der ganzen zweiten Hälfte des menschlichen Geschlechts, der männlichen, welche
die größern Beschwerden, Sorgen und Mühseligkeiten zu tragen hat, durch zärtliche
Theilnahme, Liebe, Pflege und Fürsorge das Leben versüßen.“ Sie sollen Mütter
sein, „welche nicht bloß Kinder gebähren, sondern auch die ersten Keime jeder
schönen menschlichen Tugend in ihnen pflegen, die ersten Knospen ihrer Seelenfähigkeit weislich zur Entwicklung fördern [...]; Vorsteherinnen des Hauswesens,
welche durch Aufmerksamkeit, Ordnung, Reinlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, wirthschaftliche Kenntnisse und Geschicklichkeiten, den Wohlstand, die Ehre, die häusliche Ruhe und Glückseligkeit des erwerbenden Gatten sicher stellen, ihm die Sorgen der Nahrung erleichtern, und sein Haus zu einer Wohnung des Friedens, der
Freude und der Glückseligkeit machen.“811
Einige wenige Gegenstimmen regten sich. So drang Amalia Holst812 auf „die
höchste ausbildung des weibes“813: „diese bildung werde uns gründlich und aus den
echten quellen, so wie den männern, gegeben, nicht aus den büchern, die für damen
geschrieben sind, worin wir eigentlich nur wie grosse kinder behandelt werden“814.
Sind Frauen umfassend und gründlich gebildet, so wird ihnen laut Holst „das süsse
bewusstsein, unsere pflichten als mensch, als gattin und mutter im grössten umfange erfüllt zu haben, […] glückseligkeit und heiterkeit geben“815. Bildung ist für diese Autorin nicht geschlechterbedingt, sondern soll „mit rücksicht auf unsere individuellen pflichten“816 betrieben werden, so dass „beide geschlechter, die von der natur bestimmt sind, eines auf das andere zu wirken, […] in diesem schönen geschäft
der menschheit, in einer immer höheren ausbildung, mit einander wetteifern“ 817
werden. Die Pädagogin Betty Gleim formuliert folgendermaßen: „Alle Menschen
sollen [...] intellectuell, ästhetisch, moralisch und religiös gebildet werden; alle
Frauen sind Menschen; folglich müssen auch sie intellectuell, ästhetisch, moralisch
und religiös gebildet werden.“818 Nach Gleim wäre „das Glück der Männer […] also bei einem recht gebildeten Weibe gesichert“. 819
810
811
812
813
814
815
816
817
818
819
234
Campe, S. 40.
Campe, S. 17.
Amalia Holst, geb. von Justi, 1758–1829, veröffentlichte 1802 in Berlin ihr Werk Über
die Bestimmung des Weibes zur höhern Geistesbildung, in dem sie deutlich gegen die
weit verbreiteten Lehren der Philanthropen Stellung bezog. Die Kleinschreibung in den
Zitaten geht auf die Neuausgabe zurück.
Holst, S. 42.
Holst, S. 43.
Holst, S. 115.
Ebd.
Ebd.
Gleim, S. 58–59.
Gleim, S. 66.
In den gemeinsamen Kindern sollte die Ehe einen festen Zusammenhalt finden. Da die Kindererziehung der Frau oblag, trug sie einen großen Anteil am Erfolg
oder Scheitern der Ehe. Gemeinhin hatte die Ehefrau ihren Mann zu umsorgen,
vielfach wurde sie auch durch ihn nach seinen Vorstellungen intellektuell gebildet,
denn sie sollte ihm durchaus auch eine verständige und geistvolle Gesprächspartnerin sein. 820 Als Mutter stand für die Frau ihre erzieherische und beispielgebende
Rolle im Vordergrund.
An dieser Stelle ergab sich trotz aller Begrenzung eine Anknüpfungsmöglichkeit für
eine außerhäusliche Berufstätigkeit, die zunächst, wie Elisabeth Eleonore Bernhardi
es 1798 formulierte, für Frauen gedacht war, „die sich nie oder nur spät verheirathen, oder kinderlos bleiben“821. Denn war erst einmal die Notwendigkeit einer wie
auch immer gearteten Frauenbildung anerkannt, so musste sich die nächste Frage
zwangsläufig geeigneten Erzieherinnen zuwenden. Eltern aus privilegierten Schichten übernahmen zwar oft genug selbst die Lektionen ihrer Kinder, wünschten sie eine häusliche Erziehung an Stelle derjenigen in einer öffentlichen Schuleinrichtung,
viele griffen aber auch gern auf professionelle Erzieher (und Erzieherinnen) zurück,
um ihren Kindern eine angemessene Bildung zu sichern. Holst zieht die Schlussfolgerung, dass die Vorbereitung der Mädchen auf eine eventuelle spätere Berufstätigkeit außerordentlich wichtig sei, ganz direkt im Anschluss an die Erörterung ihrer
Fragestellung, was aus Frauen werden solle, die aus „mancherlei ursachen“ von
ihrer „bestimmung als gattin und mutter“822 abgehalten sind: „hat das weib ihre bildung aus dem einzig wahren gesichtspunkt zur vollendeten schönen humanität erreicht, so ist sie für kein verhältnis des lebens verloren, dann schmiegt sie sich jedem wirkungskreise an“823. Dem „unverehelichten und unbegüterten weibe“ bleiben
als „nahrungszweige“ nur „die erziehung der jugend; der männlichen nur bis zu einem gewissen alter, der weiblichen bis zu ihrer vollendung. dann als haushälterinnen oder gesellschafterinnen sich fort zu helfen, und endlich sich durch handarbeit,
besonders im fache der moden und des luxus, zu nähren“824 übrig. Und weiter: „eine jede wird von diesen nahrungszweigen denjenigen wählen, wozu ihre bildung,
ihre talente und ihre neigung sie bestimmen“. Auch Gleim drang darauf: „man ertheile den Mädchen wie den Knaben eine Erwerbsbildung“825. Nur so könne Armut
820
821
822
823
824
825
Siehe Friderika Baldingers Versuch über meine Verstandeserziehung, veröffentlicht 1791, nach Rebekka Habermas: Friderika Baldinger und ihr Männerlob, Geschlechterdebatten der Aufklärung, in: Heide Wunder, Geisela Engel, Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Königstein 1998, S. 242–254.
Elisabeth Eleonore Bernhardi, Ein Wort zu seiner Zeit, 1798, nach: Mayer, S. 23.
Holst, S. 134.
Ebd.
Ebd.
Gleim, S. 104.
235
und damit einem „jammervollen Zustande derer, die ihnen [den Eltern] so werth, so
theuer, sind“826 vorgebeugt werden.
Als allgemein geeignet betrachtet und damit bereits früh ermöglicht wurde der
Zugang zu pädagogischen und sozialen Berufen wie Erzieherinnen, Lehrerinnen,
Haushälterinnen, Kindermädchen oder Krankenpflegerinnen.827 In diesen Berufen
konnten die „natürliche Rolle der Frau“, ihre „Mütterlichkeit“ und eine „hausarbeitsnahe Tätigkeit“ miteinander vereinbart werden. „Außerdem giebt noch Virtuosität in irgend einer Wissenschaft oder Kunst, z. B. in der Musik, Malerei &c. und
Geschicklichkeit in weiblichen Handarbeiten, im Nähen, Stricken, in feiner Stickerei, im Verfertigen von Kleidern, Blumen, Putz-Stoff und Gelegenheit genug, um
etwas davon als ein Erwerbsmittel zu benutzen.“828 Johann Daniel Hensel äußerte
sich sogar dahingehend, „daß man ganz falsch urtheilt, wenn man glaubt, daß ein
Frauenzimmer sich schwer ins Erziehungsfach verstehn lerne. Ich wollte unter
gewisser Einschränkung ehr behaupten, daß sie sich noch besser, wenigstens leichter dazu schicken, als Mannspersonen.“829 Und das Deutsche Wörterbuch von Jakob
und Wilhelm Grimm nennt im Artikel „LEHRERIN“ folgende (deutlich existierende) Möglichkeiten: „eine lehrerin an der volksschule; lehrerin der musik, der weiblichen handarbeiten; gute lehrerin (sollen weiber sein)“.830
Das Bürgertum
Im Bürgertum war musikalische Betätigung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geradezu zu einem Muss geworden. „In unserm lieben deutschen Vaterlande
will und muss ein jeder musikalisch seyn. Wer nur irgend von gutem Tone ist, spielt
ein Instrument, oder beschäftigt sich wohl gar mit Komposition“, so „Herr Kapellmeister Wessely“ in der AMZ des Jahres 1800. 831 Man musizierte, um Herzensbewegungen auszudrücken, um sich zu entspannen. Dabei stand Hausmusik bei
den insgesamt vielseitig gebildeten Laien hoch im Kurs. Besonders das Clavierspiel
war als ‚Hobby’ auch Zeichen eines neu erlangten Wohlstands, ein Statussymbol
geworden.832 Der ‚Dilettant’ und die ‚Dilettantin’ wurden zu einem wichtigen Glied
der Musizierpraxis. So wie etwa in Neuenburg das Orchester der Société de la Salle
de Musique aus Liebhabern und Professionellen bestanden hatte, so gab es auch in
Deutschland eine rege Wechselwirkung zwischen diesen beiden Gruppen. Die Un826
827
828
829
830
831
832
236
Ebd.
Ausführliche Erläuterungen zu diesen Berufen finden sich bei Gleim, S. 107–113.
Gleim, S. 114.
Zitiert nach Ilse Brehmer, Lehrerinnen. Zur Geschichte eines Frauenberufes. Texte
aus dem Lehrerinnenalltag, München-Wien-Baltimore 1980, S. 49.
Grimm Bd. 6, Sp. 572.
Herr Kapellmeister Wessely, Kritische Bemerkungen über verschiedene Theile der
Tonkunst. Ueber Musikliebhaberey, AMZ 1800, Sp. 528–530, hier Sp. 528.
Dies wiederum bedingte eine serielle Anfertigung von Kleinclavieren, besonders Clavichorden und später Tafelclavieren im 18. Jh., s. a. Rampe, S. 75–76.
terscheidung zwischen Professionalität und Laientum lag nicht wie heute in Ausbildung und (zumeist) Können, sondern darin, ob die Betätigung dem Verdienst oder
der eigenen Beschäftigung diente, denn „der Dilettant der Musik (wie jeder andern
schönen Kunst)“ pflegt laut Michaelis zu sagen, „dass er sich mit dieser Kunst zu
e r h o l e n oder zu z e r s t r e u e n pflege“.833 Viele Liebhaber besaßen ein außerordentlich hohes Niveau. Um 1800 waren in Prag laut Siegbert Rampes Untersuchungen zur Sozialgeschichte der Saitenclaviere die Spielenden je fast genau zur
Hälfte Frauen und Männer und gehörten dem Adel bzw. die andere Hälfte dem
Großbürgertum an. Die clavierspielenden Kreise der Bevölkerung waren also in den
oberen sozialen Schichten zu finden und in der Lage, Unterricht zu bezahlen und
Musikaliendrucke wie auch Instrumente zu erwerben. Das Cembalo galt dabei als
aristokratisches, das wesentlich preisgünstigere und kleinere Clavichord als bürgerliches Instrument.834 Die Schar der Musiklernenden und Unterrichtsuchenden war
groß.
Auch für Mädchen und Frauen gehörte Musik sowohl zum Lebensplan als
auch zu ihrer Ausbildung, oft unabhängig von Neigung und Talent.835 So heißt es in
Amaliens Erholungsstunden im Jahr 1792 in einem Absatz Ueber weibliche Beschäftigungen: „Die Musik – von welcher wir jetzt sprechen wollen, ist in der That
im allgemeinen eine der reizendsten, schönsten Beschäftigungen für Leute von Herz
und Geschmak! Man hat die Erlernung dieser Kunst in unsern Zeiten wirklich auch
so sehr zum guten Tone gemacht, dass man so gar nicht leicht mehr ein Mädchen
aus dem Mittelstande antrift, das sich ihr nicht, mit oder ohne Anlage, gewidmet
hat.“836 Dass das Niveau in den Unterrichtsstunden dieser Mädchen manches Mal
nicht allzu hoch angesiedelt war, lässt sich stark vermuten. Clavierspielen gehörte
in bürgerlichen Kreisen einfach zum ‚guten Ton’, egal, ob das Mädchen dazu Lust
verspürte oder nicht, gleich, wie viel es dabei lernte oder eben nicht erlernte. Im Gegenteil, oft war das Musizieren der Frauen auf keine hohe Kunst ausgelegt. Johanna
Schopenhauer erinnert sich: „ ,Ich liebte nur Ismenen’ oder ,Ich schlief, da träumte
mir, charmantes Kind, von dir’, zum Klavier singen, ein paar Polonaisen oder ein
Masurek837 recht taktfest aborgeln, ein Menuett regelmäßig tanzen und höchstens
ein paar französische Redensarten ängstlich herausstottern können, war alles, was
833
834
835
836
837
C. Fr. Michaelis, In wie fern giebt es einen unschuldigen Dilettantismus in der Musik,
und einen untadelhaften Zweck der Erholung bey derselben?, AMZ 1802, Sp. 209–214,
hier Sp. 212.
Rampe, hier S. 72–73.
Siehe dazu eine Anekdote aus der AMZ: „Ein Fräulein, das sich gegen ihren sorgfältigen und genauen Lehrer im Klavierspiel öfters ungnädig (unartig) bezeigte, sagte einst,
da sie besonders schlecht spielte und vieler Fehler überführt wurde: Ach, so stören Sie
mich doch nicht immer! – “, AMZ 1805, Intelligenzblatt, Sp. 15.
Marianne Ehrmann, Ueber weibliche Beschäftigungen: Musik – Spiel – Tanz. Aus
„Amaliens Erholungsstunden“ 1792, 3. Bändchen, S. 266–280, abgedruckt in: Düll/
Neumaier, S. 299–307, hier S. 299.
Eine Mazurka.
237
damals zur Vollendung der Erziehung einer Tochter erforderlich schien. Dem Tanzmeister war ich schon längst überantwortet und wunderlicherweise schon um neun
Uhr des Morgens; die Musikstunden waren auf mein Bitten nach wenigen Monaten
aufgegeben worden, weil mein alter verdrießlicher Lehrer mich immer versicherte,
ich habe einen hölzernen Kopf, während alle andern mich lobten.“838
Und Henriette Herz berichtet: „Als ich das gehörige Alter erreicht hatte, wurde
ich in eine Schule geschickt. [...] Es waren sehr gute Leute, denen ich anvertraut
wurde, und der Gefährtinnen hatte ich auch nur wenige – eine von diesen kenne ich
noch [...]; sie spielte schon damals gut Klavier (war mehrere Jahre älter als ich), und
das gab mir den Wunsch, auch Musik zu lernen, und auf meine Bitte gaben meine
Eltern mir einen Lehrer. [...] Ich machte sehr schnelle Fortschritte in der Musik, und
in meinem achten Jahre spielte ich in einem öffentlichen Konzert mit vielem Beifall, was mir indes gar kein Beweis ist, daß ich auch nur erträglich gespielt habe, da
die Zuhörer wohl schwerlich imstande waren, es zu beurteilen, und ein hübsches
Kind leicht in dem gefällt, was es auch nur halb gut macht. [...] Die Musik, zu der
ich wohl kein eigentliches Talent hatte, trieb ich nicht weiter, mein Meister war gestorben, der den Unterricht für einen geringen Preis gab, und das sich vergrößernde
Hauswesen meiner Eltern erlaubte es ihnen nicht, mir wieder einen Meister zu geben.“839 Henriette Herz hatte also mit dem Clavierspiel begonnen, da eine Freundin,
ein Mädchen aus ihrem Umfeld, aus derselben Gesellschaftsschicht, ebenfalls spielte. Ebenso schnell wie begonnen, endete auch der Unterricht. Viel Geld durfte dafür
sowieso nicht ausgegeben werden, obschon das Mädchen doch anfänglich einige
Energie für das Instrumentalspiel aufgebracht haben muss und bereits nach kurzer
Zeit Erfolge in der Gesellschaft damit erlangte. Das Talent des Mädchens, ob vorhanden oder nicht, spielte weniger eine Rolle als das Statussymbol ‚Clavier’. (Auffällig ist, wie kritisch die erwachsene Henriette Herz ihr Spiel von damals bewertet.
Den von ihr angeführten Aspekt, dass „ein hübsches Kind leicht in dem gefällt, was
es auch nur halb gut macht“ sollte man beim Lesen der später angeführten Kritiken
über Musikerinnen, die als junge Mädchen auftraten, nicht vergessen.)
Die Erinnerungen Johanna Schopenhauers und Henriette Herz’ entsprechen
Friedrich Guthmanns theoretischer Abhandlung, den sich an bürgerliche Mädchen
richtenden Winke[n] über den musikalischen Unterricht der Frauenzimmer: „Derjenige geht ganz falsch, welcher beym Mädchen, z. B. das Klavierspiel, nach dem, für
den Virtuosen nothwendigen, hier aber z u gründlichen, z u ermüdenden, z u weitläufigen Wege der Kunst erlernen lässt. Die Früchte sind zwar gewiss, aber für die
kurze Zeit des Unterrichts zu sparsam und zu spät. Die Schülerin ermüdet auf halbem Wege. Der weibliche Sinn will mehr Blumen und frühe F r ü h l i n g s - Früchte.
Das Mädchen sagt sich daher mehr oder weniger deutlich, dass dieses nicht der
rechte Weg seyn könne; dass die Erlernung der Musik nur Mühe und Beschwerden
838
839
238
Schopenhauer, S. 98.
Herz, S. 8–9. Sie nahm später auch (außermusikalischen) Unterricht bei Stephanie-Félicité du Crest de Genlis und beschreibt diese in ihren Erinnerungen.
verursache etc. Ich will hiermit keinesweges eine gewisse sichere G r u n d l a g e
beym Unterricht verwerfen; nein! sie ist selbst dem niedrigsten Dilettanten, wenn er
nur die leichteste Piece f ü r s i c h lernen soll, nothwendig. Diese Grundlage muss
nur bey Frauenzimmern weniger erschöpfend, weniger tief und weniger Zeit erfordernd seyn.“840
Der Adel
Anders sah es in Adelskreisen aus. Im Jahr 1790 berichtete die Musikalische RealZeitung: „Die Prinzeßinnen von Bartenstein singen theils vortreflich, theils spielen
sie das Klavier mit Geschmak und Fertigkeit; die Prinzen dieses Hauses sind nicht
nur allein bis zum Enthusiasmus Liebhaber der Tonkunst, sondern auch selbst gute
Spieler. Die älteste Tochter des Fürsten von Kirchberg, eine vermählte Gräfin von
Schleiz, singt recht gut, und spielt noch ein besseres Klavier. Und schon werden die
minderjährigen Töchter dieses Fürsten, zum Theil Kinder von sechs Jahren, im
Sang und Klavier unterrichtet. Die älteste Tochter des Fürsten von Langenburg,
eine Herzogin von Meinungen, spielt nicht nur das Klavier, sondern hat es im Sang
besonder den Punkt der Künstlervollendung erreicht. Das heißt, sie kann Anspruch
auf den Namen einer Virtuosin machen. Die drey Söhne dieses Fürsten spielen alle
das Klavier.“841 In diesen Kreisen war das Musizieren in den Familien Tradition. Es
besaß einen hohen Stellenwert, hier bestanden klare Leistungsansprüche und sicherlich auch Anreize durch das Musizieren der anderen Familienmitglieder. Bestimmt
wurden in diesem Milieu die Lehrkräfte auch sorgfältiger ausgesucht, als dies bei
Johanna Schopenhauer und Henriette Herz der Fall war.
Musikerfamilien
Eine gute Chance auf eine fundierte musikalische Ausbildung besaßen wie in
Frankreich neben den Adeligen die Töchter aus Musikerfamilien. In Deutschland
fehlte allerdings eine der unter den Pariser Musikern stark vertretenen Gruppe – die
der Cembalisten, denn hier waren es die als Organisten ausgebildeten Musiker, die
in höfischen Diensten die Stellen des Hofcembalisten oder Privatlehrers versahen.
Dass sie zusätzlich nicht als Organisten tätig waren, ist erst seit der Generation der
Bach-Söhne vorstellbar. Die Ausbildung zum Organisten war eine Lehre. Sie wurde
üblicherweise zwischen dem 13. und 17. Lebensjahr begonnen und dauerte etwa
zwei bis vier Jahre. Der Unterricht begann – dies ist im Hinblick auf die Töchter der
Musikerfamilien interessant – manualiter auf Clavichord, Spinett oder Cembalo,
den Instrumenten also, die Frauen erlernen durften und die in den Haushalten zu
finden waren. Erst im letzten Drittel der Lehre begann das Pedalspiel, wozu man in
der Regel in die Kirche umzog.842 Dies bedeutet, dass der größte Teil des Lehrstof840
841
842
Friedrich Guthmann, Winke über den musikalischen Unterricht der Frauenzimmer,
AMZ 1806, S. 513–516, hier Sp. 514.
MRZ 1790, Sp. 160.
Rampe, S. 76–78.
239
fes zu Hause erarbeitet werden konnte, wo auch geübt wurde. Kein Wunder also,
dass hier Schwestern auf hohem Niveau mit oder von den Brüdern lernen, bzw.
selbst anspruchsvollen Unterricht erhalten konnten. Kein Wunder auch, dass aus
dieser Schicht besonders viele Clavierlehrerinnen hervorgingen.
1.2
Betonung weiblicher Tugend als Verschleierung professioneller Tätigkeit
Die mit Rückbezug auf Rousseau geforderte freie und natürliche Erziehung des
Kindes schloss in musikalischer Hinsicht selbstverständlich das Singen als natürlichstes aller Instrumente ein. Bei Pädagogen wie den Schweizern Johann Heinrich
Pestalozzi und Hans Georg Nägeli erlangte der Gesangsunterricht in den Schulen
neue Bedeutung, während Johann Adam Hiller 1771 in Leipzig als eine Maßnahme
gegen die Übermacht der italienischen Primadonnen eine Singschule errichtete, die
„junge[n] Personen, beyderley Geschlechts“ offen stand. Hier konnte durch einen
eigens dazu bestellten Lehrer bereits ab dem ersten Unterrichtsjahr auch das Clavierspiel erlernt werden.843 Aus dieser Schule kamen Berühmtheiten wie die beiden
deutschen Sängerinnen Corona Schröter (1751–1802) oder Gertrude Elisabeth Mara
(1749–1833). In Mannheim errichtete eine „Frau Hofräthin Güthe“ eine Singschule
„für mehrere hiesige Frauenzimmer“, und dies „grösstentheils aus Gefälligkeit“.
Aus dieser Schule, so hieß es in der AMZ, gingen „gründlich und geschmackvoll
gebildete Schülerinnen“ hervor, welche „in Konzerten und auf dem Theater alle mit
Beyfall auftreten.“844
Die Schulung der jedem Menschen von der Natur geschenkten Stimme wurde
Frauen gern als Mittel zur musikalischen Bildung empfohlen, eine Idee, welche
Nina d’Aubigny von Engelbrunner in ihren Briefen an Natalie über den Gesang
aufgriff und weiter entwickelte. Ausführlich begründet Betty Gleim, warum Mütter
im Gesang ausgebildete sein sollten: Sie sollen in der Lage sein, mit ihren Kindern
zu singen und ihnen dadurch eine weitere Dimension des Ausdrucks von Gefühlen
und Stimmungen eröffnen: „Die M u s i k sollte mehr bei den Menschen cultivirt
werden, als gewöhnlich geschieht; sie ist die Sprache des Gefühls; das Organ selbst
der Empfindungen, die in Worten sich nicht aussprechen lassen; sie schmiegt sich
innig dem bewegten Gemüthe an, und löset die Bande, welche die Seele hindern,
frei auszuströmen; sie giebt dem Schmerz und der Freude eine Zunge. – [...] Von einer andern Seite betrachtet, hat sie einen nicht zu berechnenden Einfluß auf die Belebung der Heiterkeit und des Frohsinns, und für das gesellige Leben schon dadurch
einen großen Werth, daß sie in demselben die Summe des Annehmlichen und der
unschuldigen und edlern Genüsse vermehrt, und demjenigen, der in ihr etwas leistet, oft Gelegenheit giebt, Andern Freude zu machen.“ Durch Gesang kann also die
843
844
240
Nachricht von der Errichtung einer Musik= und Singschule zu Leipzig, von Hrn. Hiller,
in: Johann Nikolaus Forkel, Musikalisch-Kritische Bibliothek, Bd. 2, Gotha 1778, R
Hildesheim 1964, S. 332–337, hier S. 333–334.
AMZ 1803, Sp. 86.
Freude im eigenen Haushalt erhöht werden – eine Aufgabe, die der Frau auf Grund
ihrer Geschlechterrolle oblag. Unter Berufung auf Carl Philipp Emanuel Bach argumentiert Gleim, dass alle Menschen singen lernen könnten und „an dem
Nicht=Singen […] immer und allein Uncultur, Vernachläßigung der Stimme und
des Gehörs, Schuld [sei]. Freilich werden nicht Alle zu gleicher Perfection gelangen, aber wenn Alle nur richtig sängen, wie viel wäre dadurch gewonnen.“ Sobald
die Kinder sprechen können, sollen sie auch singen. Von der Wiege an soll die Mutter ihnen möglichst viel vorsingen, denn „daß so wenige Menschen musicalisch
sind, kommt sicher daher, daß sie so selten Musik hören.“ Und Gleim fügt hinzu:
„Vocalmusik also sollte jeder Mensch lernen; Instrumentalmusik nur derjenige, der
ausgezeichnetes Talent verräth.“845 Es ist also die Mutter, die Person, welche das
Kind von Anfang an betreut, der bei der gesanglichen Bildung die größte Rolle zukommt. Könnten alle Mütter ordentlich singen, müsste dies eine ungeheure Breitenwirkung entfalten.
(Häusliches) Singen förderte die Kultur und die Ausbildung des gewünschten
feinen und stillen weiblichen Wesenszuges. Durch seinen Gesang konnte ein heranwachsendes Mädchen, sich selbst auf einem Clavierinstrument, einer Harfe oder Gitarre begleitend, Eltern, Geschwister und Gäste und später den Ehemann unterhalten und mitunter Inhalte transportieren, die ihr zu verbalisieren nicht zugestanden
hätten. Dies beschreibt ein Gedicht von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, das den
bezeichnenden Titel Die Klavierspielerin trägt: Die Frau am Tasteninstrument ist
voll des Gefühls, voll der Liebe. Sie spielt, die Finger fliegen über das Clavier und
insgeheim fragt sie sich, wie sie sich bloß verhalten solle, wenn der Geliebte, der sie
„kälter als das Eismeer“ nennt, den Raum betrete: „Welchen leisesten Ton / Soll
ich, Himmel! / Soll ich wählen, / Der doch ganz ihm sage: / Bester Jüngling, ich liebe dich!“ Wenn dann die Wange glüht, die Stimme verstummt, der Finger bebend
weiterspielt, so wird „der silberne Laut“ auf der Saite zittern und „noch ersterbend
sagen: Bester Jüngling, ich liebe dich!“846 Wenn die Sprache an ihre Grenzen gelangt, dann bleiben die Töne, in denen sich das Gefühl der spielenden Person (hoffentlich) überträgt.
Gesang und Clavier
Dem ‚ruhigen Wesen’ der Frau entsprachen Gesang und Clavierspiel, bei denen
sich der Körper in fast absoluter Ruhestellung befinden kann, in idealer Weise. Und
zur eigenen Begleitung war gerade das in vielen bürgerlichen Haushalten zu findende Clavichord, leisestes, zartestes und intimstes aller Tasteninstrumente, ideal. Daniel Gottlob Türk bezeichnet es als einen der Vorteile dieses Instruments, „daß fer-
845
846
Gleim Teil II, S. 106–108.
Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Die Klavierspielerin. Vollst. Abdruck in: Reinhard
Kiefer, Mein blaues Klavier. Deutsche Musikgedichte aus sieben Jahrhunderten, Kassel 1988, S. 43–44.
241
ner auch das Frauenzimmer mit Anstand darauf spielen und dazu singen kann“.847
Und Philippine Gatterer Engelhard dichtete An das Clavier:
„Mit stillem Kummer in der Brust,
Schleich ich mich jetzt zu dir.
Bring Harmonie in mich, und Lust;
Du liebliches Clavier.
In deine Saiten sing ich’s oft,
Bestürmt ein Leiden mich.
Die Thräne rollt – und unverhoft
Geniess ich Ruh durch dich.“848
Hier ist die Frau sogar in der Lage, ihrer überstarken Emotionen allein an ihrem
Clavier Herrin zu werden, ohne diese öffentlich zur Schau zu stellen.
Gesang und Clavierspiel – das waren also die Bereiche des Musizierens, denen
Frauen unangefochten nachgehen konnten und in denen sie es, mit dem Wissen
ihrer Zeitgenossen, dass dies die ihnen angemessenen Instrumente und ihrer Aufgabe als Gattin und Mutter entsprechenden Betätigungen waren, auch zu großer Kunst
bringen durften. Verwunderlich ist in diesem Zusammenhang nicht, dass in den
Nachrufen berühmter Sängerinnen häufig darauf hingewiesen wird, sie seinen treue
und liebende Gattinnen und Mütter gewesen. So heißt es etwa von der bekannten
Sopranistin Sabine Hitzelberger, sie habe „ganz für ihre Vaterstadt und für die Erziehung und Kunstbildung ihrer talentvollen Kinder und Schülerinnen849 “ gelebt
und sei „eine zärtliche Mutter und treue Lehrerin“ gewesen.850
Einige Frauen, die als professionelle Sängerinnen erfolgreich gewesen waren,
betätigten sich später als Gesangs- und auch als Clavierlehrerinnen. Dies ist besonders im Norden Deutschlands auffällig. Konnten die französischen Clavierspielerinnen doch recht unangefochten einer Lehrtätigkeit nachgehen und diese zu ihrem Beruf machen, war dies in Deutschland nur in einem weit enger gesteckten Rahmen
möglich. Diesen konnte etwa das Witwentum einer ehemaligen Berühmtheit oder
der Anschluss an eine Institution wie die 1791 von Karl Friedrich Christian Fasch
gegründete Berliner Sing-Akademie geben. In den meisten Fällen wurden, sozusagen im Ausgleich zu einer als unweiblich empfundenen Betätigung, die Tugenden
dieser Frauen, ihre Mutterschaft und Hingabe entsprechend stark öffentlich hervorgehoben. Die folgenden Beispiele zeigen, dass Gesangs- und Clavierunterricht oft
847
848
849
850
242
Türk, Einleitung § 8, S. 7.
Aus Philippine Gatterer Engelhard, An das Clavier, nach Sally Fortino, „Gefährtin meiner Einsamkeit“ – Sehnsucht nach dem Clavichord, in: Christian Ahrens, Gregor Kleinke (Hrsg.), Fundament aller Clavirten Instrumenten – Das Clavichord. Symposium im
Rahmen der 26. Tage Alter Musik in Herne 2001, München-Salzburg 2003, S. 31–44,
hier S. 33.
Gemeint sind in diesem Falle Gesangsschülerinnen.
Gerber, Nachrichten von dem Leben einer deutschen Künstlerin, in: AMZ 1808,
Sp. 625–629, hier Sp. 628.
nicht voneinander zu trennen waren. Möglicherweise wurde teilweise sogar beides
in einer Unterrichtseinheit vermittelt. Dies gilt auch für zwei Musikerinnen, die
noch in die Tradition des ausgehenden 18. Jahrhunderts gehören, deren (überlieferte) pädagogische Arbeit aber erst nach 1815 begann: Luise Müller und Jeanette Antonie Bürde.
Luise Müller
Die aus einer Musikerfamilie stammende Luise Kreß war unter dem Namen ihres
Mannes Müller bekannt geworden. Bis 1820 war sie als erfolgreiche Sängerin tätig,
zuletzt als großherzogliche Kammersängerin. Mit Ende ihrer Bühnentätigkeit unterrichtete sie „zu Neu-Strelitz viele Jahre hindurch im Gesange und auf dem Klaviere“.851 Sie wird sicherlich auch vorher nicht nur ihren als Clavierist bekannt gewordenen, am 17. November 1788 geborenen Sohn Karl Friedrich, sondern auch noch
weitere, namentlich nicht mehr bekannte Personen zumindest ihres Bekanntenkreises am Tasteninstrument unterrichtet haben. Ihre Fähigkeiten als Clavierspielerin
waren jedenfalls allgemein bekannt. In ihrem Nachruf wird nicht nur das Bild einer
guten methodischen und erfolgreichen Lehrerin und vortrefflichen Clavierspielerin,
sondern schon im Vorfeld zu diesen Worten das einer guten und pflichtbewussten
Mutter gezeichnet: „Ihre hinterlassenen Kinder verlieren an ihr eine liebevolle und
sorgsame Mutter, die ihren hohen Beruf bis an ihr Lebensende treu erfüllte; ihre
Schüler und Schülerinnen (deren sie viele und darunter sehr tüchtige gebildet hat)
eine gründliche, ernste und geduldige Lehrerin, so wie auch die Kunst eine vortreffliche Spielerin der Sebastian Bach’schen Klaviercompositionen [...]; die Achtung,
die sie überall durch Redlichkeit und Fleiss erwarb, wird ihr ein dauerndes Andenken sichern.“852
Die Unterrichtstätigkeit Luise Müllers war eine logische Konsequenz aus ihrer
erfolgreichen Bühnentätigkeit. Wann ihr Mann starb, ist in ihren Biografien nicht
einmal vermerkt. Der Ruhm dieser Frau gründete sich auf ihre eigenen künstlerischen Tätigkeiten und war durch die Hingabe an ihre eigenen Kinder, an Schülerinnen und Schüler akzeptiert.
Jeanette Antonie Bürde und Charlotte Bachmann
Jeanette Antonie Bürde, geborene Milder war mit ihrer Schwester, der berühmten
Sängerin Anna Pauline Milder-Hauptmann, im Jahr 1816 nach Berlin gekommen.
Als Mitglied der Sing-Akademie fand sie hier ein Umfeld für ihre musikalischen
Betätigungen. Sie trat öffentlich als Sängerin und Clavierspielerin auf und lernte
hier ihren späteren Mann kennen. Nach dessen Tod konnte sich Jeanette-Antonie
Bürde, gleichsam geschützt durch ihre Zugehörigkeit zur Sing-Akademie, einen Namen als Gesangs- und Clavierlehrerin machen. Sicherlich half ihr diese Institution
851
852
NND 1831, in: DBA I, Fiche 872, S. 212.
Nekrolog, in: AMZ 1829, Sp. 697.
243
auch, Schülerinnen zu finden, verschaffte das Renommee und nicht zuletzt Auftrittsmöglichkeiten, wie es auch bei Charlotte Bachmann, geborene Stöwe der Fall
war.
Diese gehörte zu den 20 Gründungsmitgliedern der Sing-Akademie und war
lange Jahre eine tonangebende und wichtige Figur in diesem Zusammenhang. Ihr
Mann Carl Ludwig Bachmann war u. a. Leiter der Liebhaber-Concerte in Berlin.
Damit kam die junge Frau, die aus einer Musikerfamilie stammte, mit ihrer Heirat
in eine neue Umgebung – als Frau eines Konzertunternehmers hatte sie sicherlich
Pflichten in der Mithilfe und Organisation dieser Veranstaltungen, Hintergrundarbeiten zu leisten; ihr standen aber auch musikalische Kontakte und Auftrittsmöglichkeiten zur Verfügung, die sonst nicht für alle Frauen selbstverständlich waren. 853 Hohe Anerkennung fand sie für ihre Tätigkeit als Gesangslehrerin. Viele
ihrer Schülerinnen sangen im Chor der Singakademie. Diese bewahrte der Musikerin auch nach ihrem Tod ein lebendiges Gedenken. Auch an Charlotte Bachmann
wurden die dem weiblichen Geschlecht zugedachten Stärken, ihre Aufopferungsbereitschaft und Hingabe immer wieder hervorgehoben. So heißt es in einer im Jahr
1818 erschienenen Schrift mit dem Titel Zur Erinnerung an Charlotte Wilhelmine
Karoline Bachmann, geborne Stöwe, Karl Friedr. Christian Fasch und Julie Pappritz, verehelichte Zelter: „Im frischen Lebenslenze vielseitig gehuldiget und verführerisch geschmeichelt, blieb sie dennoch der züchtig anspruchslosen Weiblichkeit
unwandelbar getreu, und die Bescheidenheit, welche das eigne Verdienst nie zu
hoch, und das fremde nie zu niedrig anschlägt, ward von ihr nimmer verletzt. Empfänglich für das Schickliche, Gute, Rechte und Heilige – wandelte sie auf dem
Wege der Tugend, und fand in dem Bewußtsein erfüllter Pflicht ihren schönsten
Lohn. Obgleich nur für die Kunst und in der Kunst lebend und webend, trat sie –
ein seltner Fall – nie aus den Schranken der weiblichen Bestimmung, und übte die
Pflichten der zärtlich treuen Gattinn und der geschäftig sorgsamen Hausfrau mit
freudiger Gewissenhaftigkeit. Sanftmüthig, wohlwollend, duldend, zart und schonend schlang sie um die Ihrigen ein Liebesnetz, dessen Zauberkraft alles fesselte.
[...] Jene freundlich zuvorkommende Gefälligkeit, die unaufgefordert und unverpflichtet überall kleine Dienste leistet, und dadurch über das gesellige Leben unendliche Reize verbreitet – war ihrem wohlgeordneten Gemüth, war ihrer schönen Seele zum Bedürfnisse geworden.“854
Dieser Nachruf sagt es ganz deutlich: Charlotte Bachmann trat „nie aus den
Schranken der weiblichen Bestimmung“. Sie versah ihre Pflichten als liebende Gattin und als geschäftige Hausfrau gewissenhaft. Sie besaß typisch weibliche Eigenschaften: Sanftmut, Zartheit, Großzügigkeit, die Fähigkeit zu dulden und zu lieben,
war freundlich und gefällig. Diese Kombination wird als ein seltener Fall hingestellt: nicht dass man etwa auf den Gedanken käme, jede Frau könne solch eine
Vollkommenheit erreichen!
853
854
244
Ähnliche Aufgabenbereiche besaß Sophia Häßler, vgl. die Autobiografie im Anhang.
Hartung/Klipfel, S. 12–14.
Sophie Westenholz
Weitaus mehr Eigenständigkeit erlangte in den Augen ihrer Zeitgenossen die Musikerin Sophie Westenholz. Dies lag sicherlich auch daran, dass die Witwe des Hofkapellmeisters Carl August Friedrich Westenholz (bereits nach zwölfjähriger Ehe
starb ihr Mann) insgesamt 49 Jahre lang selbst in höfischen Diensten stand. Nach
dem Tode des Kapellmeisters Anton Rosetti im Jahre 1792 übernahm sie – und das
ist bemerkenswert – die Stelle der Akkompagnistin in der Hofkapelle. Der Wiemarer Hofkapellmeister Ernst Wilhelm Wolf widmete ihr 1783 sechs Claviersonaten855, die Carl Friedrich Cramer folgendermaßen besprach: „Auch hat er sie einer
Virtuosinn gewidmet, die in diesem Stücke seine eigensinnigsten Forderungen zu
erfüllen im Stande ist. Selten kann man dieses von dem weiblichen Geschlechte
rühmen. Ihre Finger, so viel Uebung und Fertigkeit sie auch haben mögen, besitzen
gewöhnlicherweise die Nerven und die Kraft nicht, die zu der prallen, characteristischen Darstellung ausgezeichneter Claviergedanken nothwendig ist, sie schlüpfen
fast immer zu schnell über die Tasten weg, als glühten sie; und ihre Sprache ermangelt des nöthigen Lichts und Schattens. Allein die Frau Capellmeisterin Westenholzen (ich habe sie selbst zu hören verwichnen Sommer das Vergnügen gehabt),
macht hiervon eine Ausnahme.“856
Aufschluss über ihre Konzerttätigkeit bei Hofe gibt das so genannte Ludwigsluster Diarium, in dem sämtliche Kompositionen mit den jeweiligen Ausführenden
der solistischen Partien verzeichnet sind, die zwischen 1803 und 1837 in Ludwigslust aufgeführt wurden.857 Sophie Westenholz ließ sich häufig auf dem Fortepiano
und der Glasharmonika hören, teilweise auch mit eigenen Kompositionen, und unterrichtete die fürstlichen Kinder im Clavierspiel. Gerade in den ersten Jahren ist
„Madame Westenholz“ immer wieder mit unterschiedlichen Clavierkonzerten oder
Kammermusik, zum Teil auch mit eigenen Kompositionen, besonders im Vorzimmer der Herzogin zu hören gewesen. Interessant ist insbesondere der Eintrag vom
25. Oktober des Jahres 1804. Hier heißt es: „Concertino fürs Clavier, mit 4 Händen,
nebst Begleitung v. 8 Blasinstrumenten, gespielt v. Prinzeß Charlotte u. Mad. Westenholtz“858, vermutlich Schülerin und Lehrerin. Der Vortrag wurde am 31. Oktober
wiederholt. Auch im Jahr 1805 wird die Prinzessin Charlotte noch einmal erwähnt.
Am 31. Januar sang Gräfin Albergandi eine Ariette (dieser Kommentar ist mit drei
Ausrufungszeichen versehen), „Prinzeß Charlott hat hingegen die Ariette, auf dem
Clavier sehr gut Accompag.“ 859 Prinzessin Charlotte erhielt also vermutlich bei
Sophia Westenholz Unterricht im Clavierspiel wie auch im Generalbass.
855
856
857
858
859
Ernst Wilhelm Wolf, Sechs Sonatinen für das Clavier, Dessau 1783.
Carl Friedrich Cramer, Magazin der Musik, Bd. I/2, Hamburg 1783, S. 1258, nach
Schleuning, S. 227.
Abdruck in: Meyer, S. 273–323.
Meyer, S. 276.
Meyer, S. 277.
245
Den Titel „Frau Kapellmeister“, bereits oben bei Cramer zu lesen, trug Sophie
Westenholz wahrscheinlich, da ihr Ehemann diesen Posten besetzte bzw. besetzt
hatte. In der Auflistung des Personals der Herzoglich Mecklenburg-Schwerinischen
Hofkapelle zu Ludwigslust, abgedruckt im Jahre 1812 in der AMZ, ist der Platz des
Kapellmeisters „vacat“. Bereits an dritter Stelle ist als „Klavieristin“ Madame Westenholz genannt, wobei vermerkt ist, dass sie auch „Concert bey Hofe“ spiele. Diese
hohe Stellung, noch vor den Sängerinnen, Sängern und Hofmusikern, deutet vermutlich auch Leitungsfunktionen an, die ja mit dem Akkompagnement seit jeher
verbunden gewesen waren und als das Besondere an Ihrer Stellung zu betrachten
sind.
Dennoch – auch bei Sophie Westenholz lobt der Nekrolog mehr als deutlich
ihre weiblichen Attribute: „Ihre hinterlassenen Kinder [...] verloren an ihr eine liebevolle und sorgsame Mutter, die, wegen ihrer Talente, Sanftmuth und Güte des
Charakters im hohen Grade, selbst auch von der fürstlichen Familie geachtet und
geliebt wird.“860 Damit setzt dieser Nachruf, wie so viele andere, ein deutliches Gegengewicht zu Campe, der meint: „unter hundert preiswürdigen Tonkünstlerinnen,
Zeichnerinnen, Stickerinnen, Tänzerinnen u. s. w. möchte wol kaum Eine gefunden
werden, die zugleich alle Pflichten einer vernünftigen und guten Gattinn, einer auf
alles aufmerksamen und selbststhätigen Hausfrau und einer sorgfältigen Mutter –
ich will nicht sagen, wirklich erfüllt, sondern zu erfüllen v e r s t e h t .“ Immerhin –
einige Ausnahmen lässt auch Campe zu: „Wenigstens sind die seltenen Ausnahmen
dieser Art immer als eine wunder=ähnliche Erscheinung anzusehen, die der Menschenkenner zu glauben und zu begreifen allemahl viel Mühe haben wird. Und
willst Du wissen, warum? so vernimm meine Antwort, und frage bei der Erfahrung
nach, ob sie nicht gegründet sei. Ausgezeichnete Geschicklichkeiten in schönen
Künsten erwirbt sich keiner, der nicht, mit Hintansetzung anderer Geschäfte, ihnen
einen beträchtlichen Theil seiner Zeit und seiner Aufmerksamkeit widmet. Man
kann also schon aus diesem Grunde mit großer Wahrscheinlichkeit voraussetzen,
daß eine Frau, die in Dingen dieser Art vorzügliche Fertigkeiten besitzt, in Ansehung mancher andern Vorbereitung zu ihrem wesentlichen Berufe, mehr oder weniger vernachlässiget worden sei.“861 Kein Wunder, dass gegen eine solche suggestive
Argumentation die Betonung weiblicher Eigenschaften für den Ruf jeder Künstlerin
von Nöten schien.
Louise Reichardt
Ein besonders deutlich gezeichnetes Bild ist von Louise Reichardt überliefert. Bei
ihr liegt der Schwerpunkt weiblicher Tugend an etwas anderer Stelle als bei den anderen genannten Musikerinnen, war sie doch unverheiratet und kinderlos:
860
861
246
NND 1840.
Campe, S. 41–42.
Louise Reichardt, die Tochter des Kapellmeisters Johann Friedrich Reichardt
und seiner ersten Frau Juliane, einer geborenen Benda, verließ im Oktober 1809
ihre Heimat Giebichenstein. Sie übersiedelte nach Hamburg862, obwohl ihr Vater
von der Idee, dass seine Tochter dort vom Unterrichten leben wollte, nicht begeistert gewesen war, da er dies als nicht schicklich empfand. Louise Reichardt konnte
dort schnell Fuß fassen und scharte einen Schülerinnenstamm aus wohlhabenden
Familien um sich, der beständig wuchs: Im Dezember 1809 waren es 26 gewesen,
die im Winter vier Unterrichtsstunden pro Woche erhielten, im Sommer dagegen,
den sie überwiegend auf dem Lande verbrachten, dann auf eine oder zwei Wochenstunden reduzierten. Diese Systematik scheint für Louise Reichardts Unterrichten
typisch gewesen zu sein: Die Stunden fanden hauptsächlich vom Spätsommer bis
Frühjahr statt, in dieser Zeit aber sehr ausgiebig. In der Hauptsaison unterrichtete
Louise Reichardt sogar sonntags, um diesem Pensum nachzukommen.863 Bei zwölf
Schülerinnen à vier Wochenstunden zu 60 Minuten macht dies immerhin durchschnittlich 14 Arbeitsstunden am Tag. 1811 waren es dann 42 Schülerinnen.864 Dies
übertraf ihre gehegten Wünsche und Erwartungen bei Weitem.865
Als im Jahr 1813 viele der einflussreichen Familien wegen der französischen
Truppen vorübergehend die Stadt verließen und Louise Reichardt den größten Teil
ihrer Schülerinnen verlor, wusste sie die kommende, finanziell schwierige und beschäftigungsarme Zeit zu ihrem eigenen Vorteile zu nutzen. Sie, die bislang wohl
ausschließlich Gesangsstunden erteilt hatte, vervollkommnete (vermutlich autodidaktisch) ihr Clavierspiel: „Ich habe mich durch diesen Winter in den Stand gesetzt,
auch auf dem Fortepiano zu unterrichten.“866 Hier zeigt sich einer der Wesenszüge
dieser Frau: Immer war sie bemüht, sich selbst weiterzubilden und auch ihre eigene
Arbeit kritisch zu betrachten. Die intensive Beschäftigung mit dem Tasteninstrument brachte mehrere Vorteile mit sich: Zum einen traute Louise Reichardt sich
nun auch selbst das Erteilen von Clavierstunden zu, zum anderen konnte sie ihre
862
863
864
865
866
Zur besonderen Situation in Hamburg siehe Roske, S. 22–41.
Brief Louise Reichardts an Wilhelm Grimm vom 30. 12. 1809, abgedruckt bei Steig,
S. 36–37.
Boffo-Stetter, S. 75.
Wilhelm Grimm, mit dem die Familie Reichardt in regem Briefwechsel stand, hatte
sich 1809 dahingehend geäußert: „Sie [Louise] denkt deshalb nach Hamburg oder
Frankfurt zu gehn, zwölf Schülerinnen zu erhalten, die jede Stunde mit 1 Taler bezahlen, und täglich 4 Stunden zu geben, so wäre ihr schon eine Einnahme von 1200 Talern
gesichert. Ich zweifle nicht bei ihrem festen Charakter, daß sie es durchsetzen, und
glaube auch, daß sie leicht viele für sich interessiren wird, nur ob es ihr glücken wird,
gleich anfangs so viele Schülerinnen zu erhalten, weiß ich nicht.“ Brief W. Grimms
vom 2. 3. 1809, Steig, S. 27–28.
Brief Louise Reichardts an die Staatsräthin Alberti „Schwester Mine“ vom 7. 5. 1814,
Brandt, S. 70.
247
Gesangsschülerinnen besser am Tasteninstrument begleiten. Außerdem eröffneten
sich ihr kammermusikalisch neue Möglichkeiten für die eigene Zerstreuung.867
Nach Ende der Belagerungszeit kamen die Schülerinnen in die Stadt und zu
ihrer Lehrerin zurück. Der Unterricht strengte Louise Reichardt an, doch sie widmete sich ihren Schülerinnen mit Hingabe. Die Stunden fanden sowohl bei ihr zu Hause als auch bei ihren Schülerinnen, von denen auffällig viele in Altona lebten,
statt.868 Dass diese zum Teil und, je länger Louise Reichardts Wirken als Musiklehrerin Dauer hatte, zu ihr kamen, zeigt ihr großes Renommee in der Stadt. Dabei war
das von ihr verwendete Repertoire nicht etwa das der gängigen Mode entsprechende, sondern sie hatte ihre festen Vorstellungen von guter Unterrichtsliteratur,
zu der viel Kirchenmusik, die Werke Johann Sebastian Bachs und insbesondere die
Georg Friedrich Händels zählten.869 Louise Reichardts Unterrichtsstil wird als behutsam, nachsichtig, aber konsequent und methodisch beschrieben. Es war ihr wichtig, auf die individuellen Schwächen und Eigenarten ihrer Schülerinnen einzugehen,
wollte sie diese doch auf ein hohes künstlerisches Niveau führen. Dabei war Louise
Reichardt eher nicht bereit, Schülerinnen aufzunehmen, die sie als untalentiert ansah.870
Um das Jahr 1814 herum gründete Louise Reichardt eine Musikschule, von ihr
selbst „Singschule“ genannt, in der sie aber auch Clavierstunden erteilte. In der Folge nahm sie auch Pensionärinnen bei sich auf. Auch wenn mit Sicherheit die Schülerinnen in der Überzahl waren, unterrichtete Louise Reichardt auch einige Jungen
oder Männer.871 Ihr Unterrichtshonorar war für die Hamburger Verhältnisse hoch,
867
868
869
870
871
248
„[Ich] arbeitete mich in wenig Wochen so hinein daß ich bald die ganze Wellt vergessen hatte –, einige gute Musicker gesellten sich zu mir und so haben wir den Winter
durch Einige hundert, Sonaten Trios und Quartetts von Haydn, Mozart, Beethoffen zusammen gespielt da ich leider schon früher mich des Singens ganz hatte begeben müssen.“ Brief Louise Reichardts an Achim von Arnim vom 30. 8. 1814, Freies Deutsches
Hochstift Frankfurt/Main Handschrift FDH-7660, in: Moering, S. 269–270. Mit dem
letzten Satz spielt Louise Reichardt auf den Verlust ihrer Sopranstimme infolge der
Trauer über den Tod ihres zweiten Verlobten an.
Siehe auch Boffo-Stetter, S. 78.
Ihr Schwager Karl von Raumer, mit dem Louise Reichardt in gutem Kontakt stand, empfahl nicht nur dringend einen guten Lehrmeister für das Clavierspiel jedes Mädchens
zu engagieren, sondern auch „gute Literatur“ zu studieren, etwa die Inventionen und
Präludien Bachs. Ziel des Unterrichts war es lt. Raumer für Mädchen allerdings nur,
auf „die einfache Musik, Volksmelodien und auf Begleitung zu Liedern [zu] zielen und
ein Mädchen durch lebendiges und fertiges Spielen solcher geistlichen und weltlichen
Klavierstücke sich selbst, den Aeltern und Geschwistern, im späteren Leben ihrem
Manne und ihren Kindern Freude [zu] machen und das häusliche Leben [zu] erheitern
und verschönern, veredeln und heiligen.“ Karl von Raumer, Erziehung der Mädchen,
Stuttgart 1853, S. 110f und 113, nach Boffo-Stetter, S. 90–91.
Siehe Boffo-Stetter, S. 88.
Siehe Boffo-Stetter, S. 98.
es lag nie „unter einem Speziesthaler, in Altona872 sogar [bei] 1 Dukaten“.873 Sie
verlangte, dies hatte ihr Vater geraten, Höchstpreise, welche die gut gestellten Hamburger Bürgerfamilien auch zu zahlen bereit waren. 874 Die Gründe für Louise
Reichardts Berufstätigkeit waren in den Geldnöten ihrer Familie zu suchen. Da sie,
deren Gesicht durch Pockennarben entstellt war, nach zwei missglückten Heiratsversuchen wohl keine Chance auf eine Verheiratung mehr sah, wandte sie sich einer
musikalischen Profession zu. Als Tochter aus einer Musikerfamilie stand ihr dieser
Weg offen. In Hamburg, fern ihrer Heimat, agierte sie, eingebettet in das örtliche
Musikleben. Im Auszug aus dem Sterberegister heißt es: „Reichardt, Louise, gebürtig aus Berlin, 47 Jahre und 8 Monate alt, wohnhaft Heil. Geist Kirchhof bei dem
Tapezierer Heinssen, Gewerbe: Unterricht in Gesang.“875
872
873
874
875
Zur besonderen Lage in Altona siehe Roske, S. 69–73.
Brandt, S. 58.
Bereits 1811 verdiente sie so gut, dass sie ihre Familie finanziell unterstützen konnte.
Erst mit der allgemein steigenden Anzahl der Musiklehrkräfte in Hamburg verschlechterte sich die Situation für Louise Reichardt. In den 1820er Jahren klagte sie, wie schon
1813, über Schülerinnenmangel. Die Arbeit einer Musiklehrerin war, so erfolgreich sie
sein mochte, immer unsicher, von Angebot und Nachfrage und den momentanen wirtschaftlichen Gegebenheiten abhängig. Iris Boffo-Stetter stellt dazu einen interessanten
Vergleich mit einem weiteren Hamburger Musiklehrer, Rudolf Reinecke, an, der trotz
seines guten Rufes in Altona deutlich größere Schwierigkeiten hatte als Louise
Reichardt, die durch einflussreiche Vermittlung in den allerbesten Kreisen unterrichteten konnte. Vgl. Boffo-Stetter, S. 79–81.
Auszug aus dem Sterberegister der evangelisch-lutherischen Kirche St. Petri/St. Johannis in Hamburg, Jg. 1826, Nr. 387, S. 356, nach Helmig, S. 23.
249
2
Theorien und ihre Umsetzung
2.1
‚Von der guten Lehrmeisterin’
„Aller Anfang scheint den Schülern etwas trocken, zumal wenn der Meister von der
gewöhnlichen Art ist, wo sie selten Rücksicht auf den zu unterhaltenden Verstand
nehmen, und nur alles mechanisch zwingen wollen. Ein solcher Unterricht belangweilt den Meister so sehr, als den Schüler, und so sind beide zufrieden, so schnell
als möglich über die Anfangsgründe hinweg zu schlüpfen, ohne zu bedenken, daß
dadurch die künftige Zeit verschwendet, und die Mühe verloren wird. Welchen Ekel
bringt nicht oft die hundertfältige Wiederhohlung eines Spiels oder Singstücks für
die Musik bei dem Schüler hervor, wenn sich der wenig nachdenkende Musikmeister keiner andern Mittel zu bedienen weiß, des Schülers Fortschritte zu bewirken,
und die Aufmerksamkeit, die angeborne Flüchtigkeit junger Personen, durch die
Mannichfaltigkeit seines Unterrichts, wo bald die Finger, bald das Ohr, bald das
Auge, mit diesen allen aber stets der Verstand in reger Thätigkeit erhalten werden,
zu fesseln versteht!“876
Diese Textstelle in Nina d’Aubignys Briefe[n] an Natalie über den Gesang berührt einen Wunsch, der im musikalischen Schrifttum Deutschlands nicht zum ersten Mal auftritt877 und eine eingehendere Betrachtung verdient. Es ist die Forderung
nach einem „guten Lehrmeister“, und dies von der ersten Unterrichtsstunde an.
Doch konnte das Bild vom Geschlechtscharakter einer Frau mit dem eines guten Lehrmeisters in Einklang gebracht werden? Konnten Frauen diesen Anforderungen entsprechen und somit den Beruf einer Clavierlehrerin adäquat ausüben? Dieser
Fragestellung soll hier nachgegangen werden.
Die bei den deutschen Theoretikern des 18. Jahrhunderts genannten, von einem guten Lehrmeister erwünschten Wesensmerkmale und Eigenschaften lassen sich in
vier Kategorien aufteilen: Es handelt sich um menschliche Eigenschaften, um Allgemeinwissen und um künstlerische wie pädagogische Fähigkeiten.
1. Die allgemeinen menschlichen Eigenschaften
Geduld gehört zu den immer wieder genannten Charakterzügen, welche die lehrende Person im musikalischen Unterricht besitzen sollte. Mattheson betont:
„Das Sprichwort: J e z o r n i g e r / j e g e l e h r t e r ; reimet sich nicht
mehr mit der heutigen Welt=Weisheit / und durch die Ungedult des Lehrers
wird sehr offt ein guter Schüler abgeschreckt […] Wer keine Gelassenheit und
Mäßigung seiner Gemüths=Bewegungen besitzet / der gebe sich ja mit Unter876
877
250
Aubigny, S. 44–45.
1735 etwa beschäftigte sich Johann Mattheson in seiner Kleine[n] General-Baß-Schule
ausführlich mit den Eigenschaften, die er von einem „guten Lehrmeister“ erwartete.
Mattheson 1735, S. 48–62, Vom Lehr-Meister.
weisung andrer nicht ab.“878 Bei Johann Joachim Quantz heißt es, dass „ein
Meister, der dem Lehrlinge schmeichelt, und alle Fehler übersieht; der nicht
Gedult hat, dem Scholaren eine Sache öfters zu zeigen, und sie wiederholen zu
lassen“, „keine guten Scholaren“ ziehen kann879. Und Friedrich Wilhelm Marpurg erwartet, dass ein „Sangmeister“ „Geduld, Nachsicht, und Mäßigung sowohl im Lobe der Fleißigen, als in Bestrafung der Nachläßigen und Muthwilligen“ besitze. „Alle Fehler, die nicht vom Willen herrühren, müssen besonders
mit Glimpf 880 verbessert werden“ 881 , eine Formulierung, die Georg Joachim
Hahn in seiner Generalbass-Schrift von 1768 882 zitiert. Beide betonen damit
auch den erwünschten angemessenen Umgangston bei der Fehlerkorrektur.
Mattheson spricht davon, dass die Unterweisung mit allem „ersinnlichen
Fleiß“ vonstatten gehen solle.883 Philipp Christoph Hartung lobt als „fleißig“
den „Docens“, der seine Stunden pünktlich versieht und sich nebenbei keinen
anderen Geschäften widmet, durch ausreichendes Vorspielen und Erklären dem
Schüler allen Stoff gründlich nahe bringt, dessen Spiel jederzeit kritisch beurteilt und verbessert, aber auch nicht sofort aufspringt, um ihm es vorzumachen.
Außerdem lässt ein fleißiger Lehrmeister das Pensum oft genug spielen und
drängt auf genaue Erledigung und häusliches Üben. Ob Letzteres in ausreichendem Maße geschieht, soll er sowohl aus dem Spiel des Schülers schließen als
auch bei dessen Verwandten erfragen.884
Geduld, Fleiß und Ausdauer, dies sind Charaktermerkmale, die Frauen immer wieder zugeschrieben wurden: Charlotte Bachmann „übte die Pflichten der
zärtlich treuen Gattinn und der geschäftig sorgsamen Hausfrau mit freudiger
Gewissenhaftigkeit“885. Louise Reichardt unterrichtete so viele Stunden am Tage, dass man sich kaum vorstellen kann, wie sie dieses Pensum überhaupt bewältigte. Dabei heißt es in ihrem Nachruf: „Die immer gleiche Freundlichkeit
und unermüdliche Geduld der treuen Lehrerin machte selbst dürftigen Talenten
Muth.“886
878
879
880
881
882
883
884
885
886
Mattheson, Vom Lehr-Meister, § 19.
Quantz, Einleitung § 9, S. 8.
Gemeint ist „mit Nachsicht“.
Friedrich Wilhelm Marpurg, Anleitung zur Musik überhaupt, und zur Singkunst besonders, mit Uebungsexempeln erläutert, und den berühmten Herren Musikdirect. und
Cantoribus Deutschlands zugeeignet, Berlin 1763, R Leipzig 1975, Kapitel 2, § 4,
S. 13.
Georg Joachim Joseph Hahn zitiert in: Der nach der neuern Art wohl unterwiesene General-Baß-Schüler, oder Gespräch zwischen einem Lehrmeister und Scholaren von dem
General-Baß, zweyte und vermehrte Auflage, Augsburg 1768, auf S. 2–3 seines Vorwortes den gesamten relevanten Textabschnitt Marpurgs.
Mattheson, Vom Lehr-Meister, § 17.
Hartung, Kapitel 1 § 3.4, S. 4.
Hartung/Klipfel, S. 13.
Nachruf auf Louise Reichardt, AMZ 1827, Sp. 165–169, hier Sp. 167.
251
Ein zweiter, wichtiger Punkt in der Lehrmeisterbeschreibung sind Mühe und
Gründlichkeit, Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit. Bereits der anonym erschienene Wegweiser aus dem Jahre 1696 beanstandet, dass „Organisten gefunden
werden / welchen es an schönen Erfindungen und Wissenschafften nicht ermangelt / jedoch in dem Schlagen eine merckliche Verhinderung haben / weilen sie anfänglich im Lernen den rechten und ordentlichen Gebrauch oder Abwechslung der Finger vernachlässiget haben / oder von ihren Lehrmeistern
nicht genug darzu seynd angehalten worden / mit diesem Vorschub es gelte
gleich / obs mit diesem oder jenem Finger / oder mit dem Elenbogen begriffen
werde / wanns nur laufe.“887 Auch Leopold Mozart beklagt in der Vorrede seiner Violinschule, wie wenig sorgfältig viele Lehrmeister ihren Dienst verrichten und wie oft ihm Schüler untergekommen seien, bei denen er praktisch
„nicht nur alles vom ersten Anfange nachholen; sondern viele Mühe anwenden
mußte die ihnen beygebrachten, oder wenigstens nachgesehenen Fehler wieder
abzuziehen.“ 888 Johann Friedrich Daube bemerkt, dass wirklich gründliche
Lehrmeister sehr selten seien. „Und hat man auch das Glück, einen solchen
Mann in der Nähe zu haben; so hat dieser oft keine Zeit übrig, oder besitzt die
zum Informiren gehörige Geduld nicht, giebt mithin nicht leichtlich Lection.“889 Ähnlich klingen Friedrich Gutmanns Worte aus dem Jahre 1804: „Mehr
als einmal hat sich schon öffentlich die Klage über Mangel an guten Klaviermeistern erhoben. Nicht etwa, als ob es gar keine gäbe, sie sind nur sehr zerstreut890 und nicht häufig.“ Gutmann bemängelt, dass „mancher grosse Virtuos“
über sein eigenes Spiel nicht genügend nachgedacht habe, um es zu vermitteln,
da er sich nur „von seinem Gefühle leiten“ lasse oder ein gutes „Muster“ nachahme, ohne es erklären zu können. An anderen Virtuosen kritisiert Gutmann,
dass sie sich „nicht mit dem freylich s e h r m ü h s a m e n Geschäfte des Unterrichts“ abgeben, entweder aus „Arbeitsscheue“, weil sie anderweitige sichere
Einkommensquellen besitzen oder den ersten Unterricht für unter ihrer Würde
halten. Wer also einen guten Lehrmeister bekommt, hat wahrlich Glück.891
Gründlichkeit und Pflichterfüllung, gepaart mit Pünktlichkeit, dies fordert
Adolph Freiherr von Knigge von jeder verheirateten Frau: „Erfülle so sorgsam,
so pünktlich, so nach einem festen Plane Deine Pflichten, daß Du womöglich
darin alle Deine Bekannten übertreffest; so wirst Du auch auf die wärmste
Hochachtung Anspruch machen können.“892 Louise Reichardt besaß eine große
887
888
889
890
891
892
252
Wegweiser, Nothwendiger Vorbericht, S. 2–3.
Leopold Mozart, Gründliche Violinschule, Augsburg ³1787, R Wiesbaden-Leipzig-Paris 1991, Vorrede.
Daube, Vorbericht, S. IX.
Gemeint ist: die weit auseinander wohnen.
Friedrich Gutmann, Woran fehlt es der musikalisch-theoretischen Literatur über Klavier- und Pianofortespiel noch?, Intelligenz-Blatt Nr. VIII zur AMZ 1804, Sp. 33.
Knigge Teil 2, Kapitel 3, Abschnitt 5, S. 158–159.
Erfahrung893, gewonnen aus ihrem tragischen Lebensschicksal. Sie wird als eine sehr ernsthafte und pflichtbewusste Person beschrieben. „allein, um sich
draussen sehen zu lassen und um sich zu zerstreuen, verliess sie ihr Zimmer
nicht, in welchem sie in dem Geiste einer Nonne lebte.“894 Louise Müller galt
als eine „gründliche, ernste und geduldige Lehrerin“ sowie als „eine vortreffliche Spielerin“ der Clavierwerke Johann Sebastian Bachs895, also Werken von
großer innerer Ordnung.
Achtung und Respekt muss ein Lehrmeister sich zu verschaffen wissen. Daniel
Gottlob Türk drückt dies so aus: „Er muß sich in einer gewissen Achtung bey
seinen Scholaren zu erhalten wissen, ohne jedoch ein mürrisches Betragen gegen sie anzunehmen; denn mit Gelassenheit richtet man bey den Meisten ungleich mehr aus, als durch Schelten u. d. g.“ 896 Philipp Christoph Hartung
wünscht, dass der Lehrmeister „Liebe gegen GOtt und seinen Schüler“ besitze.897
Von Louise Reichardt heißt es: „Wer sie ein einziges Mal gesehen und gesprochen hatte, musste sie wieder erkennen.“ Ihre Gestalt war beeindruckend,
im positiven Sinne Respekt einflößend, und dies nicht nur wegen ihres außergewöhnlichen Äußeren, es war auch der „anredende gütige Ton der Stimme, die
sich auf’s willigste dem, was sie sagen wollte, anbequemte“, der sich anderen
Menschen einprägte. Achtung brachte ihr auch ihr gottesfürchtiges und asketisches Leben. Sophie Westenholz konnte sich nicht nur „wegen ihrer Talente“,
sondern auch aufgrund ihrer „Sanftmuth und Güte des Charakters in hohem
Grade“ der Achtung sogar der fürstlichen Familie erfreuen.898
Eine gewisse Strenge brauchte die Frau zum einen bei ihrer Aufgabe als
„häusliche Regentin über Kinder, Hausgenossen und Gesinde“899, zum anderen
bedurfte sie der Durchsetzungsfähigkeit bei der ihr obliegenden Erziehung der
eigenen Kinder, die verständnisvoll, aber auch streng sein sollte. Eine kleine
Szene aus Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften
verdeutlicht dies noch einmal: „Charlotte spielte sehr gut Klavier; Eduard nicht
ebenso bequem die Flöte: denn ob er sich gleich zu Zeiten viel Mühe gegeben
hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Aus893
894
895
896
897
898
899
Siehe Nachruf auf Louise Reichardt, AMZ 1827, Sp. 165–169, hier Sp. 167.
Siehe Nachruf auf Louise Reichardt, AMZ 1827, Sp. 165–169, hier Sp. 165.
NND 1831.
Türk, Einleitung, § 17, S. 10.
Hartung, Kapitel 1, § 3.1, S. 3.
NND 1840.
„Sie [die Frau] ist unter der Herrschaft; folglich muß sie dieselbe zu ertragen wissen:
sie nimmt aber Theil an der Herrschaft über Kinder, Hausgenossen und Gesinde; sie
muß also auch die Gaben und Tugenden einer häuslichen Regentinn besitzen.“ Basedow, S. 277.
253
bildung eines solchen Talentes gehört. Er führte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder
hielt er an, weil sie ihm nicht geläufig waren, und so wär’ es für jeden andern
schwer gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen. Aber Charlotte wusste sich
darein zu finden; sie hielt an und liess sich wieder von ihm fortreissen, und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im Ganzen immer das Mass zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten.“900
Ehrlichkeit, Treue und Redlichkeit, vor allem aber Uneigennützigkeit des Lehrenden sind vielen Autoren wichtige Anliegen. Marpurg führt in Die Kunst das
Clavier zu spielen aus: „Der Meister muß […] ein uneigennütziges Gemüth besitzen, und nicht sowohl um die Marke, als um sich Ehre zu machen, arbeiten.
Die eigennützigen Meister halten einen so lange auf, als sie können. Es ist ihnen weniger an dem Vortheile ihres Untergebenen, als an ihrem eigenen gelegen. Sie setzen auf morgen aus, was sie heute zeigen konnten. Sie verschweigen einem die Kunstgriffe. Thut der Untergebene eine Frage an sie, so thun sie
seiner Lehrbegierde kein Genüge. Sie geben entweder keine Antwort, oder machen selbige so verwirrt, daß sie keiner verstehen kann. Sie verbessern die Fehler ihrer Schüler nicht. Ihr Fortgang, ihre Begierde immer weiter zu gehen, machet sie eifersüchtig.901 Der gute uneigennützige Lehrmeister suchet die ihm anvertraute Person vollkommener zu machen, als er selbst ist. Ihr Wachsthum
macht ihm Vergnügen, und er suchet nicht so wohl viele, als wenige und gute
Schüler zu haben.“902
Verborgenheit ist das Gütezeichen weiblichen Wirkens. Die Frau kümmert
sich um Haushalt und Heim, während ihr Gatte in der äußeren, sichtbaren Welt
arbeitet. Johann Ludwig Ewald schreibt: „Der Mann, für sich allein, kann auch
nicht bestehen; er bedarf den feinen Takt, oft den Scharfsinn, die Gewandtheit
und Anmuth des Weibes. Wenn er nach den Sternen sieht, und – fällt; so ist es
das Weib, das ihm aufhelfen muß. Gehülfin des Mannes zu seyn, ist also ihr
Erster und großer Beruf.“903 In Marianne Ehrmanns Philosophie eines Weibes
aus dem Jahre 1784 heißt es: „Des tugendhaften und rechtschaffenen Weibs
900
901
902
903
254
Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Tübingen 1809, NA Leipzig
1943, S. 20.
Auch Quantz betont, dass der Lehrer, welcher „die Scholaren aufzuhalten suchet“ und
„nicht das Wachsthum der Musik zu seinem Endzwecke hat [...], keine guten Scholaren
ziehen“ kann. Quantz, Einleitung § 9, S. 9.
Marpurg Clavier, Vorbereitung § 3, S. 2.
Johann Ludwig Ewald, Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und
Hausfrau zu werden. Ein Handbuch für erwachsene Töchter, Gattinnen und Mütter,
Frankfurt 1798 (51826), S. 85f, zitiert nach Dülmen, S. 48.
gröste Würde ist, verborgen zu bleiben; – ihr Ruhm besteht in der Hochachtung
ihres Mannes; – und ihr Vergnügen ist das Glück ihrer Familie.“904
Ein letzter Punkt betrifft die Forderung nach Reinlichkeit, Sittsamkeit und einer
untadeligen Lebensart. So möchte Mattheson, „daß man zum Lehr=Meister einen bescheidenen, sittsamen Menschen wehle / der keine öffentliche grosse
Laster an sich habe; kein aufgeblasener Fantast; kein Liebhaber falscher Griffe
bey jungem Frauenzimmer; kein schmutziger Sau=Nickel; kein Trunckenbold,
oder Bruder=liederlich sey: denn, wenn er auch sonst alle Künste besäße, und
hätte diese oder andre Unarten an sich, so würde der Untergebene an guten Sitten weit mehr dabey verliehren, als im Spielen gewinnen.“905
Vor unsittlichen Liebesbeziehungen zwischen Musiklehrern und ihren
Schülerinnen gab es immer wieder Warnungen in Romanen.906 Dass dagegen
Frauen, die Mädchen oder andere Frauen unterrichteten, derartige Probleme
weniger kannten, ist schnell einsichtig, stand doch der weibliche Geschlechtscharakter geradezu für Sittlichkeit, Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit. Schon kleine Mädchen müssen laut Johann Bernhard Basedow lernen, „die Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit in Worten und Handlungen mit der äussersten Sorgfalt zu
beobachten.“907 Louise Reichardts Lebensart kann als ein Muster der Untadeligkeit angesehen werden. Sie war sittsam, ehrbar, religiös und aufopferungsvoll. „Es schien, als wenn sie von der blossen Sauberkeit leben könnte.“ 908
Charlotte Bachmann blieb trotz ihrer bereits im Kindesalter gefeierten Erfolge
bescheiden: „Der schon in zarter Kindheit errungene Beifall, der die anmaßende Jugend nicht selten verderbt, und deren Fortschreiten hemmet, wirkte auf
sie, die Bescheidene, wohlthätig; spornte sie an, sich in jeder Beziehung auszubilden, und so ward sie eine ehrenvolle Sängerinn, gleich beliebt durch ihre
Kunst, so wie durch ihre Tugenden.“909
2.
Die allgemeine und im Besonderen die musiktheoretische Bildung
Schwieriger zu erfüllen für Frauen waren die Bildungsanforderungen an das
allgemeine wie fachtheoretische Wissen, waren sie doch von höherer Bildung
offiziell ausgeschlossen. Erwartet wurden von einem Lehrmeister allgemein
Musikverstand, Kenntnisse der Musiktheorie und Verzierungslehre. Quantz’s
Ratschlag lautet folgendermaßen: „Ein Anfänger thut wohl, wenn er sich bey
unpartheyischen Leuten, die aber in die Musik Einsicht haben, deswegen [über
904
Marianne Ehrmann, Philosophie eines Weibes. Von einer Beobachterin (urspr. anonym
erschienen), o. O., o. J. [Kempten 1784], S. 58–59.
Mattheson, Vom Lehr-Meister, § 16.
Siehe Koldau, S. 313–314.
Basedow, S. 277.
Nachruf auf Louise Reichardt, AMZ 1827, Sp. 165–169, hier Sp. 166.
Hartung/Klipfel, S. 8–9.
905
906
907
908
909
255
die Wahl eines guten Lehrmeisters] Raths erholet. Ein Meister, der von der
Harmonie nichts versteht, und nur ein blosser Instrumentist ist; der seine Wissenschaft nicht gründlich, und durch richtige Grundsätze erlernet hat; [...] kann
keine guten Scholaren ziehen.“910 Entsprechend resümiert auch Johann Friedrich Daube: „Bekommt ein Anfänger einen Lehrmeister, der selbst wenig versteht: so ist leicht zu erachten, was der Schüler erlernen kann.“911
Demgegenüber steht der geringe Anspruch, der an die intellektuelle Bildung der Frauen gestellt wurde, die in zu großem Maße teilweise sogar als
schädlich angesehen wurde. So meint die Zeitschrift Der Gesellige von 1748,
dass Frauen von philosophischer Gelehrsamkeit und höheren Wissenschaften
wie Jura, Medizin oder Mathematik überfordert seien und bezeichnet diese daher als gänzlich ungeeignet für das weibliche Geschlecht. Allein die „schönen
Wissenschaften“ wie Rhetorik, Poesie, Geschichte, Geografie, Religion und allen voran „Weltweisheit“ scheinen für den weiblichen Verstand fassbar.912 Immanuel Kant schreibt: „Das schöne Geschlecht hat eben so wohl Verstand, als
das männliche, es ist nur ein s c h ö n e r V e r s t a n d , der unsrige soll ein
t i e f e r Verstand seyn, welches ein Ausdruck ist, der einerlei mit dem Erhabenen bedeutet. [...] Tiefes Nachsinnen und eine lange fortgesetzte Betrachtung
sind edel, aber schwer, und schicken sich nicht wohl für eine Person, bey der
ungezwungene Reize nichts anders, als eine schöne Natur zeigen sollen: Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln, wenn es gleich ein Frauenzimmer darin
hoch bringen sollte, vertilgen die Vorzüge, die ihrem Geschlechte eigenthümlich sind, und können dieselbe wohl um der Seltenheit willen zum Gegenstande
einer kalten Bewunderung machen: aber sie werden zugleich die Reize schwächen, wodurch sie ihre große Gewalt über das andere Geschlecht ausüben.“913
Knigge bekommt sogar „eine Art von Fieberfrost“, wenn „man mich in Gesellschaft einer Dame gegenüber oder an die Seite setzt, die große Ansprüche auf
Schöngeisterei, oder gar auf Gelehrsamkeit macht. Wenn die Frauenzimmer
doch nur überlegen wollten, wieviel mehr Interesse diejenigen unter ihnen erwecken, die sich einfach an die Bestimmung der Natur halten und sich unter
dem Haufen ihrer Mitschwestern durch treue Erfüllung ihres Berufs auszeichnen.“914
Nun, es gab sie aber dennoch, diese ‚gelehrten Frauenzimmer’. Gerade
über die oft als gefährlich angeprangerte Lektüre konnten sich Frauen, stand ih910
911
912
913
914
256
Quantz, Einleitung § 9, S. 8–9.
Daube, Vorbericht, S. IX.
Der Gesellige: Eine Moralische Wochenschrift, hrsg. von Samuel Gotthold Lange und
Georg Friedrich Meier, 6 Teile, Halle 1748–1750, Teil 1 (1748), S. 609–615, nach Dülmen, S. 247–248.
Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Riga
1771, S. 50–51.
Knigge Teil 2, Kapitel 5, Abschnitt 18, S. 201.
nen entsprechende Literatur in ihrem Elternhaus zu Verfügung, auch ohne eigenen Lehrer sehr weit bilden. Wuchsen sie dazu noch, wie dies Louise
Reichardts Beispiel vielleicht in besonderem Maße zeigt, in einem gesellschaftlich aktiven und intellektuell interessierten Heim auf, konnten sie einen reichen
Bildungsschatz erwerben. „Sie hatte die Bildung unserer Zeit, kannte die Werke unserer Meister gar wohl, ja sie kannte die meisten unserer bedeutenden
Männer persönlich, die in dem Hause ihres berühmten Vaters viel verkehrten.
Sie erinnerte sich ihrer gern und hatte ihr Eigenthümliches und Liebenswürdiges so feinsinnig aufgefasst, dass man sie nicht ohne lebhafte Theilnahme von
ihnen erzählen hörte“, so heißt es über Louise Reichardt.915 Und auf Christiane
Grund-Sengstacke war Louis Spohr, so berichtet er in seiner Autobiografie, sogar neidisch: „Als sie [...] bei Tische bald mit Diesem französisch, dann mit Jenem englisch sprach, und mir einer der Herren erzählte, daß sie vier Sprachen
richtig spreche und schreibe, da fing ich an, sie zu beneiden und mich zu schämen, daß ich als Mann diesem Mädchen hierin so weit nachstehe. Auch in der
Musik hat sie es sehr weit gebracht.“916
Ansprüche und Möglichkeiten der Mädchen und Frauen divergierten in
unterschiedlichem sozialem Milieu voneinander und waren immer stark vom
Elternhause abhängig. So richteten sich einige Traktate, wie z. B. Der sich
selbst informierende Clavierspieler des norddeutschen Clavierlehrers Michael
Johann Friedrich Wiedeburg917, Peter Johann Milchmeyers Anfangsgründe der
Musik oder eine in der AMZ des Jahres 1800 rezensierte Sammlung mit Kindersachen von Mylich918 explizit auch an Frauen oder gar Clavierlehrerinnen.
915
916
917
918
Nachruf auf Louise Reichardt, AMZ 1827, Sp. 165–169, hier Sp. 167.
Spohr Bd. 1, S. 19.
„Weil ich nun willens war, auch dem Frauenzimmer und sonst unstudirten Personen zu
dienen, so ist in diesem Unterrichte manches mit Fleiß mehr als einmal vorgekommen,
und alles sehr weitläufig und der Deutlichkeit halben, einfältig, ohne sich einer gekünstelten Schreibart zu bedienen, vorgetragen worden. Ich habe mich also der Deutlichkeit,
Einfalt und der zu meinem Zwecke nöthigen Weitläufigkeit beflissen, mich auch nicht
an einer genau vorgesetzten ordentlichen Abhandlung gebunden, sondern alles nur so,
wie es mir bey einer Selbstinformation nöthig zu seyn vorkam, hingesetzt.“ Wiedeburg,
Vorrede.
„Wir machen es uns daher zur Pflicht, obiges Werk [Kleine und leichte Klaviersachen
für Kinder, zum allerersten Anfange im Musiklernen, von Mylich. Bey J. J Hummel in
Berlin )] insonderheit H o f m e i s t e r n und G o u v e r n a n t i n n e n zu empfehlen,
von denen man gewöhnlich neben den Siebensachen auch Unterricht im Klavierspielen
verlangt, und die denn aus Noth zu Operettenstückchen und allerhand unzweckmässigen Scharteken greifen, oder sich das Erb- und Familien-Notenbuch von der gnädigen
Frau Mama oder eins vom Dorfkantor ausbitten müssen. Es ist zu dem vorgesetzten
Zwecke recht gut und brauchbar; die wenigen Kleinigkeiten im Satze hin und wieder
verdienen gar keine Erwähnung.“ AMZ 1800, Recensionen, Sp. 294. Bei dem Autor
könnte es sich um den Gitarristen Gottfried Heinrich Mylich (1773–1834) handeln. Seine Schwester spielte „recht hübsch Klavier“. Beethoven soll ihr „eine Sonate im Ma-
257
Dass andererseits Frauen auch die sich ihnen bietenden Chancen zu nutzen
wussten, zeigen zahlreiche zeitgenössische Berichte, z. B. über das „Fräulein
von Kurzbeck“. Die Wienerin Magdalena Edle von Kurzbeck, geboren 1767,
war als ausgezeichnete Clavierspielerin bekannt und galt als Liebling Joseph
Haydns.919 Über sie heißt es in den Vaterländischen Blättern im Jahre 1808:
„Der erste Platz (unter den Dilettantinnen im Piano) gebührt dem Frl. Magd. v.
Kurzbeck, deren Spiel nach dem Ausspruche aller Kenner jenem des verstorbenen M o z a r t am ähnlichsten ist und welche auch sehr gründliche Einsicht in
die musikalische Theorie besitzt.“920
3. Die künstlerischen Fähigkeiten
Die meisten Autoren betonen, dass oftmals die besten Virtuosen schlecht unterrichten und ein außergewöhnlich hohes spielerisches Können zum Unterrichten
nicht notwendig sei. Jedoch muss die Lehrkraft ihr Handwerk verstehen und
Geschmack sowie einen schönen, deutlichen und empfindungsreichen Vortrag
besitzen, den Mattheson mit einem „Frauenzimmer“ vergleicht, „das zwar nicht
schön, doch wol gekleidet ist, und in allen Verrichtungen eine gewisse Wolanständigkeit samt einem guten Geschmack, darleget.“921 Quantz rät (und geht
damit völlig konform mit Nina d’Aubigny): „Ein großer Vortheil ist es für einen der sich mit Nutzen auf die Musik legen will, wenn er g l e i c h i m A n f a n g e einem guten Meister in die Hände geräth.“ Daher soll man am Honorar
auch am Anfang nicht sparen, sondern gleich „den besten Meister, den man nur
bekommen kann“ nehmen, „sollte man demselben auch zwey oder dreymal
mehr bezahlen müssen, als andern. […] Bey einem guten Meister kann man es
in einem Jahre weiter bringen, als bey einem schlechten vielleicht in zehn Jahren.“922 Marpurg empfiehlt, sich kundig zu machen, welcher Lehrer in dem Rufe steht, „daß er geschickte Schüler zieht. Diejenigen, die am besten spielen,
sind nicht allezeit die besten Lehrmeister. [...] Ein anders ist es, jemanden entzücken, ein anders jemanden lehren. Es hat sich also eine Person glücklich zu
schätzen, die zu ihrem Unterrichte einen Lehrmeister erhalten kann, der mit den
Eigenschaften eines guten Lehrenden diese verbindet, daß er zugleich im Spielen den Vorzug über andere behauptet.“923
919
920
921
922
923
258
nuskript“ mit der eigenhändigen Aufschrift „Der Schwester meines guten Freundes
Mylich“ übersandt haben (siehe Beethoven BR Bd. 1, Brief Nr. 51, S. 56–59).
Reichardt, 11. Brief, Wien 30. 11. 1808, Bd. 1, S. 120.
VLB 1808, S. 52, zitiert nach Reichardt Bd. 1, S. 106, Fußnote.
Mattheson, Vom Lehr-Meister, § 14.
Quantz, Einleitung § 10, S. 9. Adlung, Kapitel 19, S. 802 (Fußnote) hält es für besser,
einen Lehrmeister zu wählen, „welcher viel weiß, ob er schon kein starker Spieler genennet wird, als einen grossen Lermer, so weniger weiß.“
Marpurg Clavier, S. 2.
Geschmack und Empfindsamkeit, diese beiden Eigenschaften wurden
deutlich mit dem weiblichen Charakter assoziiert. So besitzen Frauen laut
Knigge „zartes Gefühl“924 und „reizbarere Nerven, die leichter zu allerlei Gemütsbewegungen in Schwingung zu bringen sind“925 . Auf das instrumentale
Können von Frauen lässt sich dagegen nur aus zeitgenössischen Berichten
schließen. So schrieb Leopold Mozart am 12. August 1773 aus Wien an seine
Frau über Marianna von Auenbrugger und ihre Schwester Katharina: „wegen
dem Frauenzimmer, ist es keine andere als die Tochter des H: Doctor Auenbrugger, oder vielmehr seine 2 Töchter, die beyde, sonderheit: die ältere unvergl: spiehlt, und vollkommen die Musik besitzt.“926 Und Ludwig van Beethoven äußerte sich in einem Brief an den berühmten Augsburger Clavierbauer Johann Andreas Stein über dessen Tochter Nannette (später verheiratete Streicher), deren clavieristische Ausbildung der Vater selbst übernommen hatte, folgendermaßen: „ihre kleine Schülerin lieber St. [Stein] hat mich zudem, daß sie
mir bey dem Spiele meines adagios ein Par Zähren aus den Augen Gelockt, in
verwunderung gesetzt. ich wünsche ihnen Glück, daß sie so glücklich sind, ihre
Einsichten bey so einem Talent zeigen zu können, so wie ich mich freue, daß
die kleine liebe bey ihrem Talent sie zum Meister bekommen hat. [...] übrigens
glaube ich, daß sie die Kleine überall spielen können laßen, und unter unß, sie
wird ma[n]chen von unsern gewöhnlichen eingebildeten Leyrern Beschämen.“927
Einige Autoren, wie etwa Marpurg 928 , formulieren darüber hinaus den
Wunsch, dass ein Lehrmeister im Stande sein möge, angemessene und geschmackvolle Stücke zu Lehrzwecken herauszusuchen. Die alleinige Verwendung von Eigenkompositionen als Unterrichtsliteratur lehnen diese beiden nam924
925
926
927
928
Knigge Teil II, Kapitel 5, Abschnitt 21, S. 205.
Knigge Teil II, Kapitel 5, Abschnitt 11, S. 194.
Mozart BR, Bd. 1, S. 486.
Beethoven BR, Bd. 1, S. 32. Der in Wien geschriebene Brief stammt vielleicht aus den
Monaten Aug. oder Sept. des Jahres 1796.
„Hat man es so weit gebracht, daß man allerhand Arten von Stücken spielen kann: so
nehme man sich in acht, nur bloß einen einzigem Geschmack oder Componisten zu
schwören. Der wahre Kenner lässet nicht allein einer jeden Art von Spielcomposition
an sich, sondern auch jedem Geschmack insbesondere Gerechtigkeit wiederfahren. […]
Der gute Musicus siehet zugleich auf die Harmonie und den Gesang, die Ausführung
der Gedanken, den Plan, die Ordnung und Symmetrie eines Stücks. […] Giebt es nicht
vielleicht Stücke von schon längst verstorbenen Componisten, die besser als viele heutigen sind? Aus dieser Ursache lässet es ein guter Lehrmeister nicht dabey bewenden,
seine Scholaren zu den Stücken der guten Neuern anzuführen. Er verbindet annoch die
besten Stücke der vergangenen Zeit damit, als von welchen sehr viele heutige Compositionen gewißlich werden überlebet werden, so lange das Clavier keine Singstimme,
keine Geige oder Flöte ist.“ Marpurg Clavier, Vorbereitung § 23, S. 8–9. Vgl. auch
Bach, Einleitung § 4–5, S. 2–3.
259
haften Autoren ab. Gerade zur Jahrhundertwende hin nahm die Anzahl der
Notenpublikation mit pädagogischem Charakter deutlich zu. Entsprechend
veröffentlichten auch Frauen Sing- und Instrumentalschulen sowie zu
Unterrichtszwecken dienliche Kompositionen.
4. Pädagogische Eigenschaften
Die wichtigste pädagogische Eigenschaft, die von einer lehrenden Person erwartet wird, ist eine methodische Lehrart. Die Erläuterungen sollen leicht, kurz
gefasst und vernünftig sein und alle wichtigen Dinge in der richtigen Reihenfolge berücksichtigen. Wichtig ist die Vermittlung guter Grundlagen. Hartung
wünscht sich besonders Deutlichkeit von seinem „Docentis“, welche für ihn erfüllt ist, wenn die verbalen Erläuterungen ebenso wie die vorgespielten Beispiele eindeutig sind. Außerdem soll der Lehrer dem Schüler nur so viel auf einmal
zeigen, wie dieser aufzunehmen in der Lage ist. Der Lehrstoff soll logisch und
konsequent aufeinander aufbauen und der Lehrmeister soll ihn ordentlich „repetiren“ lassen.929 Neben Hartung spricht auch Daniel Gottlob Türk930 davon,
dass das Lerntempo dem Vermögen des Schülers anzupassen sei.
Systematisches Denken ist nun etwas, das die Theoretiker Frauen grundsätzlich absprechen möchten. Basedow formuliert die Forderung: „Das N a c h d e n k e n des weiblichen Geschlechts muß sich immer auf die Ausübung beziehn. Die Damen [...] sollen die Grundsätze anwenden, die der Mann oder der
Gelehrte erfunden hat; und die B e o b a c h t u n g e n machen, wodurch solche
Grundsätze erfunden oder bestärket werden können.“931 Knigge lobt die „oft so
scharfsinnigen, von gelehrten, systematischen, vorgefaßten Meinungen so freien Urteile“932 der Frauen, Ernst Brandes lässt in seiner Abhandlung Über die
Weiber immerhin Ausnahmen zu: „Die Verbindungen mehrerer Ideen, das
Festhalten und die Folgerungen aus der Verbindung, die die Stärke der männlichen Kopfnerven beweisen, hat ihnen [den Frauen] die Natur in dem Grade versagt. Was hilft es, daß einige Ausnahmen, unter allen Begünstigungen der Umstände, es dahin brachten, beynahe in diesem Punkte gute männliche Köpfe zu
erreichen?“933
929
930
931
932
933
260
Hartung, Kapitel 1, § 3.3, S. 4.
„Ueberhaupt kann er, ihrer verschiedenen Fähigkeiten wegen, nicht mit Allen nach Einem Plane verfahren. Manche begreifen alles geschwind; mit diesen muß er bald weiter
gehen, damit sie in steter Uebung erhalten werden. Andere haben lange Zeit und öftere
Erinnerungen nöthig, ehe sie etwas fassen; diesen darf er auf einmal nur wenig aufgeben u.s.w.“ Türk, Einleitung § 17, S. 10.
Basedow, S. 298.
Knigge Teil 2, Kapitel 5, Abschnitt 21, S. 205.
Ernst Brandes, Über die Weiber, Leipzig 1787, S. 40ff und 46f, zitiert nach Dülmen,
S. 394.
Allen Vorurteilen zum Trotz beweist u. a. der große Erfolg der Schrift
über die Gesangsbildung von Nina d’Aubigny von Engelbrunner, die Briefe an
Natalie über den Gesang, dass eben auch Frauen zu logischer Aufarbeitung von
Lernstoff fähig sind. Ein anonymer Rezensent der AMZ bemerkt: „Das Buch
hat übrigens sehr viel Gutes, enthält so vieles, das recht eigentlich Wort zu seiner Zeit genannt werden kann; ist so sehr geeignet, seinen nächsten, wichtigen
Zweck zu erreichen – dass wir ihm die Aufnahme in die Handbibliothek jedes
gebildeten Frauenzimmers wünschen müssen. Für jenen Zweck und dies Publikum ist schlechterdings noch kein so passendes Buch vorhanden, weder in der
deutschen, noch in der französischen, noch in der italienischen Literatur.“ 934
Und ganz am Ende der Rezension wird darauf hingewiesen, dass die Art der
Besprechung die Achtung der Zeitungsherausgeber vor „der Güte des Buches“
widerspiegele. Darum werde die Autorin auch die Kritikpunkte „gewiss nicht
ungern aufnehmen, in nähere Erwägung ziehen, und, was sie gegründet findet,
bey einer zweyten Auflage des Buches, zu welcher es leicht und bald kommen
dürfte, benutzen.“935 Aubigny wird also durchaus einer kritischen Durchsicht
ihrer Schrift für befähigt erklärt. Die auch von ihrem Autor angesprochene
Ausgiebigkeit und Gründlichkeit der Rezension zeigt, dass ihr Buch ernst genommen und entsprechend beurteilt wurde.936
Fazit
Was lässt sich nun aus diesen Überlegungen folgern? Die für den Lehrberuf geforderten allgemeinen menschlichen Eigenschaften sprechen geradezu die Stärken des
weiblichen Geschlechtscharakters an. Aus dieser Sicht können Frauen als optimale
Lehrmeisterinnen gelten. Die in den Nachrufen verwendeten, immer wieder ähnlichen, floskelhaften Wesensbeschreibungen belegen dies aufs Deutlichste. Obschon
die Theoretiker für Frauen kein allzu großes Wissen vorsahen und sich mühten, dies
über den Geschlechtscharakter zu begründen, räumten die meisten unter ihnen ein,
dass es Gegenbeispiele gäbe. Die Berichte über solch ‚gelehrte Frauenzimmer’ zeigen, dass diese zum Teil sehr erfolgreich und angesehen waren, zumindest, solange
sie keine Profession daraus machten. In letzterem Falle wurde dies öffentlich unter
934
935
936
AMZ 1803, Sp. 836–848 und 853–861, Recensionen, hier Sp. 837.
AMZ 1803, Sp. 836–848 und 853–861, Recensionen, hier Sp. 861.
Trotz Manfred Elsbergers Einwand, dass mehrere Passagen der Detailrezension die
Meinung des Rezensenten verraten, dass „Nina d’Aubigny mit ihrer Veröffentlichung
unerwünscht weit in eine ursprüngliche Männerdomäne vorgedrungen ist“ (Elsberger,
S. 225. Er bezieht sich dabei vor allem auf die folgende Passage Sp. 846: „Es wäre sehr
zu wünschen, dass Männer, die z u g l e i c h Sprachforscher und praktische Musiker
wären, dies sichtige Kapitel gründlich bearbeiten möchten, und ausführlicher, als es der
Verf. zu i h r e m Zweck zugemuthet werden kann.“) bleibt festzuhalten, dass Nina
d’Aubignys Werk ungeheure Beachtung und Verbreitung fand und immerhin für „ihren
Zweck“, also die Bildung der Frauenstimme, für geeigneter befunden wurde als alle zuvor von Männern veröffentlichten Traktate.
261
dem Deckmantel besonderer weiblicher Tugenden verkauft. Es gab also durchaus
Frauen, die den Anforderungen im Bildungsbereich an eine musikalische Lehrkraft
entsprachen. Dass viele Frauen das notwendige instrumentale Können für den Lehrberuf mitbrachten, steht außer Frage. Auch die Forderungen nach Geschmack und
einem empfindungsreichen Vortrag kommen ihnen geradezu entgegen. Und obschon Frauen das eigenständige Entwickeln methodischer und systematischer Lehrmethoden abgesprochen wird, heißt es doch, dass sie die von Männern entwickelten
Pläne gut umsetzen und ausführen können und somit nach einer bestehenden Methode gut unterrichten können müssten. Die wenigen, von Frauen veröffentlichten
Lehrwerke zeigen, dass immerhin auch Vorstöße in diesen Bereich erfolgten. Diese
Punkte zusammenfassend, können die folgenden beiden Schlussfolgerungen gezogen werden:
1. Frauen besitzen fast alle von Lehrmeistern geforderten Eigenschaften. Da diese
Eigenschaften individuell sind, kann man sagen, dass Frauen zum Lehrberuf
ebenso gut (oder schlecht) geeignet sind wie Männer.
2. Aufgrund ihrer schwierigeren Ausbildungssituation und angeblich schlechteren
systematischen Denkfähigkeit, die dazu führt, dass Frauen eher als Reproduzierende einer bereits existenten denn als Erfinderinnen einer neuartigen Lehrmethode angesehen werden, müssen sie als besonders geeignet für den Anfangsunterricht (für den Lehrwerke existieren), für den Unterricht von Kindern (deren
Erziehung ihnen per se obliegt) und – aus Gründen der Sittsamkeit sicherlich –
für die Unterweisung anderer Mädchen und Frauen gelten.
2.2 Von der Clavierlehrerin
Der Geschlechtscharakter der Frau stand, wie bereits deutlich wurde, nicht im Widerspruch zu den von einem guten Lehrmeister geforderten Eigenschaften. Welche
deutsche Frau wäre jedoch, wie etwa Marie Bigot, als Lehrerin eines so berühmten
Schülers wie Felix Mendelssohn-Bartholdy bekannt geworden? Die im Jahr 1803
erschienenen Briefe an Natalie über den Gesang Nina d’Aubignys richten sich an
Mütter und Erzieherinnen, Sophie Westenholz unterwies adelige Töchter im Clavierspiel – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Trotz großer Kenntnisse und Erfolge überwog in Deutschland, dies verdeutlichen die Nachrufe, das Bild der Hausfrau
und Mutter. Und so kam es, dass Frauen, die natürlich auch allgemein in der Ausbildung von Dilettanten wirkten, wohl immer vermehrter Kinder unterrichteten937
937
262
Dass natürlich auch Männer Kinderunterricht versahen und sich dazu schriftlich äußerten, zeigt etwa Johann Philipp Kirnberger, Grundsätze des Generalbasses als erste Linien zur Composition, Berlin 1781/1782, R Hildesheim 1997, S. IV. Hier heißt es im
Vorbericht: „Die Fähigkeiten der Kinder, und eine lange Erfahrung, die mich mit ihnen
umzugehen gelehret hat, sollen mir daher bei dem Generalbaß, den ich hier abhandeln
oder Gouvernanten bekannt gaben, sie wären auch in der Lage, Musikunterricht zu
erteilen. Kinder sollten, so Friedrich Wilhelm Marpurg, das Clavierspiel mit sechs
oder sieben Jahren beginnen, in einem Alter also, da auch Knaben häufig noch von
Frauen erzogen wurden.938 Friedrich Guthmann plädierte gar für eine „musikalische
Kinderfrau“, da sie „unvermerkt den Keim zur künftigen musikalischen Bildung“
lege.939 Dass es sich (vermutlich gerade bei Letzteren) oft nur um ‚halb gelernte’
Kräfte handelte und wie zweifelhaft die Fortschritte der Schülerin vielerorts waren,
dies zeigt ein Beispieltext von Horstig: „Immer mehr gewinne ich meine Methode
lieb. Noch vor wenig Tagen hörte ich ein kleines Mädchen spielen, welches eben
angefangen hatte, Klavier zu lernen. Auf ihre Finger sah sie, trotz einer, die noch
nicht gewiss ist, ob sie die rechten Tasten treffen werde, so viel auch ihre Lehrmeisterin dabey mit dem Finger auf die Noten zeigte. Die Melodie hätte sie nicht zurechtweisen können; denn bey der Unsicherheit im Takte und der ungleichen Beschleunigung des Minderschwierigen, gab es noch gar keine Melodie, und an Harmonie war in diesem Stücke, welches an geschmackloser Dürftigkeit und Stimmenarmuth keinem sogenannten Uebungsstücke etwas nachgab, gar nicht zu denken.
Da spielte nun das arme Mädchen, und meynte Wunder, was sie heraus gebracht
hätte. Weder ihre Meisterin, noch ihre Aeltern, fühlten in der Freude über den erstaunenswürdigen Anfang des Lernens, all das Holprige und Peinigende in einem
solchen Vortrage; und die Schülerin selbst musste sich an der Freude laben, dass
ihre Finger so mit den Tasten umzugehn vermögend wären. Bedauern hätte ich sie
müssen, wenn sie am Klange selbst sich hätte vergnügen können.“940
Der Zugang zur musikpädagogischen Berufstätigkeit scheint für viele Frauen
sehr schnell auch eine Beschränkung auf den Anfangsunterricht bedingt zu haben,
lag ja die ihnen zugesprochene ursprüngliche Bestimmung und natürliche Neigung
bei der Kindererziehung. „Das größte Gesetz der Methode für Kinder besteht also
darinn, sich zu ihrer Schwäche herunterzulaßen; ihr Diener zu werden, wenn man
ihr Meister seyn will; ihnen zu folgen, wenn man sie regieren will; ihre Sprache und
Seele zu erlernen, wenn wir sie bewegen wollen die unsrige nachzuahmen“941. Hier
treffen wir auf Eigenschaften, die positiv (wenn auch zunächst im Umgang mit
ihrem Ehegatten) der Frau zugeschrieben wurden, hatte sie doch bereits als kleines
938
939
940
941
werde, zur Richtschnur dienen. Ich werde den Anfang mit ganz leichten Dingen machen, und nach und nach zu schwerern Gegenständen übergehen.“
Marpurg Clavier, S. 1. In diesem Alter kann man, so Marpurg, „alsdenn natürlicher
Weise die Hände zur mechanischen Ausübung des Flügels am leichtesten gewöhnen.“
Friedrich Guthmann, Noch ein Wort über Erziehung für Musik, AMZ 1805, Sp. 834–
836, hier Sp. 834.
Carl Gottlieb Horstig, Ueber den ersten Unterricht im Klavier, in: AMZ 1807, Sp. 545–
548, hier Sp. 545–546.
Johann Georg Hamann 1759 an Immanuel Kant, in: Johann Georg Hamann, Briefwechsel, hrsg. von Walther Ziesemer, Arthur Henkel, Bd. 1: 1751–1759, Frankfurt/Main
1955, S. 444–447, zitiert nach Ludwig Fertig (Hrsg.), Bildungsgang und Lebensplan.
Briefe über Erziehung von 1750-1900, Darmstadt 1991, S. 66.
263
Mädchen lernen sollen, sich durch scheinbare Sanftmut, Geduld und Nachgiebigkeit
durchzusetzen. Die Musikschriftstellerin Marianne Ehrmann beispielsweise hielt
diese Möglichkeit weiblicher Einflussnahme auf Mann und Kinder für „notwendig
und erstrebenswert“ 942 . Ganz klar wird der Zusammenhang in dem Nachruf auf
Louise Reichardt, in dem es (deutlich positiv formuliert) heißt: „Junge Mädchen, ja
sehr junge Kinder gewannen bald Vertrauen zu ihr und fühlten sich zu ihr hingezogen, weil sie ihnen in Wahrheit nahe stand, da sich in ihr bey aller Erfahrenheit so
viel Kindlichkeit und Naivetät erhalten hatte. Im Gemüthe war sie jugendlicher als
manche aufwachsende blühende Gestalt, die neben ihr stand.“943
Anfangsunterricht
Wie nun sollte dieser Anfangsunterricht aussehen? Gab es Ratschläge für die vielen
mehr oder weniger intensiv Unterrichtenden? Immer wieder äußerten sich verschiedene Autoren etwa in der AMZ zu dieser Thematik. Sie wurde öffentlich diskutiert
und erhitzte um die Jahrhundertwende die Gemüter. „Sobald nun die Meister in den
Anfangsgründen eben so gut, vielleicht noch besser bezahlt werden, als man sonst
für den gewöhnlichen Unterricht zu geben pflegt; sobald man ihnen nur für die Gefälligkeit des ersten Unterrichts eine eben so grosse, vielleicht noch grössere Erkenntlichkeit, wie für den nachherigen Unterricht wird blicken lassen: so werden
sich auch allmählig die Vorurtheile zerstreuen, mit denen grosse Künstler und Gelehrte sich bisher geschmeichelt fanden, wenn man ihnen eine so kleinfügige Arbeit, wie die Unterweisung in den ersten Anfangsgründen, gar nicht zumuthen wollte. Noch mehr aber können Leute von Einsicht und Geschmack durch ihr eignes
Beyspiel möglich machen“944, so noch einmal Horstig, der ja in engem gedanklichen Austausch mit seiner Schwägerin Nina d’Aubigny stand.
Ihre Briefe an Natalie über den Gesang945 sind noch heute bekannt und geben
Zeugnis von dem Wirken der Autorin als Gesangspädagogin. Weniger bekannt ist,
dass sie in ihrer Bückeburger Zeit (1794 bis 1800), die sie bei ihrer Schwester Susette und ihrem Schwager Carl Gottlieb Horstig verbrachte, auch Clavierstunden erteilte. Zu ihren Schülerinnen gehörten die beiden Fürstentöchter Wilhelmine (geboren 1783) und Caroline (geboren 1786) von Schaumburg-Lippe, die Unterricht in
Gesang, Clavier- und Harfenspiel erhielten. Besonders mit Wilhelmine, der späteren Gräfin Münster, entwickelte sich aus diesen Stunden eine lang andauernde in-
942
943
944
945
264
Heide von Felden, Marianne Ehrmann und die Bildung des Frauen durch Schriften im
ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Kleinau, S. 39–55, S. 47.
Nachruf auf Louise Reichardt, AMZ 1827, Sp. 165–169, hier Sp. 167, 168.
Horstig, Etwas über den guten Unterricht in den Anfangsgründen, AMZ 1799, Sp.
449–454, hier Sp. 452–453.
Die Briefe an Natalie über den Gesang, als Beförderung der häuslichen Glückseligkeit
und des geselligen Vergnügens Nina d'Aubigny von Engelbrunners erschienen 1803 in
Leipzig, eine 2. Auflage stammt von 1824.
tensive Freundschaft.946 Inhalte aus den Unterrichtsstunden fanden auch Eingang in
die Briefe an Natalie über den Gesang, und zwar besonders im Rahmen des 19.
Briefes947 zum Thema Gehörbildung mit Kindern. Nach den Prinzessinnen nahmen
bald auch die Kinder des Hauses Ulmenstein948 Unterricht bei Nina d’Aubigny949,
außerdem die Enkelin Johann Christoph Friedrich Bachs, Helene Lucie Colson950.
Daneben gab es die musikalische und erzieherische Arbeit mit den Nichten und
Neffen, vor allem mit Eduard Horstig (1795–1828), um dessen Erziehung sich Nina
d’Aubigny sehr bemühte. Seine Entwicklung wird in den Briefen an Natalie über
den Gesang im Besonderen dargestellt. Zwischen Neffen und Tante bestand eine lebenslange enge Bindung. Die Unterrichtssituation schuf also in zwei Fällen die Basis für dauerhafte Freundschaften – in einem Falle zum Neffen der Lehrerin, in dem
anderen Fall zu einem Mitglied der Adelsschicht, aus der sie ja auch selbst entstammte. Die Clavierschülerinnen und -schüler Nina d’Aubignys in ihrer Bückeburger Zeit waren allesamt Kinder: Im Jahr 1799, zum Zeitpunkt des Unterrichtsbeginns der Bach-Enkelin Helene Lucie Colson waren Wilhelmine von SchaumburgLippe elf, ihre Schwester Caroline acht und Eduard Horstig vier Jahre alt.
Sind viele Dinge gesangsspezifisch, so ist doch auch einiges aus den Briefen
an Natalie über den Gesang auf den Clavierunterricht übertragbar. Wichtig ist natürlich ein guter Lehrmeister, der nicht nur in der Lage ist, das Fortkommen der ihm
Anvertrauten zu sichern, sondern es auch versteht, den trockenen Anfangsstoff
spannend und abwechslungsreich aufzubereiten. Dieser „gute Lehrmeister“ ist neben einem geeigneten Schulwerk die wichtigste Voraussetzung für einen erfolgreichen Unterricht. Er soll von einem individuell zu bestimmenden Zeitpunkt an unbedingt den Anfangsunterricht, den bis dahin die Mutter bzw. Erzieherin des Kindes
aus ihrer häuslichen Position heraus versehen hat, übernehmen (womit natürlich
auch eine Lehrmeisterin gemeint sein kann). Vom ersten Unterricht hängen laut Aubigny „die künftigen Fortschritte“ ab. Letztendliches Ziel jedes Unterrichts soll immer die „Selbstthätigkeit“ der Lernenden, die Befähigung, sich selbst weiterzubilden, sein.
Kenntnisse in Musiklehre wie etwa das Notenlesen bringt man den Kindern
(deren Singen vom frühen Säuglingsalter an gefördert sein soll) zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr bei, um späteren Instrumentalunterricht zu erleichtern.
Dessen Beginn ist folglich nicht vor dem sechsten Lebensjahr anzusetzen. Die Kinder können die elementaren Grundkenntnisse im Vorfeld „durch mannichfaltige
Spiele, das Notensystem mit seinen, durch alle verschiedenen Schlüssel, bewirkten
946
947
948
949
950
Siehe Elsberger, S. 124–125.
Aubigny, 19. Brief, S. 126–133.
Christian [Valentin] Ulrich von Ulmenstein, ein Freund Carl Gottlieb Horstigs, lebte
von 1786–1789 und ab 1795 in Bückeburg.
Siehe Erben, S. 39.
Sie war das Kind von Bachs ältester Tochter Anna Philippine Friederike und Ernst Carl
Colson.
265
Veränderungen, die Noten selbst und ihren Gehalt, den Takt und seine Verschiedenheit kennen lernen“.951 Die zu erlernenden Termini zeigen drei Tafeln im Anhang
der Briefe an Natalie über den Gesang.952 Darauf sind alle Dur- und harmonischen
Molltonleitern, fünf Notenschlüssel (der Violin- und Bass- sowie drei verschiedene
C-Schlüssel), Intervalle, Versetzungszeichen und enharmonische Verwechslungen,
Notenwerte und Taktarten abgebildet. Wie dieser Stoff genau zu vermitteln sei, dazu schweigt Nina d’Aubigny leider fast völlig, es heißt lediglich zu den Notenwerten und Taktarten: „Es giebt tausend Mittel, die jungen Zöglinge auf eine praktische
Weise mit der Theorie der Musik bekannt zu machen: theils durch Aufzeichnung
und Bildung der Tonleitern auf einer Schiefertafel, um die Tonleitern vollkommen
kennen zu lernen; theils durch Zerschneidung von ganzen Körpern, z. B. Aepfel,
Birnen &c. wodurch die Eintheilung handgreiflich wird, theils durch Eintheilung
der Schritte bey Spaziergängen, wo die Taktverschiedenheit sehr bemerklich ist.
Dies alles ausführlich zu beschreiben, wäre eine Beleidigung für die Erfindsamkeit
liebender Erzieherinnen.“ 953 Die Unterweisung soll also abwechslungsreich, verschiedenste Sinne ansprechend, spielerisch und individuell dem Kind angepasst
sein, denn „es kostet nicht mehr Mühe, eine Sache gut, als sie schlecht zu lehren,
oder zu lernen“954. Die Tipps zur Vermittlung des Lernstoffes sind kurz, doch gemessen an früheren Schulen sehr praktisch ausgerichtet. Ebenso praxisorientiert
sind die Anleitungen zur Gehörbildung. Auch sie sind im Instrumentalunterricht
sinnvoll einsetzbar.955
Eine weitere Abhandlung, die sich mit der Unterrichtsmethodik speziell für
Kinder beschäftigt, stammt von einem Herrn A. Walter aus Bamberg und ist überschrieben mit Die beste Methode, Kindern die Kenntnis der Noten beyzubringen.956
Dabei wird in einem Dialog in Form eines Frage- und Antwortspiels aufgezeigt, wie
eine derartige Unterrichtsstunde mit einem Kind aussehen könnte. Außerdem betont
Walter die Wichtigkeit von Hausaufgaben und häuslichem Üben. Guthmann spricht
sich sogar für einen Beginn ohne Noten während der ersten acht bis zehn Monate
des Unterrichts aus.957 Horstig äußert sich an anderer Stelle, ebenfalls in der AMZ,
dahingehend, dass die „Entwickelung des Geschmacks“ Ziel des allerersten Unterrichts sein müsse und ein bloßes „Klimpern“ nur die Finger, nicht aber die Musikalität fördere. Daher ist nach seiner Meinung der Beginn mit dem Singen so wichtig,
denn Horstig meint, Kinder hätten „das leibhaftige Bedürfnis eines fühlbaren Ac951
952
953
954
955
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957
266
Aubigny, S. 61.
Aubigny, Tafeln II, III und IV, S. 62.
Aubigny, Tafel IV.
Aubigny, S. 58.
Die praktische Umsetzung ihrer Vorstellungen beschreibt die Autorin sehr genau in:
Aubigny, Aubigny Briefe und Aubigny Harfe.
Siehe AMZ 1814, Sp. 397–401.
Friedrich Guthmann, Stufengang des Unterrichts. Bruchstück aus einer noch ungedruckten Methodik des Klavier- und Pianofortespiels, AMZ 1804, Sp. 407–409.
compagnements. Grade dies sollte nun beym Klavierspielen zum Hauptzweck gemacht werden.“ Er berichtet, dass er, um den Kindern eine Freude zu machen,
„zwey bis drey ans Klavier“ setze, jedem einen Ton für jede Hand zuweise und
dann selbst eine Melodie dazu improvisiere. Die Kinder entwickeln auf diese Art
ein gutes rhythmisches und metrisches Gefühl und haben großen Spaß.958 Der Anfang hat also spielerisch zu geschehen, die Kinder sollen lernen, ohne genau zu
merken, dass sie lernen und vor allen Dingen Spaß am Musizieren haben. Dazu gehört das Gefühl für den richtigen Zeitpunkt, das am Besten die Mutter oder Erzieherin haben kann, welche die meiste Zeit mit dem Kind zusammen verbringt. Sie benötigt dann aber auch das Wissen um dieses leichte, bei Horstig geforderte Akkompagnement und muss selbst in der Lage sein, mit der rechten Hand eine attraktive
Melodie dazu zu spielen. Die gedankliche Verbindung Horstigs zu seiner Schwägerin Aubigny ist augenfällig.
Die Problematik einer angemessenen Unterweisung für Kinder spricht die bei
Cramer abgedruckte Rezension einer Kinder-Clavierschule von George Friedrich
Merbach an, die im Jahre 1782 erschienen war. Hier äußert sich der Rezensent zunächst allgemein dahingehend, dass es „wohl das Loos aller Anweisungen, die für
Kinder bestimmt sind“ sei, „unvollständig und oft unrichtig und schwankend im
Ausdruck und in den Erklärungen zu seyn.“ Erwachsene können sich eben nicht
einfach in Kinder hineinversetzen. Daher glaubt der Rezensent, „daß ein ganz besonderes Talent dazu gehört, zwey von Natur einander so entgegen gesezte Dinge,
als die eingeschränkte Fähigkeit der Kinder, und vollständige Erklärungen und Begriffe sind, glücklich mit einander zu vereinigen.“959
Publikationen für den Anfangsunterricht
Die Hilfestellungen für Gouvernanten und Hofmeister, für Mütter und Erzieherinnen nahmen um 1800 stetig zu und es erschienen immer mehr Publikationen, die
sich rühmten, eigens auf diese Thematik einzugehen. Die AMZ des Jahres 1800 bespricht zum Beispiel die Sammlung Kleine und leichte Klaviersachen für Kinder,
zum allerersten Anfange im Musiklernen, von Mylich und empfiehlt dieses Werk
ausdrücklich „H o f m e i s t e r n u n d G o u v e r n a n t i n n e n [...], von denen
man gewöhnlich neben den Siebensachen auch Unterricht im Klavierspielen verlangt, und die dann aus Noth zu Operettenstückchen und allerhand unzweckmässigen Scharteken greifen, oder sich das Erb- und Familien-Notenbuch von der gnädigen Frau Mama oder eins vom Dorfkantor ausbitten müssen“.960
Als Kennzeichen guter Tonstücke für „angehende Klavierspieler“ nennt der
bereits genannte Walter folgende Merkmale: einen sehr geringen Schwierigkeitsgrad, um die Lernenden nicht abzuschrecken, Kürze in Rücksicht auf die mangelnde Geduld der Kinder, Eignung für die kleine Kinderhand, Vermeidung von Tonar958
959
960
Carl Gottlieb Horstig, Erster Musikunterricht, AMZ 1806, Sp. 113–117.
Cramer MAG, 1. Jg., 2. Hälfte 1783, S. 1310–1311.
AMZ 1800, Sp. 294–296, hier Sp. 295.
267
ten mit vielen Vorzeichen und Verzicht auf Spielanweisungen mit Ausnahme von
Tempoangaben (die allerdings nicht ganz streng gehandhabt werden sollen). Die
Stücke sollen außerdem mit guten Fingersätzen versehen sein, beide Hände gleichermaßen beanspruchen und der Tonumfang soll in der Höhe f³ nicht überschreiten (ein Hinweis auf den üblichen Umfang der Tasteninstrumente).961 Hierin ist Einiges aus dem Bericht der AMZ von 1800 wieder zu entdecken, wo aus dem Vorwort Mylichs zitiert wird und der diesem Mangel mit kindgerechten Stücken Abhilfe schaffen will, da nicht jede Lehrkraft „Musse“ und „Lust genug“ hat und in der
Lage ist, dem „kleinen Eleven Musikalien selbst zu verfertigen“.962
Die Motivation der Lernenden wird häufig thematisiert. So wählt Aubigny als
Unterrichtseinstieg auf der Harfe bei einem jungen Mädchen das Spielen einer bekannten Melodie nach dem Ohr. Dabei soll gleich zu Beginn die Schülerin motiviert
werden und Lust bekommen, sich am Spiel auf dem neuen Instrumente zu versuchen. Eine ältere Frau dagegen beginnt mit dem Versuch, dem Instrument einen
wunderschön klingenden Ton zu entlocken. Erst im Anschluss an diese Einführung
beginnt Nina d’Aubigny mit der systematischen Unterweisung, die Raum lässt für
eigene Überlegungen der Schülerin in dem Zeitraum bis zur nächsten Unterrichtsstunde. Ein erstes musikalisches Erfolgserlebnis steht zu Beginn aller Unterwiesung. Damit liegt Aubigny im Trend ihrer Zeit. Guthmann zum Beispiel fordert in
seinem Stufengang des Unterrichts das „musikalische Gefühl“ von Anfang an zu
„wecken“ und zu „verfeinern“.963
Auch die Abstimmung der Sprache eines Werkes auf eine bestimmte Personengruppe kam immer mehr in Mode. War in früheren Jahren die ‚Allgemeinverständlichkeit’ ein häufig formuliertes Anliegen der Autoren gewesen, so wird nun
bei den theoretischen Werken und Schulen immer öfter nach Zielgruppen unterschieden. In der Vorrede zu Wiedeburgs Der sich selbstinformierende Clavierspieler von 1765 heißt es beispielsweise: „Weil ich nun willens war, auch dem Frauenzimmer und sonst unstudirten Personen zu dienen, so ist in diesem Unterrichte man961
962
963
268
A. Walter, Ueber Tonstücke für angehende Klavierspieler, AMZ 1814, Sp. 401–405,
hier Sp. 402–404.
„Ich weiss aus Erfahrung, wie verlegen zuweilen Musiklehrer sind, wenn sie Kinder
von sechs bis neun Jahren zu unterrichten haben, um Stücke zu finden, die sich für ihre
kurzen und schwachen Finger schicken, und wie unangenehm, ja oft das Lernen verekelnd, es auf der andern Seite für diese kleinen Schüler ist, wenn sie nur Stücke spielen müssen, die zwar den Erwachsenen leicht dünken, ihnen aber dennoch keineswegs
bequem genug in die Finger fallen, und daher schwer bleiben; wobey noch hinzukommt, dass sie oftmals weder durch Melodie noch Harmonie sich gehörig empfehlen,
weil vieles an ihnen zu schwer, oder für ihre kleinen Finger zu weitgriffig ist, und weggelassen werden muss, wodurch denn das Ganze nicht wenig verliert.“ AMZ 1800,
Sp. 294–296, hier Sp. 295–296.
Friedrich Guthmann, Stufengang des Unterrichts. Bruchstück aus einer noch ungedruckten Methodik des Klavier- und Pianofortespiels, in: AMZ 1804, Sp. 407–409, hier
Sp. 409.
ches mit Fleiß mehr als einmal vorgekommen, und alles sehr weitläufig und der
Deutlichkeit halben, einfältig964, ohne sich einer gekünstelten Schreibart zu bedienen, vorgetragen worden. Ich habe mich also der Deutlichkeit, Einfalt und der zu
meinem Zwecke nöthigen Weitläufigkeit beflissen, mich auch nicht genau an einer
vorgesetzten ordentlichen Abhandlung gebunden, sondern alles nur so, wie es mir
bey einer Selbstinformation nöthig zu seyn vorkam, hingesetzt. Sonderlich habe ich
mir bey der Verfertigung gewünschet, daß ich obenbenannten Liebhabern dienlich
und verständlich seyn möchte“. Aubignys 31 Briefe an Natalie über den Gesang, geschrieben von einer Frau für Frauen, für Mütter und für Erzieherinnen, sind denn
auch ein Werk, das der Autor einer außergewöhnlich ausführlichen Rezension in
der AMZ als „recht eigentlich Wort zu seiner Zeit“ lobt, den „leichten und freyern
Konversationston“ der Briefe findet er im Hinblick auf die Zielgruppe angebracht
und die Briefform „nicht übel benutzt“.965
Adriana Henrika Friedel
Musikunterricht für Kinder und erwachsene Liebhaber gehörte zur Lebensplanung
der meisten angehenden Berufsmusiker. Während dann aber die männlichen Kollegen ihre Karriere Richtung Kantoren-, Organisten- oder Musikdirektorenstellen vorantrieben und sich bei ihnen, wenn es irgend ging, das ‚Stundengeben’ als berufliches Durchgangsstadium definieren lässt966, für andere das Unterrichten von Anfängern und Fortgeschrittenen zu einer angesehenen Lebensgrundlage wurde, blieben
Frauen in der Regel für den Anfangsunterricht zuständig und hatten nur in seltenen
Fällen Möglichkeiten, darüber hinaus tätig zu werden. Dass heute gerade die Frauen
bekannt sind, deren Tätigkeit weitere Kreise zog, ist nicht verwunderlich. Auch,
dass man in bürgerlichen sittenstrengen Kreisen Clavierlehrerinnen für die Töchter
bevorzugte, ist einsichtig, formulierte doch bereits Mattheson in seinem ausführlichen Artikel vom Lehr-Meister, dieser dürfe „kein Liebhaber falscher Griffe bey
jungem Frauenzimmer“967 sein.
Zu diesen weiblichen musikalischen Lehrkräften dürfte wohl die „Gesang- und
Pianofortelehrerin“ Adriana Henrika Franziska Friedel gehört haben. Sie war die
Tochter des Schwetzinger Hoftrompeters und Musiklehrers zweier Prinzessinnen
Johann Friedrich Friedel. Von den sieben Kindern der Familie waren immerhin
sechs hauptberuflich musikalisch tätig. Die hohen Lebenshaltungskosten in Residenzstädten wie Mannheim oder Schwetzingen führten dazu, dass ein Musiker, sobald er im Orchester Fuß gefasst hatte, versuchte, weitere Familienmitglieder hier
unterzubringen. Während vier Geschwister erfolgreiche Solistinnen und Solisten
964
965
966
967
Gemeint ist „einfach“.
AMZ 1803, Sp. 837–848 und 853–861, hier Sp. 837 und 838. Eine eingehende Interpretation dieser Rezension findet sich bei Elsberger, S. 224–227.
Roske, S. 30.
Mattheson, S. 60, Vom Lehr-Meister, § 16.
269
wurden, wird Adriana Henrika Franziska nur bei Gustav Schilling erwähnt, der von
ihr schreibt:
Gustav Schilling, Encyclopädie der gesamten musikalischen Wissenschaften968
„Hunderte von Schülerinnen“ – eine solche Formulierung findet sich meines Wissens an keiner anderen Stelle. Adriana Henrika Franziska Friedel scheint außerordentlich viel unterrichtet zu haben und zwar – das ist bemerkenswert – nach einer
von ihr gewählten Methode. Sie war also in der Lage, eigenständig einen methodischen Weg auszuarbeiten, konsequent zu befolgen und zum Erfolg zu führen. Sie
unterrichtete anscheinend ausschließlich Schülerinnen, allerdings aus verschiedensten Ständen, die nun „in aller Welt verstreut leben“, was einerseits auf gute Heiraten, andererseits auch auf berufliche Erfolge zurückzuführen sein könnte. Dieser
Unterricht hatte aber Folgen – dieselben Folgen wie bei Louise Reichardt: Die Lehrerinnen ermüdeten, ihre Gesundheit litt, und zwar so stark, dass die eine wie die
andere das Unterrichten einstellen musste. Dies ist laut zeitgenössischer Darstellung
die Auswirkung, wenn eine Frau mehr arbeitet, als es gemäß ihrer Geschlechterrolle
für sie passend wäre. Sie ist zwar in ihren Grenzen geblieben, doch sie hat auch eine
bestimmte Schwelle überschritten. Sie wird dafür bewundert, muss aber auch die
Folgen tragen.
Eine Generalbassschule von 1728
Dass ein Unterrichtswerk einer Frau gedruckt wurde, das scheint in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts nahezu undenkbar gewesen zu sein – ähnlich, wie viele
Schriftstellerinnen Probleme hatten, ihre Werke zu publizieren. Nur das Schreiben
von Briefen und damit auch briefähnlichen Romanen galt als weiblich und genau an
diesem Punkt knüpfte Aubigny an. Sich jedoch zu einem methodischen Weg
schriftlich zu äußern, hätte vermutlich die sofortige negative Kritik allein an dieser
Tatsache heraufbeschworen. Nina d’Aubignys Briefe an Natalie über den Gesang
bilden das erste, mir bekannte, von einer Frau veröffentlichte Lehrwerk nach einer
großen Spanne von Jahren. Immerhin – vom Beginn des 18. Jahrhunderts gibt es einen Generalbasstraktat einer Frau: die anonym überlieferten Nöthigsten Regeln des
968
270
Schilling ENC, Supplement, S. 149.
General-Basses. Einen zeitgenössischen Hinweis auf die Autorin gibt David Kellner, der schreibt: „Uberdem so hat, ehe dann das neue Heinichensche Werck zum
Vorschein kam, ein etwan 9 jähriges Fräulein, so von sonderbahrem Verstande und
guter education war, Nahmens Freudenberg, eines Heßischen Obristen Tochter,
bey ihrem damahligen Hierseyn, ihre in Stockholm erlernte so genannte Nöthigste
Regeln des General-Basses zu Papiere gebracht, und darinne eben dasselbe natürliche Accompagnement des Basses observiret, und ist diese ihre Arbeit so beliebet
worden, daß viele davon eine nützliche Abschrifft genommen.“969 Das Buch erlebte
verschiedenste Auflagen zwischen 1728 und 1742, war also ausgesprochen erfolgreich. Dieser Erfolg war es wahrscheinlich sogar, der Kellner zu seiner eigenen Generalbassschule inspirierte. Es gibt heute zwei Autorenzuschreibungen dieses anonymen Traktates, die eine an Antoinette Philippine Luise Freudenberg – die Kellner
sicherlich persönlich bekannt gewesen sein dürfte – die andere an einen nicht genauer bestimmbaren J. F. Andrien. 970 Es gibt jedoch keinen Grund, an Kellners
Aussage über die Autorin der ersten Auflage zu zweifeln. Mir liegt eine Kopie dieser Ausgabe von 1728 aus der Berliner Staatsbibliothek971 vor. Der vollständige Titel lautet Kurtze Anführung zum General-Bass darinnen die Regeln, welche bey Er969
970
971
Kellner, S. 29.
Siehe RISM B VI.1, S. 330 und B VI.2, S. 945–946: 1. Kurtze Anführung zum Generalbass, darinnen die Regeln, welche bey Erlernung des General-Basses zu wissen nöthig,
kürtzlich und mit wenig Worten enthalten. Allen Anfängern des Claviers zu nützlichem
Gebrauch zusammen gesetzt, Leipzig 1728, erhaltene Exemplare in: CS-Pu (ohne Autorenzuschreibung), D-Bds, GB-Lbm (J. F. Andrien zugeschrieben), US-Bpm
(unleserliche Autorenzuordnung, möglicherweise aus dem 18. Jh.); 2. Zweyte Edition,
Leipzig 1733, erhaltene Exemplare in: CH-SO (enthält eine nicht nachvollziehbare Zuschreibung eines früheren Bibliothekars an J. F. Andrien), D-Bds, D-Dl, D-LEm (Zuschreibung: Freudenberg, ohne Vornamen), D-Mbs (Zuschreibung: Freudenberg, ohne
Vornamen), D-NB (Zuschreibung: J. F. Andrien), DK-Kk, F-Pc, S-Skma, US-NH
(G. F. Andrien zugeschrieben), US-NYp (Zuschreibung: Fräulein von Freudenberg und
F. F. Andrien), US-Wcm; 3. Kurtze und gründliche Anleitung zum Generalbasse, worinne die zu dieser Wissenschaft nöthige Regeln kürtzlich und deutlich enthalten. Denen Liebhabern des Claviers absonderlich aber den Anfängern desselben zum Nutzen
aufgesetzt, Leipzig 1744, 3. und verbesserte Auflage, erhaltene Exemplare in: A-Wn
(ohne Autorenzuschreibung), B-Bc (ohne Autorenzuschreibung), CH-Bu, CH-Gu, D-G
(ohne Autorenzuschreibung), D-MH (J. F. Andrien zugeschrieben), D-Kk, GB-Lbm
(ohne Autorenzuschreibung), US-R (ohne Autorenzuschreibung), US-Wcm; 4. Verb.
Auflage, Augsburg 1749, erhaltene Exemplare in: A-Gu, A-Wgm, CS-Pnm, D-F (Zuschreibung an J. A. Andrien), D- Mbs (Zuschreibung: Freudenberg, ohne Vorname), DRp (ohne Autorenzuschreibung), GB-Cu (Fräulein von Freudenberg zugeschrieben); 5.
Anleitung zum Generalbass, 4. und verbesserte Auflage, Leipzig 1752, erhaltene Exemplare in: A-Wgm, B-Br, D-BEU, D-Rp (ohne Autorenangabe), F-Sn. Der Text bleibt in
den Ausgaben von 1728, 1733, 1744, 1749 und 1752 gleich. Frdl. Auskunft von Herrn
Dr. Reinald Ziegler.
SBB Signatur Mus. Ga 152 Rara.
271
lernung des General-Basses zu wissen nöthig, kürzlich und mit wenig Worten enthalten. Allen Anfängern des Claviers zu nützlichem Gebrauch zusammen gesetzt.
Das Buch ist einer „Mademoiselle Jeanne Eleonore Wolff“ gewidmet. Das Vorwort
stellt fest, dass es „heut zu Tage was gantz gemeines werden [will], daß das Frauenzimmer in der Music studiret“, was laut Aussage der Autorin häufig getadelt wurde. Sie verteidigt jedoch diese Tatsache damit, dass nicht alle „die Music zum
Deck=Mantel ihres Bösen“ (also wider ihr Geschlecht) gebrauchen und „eine wohleingerichtete Erziehung, und der Eltern weise Sorgfalt die Pietät im Tugend=Register“ dafür sorgen, dass dieser „Mißbrauch“ nicht vorkommen wird.972
Zum Literaturspiel auf dem Clavier gehört aber unbedingt auch die Kenntnis des
Generalbasses, dessen wichtigste Regeln das Büchlein enthalten soll. Es soll dabei
komprimierter sein als die zahlreichen bisher erschienenen Traktate und sich auf
das Unentbehrliche beschränken. Außerdem richtet es sich explizit an Anfänger des
Generalbasses.973 Diese Zielsetzung macht es besonders für Mädchen und Frauen
geeignet, die in der Regel geringere musiktheoretische Grundkenntnisse besaßen als
Jungen. Durch die Kürze der Regeln, die für eine weniger komplexe und dabei
kompaktere Darstellung sorgt, soll der Geist weniger belastet werden.
In vier Kapiteln geht es um die Definition und Ableitung des Wortes „Generalbass“, um Intervalle, Akkorde, Umkehrungen und Bezifferungen, Modulationen
und das Akkompagnement ohne vorgegebene Bezifferung. Das fünfte Kapitel ist
mit „Vom Accompagnement, und was sonst bey dem General-Bass annoch zu mercken“ überschrieben. Hier werden Stimmführungen, Unisonospiel, Dynamik im
Verhältnis zu den Solostimmen, Häufigkeit der Akkorde, die Höhe der Aussetzung
und das Timing besprochen. Nichts davon fällt aus dem Rahmen der bekannten
zeitgenössischen Werke. Interesse weckt noch eine Stelle im ersten Kapitel. Hier
werden die Eigenschaften aufgezählt, welche zum Generalbassspielen erforderlich
sind: „ein gutes Naturell, und daß einer rechte Lust, Begierde, und Gefallen an der
Music habe, denn wo dieses nicht ist, da wird es gemeiniglich auch am Fleise, als
einem der größten Requisitorum fehlen, und wo kein rechter Fleiß ist, wird auch
nichts gründliches erlernet.“974 Motivation ist also grundsätzlich wichtig für erfolgreiches Lernen.
Worauf beruhte der außergewöhnlich große Erfolg dieses Traktates? Wurde er
hauptsächlich von Frauen erworben? Wir wissen es nicht. Ein Exemplar der zweiten Edition von 1733, das heute in der Kantonsbibliothek Solothurn aufbewahrt
wird, gehörte 1743 einem Pater Oswald Albert, Franziskaner in Schwäbisch
Gmünd, später Anton Müller, Conventuale in Solothurn (eventuell auch ein Franziskaner). Anschließend kam es in die heutige Kantonsbibliothek.975 Das Fräulein
Freudenberg jedenfalls scheint mit neun Jahren schon recht gebildet gewesen zu
972
973
974
975
272
Freudenberg, Widmung.
Freudenberg, Vorbericht.
Freudenberg, S. 8.
Frdl. Auskunft von Herrn Hans-Rudolf Binz, Kantonsbibliothek Solothurn.
sein und vielerlei Künste beherrscht zu haben, außerdem mit den Werken anderer
Autoren bekannt gewesen zu sein – dies zeigt ihr Verweis auf Johann David Heinichens Gründliche Anweisung zur Erlernung des General-Basses, erschienen
1728.976 In solch jungen Jahren unterrichtete seinerzeit auch Johann Mattheson. In
seiner Biografie heißt es, dass er „bey so zartem Alter, 1690 [...] als ein
neun=jähriger Knabe [...] schon damahls (wenn er aus der Schule kam) einiges vornehmes und schönes Frauenzimmer unterrichtete“977. Dem zufolge wären die Leistungen des Fräuleins von Freudenberg vielleicht gar nicht so außergewöhnlich, wie
es heute scheinen mag.
Clementine Andrées „Fröhlicher musikalischer Gesellschafter“
Eine Veröffentlichung aus späterer Zeit ist mir bekannt, von einer Frau herausgegeben und für die Jugend gedacht. Es handelt sich um eine Fröhlicher musikalischer
Gesellschafter für die Jugend betitelte Sammlung einer gewissen Clementine Andrée. Das in Meißen gedruckte Werk ist, ebenso wie jegliche Information über seine
Autorin, heute offenbar verschollen. Immerhin erhielt es seinerzeit eine ausführliche Besprechung in der AMZ. „Die Herausgeberin, welche, so viel Ref. weiss, in
Dresden Unterricht im Klavierspiel giebt, mag bey diesem Geschäft, wie andere
Lehrer, die Erfahrung gemacht haben, dass es schwer hält, noch ziemlich kleine
Kinder, vornämlich wohlhabender Familien, (wo es viele andere Vergnügungen
giebt, und Zerstreuungen nicht fehlen,) und die nicht ausserordentliche Anlagen,
mithin nicht ausserordentliche Neigung zur Musik besitzen, doch aber von dieser
Kunst etwas für’s Haus lernen sollen – aufmerksam und fleissig zu erhalten, besonders auch sie zum freywilligen Ueben des in den Stunden Erlernten zu bewegen;
und dass man Letzteres fast gar nicht, Ersteres bey weitem nicht immer, auch bey
allem Lehrtalent, erreicht, wenn das, was die Kinder spielen sollen, nicht für sie, als
Kinder, und eben solche Kinder, vielen Reiz hat. Deswegen mag sie nun eben eine
solche Sammlung ganz kleiner, mannigfaltiger und sehr leicht auszuführender Sätzchen, von denen die meisten eben dieses Reizes (vornämlich für Mädchen,) gewiss
nicht ermangeln, veranstaltet haben; und gehet man in diese Ansicht, als entscheidend, überhaupt ein – wie man es unter gewissen gegebenen Umständen wol muss
– so wird man den richtigen Blick und die zweckmässige Wahl der Herausgeberin
loben, auch gar mancher Lehrer, der nun einmal jenen Umständen sich unterwerfen
muss, ihr für dies Hülfsmittel in seiner Noth danken.“978
976
977
978
Freudenberg, S. 6.
Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten
Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler &c. Leben, Wercke,
Verdienste, &c. erscheinen sollen, Hamburg 1740, R Kassel-Basel-Paris-London 1969,
S. 188.
Recension zu Fröhlicher musikal. Gesellschafter für die Jugend, herausgegeben v. Clementine Andrée in: AMZ 1816, Sp. 108–109.
273
Thematisiert werden Übe- und Motivationsprobleme. Als besonders geeignet
für Mädchen sei die Sammlung, heißt es, da die enthaltenen Stücke kurz, abwechslungsreich und sehr leicht seien. (All diese Attribute forderte Walter von Literaturstücken für Kinder.) Weiter heißt es zum Inhalt der Sammlung, das „Werkchen“
enthalte auch Lieder zu einem „Kinderschauspiel von Moriz Salomo, die Ueberraschung“, mehrere „hübsche“ Modetänze, „muntere Kinderliedchen“ und außerdem einen Marsch, „wobey ein Knabe [!] sehr leicht die Trommel schlagen kann,
(kein übles Mittel, zugleich den Sinn für Rhythmus und das Taktgefühl zu schärfen)“.979 Das Werk versteht der Rezensent als Materialsammlung, aus welcher die
Lehrkraft die für das jeweilige Kind geeigneten Stücke heraussuchen soll, nicht
etwa als einen „methodischen Cursus“ wie die Generalbassschule des Fräuleins von
Freudenberg. Die Sammlung erscheint dann geeignet, wenn die Lehrenden „solcher
Hülfsmittel“ zum Unterrichten bedürfen (bereits eine Klassifizierung der Lehrkräfte?). Ein Werk also für Leute, die selbst derartige Literatur nicht zu schreiben vermögen und nicht in der Lage oder willens sind, an vielen Stellen geeignete Übungsstücke zusammenzusuchen, eine Sammlung an Literatur, die erfreut und unterhält,
besonders diejenigen, die vielleicht nicht die rechte Lust zum Clavierspiel, zum
Üben haben und darum viel Ergänzendes zum „methodischen Cursus“ brauchen.
Ein solches Repertoire war gesucht und wird als wichtig vermerkt. Hingegen – so
Daniel Gottlieb Türk in seiner Clavierschule – gibt es „einige sonst verdiente Männer“, welche „das Gegentheil [rathen]: allein wahrscheinlich haben sie nur sehr wenige Anfänger, oder doch nur solche unterrichtet, welche mit außerordentlichen Talenten einen unermüdeten Fleiß verbanden; und bey diesen muß man freylich eine
Ausnahme machen. Haben aber alle die, welche etwas Musik lernen wollen, die genannten Eigenschaften? Will nicht jeder Lernende, oder doch der größere Theil derselben, bald das Vergnügen haben, etwas spielen zu können? Wird nicht eben dadurch, daß er bald einige Stücke nach seiner Art vortragen kann, die Lust zum Lernen ungemein unterhalten? Sollte das noch der Fall seyn, wenn man ihn gleich anfangs mit schweren Stücken martert?“980
Zu diesen Freuden gehören in der Sammlung Clementine Andrées nicht nur
Lieder, kindgerechte Stückchen und Rhythmusbegleitung, sondern „Einiges auch
für drey, Einiges für vier Hände“. Auf das Vierhändigspiel, das immer beliebter
wurde (woran die beiden Geschwister Mozart nicht unschuldig waren), kam bereits
Milchmeyer zu sprechen.
Möglichkeiten des Lernens für Kinder und Frauen
Nicht nur für Kinder, auch für die zahlreichen Liebhaberinnen und ihre Bedürfnisse
gab es vermehrt Unterrichtsmaterialien. Noch im 17. Jahrhundert, im Jahr 1687, erschien in Ulm Daniel Speers Grundrichtiger, kurtz, leicht und nöthiger Unterricht
der musicalischen Kunst mit einem Anhang, der überschrieben ist mit „Hierbey
979
980
274
Ebd., hier Sp. 109.
Türk, S. 12.
kommt aber auch noch eine leichte Information deß Claviers vor das
Fraun=Zimmer“ (in der späteren Ausgabe von Speers Werk aus dem Jahre 1697981
ist dieser Anhang nicht mehr enthalten). Speer richtet diese Seiten an ein „HochAdeliches Fräulein“, welches das Clavierspiel, wie die meisten Frauenzimmer, zur
„Gemüths Belustigung etwan erlernen“ möchte. Aufgrund dieser Zielsetzung stellt
Speer fest, dass es ausreiche, den Frauen die fünf Notenwerte Ganze, Halbe, Viertel, Achtel und Sechzehntel beizubringen „und die Buchstaben ihnen sowol im Discant als Bass-Schlüssel darunter [zu] setzen“. Solmisation soll unterbleiben, man
verwende stattdessen die (auch heute üblichen) Tonnamen: „Da man dann zum
Erkantnus des Cavirs den Incipienten solche Buchstaben mit Pappirichen pflegt auf
das Clavir aufzuzeichnen.“ Auch die Schlüsselzahl sollte beim Unterricht für Frauen auf einen C-Schlüssel (erste Linie) und den Bassschlüssel (vierte Linie) eingegrenzt werden. Sollten andere Schlüssel vorkommen, „kan ja der Informator solche
/ in den ihr bekant gemachten [...] absetzen“ – von eigenständigem Lernen also keine Spur. Wie fast alle Themenbereiche der Musiktheorie eingeschränkt sind, sollen
Frauen auch nur wenige Taktarten erlernen müssen und zunächst mit zweistimmigem Spiel beginnen. Erst nach und nach können Mittelstimmen zu Diskant und
Bass hinzugegriffen werden. Als Repertoire verwende man „kurtze Choral-Gesänge
/ Arien, Ballet, Couranten, Gavotten oder Sarabanden“, also keine kontrapunktischen Kompositionen. „Wann nun die Incipientin das Clavir zimlicher massen im
Griff oder in der Faust“ habe, so soll mit dem Generalbass begonnen werden. Dieser gehört also auch in dieser ‚Schmalspurausbildung’ unweigerlich dazu.982
100 Jahre später war die Publikationsbreite enorm gestiegen. Musikjournale
erschienen, etwa ein in der Musikalischen Realzeitung beschriebenes Journal de
Mus. pour les Dames983 sowie die ebenfalls dort angepriesene Bibliothek der Grazien, eine „Monatschrift für Liebhaberinnen und Freunde des Gesangs und des Klaviers“.984 Die AMZ pries im Jahr 1802 ein Musikalisches Damen-Journal an, welches dem „Bedürfnis“ der „Liebhaber und Freundinnen sanfter Melodien, des Pianoforts und Klaviers“ nachkommen und Stücke, welche „ungekünsteltes Gefühl
und wahren Geschmack zu verbinden suchen“ vierteljährlich veröffentlichen wollte.985
981
982
983
984
985
Daniel Speer, Grund-richtiger Unterricht der musicalischen Kunst oder Vierfaches musicalisches Kleeblatt, Ulm 1697.
Daniel Speer, Grund-richtiger, kurtz, leicht und nöthiger Unterricht der musicalischen
Kunst, wie man füglich und in kurtzer Zeit Choral und Figural singen, den GeneralBass tractiren, und Componiren lernen soll. Denen Lehr- und Lernenden zu beliebigem
Gebrauch, Ulm 1687, SBB, Signatur 2 an: Mus. Ant. Theor. Q 17, S. 124–132.
Siehe MRZ 1789, Sp. 400.
Siehe MRZ 1788, Sp. 158–160; MRZ 1789, Sp. 8, 399.
AMZ 1802, Intelligenzblatt, S. 47–48.
275
Die sich rasch entfaltende bürgerliche Musikkultur erhöhte den Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern, institutionelle Ausbildungsmöglichkeiten ließen jedoch in
Deutschland noch lange auf sich warten. Hier war man besonders vom Pariser Modell, dem Conservatoire de Musique et de Déclamation begeistert, denn „aus der
Sicht der Verhältnisse in Deutschland betrachtet, grenzte es ans Wunderbare und
Phantastische“986, wurden dem Conservatoire doch „nur solche Lehrenden und Lernenden zugeführt, die als die besten und talentiertesten galten“987. Fachzeitschriften
wie die AMZ berichteten immer wieder über dies Institut und lobten die Leistungsfähigkeit der Gesangs- und Instrumentalklassen und ganz besonders das Pariser
Ausbildungsprogramm. Die am Conservatoire verwendeten Lehrwerke galten als
vorbildlich und wurden in Deutschland, wo es an derartigem Material mangelte, bevorzugt eingesetzt. Allerdings wollte man im deutschsprachigen Raum nicht etwa
das Pariser Institut kopieren. Dies verbot, wie Sowa es ausdrückt, „schon vaterländischer Stolz“988. So schlug man bei den frühen Institutsgründungen wie in Prag
(1811) und Wien (1817) andere Wege ein, die Frauen vom Instrumental- und Theorieunterricht überwiegend ausschlossen.989
Allgemein war die musikalische Ausbildung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wenig reglementiert. Sie lag zu großen Teilen in den Händen von privaten
Lehrkräften, die in der Regel Einzelunterricht erteilten. Wer etwas lernen wollte,
stellte sich seinen eigenen Lehrplan nach Interessen und Möglichkeiten zusammen.
Für Frauen gab es dabei einerseits manche Probleme – sie konnten zum Beispiel
nicht so leicht reisen wie Männer – andererseits war es gerade diese NichtRegelung,
die Tatsache, dass es keine offiziellen Berufsabschlüsse gab, die hätten verlangt und
vorgewiesen werden können, die ihnen einige Nischen ließ. In der Frühzeit der
Konservatorien waren die dort Lernenden nicht älter als 16 Jahre alt. Die Elementarklassen dienten der Dilettanten- wie der Berufsmusikerausbildung. Auch in den
Instrumentalklassen unterschied man nicht zwischen Liebhabern und zukünftigen
Professionellen.990 Mädchen stand neben den Gesangsklassen der Clavierunterricht
offen, außerdem konnten sie ergänzend musiktheoretische Grundkenntnisse erlangen. Ähnlich waren auch einige private Schulen aufgebaut, die von Frauen ins Leben gerufen und geleitet wurden: die Mädchenerziehungsanstalt von Elise Müller in
Bremen, die von 1804 bis 1820 bestand, die Musikschule der Maria Theresia Para986
987
988
989
990
276
Sowa, S. 44.
Sowa, S. 46.
Sowa, S. 45.
Ab 1815 gab es in Prag eine besondere Abteilung, die „Bildungsschule für Sängerinnen
und Sänger“, welche den ersten Zugang zu einem Musikstudium für Frauen im deutschen Raum ermöglichte. Für Jungen bedeutete das Studium an den Konservatorien die
Vorbereitung auf eine berufliche Laufbahn als Musiker, für Mädchen die als Opernsängerin, ansonsten erlernten sie lediglich die für Chorgesang und familiäres Musizieren
benötigten Elementarkenntnisse. Siehe Hoffmann IAM.
Hoffmann IAM.
dis in Wien (1808 bis 1824) oder die bereits beschriebene Musikschule Louise
Reichardts in Hamburg (etwa 1814 bis 1826). Jede Schule war individuell von ihrer
Leiterin geprägt und stand in engem Zusammenhang mit den persönlichen Fähigkeiten ihrer Gründerin sowie den örtlichen Gegebenheiten.
Zwei weitere Schulleiterinnen möchte ich an dieser Stelle beschreiben: Sophia
Häßler und Maria Antonia Nicolay. Bei diesen beiden handelt es sich zwar nicht um
eigens zu musischen Zwecken eingerichtete Schulen, jedoch um Mädcheninstitute,
in denen Musik durch die eigenen Interessen ihrer Gründerin beziehungsweise Leiterin eine Rolle spielte. Sowohl Sophia Häßler als auch Maria Antonia Nicolay waren zur Zeit der Schulleitung bereits in fortgeschrittenem Alter.
Das „Häßlersche weibliche Erziehungs-Institut“ in Erfurt
Der Lebensbericht der Sängerin Sophia Häßler, geborene Kiel, liest sich spannend
wie ein Roman. Die Erfurterin Helga Brück, die im Jahr 2003 eine Studie zu den
Eheleuten Häßler vorlegte991, bezeichnet sie als „Sophia die Starke“. Familie Häßler
litt unter beständigen Geldsorgen. Sophia unterstützte ihren Mann, den Komponisten und Claviervirtuosen Johann Wilhelm Häßler, bei all seinen Geschäften sowohl
in der Fabrik als auch bei den 1780 von ihm gegründeten Erfurter „Öffentlichen
Winterkonzerten“ und der vier Jahre später ins Leben gerufenen musikalischen
Leihbibliothek. Sie scheint die in Geldangelegenheiten Gewieftere gewesen zu sein.
Als Johann Wilhelm Häßler im September des Jahres 1790 Erfurt verließ, um im
Ausland mit Konzerten und Unterricht Geld zu verdienen, leitete Sophia Häßler zunächst von 1791 bis 1796 die Winterkonzerte in eigener Regie, führte auch die
Leihbibliothek weiter, folgte dann ihrem Mann nach Moskau, kehrte aber ein Jahr
später ohne ihn nach Erfurt zurück. Ende 1802 gründete sie in ihrem Haus eine Privatschule mit Pension für junge Mädchen, das sogenannte „Häßlersche weibliche
Erziehungs-Institut“. Der Unterricht erfolgte in den Fächern Sittenlehre, Geschichte, Geografie und Naturgeschichte (erteilt von Johann Wilhelm Krause), in Musik
und Clavierspiel (von Musikdirektor Michael Gotthart Fischer), im Schönschreiben
und Zeichnen (von Herrn Hasse), in Französisch (von Herrn Pinel), im Nähen, in
Musik und Rechtschreibung (von Sophia Häßler selbst), im Kleidermachen und Lesen (von Rosine Nehrlich, einer Tochter Sophia Häßlers), im Sticken und Zeichnen
(von Fräulein Messerschmied) sowie im Nähen (von Fräulein Schudrof). Rosine
Nehrlich erinnerte sich: „Zwanzig junge Mädchen kamen aus der Stadt täglich zur
Mutter von früh 8 Uhr bis abends 6 Uhr, nur die Mittagsstunde war frei. Nun kamen
auch auswärtige Pensionärinnen, und ich war den ganzen Tag mit allen in verschiedenem Unterricht beschäftigt. Das Kleidermachen hatte ich durch mich selbst gelernt, indem ich unsere alten Kleider zertrennte und Muster danach schnitt, ich erfand aber auch manche Verbesserungen, die nachgemacht wurden. [...] Unser Möbelment war sehr einfach, unter anderem ein Tisch von weichem Holz, den dein Vater [der Schwiegersohn Sophia Häßlers] selbst lakierte, wir waren aber glücklich in
991
Brück.
277
unserer einfachen Einrichtung. In einer Auction hatte ich einen Spiegel erstanden
für 3 Taler, damit war dein Vater gar nicht zufrieden, er meinte, der sei etwas ganz
Unnötiges. Der Spiegel war aber gekauft, und ich habe ihn jetzt noch.“992
Leider gibt es über den Musikunterricht Sophia Häßlers keine genaueren Angaben. Da der Musikdirektor Fischer Musik und Clavierspiel unterrichtete, könnte
man, so auch Helga Brück, schlussfolgern, sie selbst habe hauptsächlich Gesang
und vielleicht die Anfangsgründe des Clavierspiels unterrichtet. 993 In den Jahren
1806 und 1807 musste das Institut geschlossen werden. Erfurt war von Napoleon
besetzt und die Eltern mochten ihre Töchter nicht in das Institut schicken. Nach der
Wiederaufnahme des Schulbetriebs übernahm im Jahr 1815 Rosine Nehrlich (ca.
1781–1861) das Institut. Zwei ihrer Töchter wiederum unterrichteten später an der
Höheren Töchterschule in Erfurt.
Die Schulleiterin Maria Antonia Nicolay
Eine weitere Schulleiterin war Maria Antonia Nicolay, geborene Cappes. Als Witwe des fürstlich falmischen Leibarztes und Rates Friedrich Christian Nicolay widmete sie ihr Leben dem Erziehungsgeschäfte. Sie komponierte für ihr Instrument,
das Clavier und wird wohl Privatstunden gegeben haben, denn im Jahr 1819 übernahm sie die Leitung der „Privatschule für Mädchen gebildeter Stände“ in Münster,
welche bereits seit 1690 existierte. Es handelt sich um das heutige Annette-vonDroste-Hülshoff-Gymnasium.994 In einer Beilage zum Westfälischen Merkur vom 4.
September 1823 wurde der Lehrplan der Schule veröffentlicht: Der Unterricht umfasste wöchentlich je fünf Stunden Deutsch und „Händearbeit“ (Handarbeiten), vier
Stunden in Französisch und je drei Stunden Religion, Geschichte, Geografie, Haushaltsführung und Rechnen. Zeichenunterricht musste ebenso wie die Stunden in
Musik, Gesang und Tanz gesondert bezahlt werden: „Diejenigen, welche Unterricht
in [Instrumental- ] M u s i k , G e s a n g und T a n z wünschen, können auch diesen erhalten. [...] Musik, Zeichnen, Tanz=Unterricht gegen besondere Zahlung.“995
Der Schulunterricht fand vormittags von neun bis zwölf und nachmittags von 14 bis
17 Uhr statt und kostete 24 Reichstaler; es war allerdings auch möglich, nur den
Vormittagsunterricht zu besuchen. Acht Mädchen konnten in der Schule aufgenommen werden, in der sie wie in einem Internat lebten. Man wird davon ausgehen können, dass Maria Antonia Nicolay zumindest einen Teil des Musikunterrichts selbst
übernahm und dass, da sie selbst für Clavier komponiert hatte, auch dies Instrument
bei ihr erlernt werden konnte.
1829 zog Maria Antonia Nicolay, so weiß der Lexikograf Raßmann, nach Düsseldorf, „war darauf 20 Jahre Vorsteherin an der Höhern Töchterschule von St. Leo992
993
994
995
278
Aufzeichnungen der Frau Rosine Nehrlich geb. Häßler, angehängt an Bio-Häss.
Frdl. Auskunft von Helga Brück. Die meisten Angaben dieses Kapitels gehen zurück
auf ihr Kapitel Sophia die Starke in: Brück, S. 93–98.
Siehe http://www.muenster.org/annette/mehr.htm, eingesehen am 20. 1. 2005.
Westfälischer Merkur 4. 9. 1823, S. 941–944, hier S. 944.
nard in Aachen und starb daselbst am 24. October 1855“. 996 Die Stellung in
Aachen, welche sie am 1. Juli 1827 angetreten hatte und die mit einer deutlich besseren Bezahlung als die Münsteraner verbunden war, ist auf ihre dortigen Erfolge
zurückzuführen, die sich weit herumgesprochen hatten. Am 1. Oktober 1846 trat sie
in Ruhestand und scheint die restlichen Jahre ihres Lebens in Aachen verbracht zu
haben.997
Der weitaus größte Teil der Clavierlehrerinnen des 18. Jahrhunderts war in der Ausbildung von Kindern und von Liebhaberinnen tätig. Die Qualität ihres Unterrichts
war, da es für diesen Beruf keine geregelte Ausbildung gab, neben persönlicher
Eignung stark abhängig von der musikalischen Ausbildung, welche die Lehrerin
selbst als Kind genossen hatte, und dies nicht nur in spieltechnischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf musiktheoretisches Wissen.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als ein kindgemäßer Unterricht immer mehr
in den Mittelpunkt der pädagogischen und methodischen Überlegungen rückte,
konnten sicherlich viele einfallsreiche, fantasiebegabte junge Frauen durch ihr Engagement einiges an fachlicher Bildung wettmachen, wenn sie als Gouvernante
oder Erzieherin in einem Haushalt angestellt waren. Auch in reiferen Lebensjahren
konnte sich die Befähigung zum musikalischen Unterricht etwa an einer Mädchenschule positiv auswirken.
Besonders Töchter aus Musikerfamilien, deren Musiklernen meist nicht in den
Grenzen der Frauenrolle geblieben war und die oft über wesentlich fundiertes Wissen verfügten, waren in der Lage, auch anspruchsvollen Clavierunterricht zu erteilen und bildeten somit den zukunftsweisenden Kern dieser neuen Berufsgruppe.
996
997
RaßmannNF, S. 155.
Über Maria Antonia Nicolays Arbeit in Aachen in: 300 Jahre höhere Mädchenbildung
an St. Leonhard Aachen 1626–1926, Aachen 1926, frdl. Auskunft von Margarethe
Dietzel, Stadtarchiv Aachen.
279
3
Lebens- und Arbeitsbereiche
3.1
Unterrichtende Virtuosinnen und Werbung in eigener Sache
Dass sowohl reisende als auch ortsansässige Instrumentalvirtuosen unterrichteten,
ist in der Männerwelt ein bekanntes Phänomen. Als Werbung war der hervorragende Ruf des Künstlers völlig ausreichend. Zu Johann Sebastian Bach reisten interessierte und begabte Clavierspieler, lebten in seinem Haushalt und erlernten bei ihm
Instrumentalspiel und Komposition. Johann Wilhelm Häßler wurde in Kurland gebeten zu bleiben und seine Frau schreibt in den Lebenserinnerungen dazu: „Die
Herzogin von Kurland hatten wir zweimal bei dem Koadjutor kennen gelernt. Sie
war eine enthusiastische Verehrerin von meines Mannes Kunst, und so wurde er
auch von ihr mit der grössten Freundlichkeit empfangen. ,Von mir’, sagte sie ,kommen Sie sobald nicht fort! Sie müssen wenigstens einen Monat bei uns bleiben und
mir und meiner Tochter Unterricht geben.’“998 Ihr Ansehen als Instrumentalist verschaffte diesen Musikern, auch wenn sie in festen Stellungen gebunden waren,
Schüler auf dem freien Markt. Ähnliches gibt es auch von einigen Virtuosinnen zu
berichten: z. B. von Nanette von Schaden, Josephine von Flad, Josepha MüllnerGollenhofer und Dorette Spohr. Wie so viele ihrer Kolleginnen werden sie sich
selbst nie als hauptberufliche Lehrerin gesehen haben, dennoch hinterließ ihre Lehrtätigkeit Spuren, die bis auf den heutigen Tag nachvollziehbar sind. Ihre virtuosen
Fähigkeiten und ihre eigenen Ansprüche gaben ihnen die Möglichkeit zu hoch qualifizierter Unterweisung. Ihre Haupteinnahmequelle aber, so davon gesprochen werden kann, lebten sie doch alle an der Seite gut verdienender Ehemänner, lag im
künstlerischen Bereich.
Josepha von Flad
Josepha von Flad genoss einen ausgezeichneten Ruf als Virtuosin und „Musikkennerin“ – sie besaß ein großes musiktheoretisches Wissen. Ihre Kompositionen für
verschiedenste Besetzungen erschienen unter ihrem Ehenamen, Flad, außerdem erteilte sie Musikunterricht. Zu ihren Schülern zählte der spätere Komponist und Claviervirtuose Rudolf Schachner (1816–1896), dem sie einen Kanon für Klavier widmete.999 Bekannt ist zudem, dass sie nach 1817 den jungen Adolph Henselt [Hänselt] ausbildete. Dieser wurde in späteren Jahren ein erfolgreicher Musikpädagoge.
Sätze wie: „Es kömmt bei uns weniger auf glänzendes Vorspielen als auf gründliche Schule an“ oder „Eine Leistung kann noch so elementar sein, so darf sie doch
nie der Richtigkeit entbehren“ 1000 könnten durchaus auf Eindrücke seiner ersten
998
999
1000
280
Bio-Häss.
Siehe Garvey Jackson, S. 158.
Nach Oskar Stollberg, Adolph (von) Henselt, in: MGG 1962, Bd. 6, Sp. 168–172, hier
Sp. 171.
Lehrerin Josepha von Flad zurückgehen. Diese erteilte, zumindest in Adolph Henselts Fall, den Anfangsunterricht. Beide ihrer namentlich bekannten Schüler entwickelten sich in späterer Zeit zu anerkannten professionellen Musikern. Josepha
von Flad legte also den erforderlichen soliden Grundstein für eine solche Karriere.
Dies spricht für einen Anfangsunterricht auf hohem Niveau.
Nanette von Schaden
Nanette von Schaden ist aus der Beethoven-Bibliografie bekannt. Gleich zwei persönliche Besonderheiten sind mit dieser Künstlerin verknüpft: Sie war ein uneheliches Kind und sie trennte sich in späteren Jahren von ihrem Mann. Im Jahr 1789 erschien in der Musikalischen Realzeitung ein Bericht aus Würzburg über „Demoiselle Füglein Tochter des Herrn Hofkammerraths und Oberjägers Füglein“, ein 14-jähriges Mädchen, das seit vier Jahren mit ihren Auftritten in den Winterkonzerten auf
sich aufmerksam machte: „In jedem Jahre gewinnt sie mehr Beifall und erregt mehr
Verwunderung, um so mehr, da sie ganz ohne Meister ist, und ihre Musikalien alle
für sich einstudieren muß, sie ließt besser als mancher Musiker von Profeßion, vom
Blatt. Könnten sich ihre Eltern entschliessen, dieselbe auf einige Zeit von sich zu
entfernen, und der Direktion einer Frau von Schaden, berühmten Klavierspielerin
zu Augspurg, die sie ganz lieb gewonnen, und sich selbst erbotten ihre Meisterin zu
werden, oder eines Abbe Sterkels zu Mainz, der sich gleichfalls dazu anheischig
machte, zu übergeben, so würde sie vertraulicher mit dem wahren Ausdruk und nöthigen Gefühle werden, und sich zu einer der grösten Klavierspielerinnen bilden.“1001
Offenbar hatte Dem. Füglein also der berühmten Nanette von Schaden vorgespielt und diese sich selbst erboten, dem Mädchen Unterricht zu erteilen. Es drehte
sich hier nicht etwa um Grundtechniken des Clavierspiels, sondern um die Vermittlung des „wahren Ausdrucks“, der „nötigen Gefühle“, also der allerletzten Feinheiten des Spiels. Gleichzeitig kann man feststellen, dass die Zeitgenossen fest davon
ausgingen, dass Nanette von Schaden Stunden gäbe – möglicherweise nicht nur ein
Zeichen dafür, dass dies allgemein üblich war, sondern eben auch, dass bekannt
war, dass dieser oder jene bereits Unterricht bei ihr gehabt habe.
Nanette von Schadens Ruhm war weit verbreitet. So heißt es bei Gerber, dass
sie „nach wiederholten Versicherungen von mehrern Zeugen für die größte Klavierspielerin erklärt wird, welche selbst die Pariserinnen übertreffen und an Fertigkeit
und Sicherheit vielleicht keinem Virtuosen nachstehen soll“. 1002 Und Schubarth
rühmte sie mit folgenden Worten: „Zwar ist die musikalische Geschichte keine Dilettantengeschichte; wenn sich aber blosse Liebhaber zu der Höhe emporschwingen,
wie die Frau von Schad; so verdienen sie nicht nur bemerkt, sondern auch angepriesen zu werden. Sie ist eigentlich eine Schülerinn von Beeke; spielt aber weit geflügelter als ihr Meister, und in mehreren Stylen. Ihre Hand ist glänzend, und gibt dem
1001
1002
MRZ vom 14. 1. 1789, Sp. 93–94.
Gerber NL.
281
Clavier Flügel.“1003 Schubarth kritisierte an ihr allerdings auch in seinen Augen typisch weibliche Fehler wie fehlende Taktfestigkeit und Gefühl. Ein interessanter
Kontrast zu der Aussage der Musikalischen Realzeitung. Wie so oft weiß man nicht,
wem man Glauben schenken soll: den enthusiastischen Lobreden, denen vielleicht
auch ein gutes Quäntchen Nachsicht ob des weiblichen Geschlechts zugrunde lag,
oder den kritischen Äußerungen, die vielleicht auch auf der persönlichen Sichtweise
des Schreibenden beruhen, Frauen seien für andere Dinge als öffentliche Konzertauftritte geschaffen.
Dass sich Nanette von Schaden des Öfteren und auch in späteren Jahren jungen Talenten widmete, zeigt ein Bericht aus der AMZ über ein weiteres ‚Wunderkind’, den Knaben Leon de St. Lubin. Er trug im Jahr 1821 zusammen mit Nanette
von Schaden eine Komposition für Pianoforte und Violine vor: „Concertante für Pianoforte und Violine, vorgetragen von Dem. Schad, und dem jungen Virtuosen,
dessen schönes Talent früher Spohr auszubilden angefangen, und der jetzt, unter einer solchen sichern Leitung [gemeint ist sein Lehrer, ein Herr Professor Böhm] für
die Zukunft herrliche Früchte hoffen läßt.“1004 Zum Zeitpunkt dieses Artikels lebte
Nanette von Schaden, von ihrem Mann seit den 1790er Jahren getrennt, in Regensburg.
Josepha Müllner-Gollenhofer
Das Phänomen, dass der Ruf der Künstlerin sie als Lehrerin attraktiv machte, zeigt
sich ganz besonders ausgeprägt am Beispiel der k. k. Hofharfenmeisterin Josepha
Müll(n)er-Gollenhofer. In den Vaterländischen Blättern für den Österreichischen
Kaiserstaat ist im Jahre 1808 die Rede von „vielen fremden hier durchreisenden
Damen, welchen Mlle. M ü l l n e r Unterricht gab, und unter welchen manche sich
besonders auszeichnen“1005.
In ihrer Biografie berichtet Josepha Müllner-Gollenhofer immer wieder über
den von ihr erteilten Unterricht. Zu Zeiten, da sie selbst ein Kind war und noch keinen wirklichen Unterricht genossen hatte, bat die 16-jährige Frau eines französischen Ballmeisters, die im selben Haus wie die Müllners lebte, „die Kleine, ihr
doch die Harfe zu lernen: die Eltern lachten hirzu, und gaben ihre Einwilligung“.1006
Es wurde dann allerdings ein Erwachsener engagiert, bei dem Josepha selbst Unterricht erhielt. Die zweite Unterrichtserwähnung betrifft, glaubt man ihrer Altersangabe, etwa das Jahr 1780, die Zeit kurz nach dem ersten Konzert, welches das Mädchen im Burgtheater geben durfte. Hierzu heißt es: „Mehrere hohe Damen wünschten von ihr L e c t i o n zu nehmen, und sie unterzog sich ihren Willen obschon sie
1003
1004
1005
1006
282
Schubart, S. 169.
AMZ 1821, Sp. 379.
VLB 31. 5. 1808, Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien, S. 49–
56, hier S. 52.
Bio M-Gol, S. 1–2.
noch nicht 12 Jahre alt war.“1007 Wieder also ein Mädchen, das in früher Jugend unterrichtete.
Die nächste Erwähnung bezieht sich auf die Zeit nach der großen Italienreise,
in der ihr „die hohe Gnade zu Theil“ wurde, die beiden Erzherzoginnen Mariana
und Clementine auf der Harfe zu unterrichten, außerdem die spätere „Kaiserin Maria Theres“.1008 Während eines Aufenthaltes in Berlin nahm die „Wittwe des Prinzen Louis von Preußen, […] Herzogin von C u m p e r l a n d “ bei der Harfenistin
Unterricht und setzte diesen auch nach dem Umzug des Hofes nach Charlottenburg
fort.1009 Gut drei Monate währte diese Unterrichtseinheit. Bei (fast) täglichen Lektionen ergibt dies schon ein recht ausgedehntes Unterrichtsverhältnis. Zurückgekehrt
nach Wien sah Josepha Müllner ihre Lehrtätigkeit sofort erneut gefragt, da ihr Ruf
sich mittlerweile herumgesprochen hatte. Freiherr von Braun hatte bereits nach ihr
gefragt „weil seine Frau Gemahlin von ihr auf der Harfe unterrichtet seyn wollte.“
Derselbe Baron von Braun stellte sie dann auch „bey den Theatern als V i r t u o s i n vor“.1010 Der Kontakt zu einem hohen Hause, in dem die Musiklehrerin gut
aufgenommen wurde, hatte also in diesem Falle der Virtuosin auch andere Vorteile
verschafft.
Eine kleine Notiz in einem Beethovenschen Konversationsheft berichtet 1824
von dem Unterricht einer weiteren Erzherzogin, diesmal aus der nächsten Generation: „Sie [die Erzherzogin Clementine] spielt die Harfe, u hat / die Müllner zur Lehreriñ.“1011 Waren alle bisher genannten Schülerinnen Josepha Müllner-Gollenhofers
von hohem Stand gewesen1012 (neben den bereits Genannten unterrichtete sie auch
noch „die Großfürstin von Rußland, Gemahlin Sn kais: Hoheit des Erzherzogs P a l a d i n von Ungarn während Ihres Aufenthaltes in Wien auf der Harfe, die sie ehe
schon spielte“1013), so trat am 4. Juli 1815 eine weitere Schülerin der Harfenistin,
die aus einer anderen Klientel stammende blinde Karoline Schanz, in einem Konzert des Blinden-Instituts auf. Sie spielte eine „Sonate für die Pedal-Harfe, mit Accomp. des Pianoforte und zweyer Hörner, von Ferrari“.1014 Vermutlich übernahm
das Akkompagnement der Clavierlehrer des Instituts, Simon Sechter. Möglich ist
auch, dass Josepha Müllner-Gollenhofer am Blinden-Institut weitere Schülerinnen
unterrichtete. Karoline Schanz taucht auch in der Literatur zu Maria Theresia Paradis auf, in deren Hauskonzerten sie 1816 mitwirkte. Sie war die Tochter eines bürgerlichen Vergolders und erhielt bei der ebenfalls blinden Musikerin Paradis musik1007
1008
1009
1010
1011
1012
1013
1014
Bio M-Gol, S. 5.
Bio M-Gol, S. 10. Auch das Jahrbuch der Tonkunst von 1796 erwähnt die Stunden,
welche die Harfenistin den Erzherzoginnen erteilte, JTB, S. 45.
Bio M-Gol, S. 15–16.
Bio M-Gol, S. 16–17.
Beethoven KH, Bd. 6, S. 113. Vgl. Auch Bio M-Gol, S. 17.
Genauere Angaben zu den Personen im Anhang.
Bio M-Gol, S. 17.
AMZ 1815, Sp. 505–506.
283
theoretischen Unterricht.1015 Eine Schülerin also, welche beide Lehrerinnen, Josepha Müllner-Gollenhofer und Maria Theresia Paradis, durch ihr Spiel und ihren Status als Blinde ins Licht der Öffentlichkeit rückte.
Am Hofe war Josepha Müllner-Gollenhofer seit 1811 angestellt, und zwar bis
1823 als k. k. Hof-Harfenmeisterin und von 1824 bis 1841 als Harfenmeisterin an
der Hofkapelle.1016 Bedenkt man die zahlreichen Pflichten, die sie neben dem Unterrichten am Hofe sicherlich zu erfüllen hatte, so war sie wahrlich gut beschäftigt.
Dafür spricht auch Eduard Hanslicks Bericht, sie habe 1824 in einer Akademie der
„Adeligen Damen“ ein „Concertstück mit Accompagnement von sechs Harfen“ mit
„5 ihrer Schülerinnen“ aufgeführt.1017 Sie scheint ausschließlich Frauen unterrichtet
zu haben. Nach ausgedehnter Konzerttätigkeit bildete sie, so ebenfalls Hanslick,
„einen stabilen Factor des Wiener Concertlebens“1018. Zahlreiche Konzerthinweise,
etwa in der AMZ, gaben davon Zeugnis und trugen die Kunde ihres Spiels in die
Welt. Sie verkehrte an Höfen und unterrichtete Damen höchsten Standes. Dass sie
den Namen ihres Mannes, Gollenhofer, ihrem eigenen, Müllner, lediglich hinzufügte, zeugt von ihrem Selbstbewusstsein als Künstlerin.
Dorette Spohr
Noch eine weitere, hauptsächlich als Harfenistin bekannt gewordene Künstlerin ist
in diesem Zusammenhang zu nennen: Dorette Spohr, geborene Scheidler. Als Kind
war sie auf der Harfe und im Clavierspiel ausgebildet worden. Nach ihrer Heirat mit
Ludwig Spohr im Jahre 1806 entwickelte sich Dorette zur wohl berühmtesten deutschen Harfenistin ihrer Zeit. Mit ihrem Mann unternahm sie zahlreiche Reisen. Besonders beliebt waren die Vorträge, bei denen das Ehepaar gemeinsam zu hören
war: „Die Sonate für Harfe und Violin, welche Hr. Sp. u. seine Frau spielten [...],
und mit entzückender Einheit vorgetragen wurden, woraus zugleich die vollkommenste harmonische Vermählung des vortrefflichen Künstler-Paars deutlich zu erkennen war – erweckte die innigste Theilnahme“, so die AMZ im Jahre 1812. Noch
deutlicher wird Ferdinand Simon Gaßner, der sich erinnert, wie „er mit dem großartigen Spiel, mit dem seelenvollen, edlen Gesange seiner Geige, sie mit dem glänzenden, so zart säuselnden, so mächtig hineinrauschenden Spiel der Harfe – die
Kunstfreunde um sich versammelten und mit dem Ineinanderspiel ihrer vermählten
Seelen und Instrumente entzückten, wie der Gatte frohe und stolze Tonmassen für
ihre Hand ersonnen und entfaltet hatte, sie mit ihren Harmonien seinen Gesang emportrug, oder etwa Beide in reizvollen Fantasien die schönsten Momente der Zau-
1015
1016
1017
1018
284
Vgl. AMÖ 1817, Sp. 265.
Zur Anstellung von Musikerinnen an Höfen im dt.-sprachigen Raum siehe auch Koldau, S. 563–575, speziell zu Wien, S. 579–581.
Hanslick, S. 256.
Hanslick, S. 131.
berflöte oder einer andern Oper ihres Lieblings in anmuthiger Verkettung vorüberführten.“1019
Hinweise auf den von Dorette Spohr erteilten Unterricht ließen sich nur in der
1860/1861 erschienenen Selbstbiografie ihres Mannes finden. Nach längerem Aufenthalt in Wien reiste die Familie Spohr 1815 durch Böhmen und verbrachte den
Sommer bei der fürstlichen Familie zu Carolath-Beuthen. Spohr berichtet, der Fürst
habe bei ihm angefragt, ob die Spohrs bereit seien, die Sommermonate bei ihm in
Schlesien zu verbringen. „Die Fürstin wünsche, daß ihre beiden Töchter, deren eine
Harfe, die andere Pianoforte spiele, von meiner Frau in der Musik unterricht würden. Man werde bemüht sein, mir und meiner Familie den Aufenthalt auf ihrem reizend gelegenen Schlosse so angenehm als möglich zu machen. [...] Weil das Frühjahr und der Sommer nun ohnehin wenig geeignete Jahreszeiten sind, um Concerte
zu geben und D o r e t t e und die Kinder sich von dem Aufenthalte in Carolath viel
Vergnügen versprachen, so sagte ich gern zu.“1020 Und einige Seiten weiter ist zu
lesen: „Am anderen Tage begann sogleich die Hausordnung, die für die ganze Dauer unseres Dortseins mit wenigen Ausnahmen unverändert blieb. Vormittags, während D o r e t t e den Prinzessinnen Unterricht ertheilte, der ältesten auf der Harfe,
der jüngsten auf dem Piano, gab auch ich meinen Kindern den ersten Musik=Unterricht. Nachher durften sie den Stunden beiwohnen, die der Hauslehrer den
Prinzessinnen gab, und er war freundlich genug, seinen Unterricht, so viel es sich
thun ließ, dem Fassungsvermögen der Kinder anzupassen. Unterdessen beschäftigten meine Frau und ich uns mit unseren eigenen Musikstudien oder ich componirte.“1021
Diese kleinen Ausschnitte verraten ein interessantes Detail über das Leben dieser Künstlerfamilie. Dorette Spohr, zu dieser Zeit bereits Mutter zweier Töchter,
konnte offenbar ihrer Arbeit außerhalb der Familie nachgehen, währenddessen ihr
Mann die eigenen Kinder unterwies – eine ungewöhnliche Konstellation. Ihr Engagement bei der Familie zu Carolath-Beuthen wird wohl auf zwei Dinge zurückzuführen gewesen sein: zum einen auf den Wunsch der Fürstin, ihren Töchtern guten
Unterricht von einer bekannten (weiblichen) Person erteilen zu lassen, zum anderen
darauf, das berühmte Künstlerehepaar und den Komponisten Spohr damit eine Weile um sich zu haben.
Weitere Schülerinnen Dorette Spohrs sind nicht bekannt. Es ist jedoch nicht
ausgeschlossen, dass sie in späteren Jahren, besonders, nachdem sie aus gesundheitlichen Gründen ihre Karriere als Virtuosin hatte aufgeben müssen, unterrichtete, ohne dass dies von Spohr in seiner Selbstbiografie erwähnt worden wäre.
1019
1020
1021
Gaßner.
Spohr, Bd. 1, S. 212.
Spohr, Bd. 1, S. 220–221.
285
Mittel und Wege der Eigenwerbung
Josephine von Flad, Nanette von Schaden, Josepha Müllner-Gollenhofer und Dorette Spohr, auch eine Maria Anna Mozart, sie alle waren als Instrumentalvirtuosinnen
im Musikleben ihrer Zeit so präsent, dass es keiner weiteren Werbemaßnahmen bedurfte, um auf sich aufmerksam zu machen. Doch wie sah dies bei den übrigen Lehrerinnen und den männlichen Kollegen aus? Es scheint mehrere Wege der Eigenwerbung gegeben zu haben:
1. Verbindungen, die Kontakt zu potenziell Interessierten herstellten
Der Gesichtspunkt, durch geeignete Verbindungen Kontakte zu potenziell an
musikalischem Unterricht Interessierten herzustellen, dürfte sicherlich für die
Lehrerinnen, welche aufgrund eines geringeren künstlerischen Bekanntheitsgrades vermehrt auf den ‚äußeren Schein’ ihrer Geschlechterrolle zu achten hatten,
von größter Bedeutung gewesen sein.
Jeanette Antonie Bürde und Charlotte Bachmann fanden ihr Betätigungsfeld im Rahmen der Berliner Singakademie. In diesem Verein galten sie als
wichtige Stützen und konnten durch ihre Arbeit einerseits zum Wohl des Vereins beitragen, andererseits waren sie hier in ständigem Kontakt mit Schülerinnen und Interessierten, welche die Lehrerinnen weiter empfehlen konnten. Sie
standen also in doppelter Hinsicht im Licht der Öffentlichkeit.
Sophia Häßler war durch ihre langjährige musikalische Tätigkeit in ihrer
Heimatstadt, zunächst als Sopranistin, dann als Solistin und Helferin in den
Konzerten ihres Mannes, später als Veranstalterin der Öffentlichen Winterkonzerte und schließlich ihre Schulgründung eine stadtbekannte Persönlichkeit.
Wichtig waren jedoch, so zeigt es ihr Lebensbericht1022, immer wieder ihre guten Beziehungen, ihr Ansehen bei den einflussreichen Familien der Stadt, allen
voran beim Stadthalter. Dieser stellte sich in Zwistigkeiten hinter sie, vermittelte ihr einen „Engländer“ als Untermieter zur Aufbesserung der Haushaltskasse,
wusste die Talente dieser Frau zu nutzen – vielleicht auch manchmal auszunutzen –, gab aber andererseits in Krisensituationen entsprechenden Rückhalt.
Ob Louise Reichardt ohne die ihr zugetane hilfsbereite Frau Sillem in
Hamburg beruflich so schnell Fuß gefasst hätte, darf sicher zu Recht angezweifelt werden. Die einflussreiche Hamburgerin führte sie in ihre Kreise ein, stellte
ihr Haus zu Unterrichtszwecken zur Verfügung und gab Louise Reichardt alle
nur erdenkliche Unterstützung. Als die Gönnerin während der politischen Krisenzeit die Stadt verließ, fand sich sofort eine Stellvertreterin, die Frau Sillems
Funktion übernahm. Auch in Altona, wo Louise Reichardt eine große und ihr
wichtige Schülerinnengruppe unterrichtete, wird es eine Kontakt- und Vertrauensperson gegeben haben. Schließlich erfuhr sie durch ihre Arbeit mit dem
1022
286
Siehe Anhang.
Hamburger Singverein, mit Johann Heinrich Clasing und Wilhelm Grund, dieselben Vorteile wie ihre beiden Berliner Kolleginnen.
2. Die Gründung eines eigenen Instituts
Durch die Gründung einer eigenen Schule konnte die Präsenz einer Lehrerin in
ihrer Stadt wesentlich gesteigert werden. Der Unterricht war nunmehr zu großen Teilen an einen Ort gebündelt und es war möglich, als Schule, als Institution im Kulturleben der Stadt öffentlich auf sich aufmerksam zu machen. Das
gilt für Louise Reichardts Hamburger Musikschule und Sophia Häßlers Mädcheninstitut in Erfurt ebenso wie für die Schulen Elise Müllers in Bremen oder
Maria Theresia Paradis’ in Wien.
Von Sophia Häßlers Tochter Rosine Nehrlich stammt ein (allerdings außermusikalischer) Bericht, der zeigt, wie wichtig es war, in der Öffentlichkeit
präsent zu sein: „Ein paar Wochen vor meiner Hochzeit kam der verstorbene
König zum erstenmal als unser Landesvater mit der Königin Luise hierher. Es
wurden große Anstalten zu dessen Empfang gemacht. Auch meiner Mutter Unternehmungsgeist überlegte, dass sie mit dem Institut für etwas veranstalten
könnte. In der Stadt durfte sie sich nicht aufstellen, denn da waren die Schulen
schon, die fürhin einen großen Neid auf das Institut hatten. Es wurde also beschlossen, bis an die Grenze zwischen hier und Weimar zu fahren, dort sich
aufzustellen und die Königin zu erwarten. Die Mutter hatte einen Herrn Professor Müller (ein ausgezeichneter Dichter) dafür gewonnen, daß er ein Gedicht
für die 9 Musen gemacht. Eine jede von diesen 9 Musen hatte der Königin etwas Schönes zu sagen, das Gedicht war ausgezeichnet, ganz vortrefflich. Es
wurden nun von den jüngeren Mädchen 9 dazu auserwählt. […] Als nun der
wichtige Tag erschien, fuhren wir in unserem Wagen hinaus, die 9 Musen sahen allerliebst aus. Die Attribute waren ganz schön, und wir übrigen hatten
weiße Kleider mit grünen Girlanden. Bei den Grenzen angekommen, fanden
wir unseren Herrn Stadtamtmann Leber, ein sehr lieber, gefälliger Mann, der
auch die Königin hier begrüßen wollte. Er wies uns einen guten Platz zum Aufstellen an, ringsherum war alles mit Landsleuten besetzt. 3 Uhr kamen wir an
und mußten warten, bis um 9 Uhr, da endlich erschien das Königspaar. Der König durfte nicht aufgehalten werden und fuhr gleich weiter, nachdem er andere
Pferde bekommen. Die Königin aber hatte die Gnade und nahm das Gedicht
(das sehr schön geschrieben war) aus den Händen einer Kleinen, die von der
Mutter in die Höhe gehoben wurde und einen Vers dazu sagte, der so anfing:
Glorwürdigste, die Musen wagen es etc. Das ging alles sehr schnell und war gut
– denn kaum waren wir wieder in unserem Wagen, so brach ein heftiges Gewitter los, daß wir schon längst beobachtet hatten. In der Stadt war dadurch der
ganze Empfang gestört worden, aber die Mutter hatte ihren Zweck erreicht und
287
freute sich sehr, und ich hatte die Freude, die Königin noch einmal zu sehen,
des Abend bei Tafel.“1023
Ohne die Teilnahme an wichtigen öffentlichen Angelegenheiten hätte die
Schule wahrscheinlich einen schweren Stand in Erfurt gehabt. So jedoch dürften die Zuhörenden, die möglicherweise erfolgte Berichterstattung der Königin
oder des Stadtamtmannes bei den tonangebenden Familien der Stadt und nicht
zuletzt die Eltern, die das Engagement der Lehrerin ihrer Kinder erfahren hatten, die Schule weiter empfohlen haben. Dass die Institution einer Frau bereits
bei ihrer Gründung eine überregionale Bekanntmachung erfuhr, wie dies bei
der Schule eines Herrn G. Wagner in Berlin der Fall war1024, dürfte selten gewesen sein.
3. Zeitungsannoncen
Eigene Annoncen in Zeitungen von Frauen sind rar. Bekannt sind sie mir lediglich von Maria Antonia Nicolay und Sophia Häßler. Bei den männlichen Kollegen dagegen, deren Arbeit keinerlei ideologischen und geschlechterbezogenen
Einschränkungen unterworfen war, scheint die Anzeige ein beliebtes Werbemittel gewesen zu sein. So bot z. B. am 13. Oktober 1769 in Frankfurt am Main
der Harfenist Krumpholz Unterricht auf seinem Instrument an.1025
4. Fachspezifische Publikationen
Möglichkeiten zu überregionaler Bekanntheit gaben fachspezifische Publikationen wie etwa Nina d’Aubignys Briefe an Natalie über den Gesang oder Clementine Andrées Fröhlicher musikalischer Gesellschafter für die Jugend, die
zunächst einmal durch den Druck und dann mittels Rezension in der AMZ in
größeren Kreisen Beachtung gefunden haben dürften. Erforderlich war dazu allerdings auch die notwendige finanzielle Grundlage, um die Druckkosten zu begleichen. Damit stand dieser Weg einer eher kleinen Anzahl von Frauen offen,
die über ausreichend eigene Mittel verfügten oder einen ‚Sponsor’ in Form eines geneigten Ehemanns oder Mäzens besaßen.
1023
1024
1025
288
Aufzeichnungen der Frau Rosine Nehrlich geb. Häßler, angehängt an: Bio-Häss.
In der AMZ 1809, Sp. 171 erschien ein Bericht über die Errichtung einer „musikalischen Bildungsanstalt“, in welcher zunächst Clavier- und Singunterricht erteilt werden
sollte.
Siehe Carl Israël, Frankfurter Concert-Chronik von 1713-1780, Frankfurt/Main 1876,
Concertchronik vom 13. 10. 1769, S. 50–51.
3.2
Im Dunstkreis der Instrumentenbauer und ‚Instrumente für das
Frauenzimmer’
Die Einschränkungen, denen Frauen bei der Instrumentenwahl durch den ihnen zugewiesenen Geschlechtscharakter unterlagen und deren Auswirkungen auf das Musikleben, die häusliche Musizier- und die öffentliche Konzertpraxis sind bei Freia
Hoffmann ausführlich diskutiert. 1026 Nach gängiger Sichtweise erforderte es die
Schicklichkeit, dass eine Frau sich an ihrem Instrument in ruhiger Haltung präsentierte, um bei den Zuhörenden keine unpassenden Fantasien, ‚Nebengedanken’, zu
erwecken. Der entstehende Klang sollte unbedingt zum zarten weiblichen Geschlechtscharakter passen. Ein Extrembeispiel der Umsetzung dieser Forderung bildet ein um 1780 in Deutschland entstandenes Oktav(!)-Clavichord, eingebaut in eine lebensgroße weibliche Figur, das sich heute im Germanischen Nationalmuseum
Nürnberg befindet.1027
Neben der Stimme entsprachen nur wenige Instrumente dem einer Frau zugeschriebenen Klangideal, allen voran Clavier, Harfe und Glasharmonika. Dass es
zahlreichen Frauen gelang, sich innerhalb der ihnen gesetzten Grenzen sehr weit zu
bewegen, bzw. mit der einen oder anderen Begründung über sie hinweg zu springen, dies zeigen zahlreiche Beispiele in Freia Hoffmanns Arbeit wie auch der hier
behandelten Clavierlehrerinnen.
Das Clavier, neues Statussymbol des Bürgertums und Zeichen häuslichen
Glücks und Wohlstandes, schmückte bald die meisten Haushalte. Im deutschen
Sprachgebrauch war das Wort Clavier meist gleich bedeutend mit Clavichord.
Heinrich Christoph Koch bezeichnet Letzteres 1802 in seinem Musikalischen Lexikon als das „unter allen Clavierinstrumenten zu den feinsten Nuancen des Vortrags“
geeignete, „oft Labsal dem Dulder, und des Frohsinns theilnehmender Freund“.1028
Flügel oder Clavicimbel dagegen meinte das Cembalo – so die italienische Bezeichnung – oder das Clavecin (französisch) mit seinen Nebenformen Spinett und Clavicytherium.1029 Als Fortepiano bezeichnet Koch „das bekannte Lieblingsinstrument
der jetzigen Clavierspielenden Welt“, ebenso oft Pianoforte genannt. „Die eigentliche Form des Fortepiano ist die des Flügels [sic: Cembalos], daher es auch oft ein
Flügel genannt wird. Man hat aber auch die Erfindung, den Ton durch Hämmer hervorzubringen, bey Clavierinstrumenten von der Form des Clavichords angebracht,
denen man ebenfalls den Namen F o r t e p i a n o [heute: Tafelclavier] giebt, die
aber wegen ihres schwächern Tones weder zum öffentlichen Vortrage eines Con1026
1027
1028
1029
Hoffmann.
Bundfreies Oktav-Clavichord, Deutschland um 1780, unsigniert, Umfang f0–d3, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Inv. Nr. GNM T 2041. Eine Abbildung und genaue Beschreibung findet sich in: „Durch den bloßen Druck der Finger ...“ 300 Jahre
Hammerklavier, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2000, S. 37.
Clavier, Clavichord in: Koch, Sp. 341–342, hier Sp. 341.
Flügel, Clavicimbel in: Koch, Sp. 586–588.
289
certes, noch zur Begleitung des Generalbasses bey vollstimmigen Musiken1030, sondern bloß zum Privatgebrauche geeignet sind.“1031 Verschiedene Kombinationsinstrumente vervollständigten das Instrumentarium. 1032 Bei den Instrumenten in den
Häusern des Bürgertums handelte es sich meist um Clavichorde oder, später, um
Tafelclaviere, während die großen repräsentativen Instrumente, das Cembalo und
das Hammerclavier mit allen Kombinationsmöglichkeiten, meist den adeligen, herrschaftlichen Häusern oder Musikerfamilien vorbehalten blieben. Kein Wunder, dass
es gerade auch den Töchtern der Letzteren oftmals gelang, eine musikalische Berufstätigkeit zu ergreifen, hatten sie doch von Kindheit an spieltechnisch hochwertige Instrumente zur Verfügung. Die meisten deutschen Tafelklaviere besaßen nämlich wesentlich vereinfachtere Mechaniken als das größere Schwesterinstrument,
der Hammerflügel (und orientierten sich in ihrem Klangideal oft an dem brillanteren und helleren Cembaloton).
Um 1800 hielten die Tafelklaviere englischen Modells Einzug in die Salons,
die eine von Johann Christoph Zumpe entwickelte neue (und verbesserte) Mechanik
sowie ein weitaus repräsentativeres Äußeres aufwiesen. Auch Clavichorde, im 18.
Jahrhundert äußerst beliebt als Trainingsinstrument, als beste Übung für einen vollkommenen Anschlag und vor allem als wahres Ausdrucksmittel persönlichen Gefühls beliebt, fanden bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in den bürgerlichen
Haushalten Verwendung. Wer dagegen das Glück hatte, in einem Hause aufzuwachsen, in dem ein Hammerflügel von Stein stand, dem standen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung.
Nannette Streicher
Johann Andreas Stein (1728–1792), der von Wolfgang Amadeus Mozart sehr geschätzte, ab etwa 1750 in der freien Reichsstadt Augsburg ansässige Instrumentenbauer, entwickelte um 1770 die so genannte Prellzungen- oder Süddeutsche Mechanik. Diese Mechanik ist relativ einfach, aber außerordentlich zuverlässig, leichtgängig und sensibel, und ermöglicht ein fein abgewogenes ausdrucksvolles Spiel. Stein
war ein Mann, der unablässig an Neuerungen und Verbesserungen im Instrumentenbau arbeitete und immer wieder Erfindungen vorstellte. Seine Werkstatt war ein beliebtes Ziel der musikalisch interessierten Reisenden. Dort angekommen, konnten
sie die Instrumente selbst ausprobieren und sich darauf vorspielen lassen – etwa von
Steins Tochter Nannette. Auf diese Art lernte auch Mozart die junge Nannette kennen, über welche er allerdings in einem im Oktober 1777 an seinen Vater geschriebenen und oft zitierten Brief kein gutes Urteil fällte. Anschaulich beschreibt er ihre
‚Unarten’, die ungünstige Sitzposition, viel zu große Armbewegungen, die ein feines Fingerspiel behindern und rhythmische Ungenauigkeit. Durch all dies kamen
laut Mozart auch die häufigen Verspieler Nannette Steins zustande. Dann aber fährt
1030
1031
1032
290
Gemeint sind Orchesterwerke.
Fortepiano in: Koch, Sp. 590–593.
Eine Aufstellung dieser Instrumente findet man bei Türk, S. 2–3.
Mozart nach diesen ironischen Worten fort: „sie kann werden: sie hat genie. aber
auf diese art wird sie nichts. sie wird niemahlen viell geschwindickeit bekommen,
weill sie sich völlig befleist die hand schweer zu machen. sie wird das nothwendigste und härteste und die hauptsache in der Musique niemahlen bekommen, nämlich
das tempo, weil sie sich vom jugend auf völlig befliessen hat, nicht auf den tact zu
spiellen. H: stein und ich haben gewis 2 stund mit einander über diesen Punct gesprochen. ich habe ihn aber schon Ziemlich bekehrt.“1033
So wenig schmeichelhaft die Beschreibung Mozarts auch gewesen war, entwickelte sich Nannette Stein bald zu einer anerkannten Künstlerin und berühmten
Instrumentenbauerin.1034 Sie war eng befreundet mit der sechs Jahre älteren Nanette
von Schaden, deren Mann seit 1787 als Reichskonsulent in Augsburger Diensten
stand. Einmal in der Woche trafen sich die beiden Frauen zu Spaziergängen, Unterhaltungen und Clavierspiel, wobei es meist „um die Wette“ ging.1035 Als Nanette
von Schaden im Jahr 1792 nach der Trennung von ihrem Mann die Stadt Augsburg
verließ, trauerte die jüngere Freundin: „Nun verliehre ich noch meine einzige
Freundin hier die ich schon seit 14 Jahren kenne und die mir den Aufenthalt hier
noch erträglich machte.“1036
Von Nannette Stein selbst sind nur wenige Schülerinnen bekannt, die alle aus
gehobenen Kreisen stammten. Ihre Namen finden sich in dem 1787, also in Augsburger Zeiten, begonnenen Stammbuch Nannette Steins.1037 Da gab es etwa Regina
Barbara Liebert, Freiin von Liebenhofen (1771–1867), die ihre Stammbucheintragung vom 8. März 1788 unterzeichnete mit: „Ihre wahre freundin und Schülerin
B: Barone von Liebert“1038. Sie spielte „artig“ und ihre Familie besaß ein Fortepiano aus der Werkstatt Stein.1039 Eine weitere Schülerin war die Baronin Maria Anna
von Donnersberg, geborene Karwinsky von Karwin und verwitwete von Pemler
(1734–1821). Sie und ihr Mann gehörten zu den engsten Freunden Nannette Steins.
Letztere besuchte die von Donnersbergs regelmäßig auf Schloss Hurlach, deren
Wohnstätte. Diese Besuche dauerten üblicherweise mehrere Tage und waren mit
Musizieren ausgefüllt. Auf dem Stein’schen Fortepiano gab Nannette Stein ihrer
Freundin Unterricht und in Hurlach war es auch, wo sie sich vor ihrer Eheschlie1033
1034
1035
1036
1037
1038
1039
Brief W. A. Mozarts an seinen Vater vom 23.–25. 10. 1777, in: Mozart BR, Bd. 2,
S. 81–85, hier S. 83.
Siehe auch Beethovens Urteil über N. Stein, der sie 1717 in ihrem Elternhaus kennen
gelernt hatte (Kapitel 2.1.).
Brief N. Steins an A. Streicher vom 31. 5. 1792, in: Streicher-Archiv Wien, Signatur
Na_005, nach Goebl-Streicher, S. 77.
Briefe N. Steins an A. Streicher in München vom 14. und 31. 5., 21. 12. 1792, 1792–
1793, in: Streicher-Archiv Wien, zitiert nach Goebl-Streicher ST, Bd. 2, S. 33.
Faksimilieausgabe und Kommentarband: Goebl-Streicher ST.
Stammbuch der Nannette Stein, siehe Goebl-Streicher ST, Bd. 1, Blatt 12r und Bd. 2,
S. 149.
Goebl-Streicher ST, Bd. 2, S. 91.
291
ßung des Öfteren (ohne Wissen der Mutter) mit Andreas Streicher traf.1040 Der mit
„ihre wahre freündin und schüllerin B: v Donersperg gebohrne v Karwinski“ unterzeichnete Stammbucheintrag Maria Anna von Donnersbergs bezieht sich auf die gemeinsam musizierend verbrachten Stunden und den erhaltenen Unterricht. Die
Schülerin bedauert darin, dass es nicht möglich sei, die Lehrerin „imer, So wie ich
gerne wünschte, um mich zu haben“, da „unter ihrer anweißung [...] meine liebe zur
Thon kunst Vill gewinnen“ würde.1041 Enge Bindungen bestanden auch an Friederica Barbara Neuss (1758– nach 1795), die Tochter einer alteingesessenen Augsburger Gold- und Silberscheiderfamilie. Sie war die Taufpatin des jüngsten Bruders
Nannette Steins, Friedrich, und eine Schülerin Nannettes.1042 Auch dieser Stammbucheintrag, der die Musikalität der Lehrerin würdigt, ist mit den Worten „Freundin
und Schüllerin“ unterzeichnet.1043 Aus dem Kreise der Augsburger Freunde stammte eine weitere Schülerin, die sich allerdings nicht in Nannette Steins Stammbuch
verewigte. Es handelt sich um die Tochter der Gräfin Paumgartner, einer beachteten
Sängerin. Ihre 1781 geborene Tochter Johanna (Jeanette) war in Augsburg seit
Sommer 1792 Nannette Steins und in München Andreas Streichers Clavierschülerin. Auch sie begünstigte die Verbindung der späteren Eheleute Streicher.1044
Nannette Stein, die als Kind in der Werkstatt ihres Vaters gelernt hatte und bereits mit zehn Jahren die Claviermechaniken regulieren durfte, war als Erwachsene
die einzige Instrumentenbauerin in einer männlichen Berufsdomäne, und dazu eine
äußerst erfolgreiche. Die AMZ berichtete im Jahr 1809, Nannette Streicher betätige
sich nunmehr „hauptsächlich als m e c h a n i s c h e K ü n s t l e r i n , indem sie
bey den unter ihrer Aufsicht erbauten Fortepianos die feinere Arbeit, welche eigentlich dem Instrumente seinen Geist und Gehalt giebt, ganz allein selbst besorgt“1045.
Dabei wurden an ihren Instrumenten durchaus auch typisch weibliche Attribute gepriesen: „ ,Da wir nur zwei O r i g i n a l =Instrumentenmacher haben, so theilen wir
unsere Fortepiano’s in zwei Classen: die W a l t e r ’schen und die S t r e i c h e r ’schen. Diesen entsprechen auch zwei Classen unserer Clavierspieler. Die eine Classe liebt einen starken Ohrenschmaus, ein gewaltiges Geräusche, spielt sehr
reichtönig’, – dieser werden W a l t e r ’sche Fortiepianos empfohlen. Die andere
Classe ,sucht Nahrung für die Seele, liebt sanftes, schmelzendes Spiel’, für diese
sind S t r e i c h e r ’s Fortepianos gemacht.“1046 Johann Andreas Streicher unterstützte seine Frau anfänglich organisatorisch, später auch vermehrt im Clavierbau. Er
1040
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1042
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292
Goebl-Streicher ST, Bd. 2, S. 66.
Stammbuch der Nannette Stein, siehe Goebl-Streicher ST, Bd. 1, Blatt 4r und Bd. 2,
S. 142.
Goebl-Streicher ST, Bd. 2, S. 96.
Stammbuch der Nannette Stein, siehe Goebl-Streicher ST, Bd. 1, Blatt 40r und Bd. 2,
S. 162.
Goebl-Streicher ST, Bd. 2, S. 29, 130.
AMZ 1809, Sp. 156.
Hanslick, S. 129–130. Hanslick zitiert hier JBT.
selbst war als Clavierlehrer lange Jahre viel beschäftigt. So bedauerte der Wiener
Beamte und politische Korrespondent Georg August Griesinger am 18. Mai 1789,
dass Streicher noch keine Zeit gefunden habe, ihm die versprochenen „Materialien
zur Musicalischen Zeitung“ zu geben. „Der gute Mann ist aber auch mit Lectionen
so überhäuft, daß er sein Wort bis jetzt noch nicht halten konnte.“1047 Zu Streichers
Schülerinnen zählten unter (vielen) anderen die Wienerin Karoline von Brandenstein (1789–1857) und die Augsburgerin Elisabeth von Kissow (1784–1857), die
mit den Streichers nach Wien gekommen war, und sich sicherlich auch Anregungen
bei Frau Streicher holte.
Zu Nannette Steins Unterricht gibt es nur wenig weiterführende Informationen: Sie ließ ihre Schülerinnen mit Vorliebe Werke Wolfgang Amadeus Mozarts
und ihres (späteren) Mannes Andreas Streichers einstudieren. So schrieb sie am 9.
September 1792 an Streicher über eine ihrer Schülerinnen: „Ich hätte recht gerne einige von denen ihr überschikten Sonaten mit ihr durchgegangen, wenn sie nicht
schon eine Sonathe von Mozart bei mir angefangen hätte vor sie die andern bekam.
Das erste Allegro davon spielt sie, wie Du hören wirst wenn sie will, recht artig, allein bei’m Adagio habe ich es aller Mühe die ich mir dabei gab ohngeachtet noch
nicht so weit bringen können daß sie es in dem gehörigen langsamen Tempo
spielt.“1048 Man merkt, wie gut die frühen Tipps Wolfgang Amadeus Mozarts an
Nannettes Vater gefruchtet hatten. Bei einer anderen Schülerin beklagte sie sich,
dass diese ein allzu schlechtes Clavier, hart im Anschlag und ungleich in der Ansprache, besäße und unbedingt ein neues Instrument bräuchte, „den ohne dies ist alle meine Mühe verloren; das Clavier geht so hart und so ungleich daß sich das gute
Fräulein die Hand verderben wird. Du weißt ia selbst, wen man ein gleiches Laufwerk machen will und die Tasten sprechen ungleich an, daß dan die ganze Schönheit des Spiels verloren geht.“1049 – die Instrumentenbauerin dürfte hier hindurchscheinen.1050
Sophie Dülcken
Im Gegensatz zu Nannette Stein-Streicher, die in einer Clavierbauerfamilie aufwuchs, heiratete Sophie Dülcken, geborene Lebrun, die bereits in jungen Jahren auf
Konzertreisen Aufmerksamkeit durch ihr Clavierspiel erregt hatte, einen Instrumentenbauer. Johann Lodewijk [Ludwig] Dülcken (der Jüngere) entstammte einer flämischen Clavierbauerfamilie. 1781 wurde er zum Baierischen „Mechanischen Hofklaviermacher“ ernannt. Am 27. Dezember 1799 heiratete er in München Sophie
Lebrun. Unter ihrem Ehenamen Dülcken war die junge Frau nicht nur selbst als
Virtuosin bekannt, sie war auch als Lehrerin in München tätig. An erster Stelle ihrer
1047
1048
1049
1050
Brief Georg August Griesingers vom 18. 5. 1799 in: Griesinger, S. 23–25, hier S. 23–
24.
Brief N. Steins an A. Streicher vom 9. 9. 1792, Streicher-Archiv Wien, Na_084.
Brief N. Steins an A. Streicher vom 10. 7. 1792, Streicher-Archiv Wien, Na_009.
Ein herzl. Dank an Uta Goebl-Streicher für diese Informationen.
293
Schülerinnen sind ihre drei eigenen Töchter zu nennen: Louise (geboren 1803),
Fanny (geboren 1807) und Violonda (geboren 1810).1051 Louise und Fanny setzten
diesen Unterricht später bei Ignaz Moscheles und Christian Kalkbrenner fort. Sie
verheirateten sich mit den beiden Brüdern Anton und Max Bohrer, zwei aus München stammenden Musikern1052. Louise trat in die Fußstapfen ihrer Mutter: Sie wurde Hofpianistin in Stuttgart und Lehrerin der Königlichen Prinzessinnen. Die jüngste Tochter, Violonda, widmete sich dem Gesang. Sie war Schülerin des Pariser
Conservatoire und trat später als Konzertsängerin auf.
Zumindest eine weitere Schülerin muss Sophie Dülcken gehabt haben: 1814
berichtete die AMZ über ein Konzert im März dieses Jahres in München, in dem
von „der eilfjährigen Tochter und einer andern Schülerin von Mad. Dulken“ eine
Sonate von Anton Franz Josef Eberl auf „2 Pianos“ vorgetragen wurde.1053 Ein weiterer Bericht beschreibt das Spiel der zehn- oder elfjährigen „Dem. Dülken“ (es
dürfte sich also um die Tochter Louise handeln), die ein Jahr zuvor in einem Konzert aufgetreten war: „Dem. Dulken, ein Kind von 10–11 Jahren, Tochter der schon
oft erwähnten vorzüglichen Klaviervirtuosin, spielte eine Solosonate voller grosser
Schwierigkeiten, mit einer bewundernswerthen Fertigkeit. Selten wird wol dieses
zarte Alter etwas Ähnliches hervorbringen. Ihr folgte Dem. Berlinghof, auch eine
Schülerin der genannten Künstlerin. Sie trug ein Concert von Cramer in C mit allem
erforderlichen Ausdruck und mit Fertigkeit vor. Schwierigkeiten mit Doppeltrillern
und dergl., gelangen ihr vorzüglich. Sie ist noch in ihrer ersten Jugend, und lässt etwas Grosses erwarten.“1054 Möglicherweise handelt es sich bei Dem. Berlinghof um
die 1814 benannte zweite Clavieristin der Eberl-Sonate.
Die Beispiele Nannette Stein-Streichers wie auch Sophie Lebrun-Dülckens
zeigen, dass das Umfeld der Instrumentenbauerfamilien dem einer Musikerehe vergleichbar war: Die Frauen arbeiteten öffentlich im künstlerischen Metier, ohne damit Anstoß zu erregen.
Die Harfe, ein Instrument der Frauen
Das zweite ‚Frauenzimmerinstrument’, das im Kontext der Clavierlehrerinnen interessant ist, ist die Harfe. Auch hier war es der Instrumententypus, der, da er als
schicklich für das weibliche Geschlecht empfunden wurde, Frauen die Möglichkeit
bot, durch Unterrichtsstunden ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zeichnete sich
bei den Clavierlehrerinnen eine stärkere Frequentierung von Kindern und Frauen
als Klientel ab, so waren es im Falle der Harfenistinnen besonders Letztere. Das Instrument galt als so ausgesprochen weiblich, dass es mitunter sicher schwierig war,
falls gewünscht, überhaupt eine männliche Person als Lehrer zu finden, sieht man
einmal von den Koryphäen wie dem Pariser François Joseph Nadermann ab. Nach1051
1052
1053
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294
Zu den Angaben siehe Schilling EUR.
Die beiden spielten Violine bzw. Violoncello.
AMZ 1814, Sp. 289.
AMZ 1813, Sp. 421–422.
dem die Harfe in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris modern geworden war, waren zahlreiche Instrumentenbauer während der Revolution ins Ausland gezogen.
Durch Emigrantinnen wie die bekannte Harfenistin Stéphanie-Félicité du Crest de
Genlis, die einige Jahre in Deutschland verbrachte, verbreitete sich die Harfenmode
ebenso wie durch reisende Künstlerinnen. Zahlreiche Bürgerinnen wandten sich
nun diesem Instrument zu, das einerseits wegen seines sanften, schmeichelnden
Klanges, zum anderen wegen seiner Eignung zur Begleitung eigenen Gesangs für
Frauen besonders geeignet erschien.1055 Auch der Schicklichkeit entsprach die Harfe in höchstem Maße, und so wurde etwa von Therese aus dem Winckel berichtet:
„Ihr treffliches Erard’sches Instrument selbst, so wie ihr angenehmer Anstand beym
Spiel desselben, helfen das Vortheilhafte des Eindrucks ihrer ganzen Erscheinung
nicht wenig vermehren.“1056
Elisabeth Grund
Die neu erlangte Bedeutung dieses Instruments zeigt das Beispiel Elisabeth Grunds
aus Würzburg. Sie war die Tochter des bekannten Harfenisten Christian Peter Paul
Grund, eines Kammermusikers des Würzburgischen Fürstbischofs Adam Friedrich,
und sowohl auf der Harfe als auch auf einem weiteren Modeinstrument, der Gitarre,
ausgebildet worden. Mehrere Quellen nennen sie eine „sehr geachtete Lehrerin auf
den genannten Instrumenten“1057, „eine geschätzte Lehrerin auf der Harfe und Guitarre, scheint das Talent ihres Vaters ganz geerbt zu haben“1058 oder „Professeur de
harpe et de guitarre à Würzbourg, qui eut du talent“1059. Elisabeth Grund war die
Schülerin ihres Vaters gewesen. Von den elf Kindern der Familie ergriff nur der älteste Sohn wie sie die Musik zum Berufe, konnte allerdings nicht den Bekanntheitsgrad seiner Schwester erreichen. Laut Schilling fand sie mit ihrem Beruf „ein reichliches Auskommen [...], da sie mit dem Talente des Vaters auch dessen unermüdeten Fleiß und den rechtlichen Character in sich verband“.1060 Konzertreisen wie ihr
Vater unternahm Elisabeth Grund allerdings nie. Sie scheint jedoch eine auch überregional bekannte Lehrerin gewesen zu sein. Dass sie mit ihrer Arbeit gut verdiente,
zeigt, dass ihre Stunden begehrt waren – Lektionen in den von ihr unterrichteten Instrumenten waren gefragt.
Therese aus dem Winckel
Eine weitere Harfenistin verdient es, erwähnt zu werden. Auch ihr half das Modeinstrument Harfe neben anderen Erwerbsquellen, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Es
1055
1056
1057
1058
1059
1060
Siehe ausführlich Hoffmann, bes. S. 131–152.
AMZ 1809, Sp. 302.
Mendel.
Gerber NL.
Fétis.
Schilling ENC.
295
handelt sich um die vornehmlich als Malerin in Erinnerung gebliebene Therese aus
dem Winckel, 1784 in Weißenfels geboren. Im Gegensatz zu Elisabeth Grund, deren Lehrtätigkeit eine logische Konsequenz in der Familientradition bildete, hatte
Therese aus dem Winckel ein bewegtes Leben hinter sich, bevor sie zum Unterrichten gelangte. Sie selbst beschrieb diese Erlebnisse als 80-Jährige in einer 13-seitigen Autobiografie.
Nach der Rückkehr von einer zweijährigen Studienreise nach Paris ließ sie
sich mit ihrer Mutter in Dresden nieder, unterrichtete das Harfenspiel, schrieb (weiterhin) Artikel, u. a. für die AMZ und machte sich als Kopistin von Gemälden einen
Namen. Als Unverheiratete – eine frühe Verlobung mit Friedrich Rochlitz war nach
kurzer Zeit wieder gelöst worden – hatte sie nach Möglichkeiten einer Profession
zur Sicherung ihres Lebensunterhalts gesucht, und diese in einer vielfältigen Mischung künstlerischer Aktivitäten gefunden. Zunächst stand die Malerei im Zentrum ihres Arbeitens. Zudem gab sie Sprachunterricht, spielte Harfenpartien an der
Dresdener Oper und fand bald Schülerinnen. Am 10. Juli 1809 berichtete sie an
ihren Freund, den Herzog August von Sachsen-Gotha und Altenburg, von dem Mädchen Emma, der „jüngste[n] Tochter des Generals v. Z.“, die bei ihr und der Mutter im Haushalt lebe.1061 Eine Künstlerinnenlaufbahn als Harfenistin oder Malerin
hätte Therese aus dem Winckel wohl eher vorgeschwebt, doch die Gegebenheiten
der Zeit – politische Wirrnisse – machten diesen Plan undurchführbar und sie arrangierte sich mit den sich ihr als Frau bietenden Möglichkeiten.
Kurze Zeit später sollten weitere Schülerinnen folgen und Therese aus dem
Winckel stellte sich langsam auf ein Leben als Unterrichtende ein, ihren ursprünglichen Lebensplan aufgebend. So berichtete sie am 20. Dezember 1809 von der
„zweite[n] Eleve, Ida v. S.“, die just angekommen war und gemeinsam mit Emma
erzogen werden sollte. „So lebe ich nun in meinem ländlichen Hüttchen unter dem
lieben Mutterauge, mein kleines Gynäceon 1062 regierend, getheilt zwischen diese
frohschwärmende, sich mit heißer Liebe an mich drängende Kinderwelt und den
ernsten und heitern Idealen der Kunst, ein zwar an Entsagungen sehr reiches, doch
aber nicht ganz spurloses, nicht freudenleeres Leben, denn süßen Trost über viele,
so bitter getäuschte Erwartungen und harte Erfahrungen, giebt mir die Hoffnung, so
vielleicht doch hier und da im Stande zu sein, Keime des Guten und des Schönen
auszustreuen, und gern trage ich dafür jede Mühe, jede Last. Ach, auf ganz andere
Weise hoffte ich es freilich, strebte mit so glühender Begeisterung darnach, fühlte
die volle Kraft dazu in mir. Doch – wie Gott will! – “1063
1061
1062
1063
296
Brief Th. a. d. Winckels an Herzog Georg August von Sachsen-Gotha und Altenburg
vom 10. 7. 1809, abgedr. bei Metzsch-Schillbach, S. 216–220, hier S. 220.
Gynäzeum meint die nur aus Frauen und Mädchen bestehende Gemeinschaft in
Th. a. d. Winckels Haus.
Brief Th. a. d. Winckels an Herzog Georg August von Sachsen Gotha und Altenburg
vom 20. 12. 1809, abgedr. bei Metzsch-Schillbach, S. 247–250, hier S. 249–250.
Den endgültigen Umschwung in Therese aus dem Winckels Leben brachte eine Begegnung mit sich, die sie in einem Brief an ihre Freundin Elise Bürger am 8.
März 1829 beschrieb. Vier Jahre zuvor, also 1825, war sie zu der neu in Dresden
eingetroffenen „Prinzessin Louise von Lucca, Infantin von Spanien“ gerufen worden, der sie Unterricht im Harfenspiel und der deutschen Sprache geben und sie
„zum Piano begleiten“ sollte. Dies nahm täglich mehrere Stunden in Anspruch, sodass Therese aus dem Winckel ihren Lebensrhythmus entscheidend umstellte: „Das
ganze Leben bekam eine andere Richtung! Ich darf es sagen daß ich seitdem würklich bedeutend auf meinem Instrument wurde, die Stunden die ich darin zu geben
habe, so wie in Sprachen, nahmen unendlich zu, jetzt komme ich kaum zu mir
selbst, ich habe jeden Tag 7. bis 8. Lehrstunden zu geben, und bringe stets früh
3. Stunden und oft auch den Abend bei meiner lieben Fürstin zu.“1064 Derselbe Brief
berichtet übrigens auch von einer Schülerin namens Louise, dass sie drei Jahre zur
Vollendung ihrer Erziehung bei der Künstlerin gelebt hatte und mittlerweile „in
Stockholm Erzieherin bei einer trefflichen sehr vornehmen Familie“ sei.
Eine Verbindung zur Adelsschicht, ein neuer Kontakt war es, der in Therese
aus dem Winckels’ Augen ihr Leben veränderte. Sie verlagerte ihre Anstrengungen
nun bewusst auf das Erziehungsgeschäft und letztendlich wird ihr diese Verbindung
das nötige Ansehen verschafft haben, um die Zahl ihrer Schülerinnen und Schüler
zu vergrößern. Therese aus dem Winckel arbeitete unermüdlich und nach festem
Tagesplan, wobei ihr die eigenen abendlichen 90 Minuten Harfenspiel heilig waren.
Rastlos ging sie von früh bis spät ihren Beschäftigungen nach; im Gegensatz zu
Louise Reichardt, von der Ähnliches erzählt wurde, erfreute sie sich einer außergewöhnlich guten Kondition und Gesundheit. Mit der Zeit kamen immer mehr Pensionärinnen ins Haus. Nach erlittenen finanziellen Verlusten erläuterte sie noch 1860
im Begleitschreiben zu ihrer Autobiografie, dass für sie „das Unterricht geben unentbehrlich [sei] um mich im Wohlstand zu erhalten“1065.
Mehrere ihrer Schülerinnen spielten in der Dresdener Königlichen Kapelle. Ihr
Schüler August Tombo entwickelte sich zu einem anerkannten Konzertharfenisten,
trat bei den Bayreuther Festspielen auf und wurde später der Klavierlehrer Richard
Strauss’.1066 Der Preis für ihre Unterrichtsstunden betrug 16 Gr.1067, wobei die Rede
von Einzelstunden ist, nicht vom Preis, den die Pensionärinnen für den Unterricht
zahlten. Nach zwölf erteilten Stunden scheint Therese aus dem Winckel in diesem
Falle eine Note genannte Rechnung über den Unterricht, Leihgebühren für Harfe
1064
1065
1066
1067
Brief Th. a. d. Winckels an Elise Bürger vom 8. 3. 1829, SLD, Mscr. Dresd. App. 292,
279d, zitiert nach Strittmatter, S. 296–298.
Begleitschreiben zu Bio-Winck, SLD, Mscr. Dresd. App. 1191, Nr. 986.
Nach Strittmatter, S. 277.
Undatierter Brief Th. a. d. Winckels an Karl Gottfried Theodor Winkler, Archiv des
Stadtmuseums Bautzen, R 13806, in: Strittmatter, S. 278.
297
und Noten gestellt zu haben.1068 Trotz weiterem Auf und Ab ihrer finanziellen Lage
und der Enttäuschung, nirgends eine feste Anstellung als Harfenistin zu finden,
führte sie bis ins hohe Alter ein arbeitsames kontaktfreudiges Leben. Über einen
Besuch bei der Harfenistin erzählt Louise Seidler, eine späte Freundin Therese aus
dem Winckels, in ihren Erinnerungen: „Ziemlich oft empfing sie kleine Gesellschaften; gewöhnlich eröffnete sie den Abend mit einem Harfensolo, während dessen eine einzige Tasse Tee oder Kaffee gereicht wurde. Die Unterhaltung bestand
meistens darin, daß man ihren Talenten Bewunderung zollte und dazwischen sich
an der schönen Aussicht auf die Elbe erquickte. Als ich zum drittenmal nach Dresden kam, hatte Therese aus dem Winkel ihre Mutter verloren und nahm Pensionärinnen in ihr Haus; ich selbst war glücklich genug, ihr eine solche zuweisen zu können. Durch diese erfuhr ich noch Näheres über Theresens eigentümliche Persönlichkeit. Fräulein aus dem Winkel, eine Art von weiblichem Polyhistor1069, hatte bedeutende Sprachkenntnisse und unterrichtete im Italienischen, Französischen und Deklamieren, die sächsischen Prinzessinnen auch im Harfenspiel. Ihr Lehreifer ging so
weit, daß sie noch abends spät beim Aufwickeln ihrer Locken den Scharfsinn ihrer
Pensionärinnen durch Rätselaufgaben übte. Dabei lebte sie sehr einfach und tat im
Stillen außerordentlich viel Gutes, so z. B. unterstützte sie fortdauernd eine ehemalige Dienerin, die sich bei ihr verheiratet und eine Reihe von Kindern bekommen
hatte. Diese ließ Therese aus dem Winkel sämtlich kleiden und unterrichten.“ Bei
dem wohl letzten Wiedersehen der beiden im Jahre 1863 fand Louise Seidler die
Freundin zu ihrer Freude noch immer „in der nämliche Toilette“, die sie wohl in
ihrer Jugend getragen hatte. „Das eigene Lockenhaar war durch eine blonde Perücke, mit Samtband umschlungen, ersetzt; der Rücken war zwar etwas gekrümmt,
doch der weiße Spenzer schmückte ihn wie vordem; auch der schwarze Rock fehlte
nicht. Als wäre das hinabgesunkene halbe Jahrhundert nicht gewesen, lebte sie noch
in ihrem Häuschen; wie früher umgab sie das mit grauer Ölfarbe und grünen Linien
angestrichene bescheidene Mobiliar; freilich war es mit ihr veraltet, aber es stand in
Harmonie mit seiner Besitzerin. Wie ehedem bedeckten Bilder aller Art die Wände
von oben bis unten; auch die Harfe fehlte nicht, da Therese noch immer Unterricht
erteilte.“ Dabei traf Louise Seidler die Freundin noch frisch und gesund an. „Die
Glückliche! Sie schreibt, sie liest, sie näht, ja, sie dirigiert noch ein ästhetisches
Kränzchen, in welchem sie alle vierzehn Tage Vorlesungen hält. Alles dies ist mir
nicht mehr vergönnt.“1070
1068
1069
1070
298
Siehe einen undatierten Brief Th. a. d. Winckels an Karl Gottfried Theodor Winkler,
Freies Deutsches Hochstift Frankfurt, Signatur 79807-08. Hier heißt es: „Ist es in gehöriger Form wenn ich Ihnen, wenn 12. Stunden gegeben sind, eine Note darüber so wie
über den Monatszins für die Harfe und die Noten die ich lieferte, zuschicke? Oder an
wen sonst habe ich mich deshalb dann zu wenden?“
Eine in vielen Fächern bewanderte gelehrte Person.
Seidler, S. 57–59.
In dieser Zeit, einer neuen Zeit, war Therese aus dem Winckel eine Art Unikum, ein Überbleibsel aus alten Tagen. Sie hatte hart gearbeitet und trotz mancher
Enttäuschung im Lehrberuf eine Erfüllung gefunden. Ihr Instrument war frauentypisch – die Harfe. Sie soll noch am Tage vor ihrem Tod am 7. März 1867 unterrichtet haben.
3.3
Wunderkinder und was aus ihnen wurde
Wunderkinder – das war ein Phänomen, das seit dem 18. Jahrhundert und besonders
seit der Wende zum 19. Jahrhundert die Menschen verstärkt faszinierte – eine Sensation und daher von den Massen bestaunt. Man war dabei nicht nur begierig zu hören, sondern man wollte die Kinder, die Miniatur-Virtuosen, auch sehen. Dieser
Doppelaspekt des Hörens und Sehens zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Wunderkinder. Eltern reisten mit ihren Kindern von Stadt zu Stadt, ließen sie Konzert um Konzert spielen, an Höfen und in privaten Akademien auftreten
– oft ernährten die Kinder die gesamten Familien. Leopold Mozart beispielsweise
nahm mehrere Jahre (unbezahlten) Urlaub, um mit seinen Kindern auf Reisen gehen
zu können.1071 Hatten sich erwachsene deutsche Frauen bei der Instrumentenwahl
den strengen moralischen Vorschriften zu unterwerfen, so war dies bei jungen Mädchen noch nicht der Fall: Gertrude Elisabeth Schmeling, „die Mara“, begann als Violine spielendes Wunderkind. Die Würzburgerin Catharina Bauer trat als Kind bereits am typischen Fraueninstrument, dem Clavier auf, und spielte dabei sogar teilweise eigene Kompositionen. Diese Mädchen übten wie erwachsene Frauen eine
erotische Ausstrahlung auf das Publikum aus, erweckten unter Umständen dieselben ‚Nebengedanken’, mit dem Unterschied allerdings, dass im Falle der Kinder,
der noch nicht pubertierenden Mädchen, diese Gedanken erlaubt waren und geradezu zu deren Faszination beitrugen. Aus Gründen des Anstandes hatte die Karriere
der Kinder-Virtuosinnen mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter zu enden. Bestes
Beispiel hierfür ist Maria Anna Mozart.
Maria Anna Mozart
Maria Anna, genannt Nannerl, hatte als junges Mädchen gemeinsam mit Eltern und
Bruder auf Konzertreise durch Deutschland, die Niederlande, Frankreich, England
und die Schweiz gehen dürfen. Man lobte den hohen Schwierigkeitsgrad der von
dem Mädchen anscheinend mühelos und bravourös gemeisterten, dabei aussagestark musizierten virtuosen Clavierstücke1072 und fand ihr Vom-Blatt-Spiel auffal1071
1072
Zu weiteren Aspekten über die Wunderkinder siehe auch das gleichnamige Kapitel in:
Hoffmann, S. 309–335.
„Stellen Sie sich einmal ein Mädgen von 11 Jahren vor, das die schweresten Sonaten
und Concert der grösten Meister auf dem Clavessin oder Flügel auf das Deutlichste, mit
einer kaum glaublichen Leichtigkeit fertiget und nach dem besten Geschmack wegspielt. Das muß schon viele in eine Verwunderung setzen“, Augsburgischer Intelligenz-
299
lend.1073 Maria Anna galt als ernst zu nehmende Virtuosin und zumindest in den
späteren Jahren ihrer Wunderkindkarriere wurde sie fast wie eine Erwachsene bewertet, doch auch bei ihr blieb der visuelle Aspekt im Spiel. So taucht in den Genfer
Merkwürdigkeiten der neuesten Welt-Geschichten die Formulierung von der „Niedlichkeit“ ihres Spieles 1074 auf und Friedrich Melchior Grimm bezeichnet sie als
„sehr von der Natur begünstigt“1075, was sich durchaus auch auf das Äußere bezogen haben mag.
Doch das Ende dieser Karriere nahte: Maria Anna entwickelte sich langsam zu
einer jungen Frau – eine Tatsache, die nicht nur die Eltern, sondern auch die Zeitgenossen wahrgenommen hatten; sie war mit 13 Jahren „zimlich groß, und fast schon
heuratmässig geworden“1076. Und sie tat sich schwer, sich in dem neu bestimmten
Lebensumfeld zurechtzufinden, denn Leopold Mozart zog seine Tochter strikt vom
öffentlichen Konzertleben zurück. Sie ordnete sich dem geltenden Anspruch an die
weibliche Rolle unter, unterstützte ihre Mutter bei den Haushaltsgeschäften, kopierte Notenmaterial, sie las, musizierte eifrig und auf höchstem Niveau („die Nannerl
hat sich seit der zeit in gallanterie, gusto, expression und im accompag: erstaunlich
exerciert“1077), pflegte vielfältige gesellschaftliche Kontakte und sie unterrichtete,
besserte damit ihre finanziellen Mittel auf. Ihr Ruf als Lehrerin war hervorragend.
Als die Gelder der Familie während Wolfgang Amadeus Mozarts Reise mit seiner
Mutter knapp wurden und sogar Leopold wieder mit dem Unterrichten begann,
überlegte der Vater, ob nicht die gesamte Familie ihr Auskommen in Paris finden
1073
1074
1075
1076
1077
300
Zettel 19. 5. 1763, zitiert nach Mozart DL, S. 15–17, hier S. 16. Ähnliche Formulierungen finden sich z. B. in: Friedrich Melchior Grimm, Correspondance littéraire (Eintrag
vom 1. 12. 1763, abgedr. in dt. Sprache in: Mozart DL, S. 19–20, hier S. 19: „Seine
Tochter, elf Jahre alt, spielt in der glänzendsten Weise Kavier, sie führt die größten und
schwersten Stücke mit einer staunenswerten Genauigkeit aus.“) und in des HistorischMoralischen Belustigungen des Geistes oder ermunternden Betrachtungen über die
wunderbare Haushaltung Gottes in den neuesten Zeiten, Hamburg 1765, §. 2. (abgedr.
in dt. Sprache in: Mozart DOK, S. 46: „Seine Tochter von 11 Jahren spielte das Clavier
in Vollkommenheit.“).
Siehe etwa den Bericht in der Europäischen Zeitung, Salzburg 6. 8. 1765 über ein Londoner Konzert im Juli 1765, in: Mozart DOK, S. 47. Zur unterschiedlichen Berichterstattung über die beiden Geschwister siehe Rieger NM und Geneviève Geffray, „Die
Nannerl leidet nun durch den Buben nichts mehr“, in: Düll/Neumaier, S. 11–48.
Merkwürdigkeiten der neuesten Welt-Geschichten, so auf den 13. Herbstmonat dieses
Jahres eingegangen, Genf, 6. Herbstmonat 1766, nach: Mozart DL, S. 37.
Friedrich Melchior Grimm: Correspondance littéraire, Eintrag vom 15. 7. 1766, abgedr.
in dt. Sprache in: Mozart DL, S. 34–35, hier S. 34. Hier heißt es: „Mademoiselle Mozart, jetzt dreyzehn Jahre alt, übrigens sehr von der Natur begünstigt hat die schönste
und glänzendste Ausführung auf dem Claviere; nur ihr Bruder allein vermag die Stimme des Beyfalls ihr zu rauben.“
Hübners Diarium, Eintragung vom 29. 11. 1766, nach Mozart DL, S. 46–48, hier S. 48.
Brief L. Mozarts an Frau und Sohn in Paris vom 29. 4.–11. 5. 1778 in: Mozart BR,
Bd. 2, S. 347–354, hier S. 354.
könnte, wenn der Sohn eine feste Anstellung bei einem Adeligen bekäme und noch
dazu durch Kompositionen für Konzerte und Theater sowie durch Notendrucke verdienen, „ich aber und deine Schwester Lection geben, und deine Schwester in Concerten und Accademien spielen“ würde, denn „so würden wir gewiß recht gut zu leben haben“. 1078 Bekanntermaßen verschwand der Gedanke, dass Maria Anna ihr
musikalisches Arbeiten professionalisieren könnte, sobald die existenzielle Gefahr
vorüber war. Auch ihr Bruder, der aus Wien möglicherweise – so Melanie Unseld –
gerade mit dem Hintergedanken, seiner Schwester damit einen Lebensplan als Virtuosin vorzustellen, Josepha von Aurnhammers Pläne so genau beschrieb, vermochte daran nichts zu ändern.1079 Leopold Mozart war daran gelegen, seine Tochter als
eine möglichst gute Partie darzustellen. Dazu gehörte ein einwandfreier Ruf gemäß
ihrer Geschlechterrolle. Ihre hohen musikalischen Fähigkeiten wurden im Sinne einer guten Mitgift umgedeutet.
Spätere Lebenswege der ehemaligen Wunderkinder
Wunderkinder – das war ein Phänomen, das die Menschen bewegte, das diskutiert
wurde (wenn auch unter anderen Aspekten als heute, da man an Kinderarbeit, Reiseanstrengungen und Verantwortungen denkt1080); doch über das spätere Leben der
Kinder und im Besonderen der Mädchen machte man sich offenbar wenig Gedanken. Wie konnten sie sich, an große Anstrengungen, hartes Arbeiten, aber auch
glänzende Erfolge, Bewunderung, Einladungen und nicht zuletzt Freiheiten gewöhnt, in ein ‚normales Leben’ eingliedern? Konnten Sie in der einengenden Rolle
der Ehefrau und Mutter glücklich werden, nachdem sie so viel ‚weite Welt’ gesehen
hatten? Gertrude Elisabeth Schmeling wechselte das Fach und wurde als Sängerin
unter dem Namen ihres Mannes Mara weltberühmt. Die Musikerinnen Walburga
Willmann und Christiane Grund-Sengstacke traten als Erwachsene weiterhin in öffentlichen Konzerten auf, sie waren allerdings verheiratet, trugen den Namen ihres
Mannes und galten fortan als Dilettantinnen. Beide hatten als Kinder unterrichtet
und damit ernsthaft zum Familieneinkommen beigetragen. Sie konnten nun versuchen, diese Art professioneller Tätigkeit zumindest teilweise fortzusetzen. Die wie
Maria Anna Mozart stark von ihrem Vater gelenkte und beeinflusste Elise Müller
widmete sich ganz dem Lehrberufe. Dies tat auch die Schwester Wolfgang Amadeus Mozarts, als Interim bis zu ihrer Hochzeit und anscheinend aus Neigung zum
Unterrichten in ihren Witwenjahren. All diesen Frauen ist etwas gemeinsam: Sie
stammten aus Musikerfamilien, sie waren von ihren Vätern frühzeitig professionell
ausgebildet und der Öffentlichkeit vorgeführt worden. Sie nahmen bereits als Kinder teils in ihrer Heimatstadt, teils auf Konzertreisen Strapazen wie erwachsene
Künstler auf sich, erzielten Erfolge, erhielten Bewunderung, arbeiteten als Virtuo1078
1079
1080
Brief L. Mozarts an seinen Sohn in Paris vom 6. 4. 1778, in: Mozart BR, Bd. 2, S. 333–
337, hier S. 335.
Unseld 2006, S. 45. Zu den Plänen Josepha von Aurnhammers siehe Kapitel 4.1.
Vgl. da zu etwa den Artikel Die frühzeitigen Talente in: AMZ 1813, Sp. 777-781.
301
sinnen wie als Informantinnen und konnten doch ihre Karriere nicht in dem Maße
fortsetzen, wie es ihnen wahrscheinlich bei männlichem Geschlecht möglich gewesen wäre. Ihr weiteres Leben verlief unterschiedlich und war doch in jedem Falle
geprägt von den als Kind erbrachten Leistungen, errungenen Erfolgen und den besonderen familiären Konstellationen, schufen doch die Erfahrungen zwischen Wunderkindern und ihren Eltern oder Geschwistern besondere interne Verhältnisse, Zusammengehörigkeitsgefühle und emotionale Abhängigkeiten. Diese ging z. B. bei
Leopold Mozart und seiner Tochter so weit, dass er ohne weiteres verfügte, ihr Erstgeborener solle bei ihm aufwachsen, damit er ihn erziehen könne. So gesehen war
es vielleicht Nannette Streichers Glück, dass ihr Vater starb, als sie, die Älteste der
Geschwister, noch in einem Alter war, da das Leben vor ihr lag und sie sich einen
eigenen unabhängigen Wirkungskreis schaffen musste und konnte.
Die gebildete und im gesellschaftlichen Leben erfahrene Maria Anna Mozart,
nunmehrige Freifrau von Berchthold zu Sonnenburg, war an der Seite ihres Mannes
im Dorfe St. Gilgen nicht glücklich. Das kulturelle Leben im lebenslustigen Salzburg, die Freundinnen, die Schülerinnen, die sie in den letzten Jahren unterrichtet
hatte, vor allem sicher auch das gemeinschaftliche Musizieren mit ihrem Vater und
anderen guten Musikern, all das fehlte ihr. Sie wurde kränklich und klagte immer
wieder über Beschwerden. Täglich spielte sie drei Stunden, von „2 bis 5 Uhr“, Clavier1081, kopierte Noten, unterrichtete auch einige ihrer Stiefkinder und Kinder der
Gegend1082 im Clavierspiel und Gesang. Doch erst nach dem Tode ihres Mannes
und der Rückkehr nach Salzburg im Jahr 1801 blühte Maria Anna von Berchthold
zu Sonnenburg wieder auf. Sie knüpfte an das frühere gesellschaftliche Leben an,
kümmerte sich um den musikalischen Nachlass ihres Bruders und erteilte – nicht
aus Notwendigkeit (denn sie erhielt eine Rente von immerhin 300 Gulden), sondern
aus Freude – Clavierstunden. 1825 erblindete sie, gab jedoch bis zu ihrem 76. Lebensjahr Unterricht, bevor sie am 29. Oktober 1829 starb. Ihr Leben hatte mit einer
fantastischen Karriere als Wunderkind an der Seite ihres jüngeren Bruders begonnen. Die erste Enttäuschung über das Ende dieser Zeit überwand sie mit harter Arbeit und dem Wissen der ihr zugedachten Rolle. Wie Eva Rieger herausarbeitete,
waren es die Arbeit an ihrem Instrument und der Kirchgang, die ihr in Krisensituationen Rückhalt gaben.1083 Als verheiratete Frau erlebte sie eine neue Enttäuschung:
Fern vom kulturellen Leben einer Stadt, fast ausschließlich in die übliche Frauenrolle gedrängt, sehnte sie sich nach ihrem Salzburger Leben. Zurückgekehrt in ihre
Heimatstadt fand sie dort erneut Bestätigung und Befriedigung als Musikerin wie
als Hüterin des Erbes ihres genialen Bruders – auch dies eine anerkannt weibliche
Handlungsweise. Das intensive Clavierstudium, das Musizieren allein und mit anderen zog sich aber wie ein roter Faden bis in die letzten Tage durch ihren Lebensweg.
1081
1082
1083
302
Brief L. Mozarts vom 9. 9. 1784, Mozart LBR, S. 13–18, hier S. 17.
Siehe Rieger NM, S. 175.
Siehe Rieger NM, z. B. S. 142.
Das Beispiel Maria Anna Mozarts zeigt, wie schwierig es sein konnte, sich in ein
alltägliches Frauenleben einzugliedern und daran Gefallen zu finden, hatte ein junges Mädchen erst einmal am Leben als Virtuosin und den damit verbundenen Freiheiten geschnuppert. So erging es wohl auch Walburga Willmann, obschon ihre
Karriere als reisendes Wunderkind erst zu einem Zeitpunkt begann, da die Maria
Anna Mozarts bereits beendet wurde.
Die aus der Mozart-Bibliografie bekannte Walburga Willmann hatte den Übergang vom Kinderstar zur erwachsenen Virtuosin geschafft. Die Tochter des Bonner
Hofmusikers Ignaz Willmann war als Kind mit ihren beiden Geschwistern Maximilian Friedrich Ludwig (geboren 1767) und Johanna Magdalena (geboren 1771) gemeinsam während der von ihrem Vater organisierten Reisen in Konzerten aufgetreten. Das Debüt erfolgte am 16. März 1784, zu einem Zeitpunkt also, da die Kinder
schon ziemlich groß waren, in Wien. Walburga, die Clavierspielerin, scheint in den
Zeiten der Anwesenheit in Wien Unterricht bei Wolfgang Amadeus Mozart genommen zu haben.
Walburga Willmann
Im Jahr 1788 wird Walburga Willmann (wohl während eines Aufenthaltes anlässlich von Konzerten) als Clavierlehrerin in Frankfurt/Main genannt.1084 Später war
sie als Kammervirtuosin in ihrer Heimatstadt Bonn engagiert und erteilte auch hier
Clavierstunden.1085 Insgesamt sind die Informationen zu ihrem Leben spärlich und
bruchstückhaft, dennoch wird deutlich: Auch als nunmehr junge Frau trat Walburga
Willmann wie ihre beiden Geschwister öffentlich auf. Dies setzte sich nach ihrer
Verheiratung mit dem musikinteressierten niederösterreichischen Landschaftsbeamten Franz Xaver Huber fort, später allerdings folgte Walburga Huber ihrem Gatten,
einem Sympathisanten napoleonischer Ideen, in sein Mainzer Exil. Warum Walburga Huber, die offenbar ihr Künstlerinnenleben nicht leicht aufgeben wollte, nach
mehrjähriger Konzert- und Reisetätigkeit zu ihrem Mann zog, darüber kann nur
spekuliert werden. Vielleicht war sie des Reisens müde, vielleicht waren die Konzerte nicht lukrativ genug, möglicherweise waren es auch politische Gründe oder
das Drängen ihres Mannes, ihrer Familie, die sie bewogen, zu ihrem Gatten nach
Mainz zu ziehen und dort in die übliche Frauenrolle zu schlüpfen. In öffentlichen
Konzerten scheint sie hier nicht aufgetreten zu sein. Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, dass Walburga Huber sich während ihrer Konzertreisen und in Mainz,
wie sie es bereits vor ihrer Eheschließung getan hatte, in privaten Häusern hören
ließ und daneben Clavierstunden erteilte.
1084
1085
Siehe Karl Maria Pisarowitz, Willmann in: MGG, Bd. 14, Sp. 692–694, hier Sp. 693.
Siehe Gerber NL, Mendel, Gaßner, Schilling ENC.
303
Christiane Sengstacke und Elise Müller
Zwei weitere Wunderkinder, die beide in ganz jungen Jahren aufgetreten waren,
verbrachten ihr späteres Leben in Bremen: die aus Hamburg stammende, in Bremen
verheiratete Christiane Grund (verehelichte Sengstacke) und die in Bremen gebürtige Elise Müller. Beide hatten einen musikalischen familiären Hintergrund und wurden von ihren Vätern ausgebildet: Christiane Grund war die Tochter des Hamburger
Musikers Georg Friedrich Grund. Ihr Bruder Wilhelm tauchte bereits im Umfeld
Louise Reichhardts auf. Elise Müllers Vater, Wilhelm Christian Müller, hatte Theologie und Musik studiert und war Lehrer an der Domsingschule und Musikdirektor
am Bremer Dom. Im Jahr 1782 errichtete er ein eigenes Erziehungs-Institut. Er galt
als erfahrener Pädagoge im Geiste Campes und Basedows. Bis zu 14 Jungen kamen
täglich in die Wohnung der Müllers und wurden dort von morgens acht bis abends
sieben Uhr auf den Kaufmannsberuf vorbereitet. Kein Wunder, dass seine eigenen
beiden Kinder Elise Maria und Adolf Wilhelm davon profitierten, die Müller mit
großer Sorgfalt nach seinen eigenen pädagogischen Leitlinien erzog und dabei besonderen Wert auf die musikalische Ausbildung legte. Elise spielte Clavier, Adolf
war Streicher. In seinem Privat-Erziehungsinstitut veranstaltete Müller jeweils mittwochs wöchentliche „Übungskonzerte“ für seine Zöglinge, an denen Geschwister,
Eltern und ehemalige Schüler teilnahmen, und mit denen seine eigenen beiden Kinder aufwuchsen.
Christiane Grund trat teils allein, teils ähnlich wie Maria Anna Mozart oder
Walburga Willmann als Kind gemeinsam mit ihren jüngeren Geschwistern auf. Am
17. Dezember 1791 war sie im Hamburger Schauspielhaus in einem Konzert mit
Clavierkonzerten von Hoffmeister und Mozart, sowie einer Sonate von Koželuch zu
hören. Am 26. Februar 1792 trat sie bereits wieder öffentlich auf, diesmal in einem
Konzert der Gesellschaft Harmonie, am 3. November 1792 spielte sie mit ihrem
sechsjährigen Bruder Fritz, wiederum im Schauspielhaus. Seit 1795 trat Christiane
Grund auch als Sängerin auf. In jeder Saison bestritt sie ein eigenes Konzert. Diese
Veranstaltungen zählten zu den beliebtesten und bestbesuchtesten Hamburgs, obgleich die Kritiker recht unterschiedlich über ihr Spiel urteilten.1086
Doch dann schlugen die beiden Virtuosinnen unterschiedliche Lebenswege
ein. Christiane Grund verheiratete sich im Jahr 1802 mit dem Bremer Bürger Georg
Fr. Sengstacke. Mit der Heirat kam sie in das direkte Umfeld Elise Müllers. Als
Frau eines Bremer Bürgers galt sie als Dilettantin, hatte sich angeblich von der Öffentlichkeit zurückgezogen1087, dennoch trat sie immer wieder in den Bremer Konzertreihen auf. „Öffentlichkeit“ ist hier anscheinend gleichgesetzt mit den großen
Bühnen, mit Konzertreisen – ein sprachlicher Aspekt, der aufmerken lässt. Man
fühlt sich unweigerlich an Maria Anna Mozart erinnert, die ja auch in Salzburg auftreten durfte, nicht jedoch auf den Konzertpodien der Welt. In der Hansestadt Bremen ging Christiane Sengstacke offenbar ihren Interessen nach. An der Seite ihres
1086
1087
304
Siehe Sittard, S. 136–139.
Schilling EUR.
Mannes konnte sich die gebildete Frau engagieren und sich musikalisch betätigen,
solange er kein Veto einlegte. Und Bremen liebte seine Künstlerin: Man sagte von
Christiane Sengstacke, dass „deren seelenvolles Flügelspiel unvergleichlich erschien, bis wir Paganini’s Adagio gehört... [Sie ist] durch Gesang und Spiel das unübertreffliche Muster eines Vortrages gewesen, in welchem sich Seele, Fertigkeit
und Grazie zu dem schönsten Ganzen vereinigten.“1088 Seit etwa 1811 war sie regelmäßig in den „Privatkonzerten“ im Kramer-Amtshause zu hören.1089
So unterschiedlich, trotz zahlreicher Berührungspunkte, das spätere Leben Christiane Grund-Sengstackes und Elise Müllers verlief, so verschieden sind auch die Situationen, in denen sie unterrichteten: Über die Unterrichtstätigkeit der Ersteren informiert Louis Spohr, der sie bei einer Landpartie auf dem Landsitz des Herren
Thornton kennen lernte: „Mein Tischnachbar erzählte mir, ihr Vater ernähre seine
Familie mit Musikunterricht und verwende sehr viel auf die Erziehung seiner Kinder. Diese, seine älteste Tochter, erleichtere ihm dieses Geschäft dadurch sehr, daß
sie nicht allein ihre Geschwister in der Musik und in Sprachen unterrichte, sondern
auch durch häufiges Informiren in den ersten Häusern Hamburgs eine ansehnliche
Summe Geldes verdiene.“1090 Dass Christiane Sengstacke in Bremen weiterhin unterrichtete, dürfte eher unwahrscheinlich sein, obgleich sie laut Schilling zwar Mutter 14 „liebenswürdiger Kinder“ war, doch „sie selbst jetzt noch auf diese und solche Weise zur Verbreitung und Befestigung der Kunstliebe in ihrer Umgebung“
beitrug.1091 Im Jahr 1807 berichtete die AMZ von Christiane Sengstacke und Elise
Müller wie folgt: „Unter den Dilettanten zeichnen sich auf dem Pianoforte zwey
Frauenzimmer aus, welche mehrmals in Konzerten gespielt haben; nämlich Mad.
S e n g s t a c k e und Dem. M ü l l e r . Beyde spielen mit Leichtigkeit, Sicherheit
und Ausdruck. Die echte Kunstliebhabery der ersten hat ihrer Freundin einen wohlthätigen Impuls gegeben. Die letzte kann ihr Vorbild nicht wol erreichen, weil sie
eine wissenschaftlich gebildete Lehrerin einer Töchterschule ist. [...] Mad. S. übertrifft ihre Freundin aber noch in einem eigenen Talent: sie ist eine feindenkende,
mit einer reinen, biegsamen Stimme begabte Sängerinn.“1092
Elise Müller blieb zeitlebens im Umfeld ihres Vaters. Ihr Leben verlief nach
seinem Vorbild, sie war wie Maria Anna Mozart eine ‚gehorsame Tochter’, setzte
ihre Kräfte wie Louise Reichardt oder Therese aus dem Winckel ganz für ihre pädagogische Arbeit ein. Im Jahr 1804 eröffnete sie nach dem Beispiel ihres Vaters in
Bremen eine „weibliche Erziehungsanstalt für Töchter gebildeter Stände“, in welcher neben Stunden in Geografie, Geschichte, Grammatik, Deutsch, Französisch
1088
1089
1090
1091
1092
Gerhard Oelrich, Vollständige Sammlung alter und neuer Gesetzbücher (…), Bremen
1771, zitiert nach Blum, S. 158.
Schumacher, S. 130.
Spohr Bd. I, S. 19–20.
Schilling ENC, die 14 Kinder erwähnt auch AMZ 1823, Sp. 107.
AMZ 1807, Sp. 107.
305
und Englisch (die Elise Müller alle selbst versah) Mädchen die Gelegenheit geboten
wurde, sich mit anspruchsvoller Musik auseinander zu setzen. Der Zeitpunkt schien
denkbar günstig. Wenige Jahre später berichtete die AMZ: „Alle Musici von Profession geben denn nun Unterricht in der Musik! Nur sind wenig gute Lehrer darunter, und sie werden, nach Maasgabe anderer Städte, schlecht bezahlt.“1093 Elise Müller, die Tochter eines in der Stadt angesehenen Pädagogen und selbst als Künstlerin
bekannt, dürfte sich erfolgreich aus der Masse abgehoben haben.
Die Öffentlichkeitswirkung ihrer Schule war außerordentlich gut. Die Schülerinnen hatten die Möglichkeit, in den seit etwa 1819 jeweils mittwochs 14-tägig
stattfindenden Familienkonzerten aufzutreten, die der Vater Elise Müllers veranstaltete. Hierzu kamen, so die AMZ „einige zwanzig Familien, Eltern und Kinder, die
der Theilnahme fähig sind“ zusammen. Neben den Mädchen aus Elise Müllers Erziehungsanstalt spielten hier örtliche Musiker und auch durchreisende Künstler.
Wie der genaue Ablauf eines solchen Familienkonzertes aussah, dies beschreibt
derselbe Zeitungsartikel: „Das Concert dauert von 6 bis nach 9 Uhr, und diese Zeit
ist in vier Stadien getheilt. 1. Es beginnt mit den einfachsten Sachen. Gewöhnlich
spielen Schülerinnen der Elise Müller Sonaten für vier Hände oder mit Violinbegleitung. Dann folgt ein einfaches Liederchor, wozu die Texte erst vorgelesen werden. Der erste Theil des Concerts enthält noch ein Trio für Fortepiano oder ein Violinquartett. 2. Hierauf wird das Folgende ausführlich angezeigt und der nun grösstentheils gegenwärtigen Versammlung bemerklich gemacht. Nun wird etwas Interessantes aus der schönen Literatur, oder ein eigener für die Gesellschaft passender
ästhetischer Aufsatz vorgelesen. Diese Unterhaltung füllt etwa 30 bis 40 Minuten
aus. 3. Nun folgt eine Pause. Die Gesellschaft verlässt den Musiksaal, um in einem
andern Saale ausgestellte Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche, plastische Werke,
seltene Bücher zu betrachten. Unterdessen wird der Musiksaal frisch ausgelüftet.
Die Hautboisten1094 sind gekommen, und der zweyte Theil beginnt 4. mit einer Sinfonie oder einer Ouverture. Ein Concert oder eine Arie folgt, und das Ganze
schliesst mit einem Chor aus grösseren Werken, Cantaten, Opern.“ Nach Aufzählung mehrerer Werke bemerkt der Berichterstatter noch: „Um den Genuss der Musik mit dem Lehrreichen zu verbinden, bisweilen, vor oder nach der Aufführung einer Composition, über deren Eigenthümlichkeit und über den Geist und das Verdienst des Tonsetzers, z. B. eines Gluck, Mozart, van Beethoven, Etwas vorgelesen
wird.“1095 Die Konzerte verfolgten also zugleich einen Bildungsanspruch und bestanden nicht wie etwa die „Musikalischen Übungen“ Maria Theresia Paradis’ allein aus musikalischen Beiträgen.
Auch Elise Müller selbst trat in den Familienkonzerten auf, angeblich trug sie
besonders „Beethovensche Werke mit unverkennbarer, eigenthümlichen Tiefe des
1093
1094
1095
306
AMZ 1807, Sp. 108.
Die Oboisten.
AMZ 1819, Sp. 514–516.
Gefühls“ vor.1096 Sie kränkelte allerdings, wie auch Louise Reichardt. Im Jahr 1820
musste sie das Institut aufgeben und gab stattdessen Einzelunterricht an junge Bremer Mädchen. Am Clavier ließ sie sich noch immer hören. Sie war also weiterhin in
der Öffentlichkeit präsent, in späteren Jahren, etwa 1830 bis 1840 dann auch als
Autorin bei der Zeitschrift Aurora. Wiederum ein Wirkungskreis im Geiste ihres
Vaters, der ebenfalls schriftstellerisch tätig gewesen war. So erfolgreich Elise Müllers Arbeit war, vom Einfluss ihres Vaters hat sie sich wohl nie ganz freimachen
können. Nach ihrem Tod im Jahr 1849 wurde auf ihr soziales Engagement hin die
Elisenstiftung zugunsten von Bremer Dienstmädchen eingerichtet. 1097 Ihr Leben
zeigt die typischen Merkmale professioneller Lehrerinnen: ein musikalischer, in
diesem Fall sogar ein ausgesprochen pädagogischer Hintergrund, eine frühzeitige
gute Ausbildung, Auftritte als junges Mädchen, in ihrem Fall sogar als Wunderkind,
ein Hineinwachsen in eine musikalische Tätigkeit und soziales Engagement, das
wie im Falle von Louise Reichardt und Therese aus dem Winckel die Mütterlichkeit, soweit sie nicht durch den Lehrerinnenaspekt abgegolten ist, ersetzt und damit
das weibliche Rollenbild vervollständigt.
Und die Bedeutung des Unterrichtens für all diese als Wunderkinder aufgetretenen
Mädchen? Die Wiedereingliederung in ein normales Frauenleben war mit Schwierigkeiten verbunden. Wünsche und Hoffnungen waren unter Umständen geweckt
worden, die nicht in Erfüllung gehen durften. Den Mädchen-Virtuosinnen boten
sich in späteren Jahren wenige Karrieremöglichkeiten, das Unterrichten aber gab
ihnen die Chance, ihre intensive Beschäftigung mit der Musik nicht nur als Dilettantin fortzusetzen. Sie konnten Leistungsansprüche formulieren – etwas, das sie
selbst in ihren Kindertagen erfahren hatten – und waren durch ihre Lehrtätigkeit am
Ort so bekannt, dass sich daraus interessante Kontaktmöglichkeiten ergaben. Sie
setzten also ihre Karriere in gewisser Hinsicht mit veränderten Vorzeichen fort.
Während ihrer Ehezeiten unterlagen sie größeren Einschränkungen, suchten aber
immer wieder nach Möglichkeiten zu professionellem Musizieren und fanden diese
auch.
3.4
Maria Anna Mozarts Tagordnungen
Maria Anna Mozarts Tätigkeit als Clavierlehrerin begann im Anschluss an ihre
Wunderkindkarriere, setzte sich in geringem Maße während ihrer Ehe fort und wurde von der Witwe erneut intensiviert. Aufschluss über ihre Arbeit geben neben den
Familienbriefen im Besonderen die so genannten tag ordnungen Maria Annas, ihr
Tagebuch, in dem sich auch Eintragungen von der Hand ihres Bruders finden. Dies
Tagebuch, von Leopold Mozart ausdrücklich erwünscht, ist nur bruchstückhaft
überliefert. Die erste erhaltene Eintragung datiert vom 22. Mai 1775, die letzte vom
1096
1097
AMZ 1815, Sp. 361.
Cyrus, S. 186.
307
21. September 1783.1098 Die meist recht kurzen Bemerkungen geben Einblick in das
Alltagsleben, das die noch unverheiratete Maria Anna in Salzburg führte: Morgens,
meist um sieben Uhr, besuchte sie die Frühmesse, oft in der nahe gelegenen Dreifaltigkeitskirche. An Sonn- und Feiertagen ging sie in die Messe im Dom. Die Vorund Nachmittage verbrachte Maria Anna mit Lektionen in den Häusern der Schülerinnen, Spaziergängen mit den Freundinnen und Hund Pimperl in der Stadt oder im
Mirabell-Garten, mit Gesellschaftsspielen, Musizieren und abendlichen Theaterbesuchen. Das Musizieren bildete einen wichtigen Bestandteil jedes Tages. Maria Anna übte regelmäßig und gern, sodass ihr Vater erfreut an seine Frau berichtete: „Ich
muß dir sagen, daß die Nannerl im Hauswesen in allem erstaunlich fleisig, arbeitsam und aufmerksamm auf alles ist, und sie spielt, so oft sie kann, und accompagniert recht gut. täglich abends sind 2 bis 2 ½ Stund wenigst unser übungszeit.“1099
Auch mit professionellen Musikern wurde häufig gemeinsam musiziert. Langsam
war Maria Anna Mozart aber auch selbst als erwachsene Virtuosin in ihrer Heimatstadt gefragt. Als Lehrerin wie als Virtuosin war sie in ihrer Salzburger Heimat bekannt und geachtet.
Im Folgenden sollen Tagebucheinträge und Briefmitteilungen Maria Anna
Mozarts unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet und durch Informationen
über andere Clavierlehrerinnen ergänzt werden.
1. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler
In den Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1779 bis 1783 finden sich die Namen von folgenden Schülerinnen Maria Anna Mozarts: Anna, Gattin des
Truchsesses Joachim Rupert Mayr von Mayrn (1744–1796) und ihre Töchter
Elisabeth (1765–1835), Maria Anna (1768–1834) und Josepha (1769–1785),
die fast gleichaltrige Schülerin und Freundin Anna Barbara von Mölk, genannt
Waberl (1752–1823), die Tochter des Hofratdirektors Franz Felix Anton von
Mölk, Regina (Regerl) Wagner, die Tochter des Obergestütsinspektors und
Oberbereiters Gottlieb Edler von Weyrother und Maria Anna Elisabeth von Antretter, geborene Baumgartner, Frau des Landschaftskanzlers Johann Ernst Edler von Antretter. Diese in Salzburg sehr angesehene Familie gehörte zu den
engsten Freunden der Mozarts.
Die Frauen der Familie Lodron, Maria Antonia, geborene Komtesse Arco
(1738–1780), Gattin des Erbmarschalls Ernst Maria Joseph Nepomuk Lodron
und ihre beiden Töchter Aloysia und Maria Antonia wurden ebenfalls von den
Mozarts unterrichtet. Der zuvor praktisch täglich stattgefundene Unterricht endete wahrscheinlich im Oktober 1780 aufgrund der Erkrankung der Mutter. Die
jüngere der beiden Lodron-Schwestern, Maria Antonia, war besonders gut mit
den Mozarts befreundet. Sie verkehrte weiterhin regelmäßig mit der Familie,
1098
1099
308
Eine Edition der Tagordnungen liegt in Hummel vor.
Brief M. A. Mozarts an Mutter und Bruder in Augsburg vom 27. 10. 1777, in: Mozart
BR, Bd. 2, S. 86–88, hier Nachtrag des Vaters, S. 88.
nahm vielleicht sogar weiter bei Maria Anna Clavier- und bei Leopold Mozart
Geigenunterricht.1100
Eine Mlle Villersi aus Donaueschingen erhielt bei ihrem Aufenthalt in
Salzburg 1779 von Maria Anna Mozart Clavierstunden. Sie war Erzieherin in
einem gräflichen Hause, nämlich bei Graf Kuenburg und seiner Frau, Komtesse
Waldstein und seit 1766 mit den Mozartkindern befreundet. Außerdem nennen
die Tagordnungen noch Maria Theresia (Treserl) Barisani (1761–1854), die
Tochter des erzbischöflichen Leibarztes Joseph Barisani. Aus den Briefen bekannt ist weiterhin Barbara Zezi (geboren 1764), die Tochter eines Galanteriewarenhändlers, die mit zwölf Jahren zu Maria Anna Mozart in den Unterricht
kam.1101 Die Schülerinnen aus späteren Jahren sind nicht namentlich bekannt.
Das Unterrichtspensum, das Maria Anna Mozart absolvierte, war in jedem
Fall deutlich höher als das ihres Bruders, der 1782 von drei Schülerinnen berichtete, durch die er monatlich „18 duckaten“ verdiente1102. Clavierlehrerinnen
dagegen, die im Gegensatz zu Maria Anna Mozart ihren vollständigen Lebensunterhalt mittels Lektionen bestreiten mussten, unterrichteten noch wesentlich
mehr: Louise Reichardt nannte im Jahr 1809 die Zahl von 26, 1811 sogar von
42 Schülerinnen. Bei Adriana Henrika Franziska Friedel waren es gar „Hunderte“ (wenn auch wohl nicht gleichzeitig), an Sophia Häßlers Institut lernten insgesamt 20 Mädchen und auch in Elise Müllers Mädchenerziehungsanstalt dürfte es sich um eine größere Zahl von Schülerinnen gehandelt haben. Lehrerinnen
jedoch, die noch ein anderes Standbein besaßen, hatten wesentlich kleinere
Zahlen vorzuweisen: So scheint die verheiratete Sophie Dülcken nur einzelne
ausgewählte Schülerinnen neben ihren Töchtern unterrichtet zu haben.
2. Das Geschlecht der Lernenden
Viele Clavierlehrerinnen unterrichteten wie Maria Anna Mozart ausschließlich
Mädchen und Frauen: Sophia Häßler, Maria Antonia Nicolay und Elise Müller
an den Instituten, Adriana Henrika Franziska Friedel, Dorette Spohr und Josepha Müllner-Gollenhofer privat. Auch Sophie Dülcken scheint nur Mädchen
unterrichtet zu haben. Von Josepha von Fald dagegen sind ausschließlich Schüler bekannt. Dieser Fall darf sicher als Ausnahme gewertet werden und zeugt
von ihrem Ruf als Lehrerin: Ihr Name ist in immerhin zwei Musikerbiografien
bis heute überliefert. Nina d’Aubigny unterwies wahrscheinlich vorwiegend
Mädchen und Frauen, in jedem Fall aber auch ihren Neffen, Luise Kress wiederum ihren Sohn. Louise Reichardt und Therese aus dem Winckel unterrichte1100
1101
1102
Siehe Unseld, S. 59.
Brief L. Mozarts aus Mailand an seine Frau vom 12. 12. 1772, in: Mozart BR, Bd. 1,
S. 466–467, hier S. 467.
Brief W. A. Mozarts aus Wien an seinen Vater vom 23. 1. 1782, in: Mozart BR, Bd. 3,
S. 193–195, hier S. 195.
309
ten Personen beiderlei Geschlechts gegen Bezahlung und Clementine Andrées
Literatursammlung richtet sich an Mädchen und Jungen.
3. Die Häufigkeit der Unterrichtsstunden
„Wer das Klavier nur zum Vergnügen spielen lernt, der hat genug gethan, wenn
er täglich zwey Stunden darauf verwendet; anfangs wöchentlich etwa vier,
wenn es seyn kann sechs, und in der Folge zwey bis vier Stunden Unterricht
mit eingerechnet: wer aber das Klavierspielen zu seinem Hauptgeschäfte machen will, für den sind täglich drey bis vier Stunden Uebung kaum hinreichend,
und außer diesen ist wenigstens noch Eine Lectionsstunde nöthig.“1103
Unterricht fand entgegen heutigen Gewohnheiten mehrmals wöchentlich
statt, nicht aber unbedingt das ganze Jahr hindurch: Louise Reichardt unterrichtete einige ihrer Schülerinnen im Winter bis zu vier Mal in der Woche, sogar
sonntags. Diese dem gehobenen Bürgertum und Adel entstammenden Schülerinnen verbrachten allerdings häufig den Sommer auf dem Land und nahmen in
dieser Zeit keinen Unterricht. Für einen phasenweisen Unterricht, in dessen
Pausen der oder die Lernende selbsttätig weiterarbeiten solle, sprach sich Nina
d’Aubigny aus. Allerdings nahmen viele der gut situierten Liebhaber einfach
eine Saison Unterricht bei einer bestimmten Person. Dies zeigen die Beispiele
von Dorette Spohr (ein Sommer bei der Familie zu Carolath-Beuthen in Böhmen) oder Josepha Müllner-Gollenhofer, die viele Durchreisende unterrichtete.
Auch die Abwesenheit der Lehrerin konnte die Regelmäßigkeit der Stunden unterbrechen bzw. ihnen ein Ende setzen. So schrieb Maria Anna Mozart an ihre
Mutter: „meine shcolarinen sollen sich nur indessen exercieren, und geistlicher
Herr schulz soll für mich die güte haben, die woche ein paarmahl zur zezi waberl gehen, auch wenn er will zur andretter fraulein, und ihre stuke repetirn lassen.“1104 Hier hatte die Lehrerin während ihrer Abwesenheit für ein Interim gesorgt. (Dass die Schülerinnen bei dieser Vertretung hinterher froh wieder zu
ihrer vorherigen Lehrerin zurückkehren würden, diesen Hintergedanken darf
man den Mozarts wohl ruhig unterstellen.)
Hatte man sich entschieden, bei einer Person lang- oder kurzfristig Lektionen zu nehmen, so geschah das relativ regelmäßig. Dies konnten sich nur Personen aus gehobenen Kreisen, aus dem Adel, dem geistlichen Stand oder Bürgertum leisten. Als bestes Beispiel für die Häufigkeit des Unterrichts mag ein
Ausschnitt vom Mai 1779 aus den Tagordnungen Maria Anna Mozarts angeführt sein, wobei nur die den Unterricht betreffenden Einträge aufgeführt sind,
außerdem die Kirchgänge, soweit sie der zeitlichen Orientierung im Tagesablauf dienen:
1103
1104
310
Türk, Einleitung § 19, S. 11.
Brief M. A. Mozarts vom 21./22. 2. 1775 aus München an ihre Mutter, in: Mozart BR,
Bd. 1, S. 520.
„Das Monat may“ [1779]
Samstag, 1. Mai: „in der Kirche hernach beym frl: und fr v: mayer:“
Montag, 3. Mai: „um 8 uhr in der kirche hernach beym frl. Regerl und fr v:
mayer“
Dienstag, 4. Mai: „um 8 uhr in der kirche, beym frl: und fr v: mayer“
Mittwoch, 5. Mai: „zu st sebastian beym gottesdienst für das Littzow kammerdienstmädl, hernach beym oberbreitter, und fr v: mayer: nachmittag beym fraulein“
Donnerstag, 6. Mai: „um halb 9 uhr in der kirche, hernach beym frl: und fr v:
mayer, nachmittag bey fr v: Antretter“
Freitag, 7. Mai: „in der 7 uhr mess, bey oberbreitter und fr v: mayer“
Samstag, 8. Mai: „in der 7 uhr mess, hernach beym frl: und fr: mayer, nachmittag
bey der frl v: mölk: bis 9 uhr“
Montag, 10. Mai: „bey augustiner in amt, hernach zu Haus [...], hernach bey fr v:
mayer, nachmittag beym frl:“
Dienstag, 11. Mai: „um 8 uhr in der kirche, hernach beym frl: und fr v: mayer“
Mittwoch, 12. Mai: „in der 7 uhr mess, hernach bey frl: v: Mölk frühstücken, [...]
beym oberbreitter, fr v: Mayer: nachmittag beym frl: hernach die 2 kleinen contessen von Lodron“
Freitag, 14. Mai: „in der 7 uhr mess, hernach beym oberbreitter und fr v: mayer;
nachmittag zu Haus geblieben weil mir nicht gut war“
Mittwoch, 19. Mai: „das erstemahl wieder in der kirche, beym oberbreitter umsonst: ich war also davor beym alt hagenauer und beym fiala hernach bey fr v:
mayer“
Donnerstag, 20. Mai: „beym frl: und fr v: mayer“
Freitag, 21. Mai: „um 8 uhr in der mess, hernach beym oberbreitter und fr v:
mayer: nachmittag beym frl:“
Samstag, 22. Mai: „um 8 uhr in der kirche, hernach beym frl: und fr v: Mayer“
Dienstag, 25. Mai: „um 8 uhr in der kirche hernach weder die lodron und die
mayerrischen frl: angetroff“
Mittwoch, 26. Mai: „um 8 uhr in der kirche, hernach beym oberbreitter und fr v:
mayer, nachmittag beym frl:“
Donnerstag, 27. Mai: „um 8 uhr in der kirche hernach beym frl: und fr v: mayer,
nachmittag fr v: Antretter nicht angetroff: davor bey der eberlin waberl [einer
Freundin Maria Anna Mozarts] und beym consistorial von Mölk:“
Samstag, 29. Mai: „beym frl und in der halb 11 uhr mess“
Montag, 31. Mai: „um 8 uhr in der Kirche hernach beym oberbreitter, und fr v:
mayer: nachmittag beym frl:“1105
An 15 Tagen nahm Frau Anna Mayr von Mayrn Unterricht bei Maria Anna
Mozart, zwölf Mal ihre Tochter (oder eine der beiden Töchter). Das entspricht
Unterrichtsstunden an praktisch jedem zweiten Tag dieses Monats. Die beiden
Mayrs von Mayrn waren damit die wichtigsten Schülerinnen im Mai 1779, ge1105
Hummel, S. 47–52.
311
folgt von Regina Wagner, hier „Regerl“ oder „Oberbreitter“ genannt, die mit
immerhin acht Erwähnungen etwa zwei Mal wöchentlich Stunde erhielt. Zwei
Mal war Maria Anna Mozart in diesem Monat bei Anna Barbara von Mölk, dazu ein drittes Mal zum Frühstücken. Ob damit eine zusätzliche Unterrichtsstunde verbunden war, wissen wir nicht. Maria Anna Elisabeth Antretter und die
Familie Lodron erhielten je ein Mal Unterricht. Und an immerhin drei von insgesamt 21 Tagen stand Maria Anna Mozart umsonst vor den Türen, da sie ihre
Schülerinnen einfach nicht antraf.
4. Die Dauer einer Unterrichtsstunde
Über die Dauer einer einzelnen Unterrichtseinheit gibt es wenig Aussagen, 60
Minuten scheinen jedoch die Regel gewesen zu sein. So äußerte sich Mattheson
in seinen Ausführungen über die Eigenschaften guter Lehrmeister und so ist
wohl auch Leopold Mozart zu verstehen, wenn er 1785 an seine Tochter
schreibt: „In die Commoedien gehe etwa einmahl, zu Zeiten 2 mahl in der Woche, ich brauch das Geld nothwendiger, da ganz ohne Scolarn bin. Der Verwalter Sepperl ist noch niemals wieder da gewesen, er wird künftig die Woche nur
3 mahl kommen und da manchmal bey übler Witterung ausbleiben. Aufs neue
Jahr sinds 2 Jahre, dass sein Vatter nichts bezahlt hatte, und er war vor 8 Tag
bey mir und nach seiner notierten Lecktionen Rechnung betrugs die ganze Zeit
nur 47 fl 12x. – Er hatte nach seinem Vorgeben im Kalender vom 9ten December 1783 bis 24ten Jenner 1785 aufgeschrieben. [...] Das ist also der ganze
Quark. Er bezahlte just den halbjährigen Hauszünß à 45 fl. Daß viele Lecktionen nicht aufgeschrieben worden, siehst du augenscheinlich, wo überdas den
Buben alzeit a n d e r t h a l b S t u n d e n und 2 Stund meistens unter Handen
hatte.“1106 Auch der Hauslehrer Johann Friedrich Herbart geht deutlich von 60Minuten-Einheiten aus: „Am Abend von halb 8 bis halb 9 wechseln Musik und
Lesestunden. Den Unterricht, den ich abends um 6 Uhr anzufangen pflegte, bitte ich um Erlaubnis, auf die Stunde von 2–3 verlegen zu dürfen, um etwas zusammenhängende Zeit für eigene Arbeiten zu erübrigen. Von 8–11, von 2–4
und von halb 8 bis halb 9 sind 6 ordentliche Lehrstunden“, so heißt es im Zweiten Bericht des Hauslehrers an den Vater des unterrichteten Jungen.1107
Therese aus dem Winckel verteilte den Lehrstoff geschickt über den ganzen Tag (was natürlich nur möglich war, wenn Schülerin und Lehrerin in einem
Haushalt lebten), während Dorette Spohr und Maria Anna Mozart immerhin
mehrere Schülerinnen im Laufe eines Vormittags unterrichteten.
1106
1107
312
L. Mozart an seine Tochter, 28. 10. 1785, in: Mozart LBR, S. 151–154, hier S. 153–
154.
Zweiter Bericht an Herrn Steiger, (Mitte) Januar 1798, in Johann Friedrich Herbart,
Hauslehrerberichte und pädagogische Korrespondenz 1797-1807, Weinheim/Bergstraße 1966, S. 51.
5. Die Bezahlung
Über den Betrag, den einzelne Personen für ihre Stunden forderten, gibt es
zwar Angaben, doch sind diese schwer miteinander zu vergleichen, da es neben
den möglichen Unterschieden in der Länge der Unterrichtseinheiten auch so
viele verschiedene Währungen im deutschsprachigen Raum gab, dass ein einheitlicher Bemessungsmaßstab fehlt. Was allerdings vergleichbar ist, ist die Art
der Bezahlung. Sowohl der eben beschriebene Modus bei Leopold Mozart und
seinem Schüler als auch die Anfrage Therese aus dem Winckels beschreiben
dieselbe Art der Abrechnung, wie sie bereits bei Anton Bemetzrieder erläutert
wurde: Für jede gehaltene Unterrichtsstunde gab es eine Marke, und bei einer
bestimmten Anzahl gesammelter Marken erfolgte die Bezahlung. Welche
Nachteile dies für die Lehrpersonen mitbrachte, wird aus Leopold Mozarts Bericht deutlich. Differenzen konnte es bei vergessenen Marken und Irrtümern
beim Aufzeichnen der Stunden immer geben. Lagen durch Abwesenheit von
Lehrer oder Schüler lange Zeiträume zwischen den Unterrichtsstunden, hatte
der Erste außerordentlich lang auf das Honorar zu warten. Außerdem wurden
ausgefallene Stunden generell nicht vergütet. Wie oft dies der Fall war und dass
diese Stunden häufig gar nicht abgesagt wurden, die Lehrerin den Weg zum
Haus der Schülerin also trotzdem zurücklegte, dies zeigen Maria Anna Mozarts
Aufzeichnungen. Manchen Lehrern gelang es, gewisse Pauschalen auszuhandeln. Der bereits in anderem Zusammenhang erwähnte Johann Fr. von Uffenbach hatte für den erwünschten Unterricht bei einem Straßburger Stadtmusiker,
dem Violinisten „hl Beck“ im Jahr 1712 „monatlich 4 neue Fr“ zu zahlen und
mußte „manchmal umbsonst warten [...], weil er nicht gar so accurat im Kommen war“1108. Einen ähnlichen Bericht gibt es von Wolfgang Amadeus Mozart
aus Wien. „Um 10 uhr habe ich die Stunde bey der fr: v: Trattner, um 11 uhr
bei der gräfin Rumbeck, Jede giebt mir für 12 lectionen 6 Duckaten. – und dahin gehe ich alle tage – ausgenommen sie schicken – welches mir niemalen lieb
ist. bey der gräfin hab ich es schon ausgemacht, daß sie niemalen schickt; triff
ich sie nicht an, so habe ich doch mein Billet; die Trattnerin ist aber zu Econom
dazu.“1109 Wenig später schrieb er: „ich habe nun 3 Scolarinen. – da komm ich
das Monath auf 18 duckaten. – denn ich mache es nicht mehr mit 12 lectionen
sondern Monathlich. – ich habe mit schaden erfahren, daß sie oft ganze wochen
ausgesezt – Nun aber mögen sie lernen oder nicht, so muß mir Jede 6 dugaten
geben.“1110
Wie viel Unterrichtseinheiten waren nun im Allgemeinen nötig, damit das
Unterrichten einen gewissen Lebensstandard sichern konnte? In der AMZ hieß
1108
1109
1110
Aus den Reiseberichten des Johann Fr. von Uffenbach, nach Preußner, S. 21.
Brief W. A. Mozarts aus Wien an seinen Vater vom 22. 12. 1781, in: Mozart BR, Bd. 3,
S. 184–188, hier S. 187.
Brief W. A. Mozarts aus Wien an seinen Vater vom 23. 1. 1782, in: Mozart BR, Bd. 3,
S. 193–195, hier S. 195.
313
es unter der Überschrift Aussichten für den Künstler u. a.: „Ohne Engagement
kann nur etwa ein Klavierspieler sich gut fortbringen – doch muss er auch noch
Verleugnung genug besitzen, den Häusern, die ihn unterstützen, in sehr vielem
zu Willen zu seyn, und dann von Morgen bis Abend Lection zu geben.“1111 Der
Student Heinrich Laag erhielt 1738 in Leiden von je einem Clavier- und Flötenschüler monatlich 16 Gulden, davon konnte er leben.1112 Louise Reichardt hätte
mit zwölf Schülern leben können, die jeweils einen Taler gezahlt hätten. Mit
täglich vier Stunden Unterricht wäre so ein Honorar von 1200 Talern im Jahr
zustande gekommen. Sie verlangte nach dem Rat ihres Vaters Höchstpreise.
Während in den Schulen und Instituten die Honorare für Musikunterricht anderen Vergleichen unterlagen, war die Spanne auf dem freien Markt groß und das
Gefälle zwischen großen und kleinen Städten enorm. So schrieb Wolfgang
Amadeus Mozart aus Wien nach Salzburg: „Meine schwester würde es hier
auch besser anstehen als in Salzburg – es sind vielle Herrschaftshäuser wo man
bedenken trägt, eine Manspersonn zu nehmen – ein frauenzimmer aber sehr gut
bezahlen würde. – “1113
Neben all diesen Preisen galt der Brauch, Bedürftige kostenlos zu unterrichten.
6. Der Unterrichtsort
Meist fand der Unterricht im Haus der Schülerin statt, gerade bei der Konstellation Lehrer – Schülerin war dies eine Frage der ‚Schicklichkeit’. Die Clavierlehrerin hatte also mitunter ein gutes Stück Strecke an einem Tag zurückzulegen, Wege, die Zeit und Kraft kosteten. Leopold Mozart schrieb, seine Tochter
käme „ja immer von ihren Instructionen wie gebraten zurück“ (und habe sich
daher eine Erkältung geholt).1114 Maria Anna Mozart hielt an einer Stelle in
ihrem Tagebuch fest, dass sie zwischen den Unterrichtsstunden von Mutter und
Tochter bei den von Mayrs gespeist habe.1115 Überhaupt ergänzten gesellschaftliche Kontakte das Verhältnis zu den Schülerinnen. Maria Anna frühstückte
z. B. bei Frl. von Mölk1116 und erhielt Besuch von den drei Fräulein Mayr.1117
Auch Nina d’Aubignys Bericht über ihre Harfenstunden mit einem jungen
1111
1112
1113
1114
1115
1116
1117
314
AMZ 1800, Sp. 67.
Heinrich Laag, Lebensgeschichte Heinrich Laag's, Organisten an der Katharinen-Kirche in Osnabrück von ihm selbst beschrieben und mit einem Nachtrage hrsg. von einem
seiner Freunde, Herford 1798, in: Roske, S. 162.
Brief W. A. Mozarts aus Wien an seinen Vater vom 19. 5. 1781, in: Mozart BR, Bd. 3,
S. 117–120, hier S. 119.
Brief L. Mozarts aus Salzburg an seinen Sohn vom 20. 11. 1780, in: Mozart BR, Bd. 3,
S. 25–27, hier S. 26.
Tagebucheintrag vom 18. 4. 1779, Hummel, S. 44.
Tagebucheintrag vom 12. 5. 1779, Hummel, S. 49.
Tagebucheintrag vom 16. 5. 1779, Hummel, S. 49.
Mädchen deutet darauf hin, dass der Unterricht im Hause der Schülerin an deren eigener Harfe stattfand, denn Aubigny schreibt, sie komme „eben jetzt“ von
der Lektion. Eine Erwachsene, die noch keine eigene Harfe besaß und anscheinend eine Probestunde nahm (die Lehrerin bemerkt am Ende der ersten Stunde,
die Schülerin könne sich jetzt „unbedenklich eine harfe bestellen“ 1118 ), kam
wohl ins Haus der Lehrerin.1119
Dorette Spohr wohnte immerhin auf dem Gut ihrer Auftraggeber. Louise
Reichhardt war in der Lage, mit steigendem Ansehenden den Unterricht immer
mehr bei sich abzuhalten, was durchaus als große Erleichterung (und Besonderheit) in den Quellen gehandelt wurde. Und natürlich kamen die Schülerinnen
der Institute dorthin, um ihren Unterricht zu erhalten.
7. Das Alter und der gesellschaftliche Stand der Lernenden
Wie bereits an anderer Stelle dargelegt wurde, spezialisierten sich einige Lehrerinnen auf den Unterricht mit Kindern, so vermutlich Clementine Andrée. Auch
aus der Lehrtätigkeit Nina d’Aubignys, Nanette von Schadens, Dorette Spohrs
und Sophie Dülckens sind nur Kinder bekannt. Die Schülerin des Fräuleins von
Freudenberg dagegen dürfte eher älter als ihre neunjährige Lehrerin gewesen
sein. Bei den Instituten Sophia Häßlers, Elise Müllers und Antonia Nicolays
handelte es sich um Schülerinnen im Schulalter (was nicht ausschließt, dass
diese Lehrerinnen außerhalb der Schule auch ältere oder jüngere Schülerinnen
unterrichteten). Therese aus dem Winckel und Josepha Müllner-Gollenhofer
unterrichteten jüngere wie ältere Personen, die Schülerinnen Maria Anna Mozarts waren, abgesehen von ihren Stiefkindern, dem Kindesalter entwachsen.
Teilweise unterrichtete sie Mutter und Töchter derselben Familie.
Barbara Zezi, Maria Anna Mozarts frühest genannte Schülerin, war die
Tochter eines Galanteriewarenhändlers, Anna Barbara von Mölk die Tochter
eines Hofratdirektors und Frau von Antretter gehörte zum gehobenen Bürgertum. Die Frauen der Familie Mayr von Mayern gehörten wie die Familie Lodron dem Adelsstand an, während das Frl. Villersi als Erzieherin in einem gräflichen Haus arbeitete. Die gehobene soziale Schicht der Schülerinnen ermöglichte gute soziale und intellektuelle Kontakte, und war daher nicht nur aus finanzieller Sicht erstrebenswert. Nina d’Aubignys Aktivitäten spielten sich
ebenfalls in dem ihrer Stellung gemäßen gesellschaftlichen Rahmen ab. Hier
fand sie ihren Bekannten- und Freundeskreis, hier konnte sie sich musikalisch
einbringen. Der Kasseler Freiherr Otto von Malsburg, ein Freund der Familie
Aubigny von Engelbrunner, war der Erzieher der Prinzessin Juliane gewesen,
der späteren Fürstin von Bückeburg und Mutter Wilhelmines und Carolines. Johann Conrad Engelbrunner, Ninas Vater, war selbst der Erzieher des Bruders
dieser Prinzessin gewesen, dem Erbprinz Carl von Hessen Philippsthal. Diese
1118
1119
Aubigny Harfe, Sp. 556.
Aubigny Briefe und Aubigny Harfe.
315
Zusammenhänge machen verständlich, dass sich der Kontakt zum Fürstenhaus
nicht etwa auf das Unterrichten beschränkte, sondern auch gemeinsames Musizieren, Diskussionen und Ausflüge selbstverständlich dazugehörten. Ähnliches
lässt sich für die Zeit von Nina d’Aubignys Aufenthalt in Indien (1808–1816)
beobachten, wohin sie ihrer Schwester Emilie gefolgt war. In Kalkutta und der
Residenz des Nabobs von Bengalen in Moorshedabad erteilte sie Musikunterricht und trat als Sängerin auf.1120
Für die freien Musiklehrerinnen, die nicht wie Sophie Westenholz an einem Hof unterrichteten, war es eine Notwendigkeit, gute Kontakte zu pflegen
und zu kultivieren. So gehen denn auch die Berichterstattungen in diese Richtung: Die Schülerinnen Elise Müllers waren von „gehobenem Stande“, Christiane Grund-Sengstacke unterrichtete in den „ersten Häusern“ Hamburgs, Louise
Reichardt sprach von der besonders gut situierten Klientel in Altona.
8. Unterrichtsmethoden und Repertoire
Leopold Mozart war seinen Kindern ein strenger und konsequenter Lehrer gewesen. Entsprechend diesem Bild überwachte er auch den ersten Unterricht,
den seine Tochter erteilte, aus der Ferne: „Wie geht es mit der Mlle: Zezi, lernt
sie? ist die Nannerl fleisig mit ihr? – – Ich laß die Nannerl grüssen und ihr sagen daß sie fleisig exercieren soll: und daß sie die kleine Zezi mit fleiß und gedult lehren soll. Ich weis daß es zu ihrem eigenen Nutzen ist, wenn sie sich gewöhnt iemand anderen etwas gründlich und mit gedult zu zeigen. Ich schreib es
nicht umsonst.“1121 Fleiß, Geduld, Gründlichkeit – hier sind sie wieder, die Eigenschaften des guten Lehrmeisters. Leopold Mozart wollte seine Tochter gemäß seinen allgemeinen Grundleitsätzen nach gründlicher clavieristischer Ausbildung zu einer guten Lehrerin erziehen. Sechs Jahre später empfahl er seinem
Sohn ein Unterrichtswerk, eine Clavierschule von Abbé Vogler: „Du solltest
das Buch haben – es sind derley sachen zum Lectiongeben vortheilhaft, man
wird beym Lection geben durch die Erfarnheit erst auf gewisse vortheile gebracht, wie dieß oder jenes anzugreiffen, und iedem fallen dergleichen vortheile
nicht geschwind bey.“1122 Erfahrenheit ist also nach Leopold Mozart eine weitere vorteilhafte Eigenschaft eines guten Lehrmeisters. Wie ermunternd der alte
Mann bei aller Strenge sein konnte, zeigt eine Briefstelle aus dem Jahre 1784,
nachdem Maria Anna ihm wohl berichtet hatte, dass die Stieftochter Nannerl
1120
1121
1122
316
Siehe Sigrid Nieberle, Nina d'Aubigny von Engelbrunner, in: MGG 1999.
L. Mozart aus Mailand an seine Frau am 12. 12. 1772, in: Mozart BR, Bd. 1, S. 466–
467, hier S. 467.
Brief L. Mozarts an Frau und Sohn in Paris vom 11. 6. 1778, in: Mozart BR, Bd. 2,
S. 369–375, hier S. 374.
sich nicht leicht am Clavier täte und schnell ungeduldig werde.1123 „Die gute
Nannerl soll sich beym Clavierspielenlernen nicht abschrecken lassen, und sie
darf nicht glauben, daß ich vieles von ihr verlange. Aller Anfang ist schwer.
Wenns das erste überwunden hat, dann wird’s bald besser gehen. Nur Gedult!
Ich bin mit wenigem zufrieden.“1124
Maria Anna Mozart wird in den ersten Stunden auf das Repertoire zurückgegriffen haben, das sie selbst und ihr Bruder beim Vater erlernt hatten. Mit
fortgeschrittenen Schülerinnen wird sie auch die Werke ihres Bruders verwendet haben, um deren Verbreitung sie sich immer wieder bemühte.1125 Oft genug
jedoch hatten die Eltern gewisse Repertoirevorstellungen, wollten gleich zu Beginn viele Stücke hören und zwar vor allem die gängigen Modestücke. Davor
warnt Daniel Gottlieb Türk ausdrücklich: „Man hüte sich beym Unterrichten,
besonders im Anfange, Klavierauszüge von Operetten, Oratorien, Kantaten u.
d. g. zu wählen; denn durch diese Stücke, die in ihrer Art vortreflich seyn können, wird die Fingersetzung des Lernenden sehr vernachlässiget, und besonders
die linke Hand oft auf immer verdorben.“ Ein „verständiger Lehrer“ untersucht
also die Stücke, bevor er sie im Unterricht verwendet und wählt nur solche aus,
„die ganz eigentlich für das Klavier, und zwar von guten Meistern gesetzt sind,
worin auch für die linke Hand gesorgt ist […], sie mögen übrigens neu oder alt
seyn“. 1126 Ganz im Sinne dieser Empfehlung handelte Louise Reichardt, die
„gute Musik“, viel Kirchenmusik, Bach und Händel verwendete. Auch Elise
Müller bevorzugte ein „klassisches Repertoire“, Mozart und Beethoven. Nina
d’Aubigny empfahl dringend, geeignete Schulwerke zu verwenden, Adriana
Henrika Franziska Friedel unterrichtete nach einer eigenen Methode und wer
komponierte, verwendete üblicherweise diese Literatur im Unterricht.
9. Öffentlichkeitswirkung des Unterrichts
Welcher freie Musiker brauchte dies nicht – die Präsenz in der Öffentlichkeit,
die gleichzeitig als Werbung und Gütezeichen anzusehen war? Dazu waren
Konzerte, in denen Schülerinnen wie die Elise Müllers auftraten, ein gutes Mittel. Einen ähnlichen Bericht gibt es aus Erlangen über einen Herrn Martius, seines Zeichens Cantor und Organist, der seit nunmehr drei Jahren „ein Privatconzert (musikalische Uebungen,) für junge Frauenzimmer von neun bis sechzehn
Jahren“ abhielt. Diese Veranstaltungen fanden reihum in den Elternhäusern der
1123
1124
1125
1126
Zu L. Mozarts Person und Erziehung seiner Kinder siehe Franz Posch, Leopold Mozart
als Mensch, Vater und Erzieher der Aufklärung, in: Neues Mozart-Jahrbuch 1941,
S. 49–78.
Brief L. Mozarts an seine Tochter vom 17. 9. 1784, in: Mozart LBR, S. 22–25, hier
S. 24.
Vergleiche dazu auch Wolfgang Brunner, Mozarts Klaviermusik für die „Allerliebste
Schwester“, in: Düll/Neumaier, S. 93–104.
Türk, Einleitung § 25, S. 14–15.
317
jungen Frauen statt „und es wechseln darin kleinere und grössere Stücke für
ein, zwey, drey Instrumenten, (Sonaten, Variationen etc.) und Gesänge aller Art
für eine oder einige Singstimmen, mit Begleitung des Pianoforte.“1127
Charlotte Bachmanns Schülerinnen sangen im Chor der Singakademie,
Louise Reichardt bereitete mit ihrer Gesangsklasse die Chöre großer Oratorienaufführungen vor. Ähnlich ging wohl auch Sophia Häßler vor, wie der Bericht
ihrer Tochter über die Aufführung des Musen-Gedichtes zeigt. Die Schülerinnen Therese aus dem Winckels spielten zum Teil in der Oper und diejenigen
von Sophie Dülcken traten in öffentlichen Konzerten auf. Ein Vorspielen der
Kinder wurde durchaus als pädagogisch wertvoll angesehen: „Dann und wann
lasse man seine Scholaren das, was sie gelernt haben, in Gegenwart mehrerer,
auch wohl fremder Personen und Musikkenner spielen. Dies hat einen doppelten Nutzen; denn es unterhält die Lust ungemein, wenn der Lernende Gelegenheit hat, seine gemachten Fortschritte zu zeigen, sodann bekommt er dadurch
zugleich eine anständige Dreistigkeit, woran es vielen schon geübten Spielern
sehr zu ihrem Nachtheile fehlt. Hat der kleine Virtuose seine Stücke so vorgetragen, daß man damit zufrieden seyn kann, so wird ein ihm ertheiltes Lob, mit
der Ermahnung zum fernern Fleiße verbunden, bey einer solchen Gelegenheit
mehr fruchten, als in einer gewöhnlichen Lehrstunde. Fallen die ersten Versuche von der Art nicht nach Wunsch aus, so tadle man ihn deswegen nicht, oder
wenigstens mit vieler Mäßigung; denn in solchen Fällen hat gewöhnlich die den
Mehrsten eigene Schüchternheit an der mißlungenen Ausführung den größten
Antheil.“1128
Viele ältere Schülerinnen der Mozarts traten in Salzburg auf: Das „Freul v
Mölk“, Schülerin Maria Anna Mozarts, ließ sich im dortigen Liebhaberkonzert
hören, „nachdem ihr die Nannerl darüber öfter Lection gegeben“, sie also auf
den Auftritt vorbereitet hatte.1129 Auch die Lodron-Töchter spielten regelmäßig
vor. Im Hause ihres Vaters Ernst Maria Joseph Nepomuk Graf Lodron, das
durch seine Frau Maria Antonia eine Zeitlang ein wichtiger Angelpunkt der
Salzburger Musikpflege war, fanden im Jahr 1778 jeden Sonntag Akademien
statt, in denen die Töchter neben anderen bürgerlichen und aristokratischen
Liebhabern auftraten. Die Donaueschingerin Frl. Villersi kam gar heimlich zum
Unterricht bei Maria Anna Mozart, da sie bei der Probe zum Liebhaberkonzert
sehr schlechte Kritiken bekommen hatte. Nach zweiwöchigem Unterricht konnte sie sich hören lassen.1130
1127
1128
1129
1130
318
AMZ 1809, Sp. 189.
Türk, Einleitung § 39, S. 23–24.
Brief L. Mozarts an Frau und Sohn in Paris am 11. 6. 1778, in: Mozart BR, Bd. 2,
S. 369–375, hier S. 369.
Brief L. Mozarts an Frau und Sohn in Paris am 11. 6. 1778, in: Mozart BR, Bd. 2,
S. 369–375, hier S. 370.
Derartige Erfolge waren eine sicht- und messbare Prestigeerhöhung. Bekanntheit konnte jedoch auch auf anderen Wegen erreicht werden. Eine Zeitungsannonce, wie sie etwa der Flensburger Carl Hanke im Jahr 1793 veröffentlichen ließ und in der er auf die Modalitäten seiner Singschule hinwies, waren wohl eher männliches Terrain.1131 Auch die Publikation einer Lehrmethode
(Nina d’Aubigny) oder Materialsammlung zum Unterricht (Clementine Andrée) gehörten eher in diese Sparte. Als ‚weibliche Mittel’ dagegen sind wohl
das eigene Tun als Virtuosin sowie die guten Kontakte zu einflussreichen Personen (etwa bei Louise Reichardt in Hamburg), die ihre Favoritin bekannt
machten, neben den Auftritten von Schülerinnen zu werten.
10. Altersvorsorge
Altersvorsorge, das war ein generell schwieriges Thema, auch für Männer. War
nicht genügend Vermögen angesammelt, so waren sie auf das Stundengeben
ebenso angewiesen wie Frauen und versuchten darum nicht selten, noch in späten Jahren eine feste Stellung zu erlangen.1132 Nina d’Aubigny hatte das Glück,
so viel Kapital erarbeitet zu haben, dass das Unterrichten irgendwann nicht
mehr nötig war. Auch Maria Anna Mozart, um deren Absicherung der Vater
noch 1778 gebangt hatte1133, hatte ihr Geld so gut angelegt, dass sie später wohl
mehr aus Freude denn aus Notwendigkeit unterrichtete. Doch noch 1782 hatte
ihr Bruder sich geärgert, dass der Salzburger von Moll nicht etwa bei seiner
Schwester, sondern bei Josepha von Aurnhammer in Wien angefragt hatte, ob
sie für 3000 f jährlich, also für ein festes Jahresgehalt (!), in ein Herrschaftshaus nach Salzburg gehen wolle: „wie gefällt ihnen das? – Meine Schwester
hällt man also für nichts?“, so echauffierte sich Wolfgang Amadeus Mozart in
einem Brief an seinen Vater.1134 War eine Frau unverheiratet, hatte nicht wie
Josepha Müllner-Gollenhofer oder Sophie Westenholz eine feste Anstellung an
einem Hof gefunden und auch nicht das Glück, wie Louise Reichardt eine Leibrente ausgesetzt zu bekommen, so war sie auf ihre eigenen Kinder (etwa Sophia
Häßler, die zu ihrer Tochter zog) oder eigenes Unterrichten angewiesen. Und so
war denn auch Therese aus dem Winckel bis in ein extrem hohes Alter hinein
als Lehrerin tätig.
1131
1132
1133
1134
Anzeige aus dem Flensburgschen Wochenblat Nr. 5 (1792/93), S. 311 vom 27. 3. 1793,
abgedr. bei Roske, S. 105–106.
Siehe Roske, S. 135. Zum Thema Altersversorgung vgl. auch Schleuning, S. 246 u. 274
und bes. seine Ausführungen zur 1771 gegründeten Wiener Tonkünstler-Societät.
Siehe den Brief L. Mozarts an seinen Sohn in Paris am 27. 8. 1778, in: Mozart BR, Bd.
2, S. 449–458.
Brief W. A. Mozarts aus Wien an seinen Vater vom 29. 5. 1782, in: Mozart BR, Bd. 3,
S. 210–211, hier S. 211.
319
11. Mobilität der Berufe
Der Begriff der Mobilität1135 taucht bei Michael Roske auf. Er bezeichnet damit
den Wechsel oder die Schwerpunktverlagerung des beruflichen Standbeins, ein
Phänomen, das er regional untersuchte. Für den Raum Altona konnte er feststellen, dass zwischen 1802 und 1850 Frauen im Schnitt 9, 2 und Männer 12,
2 Jahre unterrichteten, dabei jeweils ein Drittel von ihnen nicht länger als fünf
Jahre. Clavierunterricht wurde in diesem Zeitraum vorwiegend von unverheirateten Frauen erteilt.1136 Beispiele lebenslanger Tätigkeit mit Schwerpunkt Instrumentalunterricht gibt es im 18. Jahrhundert sowohl bei Männern als auch bei
Frauen selten. Für Männer bot der Unterricht bei angesehenen Familien die
Chance zu einer Vorbereitungs- und Einstiegsphase für eine Anstellung als Musiker,1137 eine Feststellung, die für Frauen so nicht formuliert werden kann. Hier
sind als Gründe für den Beginn einer Lehrtätigkeit an erster Stelle die grundsätzliche Versorgung als Alternative zur Heirat (etwa bei Louise Reichardt, Adriana Henrika Franziska Friedel oder Elise Müller) oder Altersversorgung selbst
(etwa Jeanette Antonie Bürde, die nach dem Tode ihres Mannes unterrichtete)
zu sehen. Für Frauen, die gleichzeitig als Virtuosinnen tätig waren, etwa das
Kind Walburga Willmann oder die k. k. Hofharfenmeisterin Josepha MüllnerGollenhofer, dürften auch Werbe- und Statusfragen eine Rolle gespielt haben.
Der Zeitraum des Unterrichtens nahm also bei den meisten Frauen einen klar
abgegrenzten Abschnitt ein. Maria Anna Mozart unterrichtete vor ihrer Hochzeit und als Witwe professionell, während ihrer Ehe eher als Erzieherin der
Stiefkinder. Die Schülerinnen fehlten ihr in dieser Zeit, sie hatte trotz Anstrengung deutlich gern unterrichtet. Nina d’Aubigny dagegen (die allerdings durch
ihre Herkunft aus dem Adel eine Sonderrolle einnimmt) beendete ihre Unterrichtstätigkeit in dem Moment, da sie wirtschaftlich dazu in der Lage war.
3.5
Im Schutze der Kirche
Einen Schutzraum besonderer Art für Frauen boten kirchliche Orden und Damenstifte. Sie wurden allerdings nicht annähernd so häufig als Stätten musikpädagogischer Arbeit genutzt, wie man annehmen könnte. Mir sind zwei Beispiele, beide aus
dem Süden des deutschen Sprachraumes, aber aus unterschiedlichen Zeiträumen,
bekannt. Das Leben und Wirken der Ulmerin Barbara Kluntz wurde von Linda Maria Koldau erforscht und eingehend beschrieben1138, die Wienerin Therese Frieberth
wirkte am Ende des 18. Jahrhunderts. Erstere gehörte einer evangelischen Frauengemeinschaft an, dem Sammlungsstift Ulm. Letztere arbeitete als externe Lehrkraft
1135
1136
1137
1138
320
Roske, S. 109.
Roske, S. 136–139.
Roske, S. 134.
Siehe Koldau, S. 931–943.
im katholischen Orden der Wiener Salesianerinnen. Während Barbara Kluntz’ Vater Schneider von Beruf war, waren die Eltern Therese Frieberths Musiker: Sowohl
ihr Vater Karl (Carl) Frieberth als auch ihre Mutter Magdalena, geborene Spangler,
waren sängerisch aktiv.
Dass Religion und Konfession eine starke Bedeutung im Leben der damaligen
Menschen hatte, zeigte bereits das Beispiel der Schweizer Clavierlehrerinnen.
Durch verschiedene Lehrorden hatten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts in den
deutschsprachigen Ländern neue Möglichkeiten der Schulbildung für Mädchen ergeben. Immer häufiger konnten auch die Töchter des mittleren und unteren Bürgertums an kostenfreiem Schulunterricht teilnehmen. 1774 wurde in Österreich
schließlich die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen von sechs bis
zwölf Jahren eingeführt. Musik, d. h. Singen, gehörte zum Bildungskanon, beschränkte sich jedoch meist auf Einstimmigkeit und schloss das Erlernen nur geringer musiktheoretischer Kenntnisse ein. Diese waren wie das Instrumentalspiel dem
privaten außerschulischen Musikunterricht vorbehalten.
Therese Frieberth
Sowohl in katholischen als auch protestantischen Gebieten war die Schulbildung
eng an kirchliche Lehrgrundlagen angeschlossen. Mädchen wurden in den allgemeinen Fächern zumeist von Frauen unterrichtet, für die musikalische Unterweisung
wurde aber oftmals der Pfarrer oder Kantor hinzugezogen. Eine Ausnahme hiervon
bildete Therese Frieberth. Über sie ist im Jahrbuch der Tonkunst von Wien und
Prag des Jahres 1796 zu lesen, sie sei „eine ausgezeichnete Tonkünstlerinn, welche
diese Kunst im Grunde1139 versteht, leicht und geläufig liest, und gut Fortepiano
spielt. Schon in ihrer Jugend war sie, während ihrem Aufenthalte bei den Salesianerinnen, Lehrerinn daselbst“.1140
Die Salesianerinnen gehören zum „Orden von der Heimsuchung Mariä“ und
befassen sich vorrangig mit der Krankenpflege und Jugenderziehung. Kaiserin
Amalie hatte den Orden in die Kaiserstadt berufen, um in der Erziehung junger
Mädchen wirksam zu werden.1141 Die Wiener Salesianerinnen unterhielten ein Pensionat „Auf der Landstraße Rennweggasse Nr. 542“. Laut Böckhs Beschreibung aus
dem Jahre 1821 wurden hier „adelige junge Frauenzimmer katholischer Religion in
standesmäßigen Wissenschaften unterrichtet“. Es gab einige Stiftungsplätze, alle
übrigen „Fräulein“ wurden gegen Bezahlung aufgenommen.1142 An eine Lehrmeisterin waren hohe Anforderungen gestellt, sollte sie doch geistliches und sittliches
Vorbild für die ihr Anvertrauten sein. Gelehrt wurden hauptsächlich Lesen, Schreiben, Rechnen, Handarbeiten, Sticken und Malen, außerdem die französische Spra1139
1140
1141
1142
Gemeint ist: von Grund auf, gründlich.
JBT. Gerber NL wiederholt diese Angaben.
Hildegard Waach, Die Salesianerinnen in Wien 1717-1967, Wien-München 1967,
S. 63.
Siehe Böckh, S. 529.
321
che und natürlich Religion. Über die musische Erziehung liegen keine gesonderten
Informationen vor. Das Singen religiöser Lieder war mit Sicherheit Bestandteil des
täglichen Rituals, Instrumentalunterricht, der als Einzelunterricht stattfand, betraf
vorrangig die Pensionärinnen und musste gesondert vergütet werden. Zum Zweck
der Unterweisung an einem Instrument (vorrangig dem Clavier) wurden wahrscheinlich in den meisten Fällen externe Lehrkräfte verpflichtet.1143 Die Formulierung des Wiener Jahrbuchs der Tonkunst legt den Schluss nahe, dass Therese Frieberth möglicherweise einen Stiftungsplatz innehatte und dass die musikalisch Gebildete im Ausgleich dazu Unterricht an andere Pensionärinnen erteilte.
Wie kam die Musikertochter Therese Frieberth an diesen Platz? Nachdem ihre
Familie sich 1776 in Wien niedergelassen hatte, widmete sich ihr Vater, der zuvor
in Esterhaza beschäftigt gewesen war, vornehmlich kirchenmusikalischen Tätigkeiten. Bis 1783 wirkte er in nicht weniger als sieben Wiener Kirchen, komponierte
Kirchenmusik und kümmerte sich seit 1776 im Jesuitenseminar St. Pancratii et Ignatii um die musikalische Erziehung der Hofsängerknaben. Die kirchliche Anbindung der Familie dürfte dazu geführt haben, dass die Tochter eines Mannes, der
sich selbst auch einen Namen als Gesangslehrer gemacht hatte, „in ihrer Jugend“ im
„Orden von der Heimsuchung Mariä“ den Pensionärinnen Clavierunterricht erteilte.
Sie trat damit in die Fußstapfen ihres Vaters und ihrer Großeltern mütterlicherseits,
denn Maria Magdalena Spangler entstammte selbst einer Kirchenmusikerfamilie.1144 Über den Umfang oder die Modalitäten des Unterrichts, den Therese Frieberth erteilte, sind keine Einzelheiten bekannt. Sie war durch die kirchenmusikalische Tradition und Aktivität ihrer Familie wahrscheinlich selbst in einem kirchlichen Haus aufgenommen und tätig geworden. Hätten ihre Eltern an einem Hofe gewirkt, so hätte sie wohl nach Möglichkeit dort unterrichtet. Am Rande kirchlicher
Traditionen gab es also einen weiteren Raum, in dem Mädchen und Frauen sich als
Instrumentalistinnen und Lehrerinnen betätigen konnten.
Barbara Kluntz
Auch Barbara Kluntz lebte und wirkte an kirchlicher Stätte, dem Ulmer Damenstift,
sie allerdings in einer völlig anderen Lebensphase, nämlich vom 44. Lebensjahr bis
zu ihrem Tod. Es handelte sich bei diesem Haus um eine seit dem 13. Jahrhundert
in Ulm ansässige Frauengemeinschaft, die im Zuge der Reformation das Gesicht eines weltlichen evangelischen Stifts ohne feste Hierarchie erhalten hatte.1145
Barbara Kluntz war schon vor ihrem Eintritt in das Stift im Jahr 1704 als Claviervirtuosin, Orgelspielerin und Dichterin bekannt gewesen. Warum die unverheiratete Barbara Kluntz im recht hohen Alter von immerhin bereits 44 Jahren in das
Stift eintrat, ist nicht bekannt. Vielleicht hatte sich die Möglichkeit dazu durch Kontakte zu Schülerinnen in der Stadt angebahnt. Ihre Lehrtätigkeit ist allerdings erst
1143
1144
1145
322
Frdl. Hinweis von Sr. Cosima Kiesner CJ.
Siehe Fuchs/Vobruba, S. 48–49.
Zu der Geschichte und zum Leben im Stift s. a. Koldau, S. 931–934.
für die Zeit nach 1704 nachweisbar – was dies für die frühere Zeit natürlich nicht
ausschließt. Falls sie vor ihrem Eintritt in das Stift bereits als Informantin tätig gewesen war, so könnte sie, worauf Linda Maria Koldau hinweist, durchaus auch
Knaben, nämlich die Brüder ihrer Schülerinnen, unterrichtet haben.1146
Im Stift wirkte Barbara Kluntz als Musikerin auf der Orgel und anderen Clavierinstrumenten, als Komponistin und als Lehrerin. Sie engagierte sich für die vokale wie instrumentale, vor allem geistliche Musik und initiierte möglicherweise sogar so etwas wie musikalische Andachten. Auch mit weltlicher Musik und Tanz
vergnügte man sich im Stift, wozu die entsprechenden Musikerinnen von Nöten waren. Die Tradition der Organistinnen an oberschwäbischen Frauenklöstern lässt sich
bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen zu den beiden ersten mit Namen bekannten
Organistinnen der Neuzeit, Fronika und Cleophe, beide Töchter Hans Buchners des
Älteren.1147 Nur in diesem Kontext galt die Orgel als ein für Frauen schickliches Instrument. Waren Mädchen im 17. Jahrhundert für das Kloster bestimmt gewesen, so
wurden sie häufig als Organistinnen ausgebildet, da ihre instrumentalen Fähigkeiten
dann als Mitgift gewertet werden konnten.1148
Zurück zu Barbara Kluntz: Sie unterrichtete zahlreiche Schülerinnen, z. T. aus
den Kreisen der Stiftsdamen und zusätzlich aus den vornehmen Ulmer Familien.
Laut ihrem Testament besaß sie eine eigene Orgel, ein Clavier, drei Notenbücher
und eine umfangreiche Bibliothek, die sie mitsamt einem Gemälde ihrer Person
dem Stift überließ. In einem dieser Notenbücher, das heute nicht mehr auffindbar
ist, gab es eine mehrseitige Liste mit den Namen ihrer Schülerinnen. Es könnte sich
dabei um das verschollene Choral=Music Buch von 1717 handeln, das auf einem
sich heute im Ulmer Museum befindlichen Portrait Barbara Kluntz’ abgebildet
ist.1149
1146
1147
1148
1149
Koldau, S. 936.
Siehe Michael Gerhard Kaufmann, „... dan es ist daß Künd Sauer Vnd Hart genueg
ankhommen ...“ – Zur Ausbildung und zum Gebrauch von Tasteninstrumenten in oberschwäbischen Frauenklöstern im 16. Jahrhundert, in: Nicole Schwindt (Hrsg.), Frauen
und Musik im Europa des 16. Jahrhunderts. Infrastrukturen-Aktivitäten-Motivationen,
Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik Bd. 4 (2004), Kassel-Basel-London-New
York-Prag 2005, S. 137–151, hier S. 141–142.
Siehe Koldau, z. B. S. 521.
„Choral=Music Buch / in sich haltend / Zur Sing= und Clavier=übung dienliche in /
Noten gebrachte ordentliche Melodien; / der schönsten und erbaulichsten Lieder / Deß
Seel. Lutheri, und andrer rein= Evangl. Lehrer, / nach anweisung deß Neuen Ulmischen
Gesangbuchs / genandt: Der Andächtigen Sulamith Christ[licher] Helicon / beÿ allen
Zeiten und gelegenheiten nützlich und / Seelen-ergötzlich zu gebrauchen, / eingerichtet
/ von / Barbara Kluntzin. / Der Edlen Music=Kunst beständ[igen] Liebhaberin.“ Koldau, S. 935–936, 938–939.
323
Zwei weitere Notenbücher schrieb Barbara Kluntz: Das eine stammt von
17111150, das andere von 17201151. Letzteres enthält ein langes Lobgedicht auf die
Lehrerin. Nach diesem fand Barbara Kluntz im musikalischen Lob Gottes ihre Bestimmung, ihr Können gab sie an ihre dankbaren Schülerinnen – und vielleicht auch
einige Schüler – weiter (die Rede ist einerseits vom „schwächeren Geschlecht“, andererseits auch von „der Manner paar“, was sich eventuell darauf beziehen
könnte).1152 Laut dem Protokoll des Sammlungsstifts vom 10. Dezember 1728 hatte
„Jungfer Barbara Klunzin, welche [...] unter andern Geschäften als eine besondere
Liebhaberin der Music theils Frauen Conventualinnen im Clavierschlagen informirt“1153. Die Musikbände der Stiftsdame enthalten Choräle, die sie selbst für das
Clavier absetzte1154, außerdem geistliche Arien und Lieder. Diese Bücher zeugen
vom Repertoire, das Barbara Kluntz für das eigene Spiel und zu Unterrichtszwecken verwendete. Geistliche Musik bildete den hauptsächlichen Inhalt dieser
„Musik-Information“ – was bei den Stiftsdamen nicht verwundert, bei den Patriziertöchtern dagegen nicht ganz so schnell einleuchtet. Immerhin – auch Daniel Speer
empfahl ja für Frauen neben Tanzsätzen wie „Ballet, Couranten, Gavotten oder Sarabanden“ besonders „kurtze Choral-Gesänge / Arien“. Das Clavier-Music-Buch
von 1720 erwähnt ein weiteres, von Barbara Kluntz geschriebenes General Bass
Büchlein1155, von dem leider jede Spur fehlt und das auch in den testamentarischen
Schriften nicht erwähnt wird. Die Nöthigsten Regeln des General-Basses von Antoinette Philippine Luise Freudenberg sind also kein Einzelfall eines von einer Person weiblichen Geschlechts verfassten Generalbasswerkes vom Beginn des
1150
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Der Titel lautet: „Choral=Music Buch / welches bestehet / In Noten gesetzten Melodien
zu den schönen / Lehr und Trostreichen Liedern, deß Seel. H. D. Martin / Luthers, und
Anderer Rein=Evangelischen Lehrern, vor= / nemlich zu denen 245 Geistl: Liedern,
deß Neuen Ulmischen Gesang= / buchs genendt / GOTTseeliger Christen lobsingende
Seelen er= / götzung, zum Singen und Clavier Tractiren / zu allen Zeiten nützlichen Zugebrauchen / Zusammen getragen und geschrieben / von / Barbara Kluntzin der Edlen
Music Kunst / Liebhaberin“, Koldau, S. 940.
Es handelt sich um das „Clavier=Music=Buch / in sich haltend die Schöne Wolgesetzte
Melodien / wie sie weÿland von Herrn Jo= / hann Georg Ebelen / deß Gymnasii Carolini Professoris=Musici / Anno 1670 mit Zweÿen / neben=einander=gesetzten=Stimmen über die / Geistreiche in Reimen / verfasste / Andachten / Deß Wol=Ehrwürdigen /
Geistreiche Herrn / Pauli Ger= / hards Seel: heraußgegeben. / welche auf alle Evangelia
durchs gantze Jahr / und auf sonderbahre Zeiten gerichtet: / Und dann Anno 1720. von
Jungfr. Barbara Kluntzin / der / Edlen=Music=Kunst Liebhaberin / Obbemelte neben=einander=/ stehende=Stimmen / untereinan[e]rgesetzt und zum / Clavier=Tractiren gäntzlich eingerichtet /worden“, Koldau, S. 940.
Laudatio aus dem Clavier-Music-Buch der Barbara Kluntz von 1720, Stadtarchiv Ulm,
Signatur H. Klunzin, Barbara, Nr. 2, abgedr. und kommentiert in: Koldau, S. 936.
Das Protokoll ist im Original nicht erhalten. Zitiert nach Koldau, S. 938.
Zur Bewertung der Choralsätze siehe Koldau, S. 941–942.
Koldau, S. 940.
18. Jahrhunderts. Leider lassen sich die Bände durch das Fehlen des einen
Exemplars nicht miteinander vergleichen.
Die Handwerkertochter Barbara Kluntz, die als Clavierlehrerin im kirchlichen
Schutzraum zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits eine große regionale Bedeutung
erlangen konnte, ist sicher als ein Meilenstein in der Geschichte dieses Berufes zu
werten. Als Musikerin in der „Tradition hervorragender Gottesfrauen“ wie der Heiligen Caecilia1156 konnte Barbara Kluntz, welche den Beinamen „der Edlen Music
Kunst Liebhaberin“ angenommen hatte, nicht nur ihren künstlerischen Neigungen
nachgehen, sondern auch als Musikerin, als Virtuosin, bis an ihr Lebensende den
Ruf einer achtbaren Frau genießen. Sie gewann an Status1157 und starb als angesehene und wohlhabende Frau, hatte also einen gesicherten Lebensabend mit persönlicher Neigung (zur Musik) verbinden können.
1156
1157
Siehe Koldau, S. 941.
Koldau, S. 938–939.
325
4
Wiener Verhältnisse
4.1
Wien – Stadt der Möglichkeiten
Eine relativ große Anzahl von Clavierlehrerinnen ist aus der Kaiserstadt Wien bekannt. Wien – das war eine Stadt, in der es durch die kulturinteressierten Adelshäuser wie etwa die Familien Esterházy oder Lichnowsky, besonders aber durch das
freie geistige Klima Möglichkeiten gab, die Musikern und nicht zuletzt Musikerinnen anderorts versagt blieben. Musikgeschichtlich sind dieser Stadt im ausgehenden
18. Jahrhundert an Bedeutung nur die Metropolen Paris und London vergleichbar.
Unzählige halböffentliche Konzerte fanden in den großen Stadthäusern, öffentliche
dagegen in der Halle der Mehlgrube, im Augarten, im Redoutensaal der Hofburg
und vor allem im Burgtheater als wichtigsten Aufführungsstätten statt.1158 „Wien ist
gewiß für jeden, der des frohen Lebensgenusses fähig ist, und besonders für den
Künstler, vielleicht auch ganz besonders für den Tonkünstler, der angenehmste,
reichste und froheste Aufenthalt in Europa“, so Johann Friedrich Reichardt. 1159
Während die fürstlichen und gräflichen Familien sich während der Frühlings- und
Sommermonate in den Gartenpalais, den Villen in der Vorstadt und während der
Jagdsaison in den Schlössern Ungarns und Böhmens aufhielten, verbrachten sie den
Winter in ihrem Wiener Stadtpalais und bildeten zusammen mit dem Kaiserhof den
Mittelpunkt des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.1160
In dieser wohlhabenden und vergnügungsfrohen Gesellschaft gab es gegen
Ende des 18. Jahrhunderts eine große Anzahl ausgezeichnet musizierender Liebhaberinnen, die in engem Kontakt und Austausch mit den tonangebenden Komponisten standen, wie etwa die Beethoveninterpretin Marie Bigot. Das Jahrbuch der Tonkunst von Wien und Prag 1796 nennt 131 Musiker und 77 Musikerinnen und im
Jahr 1812 unterschrieben 96 Frauen (und 411 Männer) im Verzeichnis der Musikfreunde und Freundinnen, dass sie nach öffentlicher Genehmigung dem „Dilettantenverein“ beizutreten beabsichtigten.1161 Auch die hohe Wertschätzung, die Wolfgang Amadeus Mozart seinen Schülerinnen und Interpretinnen entgegenbrachte, die
Kompositionen, die er für sie schrieb, beides zeugt vom hohen Niveau der Musike-
1158
1159
1160
1161
326
Zum Wiener Konzertleben siehe auch Hanslick.
Reichardt, 37. Brief (undatiert), Bd. 2, S. 141–172, hier S. 145.
Zu einer eingehenden Beschreibung der Wiener Musikpflege siehe Gernot Gruber
(Hrsg.), Musikgeschichte Österreichs, Bd. 2: Vom Barock zum Vormärz, WienKöln-Weimar 21995.
Siehe Hartmut Krones, Zum Stellenwert der Komponistinnen in Wien um 1800.
Archivbestände, Publikationen, Verlagssituation, in: Ostleitner/Dorffner, S. 177–
190, S. 179–180.
rinnen in dieser Stadt.1162 Sie waren für ihn, wie für andere Komponisten und, nicht
zu vergessen, im Falle einer Musikerehe auch ihrem Ehemann, ebenbürtige Gesprächspartnerinnen.
Mme Bitzenberg und Anna Wolf
In Wien hatten Frauen durchaus Möglichkeiten, sich musikalisch zu entfalten: „Die
Virtuosität, die man hier unter Liebhabern findet – und besonders unter den Damen
– ist ganz einzig. Die größten Virtuosen kommen gar nicht zum Spiel und hören
sehr oft ihre eigenen Kompositionen lieber von einer schönen Schülerin vortragen.
Es scheint daher jenen auch oft an Eifer, sich hervorzutun, zu fehlen, und es gibt
sehr brave Künstler hier, die man das ganze Jahr hindurch gar nicht zu hören bekommt.“1163 So verwundert die außerordentlich hohe Zahl der Musikerinnen nicht,
die Johann Ferdinand von Schönfeld in seinem Jahrbuch der Tonkunst für Wien
und Prag von 1796 nennt. Neben den Spielerinnen und Sängerinnen finden sich in
diesem Jahrbuch vier professionelle Lehrerinnen, darunter Mme Bitzenberg, geborene Huber. Über diese Musikerin heißt es hier, sie sei „eine sehr geschickte Klavierspielerinn, von richtigem Fingersatz, Akuratesse, Geschwindigkeit und Takt. Sie ist
in jedem Betracht sehr musikalisch, spielt auch die Violine und singt; ist übrigens
als Lehrerinn höchst empfehlungswürdig.“1164 Dieser Eintrag wird bei Gerber 1165
angeführt; Schilling und Paul1166 präzisieren den Zeitpunkt ihrer Tätigkeit dahingehend, dass Mme Bitzenberg eine Claviervirtuosin und Lehrerin gewesen sei, die „besonders in den Jahren 1790 bis 1808 daselbst [in Wien] in hohem Ansehn [stand],
nicht nur wegen ihres glänzenden fertigen Spiels, sondern auch wegen des gründlichen Unterrichts, den sie darin ertheilte. Ueberhaupt rühmte man ihre vielseitige
und gründliche Bildung“.1167 Wieder einmal eine Frau, die den Ansprüchen hoher
gesellschaftlicher Schichten in Bezug auf Bildung und sicherlich auch Umgangsformen entsprach. Dabei ist auffällig, dass sie auch als Violinspielerin (und Sängerin)
Achtung erfuhr, sicher ein Zugeständnis dieser freigeistigen Stadt. Die „näheren Lebensumstände“ Mme Bitzenbergs, so Schilling, „sind unbekannt geblieben“.
Die Hinweise zu Anna Wolf, geborene Mrasek, sind, was ihre pädagogische
Tätigkeit betrifft, weniger eindeutig. Sie sprechen aber für ein Unterrichten dieser
Musikerin. In den Vaterländischen Blättern für den österreichischen Kaiserstaat im
Jahre 1808 in einer Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien
wird sie unter der Rubrik der Clavierspieler. Künstler und Professoren zu den „vor1162
1163
1164
1165
1166
1167
Siehe dazu auch beispielsweise Hoffmann MM und Marius Flothius, Position und
Emanzipation der Frau zu Mozarts Zeit, in: Moritz Csáky, Walter Pass (Hrsg.), Europa im Zeitalter Mozarts, Wien 1995, S. 90–92.
Reichardt, 36. Brief vom 5. 4. 1809, Bd. 2, S. 128–140, hier S. 132.
JBT.
Gerber NL.
Paul.
Schilling ENC.
327
züglichsten der hiesigen Claviermeister“ gezählt.1168 Da das Wort „Meister“ sowohl
auf ein hohes virtuoses Können, ein professionelles Auftreten, als auch auf eine
Lehrtätigkeit hinweisen kann1169, ist damit das Unterrichten Anna Wolfs nicht eindeutig belegt, es ist aber in Anbetracht ihrer Biografie wahrscheinlich. Nur sechs
Jahre währte ihre Ehe mit dem Wiener Ministerialbeamten Ludwig Joseph Alois
Wolf, der sich autodidaktisch auf der Gitarre so vervollkommnet hatte, dass er die
Beamtenlaufbahn aufgab und sich ganz der Musik, seiner Virtuosenkarriere und
dem Komponieren widmete. Das Ehepaar Wolf konzertierte und komponierte gemeinsam. Alois Wolf wirkte auch durch „gründlichen Unterricht, den er vielen
Schülern mit gutem Erfolge gab“1170. Dass seine Frau, die alle übrigen beruflichen
Aktivitäten mit ihm teilte, ebenfalls unterrichtete, ist anzunehmen.
Auch die bereits an anderer Stelle angeführte Nanette Stein-Streicher war eine
professionell arbeitende Frau, wobei sich ihr Tätigkeitsfeld in ihren Wiener Jahren
hauptsächlich auf den Instrumentenbau konzentrierte. Ein Leben als Instrumentenbauerin, als (künstlerische) Handwerkerin, auch das war sicherlich im toleranten,
charmanten Wien leichter zu leben als etwa im scharfzüngigen Berliner Raum.
Josepha von Aurnhammer
Mme Bitzenberg, Anna Wolf und Nanette Streicher waren wie fast alle Wienerinnen,
die als Lehrerinnen bekannt sind, verheiratet. Sie waren auch während ihrer Ehejahre aktiv und als Musikerinnen professionell tätig. Dies war im Norden Deutschlands
anders gewesen. Hier hatten die Frauen eher vor oder nach der Ehe unterrichtet und
nur wenige waren ihrer musikalischen Karriere an der Seite ihres Mannes unter
meist besonderen Lebensumständen weiter nachgegangen. In der ungezwungeneren
Wiener Gesellschaft hingegen war dies offenbar leichter möglich.
Dennoch: Es gab auch Virtuosinnen, die sich ihre Zukunft nicht eigentlich an
der Seite eines Mannes vorstellten, wie etwa Josepha von Aurnhammer (1758–
1820), für die Clavierspiel und Unterrichten nicht nur finanzielle Ursache hatte, war
doch ihr Mozart geschilderter Plan, nach Paris zu gehen, und sich dort völlig zur Pianistin ausbilden zu lassen. „Ich bin fast täglich nach Tisch bey H:v: Auerhammer;
– Die freulle ist ein scheusal! – spielt aber zum entzücken; nur geht ihr der Wahre,
feine, singende geschmack im Cantabile ab; sie verzupft alles. sie hat mir ihren Plan
|: als ein geheimnüss :| entdeckt, der ist noch 2 oder 3 Jahr rechtschaffen zu studiren, und dann nach Paris zu gehen, und Metier davon zu machen. – Denn sie sagt,
ich bin nicht schön; o cantraire hässlich. einen kanzley Helden mit 3 oder 400 gulden mag ich nicht heurathen, und keinen andern bekomme ich nicht; mithin bleib
ich lieber so, und ich will von meinem talent leben. und da hat sie recht; sie bat
1168
1169
1170
328
Übersicht es gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien, Clavierspieler. Künstler
und Professoren, in: VLB 31. 5. 1808, S. 47–56, hier S. 51.
Auf die Bedeutung des Wortes „clavierlehrer, claviermacher oder claviermeister“ als
„lehrer“ verweist auch Grimm Bd. 11, Sp. 1041.
Siehe die handschriftl. Biografie zu Aloys Wolf, AGWM.
mich also ihr beyzustehen, um ihren Plan ausführen zu können. – aber sie möchte es
niemand vorher sagen“, so berichtete Wolfgang Amadeus Mozart, der Josepha von
Aurnhammer seit Frühjahr 1781 für zwei Jahre Stunden erteilte, am 27. Juni 1781
an seinen Vater.1171 Schülerin und Lehrer traten mehrfach gemeinsam auf, er widmete ihr einige seiner Kompositionen1172, sie überwachte den Druck verschiedener
Werke ihres Lehrers. Und das Urteil Mozarts über ihr Spiel änderte sich entscheidend: Am 16. April 1789 schrieb er: „Häßler spielt auch, – auf dem forte piano finde ich nun die Auerhammer eben so stark; du kannst dir nun vorstellen daß seine
schaale ziemlich sank.“1173 Letztendlich dürfte Josepha von Aurnhammer eine der
begabtesten, wenn nicht die begabteste der Schülerinnen Mozarts überhaupt gewesen sein.1174
Wir begegnen mit Josepha von Aurnhammer einem neuen Zeitgefühl: Beruf ist
nicht mehr nur ‚Berufung’, sondern die Berufswahl wird individueller und rationaler betrachtet. Die Forderung nach freierer Berufswahl und die Betonung des ‚bürgerlichen Leistungsgedankens’ wurden immer stärker. Josepha von Aurnhammers
Zukunftswunsch und Berufsziel erfüllte sich nur teilweise: Sie heiratete 1786 den
Magistratsrat Johann Bessenig. Gleichzeitig jedoch setzte sie ihre Karriere unter ihrem Mädchennamen fort. Um 1800 gab sie fast jährlich ein eigenes Konzert im
Wiener Burgtheater1175 (ihre Auftritte lassen sich bis 1813 verfolgen), wenn auch
ihr nunmehr als altmodisch empfundenes Spiel in späteren Jahren auf Kritik stieß.
Außerdem veröffentlichte sie zahlreiche Kompositionen für ihr Instrument, von denen nur ein Bruchteil überliefert ist. Das Unterrichten bildete in ihrem Leben eine
feste Konstante. Bereits 1787 berichtete Cramer in seinem Magazin der Musik:
„Die Madame Aurenhammer ist eine ausgezeichnete Musikerin im Clavier, worin
sie auch Stunden giebt.“1176 Das Jahrbuch der Tonkunst vermerkt 1796 u. a.: „Für
junge Damen ist es eine erwünschte Gelegenheit an ihr ein Frauenzimmer von so
1171
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1176
Brief W. A. Mozarts an seinen Vater, München 27. 6. 1781, Mozart BR, Bd. 3, S. 12–
15, hier S. 12.
Es handelt sich um KV 296, 376–380.
Brief W. A. Mozarts an seine Frau, 16. 4. 1789, Mozart BR, Bd 4, S. 82–84, hier S. 83.
Abt Stadler berichtet: „Als er [Mozart] nach Wien kam und seine sechs Sonaten für
Klavier und Violine bei Artaria stechen und der Auernhammer widmen ließ, nahm er
mich zur Probe (mit), Artaria brachte den ersten Abdruck mit, die Auernhammer spielte
das Fortepiano, Mozart begleitete statt auf der Violine auf einem zweiten nebenstehenden Fortepiano, ich war ganz entzückt über das Spiel des Meisters und der Schülerin,
ich habe niemals mehr in meinem Leben so unvergleichlich vortragen gehört.“ zitiert
nach Haas, S. 83 .
Vgl. Gänsbachers Bericht: „Um diese Zeit brillirte vorzüglich eine Madame Auerhammer als Klavierspielerin. Ich wurde oft zu ihren musikalischen Unterhaltungen geladen
und accompagnirte ihr gewöhnlich mit dem Violoncello. Am Norma-Tag in den Fasten
gab sie immer Concert im Burgtheater, von Baron Braun, damaligem Pächter, besonders begünstigt.“ Gänsbacher, S. 19.
Cramer MAG, Eintragung vom 23. 4. 1787, nach Mozart DL, S. 146–147.
329
großen Talenten zur Lehrerinn zu finden.“1177 Die Vaterländischen Blätter für den
Österreichischen Kaiserstaat von 1808 zählen Josepha von Aurnhammer – wie Anna Wolf, geborene Mrasek – in der Kategorie der Clavierspieler. Künstler und Professoren zu „den vorzüglichsten der hiesigen Claviermeister“.1178 Mario R. Mercado
vermutet, dass sie in ihrem Unterricht Materialien Mozarts wie etwa die Sonata facile in C-Dur, KV 545, verwendet habe.1179
Josepha von Aurnhammer: eine eigenwillige Frau, die gezielt auf einen Beruf
hinarbeitete, die ihre Karriere strebsam verfolgte, eine selbstbewusste Entscheidung
getroffen hatte, ihre Ziele nicht aus den Augen ließ und sie recht erfolgreich verwirklichte. Sie war eine beliebte Lehrerin für Damen; sie war es, die seinerzeit 1782
anstelle Maria Anna Mozarts das Angebot bekam, in einem Salzburger Haus gegen
festes Gehalt zu unterrichten – ein Angebot, das sie wohl ausschlug. Als Ehefrau
und Mutter machte sie sich an der Seite eines Nicht-Musikers einen Ruf als Virtuosin, Komponistin, Editorin (Mozart’scher Werke) und als Clavierlehrerin. Und: Josepha von Aurnhammer war eine Frau, die nach dem Modell lebte, das Wolfgang
Amadeus Mozart für eine begabte Frau für so angemessen erachtete, dass er dieses
auch seiner eigenen Schwester gewünscht und zugebilligt hätte.1180
Caroline Krähmer
Karriere als Virtuosin machte auch Caroline Krähmer, geborene Schleicher, und
dies mit einem für Frauen völlig untypischen Instrument: der Klarinette – ein Umstand, auf den in nahezu jeder Rezension hingewiesen wurde. Hierzu einige ‚Kostproben’ aus dem Jahre 1822: „Ein anderes in seiner Art seltenes Concert gab uns
erst vor wenigen Tagen in dem Saale des Museums Dem. Schleicher aus Manheim,
Virtuosin auf der Klarinette, und zwar mit nicht geringem Beyfall, den sie ihrer zarten, nicht selten kraftvollen Behandlung dieses Instrumentes verdankt.“1181 Im Dezember berichtete (wie auch eben) die AMZ: „Diese talentvolle Frau, die uns schon
vor einem Jahre als Virtuosin auf zwey schwierigen Instrumenten überraschte, gewährte auch diessmal vieles Vergnügen, und wenn auf einer Seite weibliche Zartheit sich abspiegelte, so prädominirte auf der andern männliche Kraft in hoher
Kunstvollendung.“1182 1842 kritisierte die Allgemeine Wiener Musik=Zeitung ihre
„Behandlung des Instruments“ ganz direkt als „zu weiblich“1183, während sich 1862
1177
1178
1179
1180
1181
1182
1183
330
JBT, Artikel Bösenkönig.
Übersicht es gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien, Clavierspieler. Künstler
und Professoren, in: VLB, 31. 5. 1808, S. 47–56, hier S. 51.
Mario R. Mercado, Mozart through his Piano Students, in: Mary Ann Parker (Hrsg.),
Eighteenth-Century Music in Theory and Practice. Essays in Honor of Alfred Mann,
Stuyvesant NY 1994, S. 205–226, hier S. 211.
Siehe dazu auch Unseld AP, S. 41–52.
AMZ 1822, Sp. 151.
AMZ 1822, Sp. 797.
AWMZ 16. 4. 1842, S. 190.
die Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung folgendermaßen äußerte: „Sie excellirt besonders im sotto voce, und äussert wohlthuend ist jene zarte Weiblichkeit, die
sie in ihrem Spiele nie die Grenzlinie überschreiten lässt. Hier wäre es überflüssig,
die sonst dem schwachen Geschlechte gebührende Nachsicht anzusprechen.“1184
Caroline Krähmer stammte nicht aus Wien, sondern aus Stockach bei Konstanz am Bodensee. Sie gehörte zu einer bekannten Künstlerfamilie – kein Wunder,
bei den beiden „heterogenen Instrumenten“1185, die sie neben dem Clavier spielte:
Violine und Klarinette. Mit ihrem Vater, dem Fagottisten Franz Josef Schleicher,
und nach seinem Tode auch allein, unternahm sie Konzertreisen durch Deutschland,
Österreich und die Schweiz. 1822 lernte sie in Wien ihren späteren Ehemann Johann Ernst Krähmer kennen, mit dem sie weitere Konzertreisen unternahm. Sie gebar zehn Kinder und lebte nach dem Tode ihres Mannes in Wien als Musiklehrerin.
Doch auch in früheren Jahren scheint sie unterrichtet zu haben. Bei Wurzbach ist zu
lesen: „Nach ihres Vaters (1819 zu Pforzheim erfolgten) Tode gab sie das Unterrichtertheilen, welches sie bis dahin betrieb, auf, machte Kunstreisen, ließ sich in
den größeren Städten Deutschlands auf beiden Instrumenten hören und gefiel
sehr.“ 1186 Wann das Stundengeben begann, wird aus dieser Ankündigung nicht
deutlich, dennoch ist anzunehmen, dass dies bereits in jungen Jahren geschah, wenn
man die Altersangaben bedenkt, in denen Andere – Männer wie Frauen – zu unterrichten begannen. Und so soll der Unterricht Caroline Krähmers als der einer Art
‚Grenzgängerin’ in eine neue Ära nach 1815 hier Erwähnung finden.
Einen konkreteren zeitlichen Hinweis liefert ein Schreiben der „Großherzoglich[en] Badischen Hof=Musik und Theater=Intendanz Carlsruhe“ vom 18. Juni
1822. Hier heißt es: „Der Tonkünstleriñ Caroline Schleicher, aus Stokach gebürtig,
wird hiermit bezeugt, daß sie während ihres mehrjährigen hiesigen Aufenthaltes
Klavier und Gitarre Unterricht mit vielem Nutzen für die Schüler gegeben hat und
sowohl in den Winter-Concerten des hiesigen Museums als im großherzoglichen
Hof Garten so wie noch gestern in einem dahier gegebenen Concert auf der Clarinette und Violine mit allgemeinen Beÿfall sich hat hören lassen. Dieselbe kann daher nicht nur als gebildete Künstlerin sondern auch ihres anständigen Benehmens
wegen überall empfohlen werden.“1187
1184
1185
1186
1187
BAMZ 1826, S. 87.
Wurzbach.
Wurzbach. Ein ähnlicher Hinweis findet sich bei Schilling ENC.
Kraehmer Varia, Nr. 6. Ich danke Herrn Roland Schmidt-Hensel, SBB, herzlich für den
Hinweis.
331
Schreiben der „Großherzoglich[en] Badischen Hof=Musik und Theater=Intendanz
Carlsruhe“, 18. 6. 18221188
1188
332
Abdruck mit frdl. Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Musikabteilung mit
Mendelssohn-Archiv.
Aus ihren Witwenjahren gibt es ein authentisches Zeugnis anderer Art in den Tagebüchern der Marie von Ebner-Eschenbach, die eine Clavierschülerin Caroline Krähmers war (wenn sie auch nicht gern Clavier spielte): „Meine Leiden beim Tanzunterricht zählten nicht im Vergleich zu jenen bei den Klavierstunden, die eine Frau
Krähmer uns erteilte. Eine strenge Lehrerin und nicht bloß gegen mich, die musikalisch völlig Unbegabte, sondern auch gegen meine Schwester, die, talentvoll und
fleißig, eine freundliche Behandlung verdient hätte. Doch erlitten auch ihre Finger
harte Zurechtweisungen mittels eines Stabes aus Elfenbein, den Frau Krähmer immer bei sich führte und meisterhaft zu gebrauchen verstand. Seine Aufgabe war, die
Noten anzuzeigen, auf die man eben seine Aufmerksamkeit zu richten hatte, aber er
trieb mit Eifer eine Nebenbeschäftigung. Er sauste mit einer Sicherheit, die nie verfehlte, und einer Kraft, die nie versagte, auf den Finger nieder, der sich einer Abirrung von der richtigen Taste schuldig machte. Er traf den Knöchel so hart, daß es
klapperte, und flog gleich wieder zu den Noten empor, und die hätte man genau unterscheiden sollen, wenn einem die Augen in Tränen schwammen? Einen Einwand
zu erheben, wagten wir nicht; dazu war Frau Krähmer viel zu imposant. Nur eine
der anderen vertrauten wir an, daß wir doch recht arme Kinder wären mit einem
Drachen als Gouvernante und einer mitleidslosen Klavierlehrerin. Ganz regelmäßig
schloß mein Morgengebet mit dem dringenden Flehen: ,Lieber Gott, mache, daß
Frau Krähmer heute nicht kommt!’ [...] Mein Gebet wurde nie erhört. Jeden Morgen mit dem Glockenschlag der zehnten Stunde sahen wir von unserem Fenster aus
die Gefürchtete pflichttreu und pünktlich auf den Gang treten.“ Ihre Kleidung erschien dem Mädchen wuchtig und ausladend und sie fand es „seltsam“, „wenn sich
aus dieser weitläufigen Umhüllung eine mittelgroße, feine Gestalt herausschälte,
der man die Kraft nicht zugetraut hätte, eine so schwere Last zu schleppen. Mit augendienerischer Beflissenheit suchten wir uns dabei unserer Lehrerin nützlich zu
machen. Dann nahm eine von uns beiden Platz am Klavier, die andere setzte sich
ans Fenster, faltete ein Blatt ihres Grammaireheftes vierfach zusammen und trug in
die so hergestellten Abteilungen die Conjugaison eines Verbes gedankenlos und
mechanisch ein. Beim Fortgehen ermahnte uns Frau Krähmer, fleißig zu üben, und
trabte fort auf Stiefeln, in ihrer Art ebenso wuchtig wie der Mantel. Mademoiselle
spöttelte ihr nach, sie trage die Kleider ihres verstorbenen Gatten zum Andenken an
ihn. Dieser unwürdigen Zuhörerin hatte sie erzählt, daß ihr Mann ein ausgezeichneter Musiker gewesen, vom Unglück aber immer verfolgt worden war. Seine Familie
blieb, als er starb, in Armut zurück. Seitdem erwarb die Mutter das tägliche Brot für
sich und für ihre fünf Kinder. Um auch nur zu ahnen, was das heißt, waren wir nicht
gescheit genug. Zwei ihrer Söhne wollten auch Musiker werden. ,Der ältere ist ein
Genie’, sagte Madame Krähmer, ,und wird ein großer Künstler und sehr berühmt
und reich werden.’ Bis dahin muß sie aber ,courir le cachet’ und Unterricht geben
im Klavier, das noch dazu gar nicht ,son instrument’ ist. Ihre Meisterschaft übt sie
aus auf der – man denke! –, auf der Klarinette! Mademoiselle fand kein Ende mit
Witzeleien über diese Klarinette. […] Wir in unserer Abneigung gegen Frau Krähmer gingen gern auf diese Scherze ein und freuten uns wie auf eine große Ergötz-
333
lichkeit, als Großmama uns eines Tages ankündigte: ,Frau Krähmer gibt ein Konzert im Musikvereinssaale, und ihr dürft mich dahin begleiten.’“1189
Neben biografischen Details verrät diese Passage Einiges vom Leben der
Clavierlehrerin. Jeden Morgen pünktlich um zehn Uhr erschien sie zur vereinbarten
Stunde. Sie unterrichtete gegen den cachet, die Marke. Während die eine Schülerin
am Clavier saß, beschäftigte sich die andere im Hintergrund „gedankenlos“ mit
französischer Grammatik. Die ganze Beschreibung der äußeren Erscheinung Caroline Krähmers, der eigentliche Unwille der Künstlerin gegen das Unterrichten, das
Warten auf bessere Zeiten (wenn der Sohn sein Glück gemacht habe) – all dies verweist in seinem Selbstverständnis, in der Sicht der Dinge und der Darstellung von
Realitäten wie Gefühlen in spätere Zeiten. Der Kontrast zu Josepha von Aurnhammers hartnäckigem Berufswunsch könnte kaum stärker sein.
Das Konzert wird nun durch Marie von Ebner-Eschenbach ausgiebig beschrieben. Es entlockte den Kindern höchste Bewunderung. Die Virtuosität der Lehrerin,
ihr Können und der Glanz des Abends vermochten die Abneigung der Kinder gegen
die ungeliebte Clavierlehrerin in Bewunderung zu verkehren, die so weit reichte,
dass sich die kleine Marie sogar mit „Mademoiselle“ anlegte, als diese noch einmal
spottete.1190
Am Hofe: Josepha Müllner-Gollenhofer und Catharina Cibbini-Koželuch
Eine weitere öffentlich bekannte Virtuosin war die bereits erwähnte Jospeha Müllner-Gollenhofer. Wirkten alle bisher genannten Clavierlehrerinnen in bürgerlichem
Umfeld, in Liebhaberkonzerten und Adels- sowie gehobenem Bürgerstand, so hatte
diese Harfenistin eine Anstellung am Hofe erlangen können. Am Wiener Hof wurde
Musik außerordentlich groß geschrieben, hatte doch das eigene Musizieren in der
kaiserlichen Familie eine lange Tradition.1191 Dabei war der Hof als volkszugänglich bekannt und beliebt1192, wie es auch Josepha Müllner-Gollenhofers biografische Erzählung zeigt.1193 Diese Künstlerin erreichte eine außergewöhnliche Anstellung als Mitglied der Hofkapelle, wobei es sicher auch ihr Instrument, das ‚Fraueninstrument’ Harfe war, das diesen Schritt ermöglichte.
In einem anders gearteten Anstellungsverhältnis stand Catharina Cibbini-Koželuch. Ihr, der ältesten Tochter des Komponisten Leopold Anton Koželuch, gebührte laut Schilling „unbestritten der erste Rang unter den vorzüglichsten Clavier-
1189
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1191
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1193
334
Ebner-Eschenbach, S. 788–789.
Zu einer weiteren Interpretation dieser Textstelle s. a. Hoffmann Klavier.
Siehe etwa Elisabeth Hilscher, Mit Leier und Schwert. Die Habsburger und die Musik,
Graz-Wien 2000 und Johan A. Rice, Empress Marie Therese and Music at Viennese
Court 1792-1807, Cambridge 2003.
Siehe dazu etwa die Schilderung im 18. Brief vom 8. 1. 1809, in: Reichardt.
Siehe Anhang.
spielerinnen der Hauptstadt Wien“1194. Sie ließ sich seit 1805, also als Erwachsene,
öffentlich hören. Auch nach ihrer Verheiratung mit dem Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Anton Cibbini lebte sie als Virtuosin im Licht der Öffentlichkeit. Sie führte
den Doppelnamen Cibbini-Koželuch und sicher unterrichtete sie auch, sonst wäre
ihr wohl später der Unterricht am Hofe nicht angetragen worden. Ihr kranker und
verschuldeter Mann lebte seit 1832 im Spital der Barmherzigen Brüder in Brünn.
Catharina Cibbini-Koželuch hatte in diesen Jahren der Krankheit ihres Mannes
nicht nur für den eigenen Unterhalt und den ihrer Familie, sondern auch für die
Pflegekosten ihres Gatten zu sorgen. Robert und Clara Schumann drängen sich als
Parallele auf, doch standen der Wienerin anders geartete Möglichkeiten offen als
Clara Schumann, denn sie war im Jahr 1831 anlässlich der Vermählung des Kronprinzen Ferdinand mit Prinzessin Maria Anna von Sardinien zu deren erster Kammerfrau ernannt worden.1195 Auch Leopold Anton Koželuch war lange am Wiener
Hof tätig gewesen: Seit 1792 k. k. Kammer-Kapellmeister und Hofmusik Compositor gab er am Hofe auch Clavierunterricht. Zu seinen Schülerinnen zählte u. a. von
1804 bis 1810 Marie Luise, die älteste Tochter Kaiser Franz II.1196 Die höfische Tätigkeit Catharina Cibbini-Koželuchs ist sicher in Verbindung mit dem Unterricht zu
sehen, den sie der Erzherzogin Friederike Dorothea Sophie erteilte, der Schwiegermutter Kaiserin Elisabeths. Auskunft darüber gibt ein kurzer Eintrag in einem der
Beethoven’schen Konversationshefte des Jahres 1825, also noch vor Beginn der
Zeit ihrer Anstellung am Hofe: „Die E:[rz] H[erzogin] Sophie wird von der Cibbini
unterrichtet.“ 1197 Die ehrgeizige Erzherzogin Sophie, geborene Prinzessin von
Bayern (1805–1872), war seit dem 4. November 1824 mit Franz Karl, Erzherzog
von Österreich verheiratet. Sie avancierte schon bald zur heimlichen Kaiserin und
ebnete möglicherweise Catharina Cibbini-Koželuch den Weg in den höfischen Rahmen, der durch ihren Vater vorbereitet worden war.
Als weitere Schülerin Catharina Cibbini-Koželuchs galt ein gewisses Fräulein
Eskeles.1198 Alexander Wheelock Thayer, Geschäftsmann und wichtiger BeethovenBiograf, erwähnt am 11. September 1825 eine Gesellschaft, in der er u. a. eben Catharina Cibbini-Koželuch und das Fräulein Eskeles traf. Beide waren von Beethovens Spiel ungemein angetan.1199 Eine Familie Eskeles erwähnt auch Johann Friedrich Reichardt in seinen Vertrauten Briefen. Die meisten dieser Einträge beziehen
sich auf die Cembalistin Zippora Wulff (1760–1836), spätere Cäcilie von Eskeles,
eine Schwester Fanny von Arnsteins. Beide waren Töchter des Berliner Bankiers
und Hofjuden Daniel Itzig, einem wichtigen und politisch aktiven Mann. Die beiden
1194
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1199
Schilling ENC.
Zu Musikerinnen in Diensten im Frauenzimmer einer Fürstin siehe Koldau, S. 509–
512.
Siehe Jiří Mikuláš: Leopold Koželuch, in: MGG 1999.
Beethoven KH, Bd. 7, S. 308.
Zur Familie Eskeles s. a. IBB.
Thayer, S. 243–245.
335
Schwestern Franziska (Fanny) und Caecilie Itzig verheirateten sich nach Wien.1200
Ihre Ehemänner Nathan Arnstein und Bernhard Eskeles leiteten hier das angesehene
Bankhaus Arnstein & Eskeles. Die beiden Schwestern Cäcilie von Eskeles und Fanny von Arnstein (letztere Mitgründerin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien)
führten elegante Salons, in denen sich Künstler, Musiker und Intellektuelle trafen.
Außerdem waren beide wie ihr Vater politisch stark engagiert. Dass Catharina Cibbini-Koželuch in diesen Kreisen verkehrte und eine Tochter der Philanthropin Cäcilie von Eskeles im Clavierspiel unterrichtete, erscheint nur logisch in Anbetracht ihrer eigenen politischen Aktivitäten späterer Jahre. Mit der Tochter ist Baronesse
Marie (auch Marianne) von Eskeles (1801–1862), spätere Gräfin Wimpffen, gemeint. Sie taucht mehrmals in Beethovens Konversationsheften auf. Hier findet sich
auch der Hinweis: „Hast du die Cibbini / noch spielen ge- / hört? – Sie war ausgezeichnet. – Sie unterricht die / Eskeles.“1201 Eine Schwester Bernhard von Eskeles’
mit Namen Eleonore taucht in den Briefen der Familie Mozart auf. 1202 Und ein
Sohn mit Namen Dionis (Denis) von Eskeles, seines Zeichens Bankier und Großhändler, wirkte als Cellist bei den Musikalischen Uebungen im Hause der Maria
Theresia Paradis mit. 1203 Bruder und Schwester, Dionis und Marie von Eskeles,
wurden von Reichardt als „allerliebst“, „schön“ und „fast zu gescheit“ bezeichnet. 1204 Diese Schülerin Catharina Cibbini-Koželuchs stammte also ebenfalls aus
hohen und äußerst einflussreichen Kreisen, war zudem gebildet und besaß einen
musikalischen Hintergrund. Der Unterricht dürfte sich auf hohem Niveau abgespielt
haben.
Catharina Cibbini-Koželuchs berühmteste Schülerin jedoch war unbestreitbar
Leopoldine Blahetka (1809–1885). In der vom Vater der Clavierspielerin verfassten
Biografie heißt es dazu: „ganz vorzüglich einflussreich war das unübertreffliche /
Spiel / der Frau von Cibbini-Kozeluch, welche in verschiedenen Perioden bedeutende Compositionen mit der Kleinen einstudierte, u. nach welcher sich das Spiel derselben hauptsächlich modelte.“ 1205 Leopoldine Blahetka galt als musikalisches
Wunderkind. Der Einfluss Catharina Cibbini-Koželuchs dürfte über Jahre, vielleicht
sogar bis 1830, als die Familie Blahetka nach Frankreich zog, immer wieder
spürbar gewesen sein, wenn diese auch nur in einer Art projektbezogenem Unter1200
1201
1202
1203
1204
1205
336
Insg. gab es 15 Geschwister. Eine weitere Schwester wurde als Musikerin und Salonnière bekannt: Sarah, verh. Levy. Sie galt als ausgezeichnete Cembalistin, war Schülerin W. Fr. Bachs und Gründungsmitglied der Berliner Singakademie, außerdem eine
Großtante Fanny Mendelssohn-Bartholdys und trat mit ihrer Schwester Cäcilie/Zippora
in den 1790er Jahren als Cembalistin im Hause ihres Schwagers Fließ auf.
Beethoven KH, Bd. 8, S. 160.
W. A. Mozart an seinen Vater, Wien 11. 9. 1782, in: Mozart BR, Bd. 3, S. 227–228.
Siehe Ullrich MS, S. 190, 191.
Reichardt, 17. Brief vom 31. 12. 1808 Bd. 1, S. 223–236, hier S. 231.
Joseph Blahetka, Biographie seiner Tochter Leopoldine, nach Rössl, S. 171–173. Das
Autograf befindet sich in AGMW.
richt Hinweise zu speziellen Stücken an die junge Künstlerin weitergab. Eine langjährige Wegbegleiterin wäre Catharina Cibbini-Koželuch demnach für Leopoldine
Blahetka gewesen. Vermutlich hatte sie die junge Clavierspielerin bereits in frühen
Jahren, in den Zeiten, da das Mädchen noch von der eigenen Mutter unterrichtet
wurde und nach der Übersiedlung der Familie nach Wien in privaten Kreisen erfolgreich auftrat1206, eine zeitlang unter ihre Fittiche genommen. Bei einer solchen
Gelegenheit lernte diese ja auch ihren zukünftigen Lehrer Joseph Czerny kennen,
der in Wien als Clavierlehrer einen hohen Bekanntheitsgrad genoss und dessen
Kompositionen das junge Mädchen oft bei ihren öffentlichen Auftritten spielte. Das
Verhältnis zwischen Joseph Czerny und den Eltern Blahteka war indessen, so erfolgreich die Karriere des Mädchens auch verlief, oftmals von Zwistigkeiten überschattet, da der Lehrer den Eltern des Mädchens Eitelkeit und übermäßigen Ehrgeiz
vorwarf.1207 Möglicherweise suchte man gerade in solchen Phasen der Missstimmung den Rat Catharina Cibbini-Koželuchs. Es gibt für diese Vermutung allerdings
keinen konkreten Beleg.
Im Gegensatz zu Josepha Müllner-Gollenhofer beendete Catharina CibbiniKoželuch mit dem Eintritt in den höfischen Dienst ihre öffentliche Karriere als Virtuosin. Im Jahr 1831 wurde sie auf Wunsch der Kaiserin Maria Anna wegen ihres
Alters und häufigen Krankheiten vom Dienst als Kammerfrau entbunden. Bis zu
ihrem Tode am 12. August 1858 hatte sie das Amt der Vorleserin inne.
Musikerinnen mit kirchlicher Anbindung
Neben dem Hof und den Adelshäusern bot die Kirche Musikern einen weiteren Anstellungs- und Beschäftigungszweig. Dass dieser von Frauen offenbar seltener genutzt wurde, aber dennoch Möglichkeiten eröffnete, wurde am Beispiel Therese
Frieberths deutlich. Wie sie kam Marianna Martines (1744–1812) 1208 aus einem
kirchlich geprägten Hause. Sie galt als eine geachtete Künstlerin und war ein respektables Mitglied der Wiener Gesellschaft. Charles Burney lernte sie im Jahr
1772 kennen und beschrieb das Treffen in seinem Musikalischen Tagebuch. Zu
Burneys Vergnügen setzte sie sich an das Cembalo „ohne sich lange nötigen zu lassen oder mit falscher Bescheidenheit zu prahlen“, spielte eigene Kompositionen,
sang verschiedene Arien und akkompagnierte sich selbst.1209 Bekannt sind öffentliche Auftritte mit Wolfgang Amadeus Mozart, bei denen die beiden am Clavier vierhändige Sonaten spielten. Auch als Komponistin machte sie sich einen Namen und
1206
1207
1208
1209
Ebd.
Siehe Rössl.
Auch Martinez. Zu Marianna Martines' Biografie siehe Fremar sowie Irving Godt, Marianna, in Vienna: A Martines Chronology, in: Journal of Musicology. A Quarterly Review of Music History 1998, S. 136–158.
Burney, S. 227–229.
337
wurde 1773 Ehrenmitglied der Accademia Filarmonica von Bologna.1210 Gerade anhand ihrer Kompositionen (sie schrieb u. a. zahlreiche Messen und Oratorien) zeigt
sich Marianna Martines’ kirchlich geprägter familiärer Hintergrund.
Musikschulen
Eine Formulierung im Wiener Jahrbuch der Tonkunst von 1796 schuf die Basis für
einige Verwirrung bezüglich Marianna Martines’ Lehrtätigkeit. Hier heißt es: „Aus
Unterhaltung und aus Liebe für die Kunst hat sie fast immer eine eigene Singschule,
worinn sie vortreffliche Sängerinnen bildet, unter welchen sich die so zeitig vom
Tode dahingeraffte Frau von Dürfeld, geb. Fräulein von Hacker sich auszeichnete.“1211 Eine Schule nach unserem heutigen Verständnis scheint es allerdings nicht
wirklich gegeben zu haben. Tatsächlich ist nur diese eine Schülerin Marianna Martines’ bekannt. Obgleich es sich bei Marianna Martines’ Unterweisung um sängerische Probenarbeit und angeblich um eine Gesangsschule handelte, kann gerade dies
historische Missverständnis unser Auge noch einmal öffnen für die Schwierigkeit
der Interpretation historischer Quellen und für die verwendeten Worte mit heute oftmals leicht veränderter Bedeutung. Was ist eine Schule? Neben dem (in diesem Falle auszuschließenden) Gebäude kann es sich nach heutigem Sprachgebrauch um ein
Institut (etwa eine Musikschule), um ein Unterrichtswerk (etwa eine Clavierschule)
oder eine Unterrichtsmethode (die Schule nach der Lehrperson XY) handeln. Betrachtet man die Namen der früheren Ausbildungsstätten, so findet man die Konservatorien wie das Pariser Conservatoire national de musique et de déclamation, daneben Sophia Häßlers Weibliches Erziehungs-Institut, Elise Müllers Erziehungsanstalt für Mädchen, die von Antonia Nicolay geleitete Privatschule für Töchter gebildeter Stände oder Louise Reichardts Singschule. Das Deutsche Wörterbuch von
Jakob und Wilhelm Grimm verzeichnet unter den freien Bedeutungen des Wortes
Schule die Verwendung „als titel von büchern, die etwas bestimmtes methodisch
lehren wollen, in klavierschule, zeichenschule und ähnl“1212. Hier, im Kontext des
Artikels des Jahrbuches der Tonkunst von 1796 dürfte dem Wort Schule allerdings
noch eine andere Bedeutung zugrunde liegen, nämlich ein „Musikalischer Salon“.
Diesen hielt Marianna Martines seit 1782 regelmäßig gemeinsam mit ihrem Bruder
ab. Da sie selbst die Ausführenden, und insbesondere Therese von Dürfeld, geborene von Hacker zu Hart (1769–1795), wahrscheinlich auch ihre Freundin und Erbin
Julie von Engelhard, daneben möglicherweise die Schwestern Victoria und Sophie
von Fries und ihre eigene Schwester Antonia auf diese Aufführungen vorbereitete1213, verwendete Schönfeld den Begriff der „Singschule“, die Marianna Martines
1210
1211
1212
1213
338
Werklisten finden sich z. B. bei Fremar (hier auch Werkbeschreibungen) und Garvey
Jackson. Zeitgenössische Informationen über ihr Komponieren bei Burney-Met.
JBT.
Grimm Bd. 9, Sp. 1933.
Ich danke Herrn Irving Godt für die Auskünfte im Vorfeld zu seiner noch nicht publizierten Biografie über Marianna Martines.
„fast immer“ habe. Die Aussage, die sich hartnäckig durch die Literatur zieht, sie
habe eine Singschule (in Form eines Institutes) gegründet, muss also dringend revidiert werden.1214 Marianna Martines war als gebildete unverheiratete Frau aufgrund
ihres Erbes (ihr väterlicher Freund Pietro Metastasio hatte sie als seine Haupterbin
eingesetzt, sie erhielt 20 000 Florin, Metastasios Cembalo und seine musikalische
Bibliothek) nicht darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die (halböffentlichen) Konzerte im Hause der Geschwister Martines waren in Wien bekannt
und beliebt; Marianna Martines lebte finanziell unabhängig und sorgenfrei.
Dennoch gab es sie, die Schulen im Sinne von Musikschulen. Josepha Fischer,
die nach ihrer Heirat den Doppelnamen Fischer-Vernier angenommen hatte, „hat
sich“, so berichtet Schilling, „ausschließlich dem pädagogischen Fache gewidmet,
und leitet derzeit [1839] eine öffentliche Singschule für junge Mädchen in
Wien“.1215 Der genaue Zeitraum, in dem dies Institut bestand, ließ sich ebenso wenig feststellen wie das Programm der Singschule, die Größe, das Lehrpersonal und
auch die Tatsache, ob es weitere Unterrichtsfächer neben dem Gesang gab.
In Wien wurde außerordentlich viel musiziert, entsprechend hoch war die Nachfrage an Unterricht. „So viel Musik, als ich hier täglich höre und treibe, hört’ und trieb
ich noch nie“1216, schrieb Reichardt. Dies alles kam der einzigen unverheirateten
Frau in der langen Liste der Wiener Lehrerinnen zugute, der blinden Maria Theresia
Paradis. Im Anschluss an eine Karriere als Virtuosin gründete sie eine Musikschule
in den Räumen ihres verstorbenen Vaters im Haus Zum Schab den Rüssel in Wien.
Maria Theresia Paradis bot hier Stunden in Clavierspiel, Gesang und Musiktheorie
an. Die Schule konnte sich schnell etablieren.
Nun, Maria Theresia Paradis war als Kind erblindet. Sie hatte von Kaiserin
Maria Theresia eine Gnadenpension zugesprochen bekommen, sie hatte im Zuge
ihrer Kur durch den Magnetiseur Anton Mesmer, welche ihr das Augenlicht wiederbringen sollte, Aufsehen erregt1217, sie korrespondierte mittels der eigens für sie gebauten Handdruckpresse mit Persönlichkeiten wie dem Dichter Gottlieb Konrad
Pfeffel oder der Schriftstellerin Sophie de la Roche. Die öffentliche Aufmerksamkeit jedoch, die ihr als blinder Virtuosin gezollt wurde, behagte ihr nicht. Nach
1214
1215
1216
1217
Für Hinweise danke ich den Herren Irving Godt und Prof. Dr. Biba, Gesellschaft der
Musikfreunde in Wien.
Schilling ENC.
Reichardt, 18. Brief vom 8. 1. 1809, Bd. 1, S. 237–248, hier S. 240.
Speziell die Blindheit und damit zusammenhängenden Heilungsversuche Mesmers
Maria Theresia Paradis’ behandeln z. B. Tischner/Bittel, Zweig, Ullrich Mes, Stefan Evers, Der Fall der Maria Theresia Paradis (1759–1824). Zur Behandlung einer
(hysterischen?) Amaurose bei einer Musikerin mit Musik und Suggestion, in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 1991, S. 122–127 und Justinus Kerner,
Franz Anton Mesmer aus Schwaben. Entdecker des thierischen Magnetismus,
Frankfurt 1856. S. a. Matsushita und Fürst, bes. S. 37–50.
339
1786, als sie von ihrer Kunstreise1218 zurückkehrte, konzertierte sie nur noch selten.
Sie fand wohltuende Betätigung nicht auf der Bühne, im Rampenlicht, sondern in
ihrem eigenen Hause, in welches sie einige ihrer Schülerinnen aufnahm, die sie – so
die zeitgenössischen Berichte – liebevoll betreute. Maria Theresia Paradis trat also
nicht den Rückzug in eine Heirat, doch in ein Frauen gemäßes Territorium an, dem
die Presse allerdings höhere Bewunderung zollte, als dies von den Instituten nördlicher Landesteile gesagt werden kann.
4.2
Die Musikalische Bildungsanstalt für Frauen der Maria Theresia
Paradis
Als Maria Theresia Paradis’ Vater am 14. Januar 1808 verstarb, eröffnete sie, vermutlich im Herbst desselben Jahres, eine Musikalische Bildungsanstalt für Frauen
in ihrer Wohnung in der Wiener Rotenturmstraße CN. 516 (später 482) im vierten
Stock. Dieser Schule war ein großer Erfolg beschieden, der einerseits auf die Leistungen der Schülerinnen, andererseits auf der großen Öffentlichkeitswirkung zurückzuführen ist, welche die Schule durch die Schulkonzerte und nicht zuletzt durch
die Faszination, welche die Blinde ausübte, erlangte. Ein wichtiger Grund für die
Schulgründung ist wohl in dem Wunsch Maria Theresia Paradis’ nach Absicherung
und Aufstockung ihrer Finanzen zu sehen: Ihre Mittel beschränkten sich auf die kaiserliche Gnadenpension sowie die Unterstützung, die sie von einer adligen, namentlich nicht bekannten Familie erfuhr. Ein Versuch, die Pension ihrer verstorbenen
Mutter zugesprochen zu bekommen, scheiterte. Jedoch beteiligte sich Johann Riedinger, der im Hause der Musikerin lebte, zur Hälfte an den Haushaltskosten.1219
Insgesamt muss es sich um ein karges Jahreseinkommen gehandelt haben, das Maria Theresia Paradis sich nun mit einer Tätigkeit, von der sie wusste, sie würde sie
ausfüllen können, aufzubessern suchte. Immerhin hatte sie bereits in früheren Jahren gelegentlich Freundinnen unterrichtet, „wodurch sie“, so ein Zeitungsbericht
des Jahres 1817, „unwissend sich selbst ein fruchtbares Samenkorn für ihre Existenz anbaute“.1220 Hermann Ullrich, der bereits Mitte des letzten Jahrhunderts begann, die überlieferten Unterlagen zu Maria Theresia Paradis systematisch auszuwerten, vermutet auch ein zusätzliches psychologisches Moment, eine Art Kompensation des Bedürfnisses nach Mütterlichkeit mittels der ihr anvertrauten Schülerinnen.1221 In ihrer Musikalischen Bildungsanstalt für Frauen lehrte sie selbst Clavierspiel und Gesang, außerdem Generalbass.1222 Josef von Blumenthal (1782–1850)
übernahm die theoretische Unterweisung in späteren Jahren. Er war Violinist am
Theater an der Wien und als Chorregent an der Piaristenkirche engagiert. Später ge1218
1219
1220
1221
1222
340
Einzelheiten zu dieser Reise siehe Fürst, S. 51–151, Ullrich KR und Ullrich London.
Ullrich MP, S. 9 und Fürst, S. 177.
AMÖ 1817, Sp. 321.
Ullrich MS, S. 187.
Siehe AMZ 1810, Sp. 472–473.
hörte er zum Kreis um Franz Schubert. Spätestens seit 1817 – zu diesem Zeitpunkt
wird seine Tätigkeit in Maria Theresia Paradis’ Schule erwähnt1223 – war er als Lehrer hier tätig.
Die Schülerinnen
Verglichen mit den übrigen Instituten sind aus der Schule der Maria Theresia Paradis erstaunlich viele Schülerinnen namentlich bekannt. Viele von ihnen stammten
aus gehobener gesellschaftlicher Stellung. Sie waren teils sehend, teils blind.
Bereits erwähnt wurde Karoline Schonz, die blinde Harfenistin, die das Instrumentalspiel (vorrangig) bei Josepha Müllner-Gollenhofer erlernte. Sie trat mehrfach
bei Maria Theresia Paradis in den Schulkonzerten auf. Nanette Sprinz galt als Musterbeispiel für die gediegene clavieristische Ausbildung, welche man von der Blinden getrost erwarten durfte: „Wie weit sie [Maria Theresia Paradis] die Ausbildung
in der Musik zu bringen vermag, sieht man an dem Fräulein Sprinz, die so fertig, so
schön, so ausdrucksvoll sie auch spielt, unter ihrer Leitung je länger je mehr Fortschritte in der Kunst macht.“1224 Maria Theresia Paradis widmete ihrer „lieben kleinen Schülerin“ eine für sie komponierte Fantasie. 1225 An Franziska Bihler, einer
weiteren Clavierschülerin, wurde der sichere und kräftige Vortrag gelobt.1226
Henriette Paris galt als die beste Clavierschülerin der Schule. Sie erlernte neben dem Tastenspiel auch das Singen, außerdem komponierte sie. Maria Theresia
Paradis hatte sie von den ersten Anfängen an unterrichtet. Die Schülerin lebte bei
ihr in Pension.1227 Über die zwölfjährige Henriette berichtete die AMZ, sie habe ein
Clavierkoncert von Eberl „mit einer Kraft und Sicherheit vorgetragen, welche man
von ihrem Alter nicht erwarten sollte.“ Dann gibt der Rezensent noch den Tipp,
„das Piano mit mehr Zartheit und schmelzenderm Ausdruck zu behandeln“ und
„das sforzando“ seltener anzuwenden, „dann dürfen wir Hoffnung fassen, einstens
eine wahre Künstlerin an ihr zu bekommen“.1228 Im Jahr 1815 verließ Henriette Paris die Schule, um zu heiraten. Laut Leopold von Sonnleithner, der in seinen Musikalischen Skizzen aus Alt-Wien die Schule seiner blinden Freundin recht genau beschrieb, war man eigentlich davon ausgegangen, dass sie einmal die Nachfolgerin
ihrer Lehrerin sein werde.1229
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1226
1227
1228
1229
AMÖ 1817, Sp. 322.
AMÖ 1817, Sp. 322.
Fantasie de Therese Paradis. Dediée à sa chère petite Nanette de Sprinz pour sa Fête
le 26. Juillet 1811, Abschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Musiksammlung. Fürst, S. 362.
Siehe Ullrich MS, S. 189.
Siehe AMZ 1810, Sp. 474.
AMZ 1810, Sp. 608.
„Unter ihren Schülerinnen ist ein Mädchen von 15 Jahren, das sich in der Tat schon
durch ihre Kunst auszeichnet und einmal ihre Lehrerin ersetzen wird.“ Der Sammler,
ein Unterhaltungsblatt, Wien 1810 II, S. 59ff, nach Ullrich MS, S. 190.
341
Fanny Diwald, ebenfalls langjährige Pensionärin bei Maria Theresia Paradis,1230 war die Nichte von deren Wirtschafterin Marie Diwald, die lange Jahre treu
in den Diensten der Blinden stand. In ihrem Testament vermachte die Lehrerin Fanny Diwald ihren Brodman-Flügel, sicherlich ein besonderer Beweis der Dankbarkeit und Zuneigung.1231 Bekannt ist ein öffentlicher Auftritt Fannys vom 19. April
1822 im großen Musikverein zugunsten der beiden jungen Violinvirtuosen Anton
und Carl Ebner, bei welcher Gelegenheit die Clavierspielerin den ersten Satz eines
Konzerts ihrer Lehrerin und Variationen von Johann Hugo Worzischek zu Gehör
brachte.1232 Im selben Jahr berichtete die AMZ über eine weitere „junge talentvolle
Schülerin der Fräulein Paradies“, welche im Augartensaal bei einem Konzert eines
Herrn Clement, einem Geiger, ein „Pianoforte-Concert von Ries, recht beyfallswerth gespielt“ habe.1233 Weitere Clavierschülerinnen waren Marie und Ernestine
de Boscalle1234 und Elisabeth Kupelwieser, die Nichte einer Freundin ihrer Lehrerin. Letztere verheiratete sich später mit dem Violinisten Georg Hellmesberger. 1235
Das Stammbuch der Maria Theresia Paradis nennt noch Emilie Mahlenstein 1236 ,
Franziska und Josephine Dolanskaja1237, Marie Wagner1238 sowie Luise und Henriette Stetter1239. Bei der Schülerin Nanette Mathes, geborene Schönfeld1240 handelt
es sich wohl um die Tochter des Verlegers Johann Ferdinand Schönfeld, dem
Herausgeber des Jahrbuch[es] der Tonkunst von Wien und Prag. Hierin sind zwei
weitere Schülerinnen von Maria Theresia Paradis zu finden, nämlich Katharina und
Justine von Krufft. Beide waren von ihrer Mutter Maria von Krufft zunächst selbst
unterrichtet worden, übten sich aber nun, im Jahre 1796, „seit einiger Zeit unter der
Leitung des Fräuleins Paradis“.1241 Sie gehörten also wohl zu den eingangs erwähnten Freundinnen, welche die Musikerin in früheren Jahren, noch vor der Schulgründung, unterrichtet hatte.
In einem Konzert am 24. März 1811, einer der Musikalischen Uebungen, traten ein Fräulein Emma von Mahler, Therese Zimmermann sowie die zwischen neun
1230
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342
Ullrich MS, S. 189.
„Achtens der Niece meiner Wirtschafterin, Nahmens Fanny Diwald, welche bey mir in
Verpflegung ist, legiere ich mein Brodmannisches Fortepiano.“ Testament der Maria
Theresia Paradis, nach Wanecek, S. 173.
Ullrich MS, S. 189.
AMZ 1822, Sp. 464.
Siehe die Stammbucheinträge S. 334/335 vom 14. 10. 1812, nach Ullrich MS, S. 189
und Ullrich St, S. 381.
Ullrich MS, S. 189.
Stammbucheintragung Nr. 119 vom 15. 7. 1818, siehe Ullrich St, S. 381.
Stammbucheinträge Nr. 331/332 vom 29. 10. 1809, siehe Ullrich St, S. 381.
Stammbucheintragung Nr. 327 vom 21. 11. 1821, siehe Ullrich St, S. 381.
Stammbucheintragung Nr. 121 vom 15. 5. 1823, siehe Ullrich St, S. 381.
Stammbucheintragung Nr. 330 vom 4. 10. 1806, siehe Ullrich St, S. 381.
JBT.
und elf Jahre alten Mädchen Tonina Ferrari, Sophie Ascher und Therese Lauda gemeinsam mit Nanette Sprinz auf. Ihre Namen werden im Tagebuch des Mathias
Perth genannt, eines musisch begabten und interessierten österreichischen Beamten. 1242 Ein Fräulein Babet Jackl sang und spielte bei der siebten Musikalischen
Uebung am 14. April 1811 eine Arie. Außerdem waren bei dieser Gelegenheit Therese Ferrari, Ernstine von Pascal, Nanette Sprinz, Tonia Ferrari, Sophie Ascher,
Henriette Paris und Therese Zimmermann mit Clavierwerken von Ignaz Pleyel, Muzio Clementi, Louis F. Jadin, Ludwig van Beethoven und Friedrich Himmel zu hören.1243 Die Biografin Marion Fürst nennt als weitere Schülerinnen eine Freiin von
Trenk, Rachela von Bussetti, Marie und Elise Margarit, Anna und Amalie Schupp,
sowie Henriette und Antoinette Keresztury.1244
Obschon vorwiegend und laut Namensgebung für Mädchen und Frauen bestimmt, gab es wie bei Louise Reichhardt auch (zumindest einen) Jungen, der in der
Musikalischen Bildungsanstalt für Frauen der blinden Virtuosin unterwiesen wurde. Es handelte sich um Alexander Schupp, der 1817 als Neunjähriger in einem
Wohltätigkeitskonzert auftrat und gemeinsam mit einem Mädchen namens Bibra
(gemeint ist Maria Freiin von Bibra) ein Konzert für zwei Claviere von Joseph
Schuster spielte.1245
Die Unterrichtsmethode der Maria Theresia Paradis
Die Vaterländischen Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, Jahrgang 1808,
berichten, dass „die in Inn- und Auslande rühmlich bekannte blinde Clavierspielerinn, Fräul. Therese v. P a r a d i s“ es „durch nicht genug zu belobende Industrie,
und Beharrlichkeit nun auch so weit gebracht [habe], daß sie mit bestem Erfolge
Lectionen geben“ könne.1246 Ihre „vortrefflichen Zöglinge“, so die Wiener Allgemeine Musikalische Zeitung im Jahr 1813, unterrichtete sie nach einer „besonders
merkwürdigen“ Lehrart mittels eigens zu diesem Zwecke angefertigter Kärtchen
und einer „ein Dutzend Beispiele“ umfassenden Sammlung mit kleinen Übungsstückchen, „dann [folgt] eine größere [Schule] als Einleitung nach welcher die
Schülerinnen schon im Stande sind die Schule des Pariser Conservatoriums einzustudiren.“1247
1242
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1247
Höslinger, S. 65 und Fürst, S. 186.
Programmzettel der 7. Musikalischen Uebung am 14. 4. 1811, überliefert im Tagebuch
des Matthias Perth, abgedr. in Fürst, S. 188.
Fürst, S. 194 .
Ullrich MS, S. 189.
Uebersicht des gegenwärtigen Zustandes der Tonkunst in Wien, Clavierspieler. Künstler und Professoren, in: VLB 1808, hier S. 51. Für Maria Theresia Paradis’ eigene Bedürfnisse hatte der Freund des Hauses, Johann Riedinger, eine Notenschrift entwickelt,
die er in AMZ 1810, Sp. 905–910 genau beschrieb.
Fräulein Marie Therese Paradis. Eine biographische Skizze, in: WAMZ 1813, S. 483–
489, 493–498, hier S. 498.
343
Genaueres über Zielsetzungen und Vorgehensweisen der Lehrerin berichtet die
Allgemeine Musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat, ein Artikel, der bereits bei Ullrich 1248 und Fürst 1249 behandelt
wird. Oberstes Ziel ist es demnach, die Musik als „Sprache des Herzens“ zu wecken
und zu bilden. Maria Theresia Paradis achtete stets auf eine ruhige Körperhaltung:
„So befühlt sie daher öfters mit den Händen bey starken Passagen, so wie sie sehr
sorgfältig die gerade Haltung des Körpers und der Beine immer in gerader Richtung
erhält.“1250 Hermann Ullrich folgert aus dieser Beschreibung, dass dem Unterricht
Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen
von 1753 bzw. 1762 zugrunde lag, immer noch das Standardwerk schlechthin. Nach
diesem hatte nicht nur etwa Wolfgang Amadeus Mozart gelernt, auch Maria Theresia Paradis hatte in ihren Unterrichtsstunden bei dem Wiener Clavierlehrer Georg
Friedrich Richter anhand der Kompositionen C. Ph. E. Bachs, genauer gesagt seiner
Konzerte, die sie gänzlich spielte, „allmählich eine außerordentliche Fertigkeit im
Vortrage“ gewonnen.1251 Dieser Meister verspricht denn auch in seinem Lehrwerk,
dass der Lernende mittels der „wahren Applicatur“, also des günstigsten Fingersatzes, „wenn er anders sich nicht unnöthige Gebehrden angewöhnt hat, die schweresten Sachen so spielen [wird], daß man kaum die Bewegung der Hände siehet, und
man wird vornehmlich auch hören, daß es ihm leichte fällt; da hingegen ein anderer
die leichtesten Sachen oft mit vielem Schnauben und Grimassen ungeschickt genug
spielen wird.“1252 Die „rechte Finger=Setzung“, die „guten Manieren“ (Verzierungen) und „der gute Vortrag“ sind die drei wichtigsten Elemente guten Clavierspiels.1253 Der gute Vortrag aber besteht nach Bach „in nichts anderm als der Fertigkeit, musikalische Gedancken nach ihrem wahren Inhalte und Affect singend oder
spielend dem Gehöre empfindlich zu machen“.1254
Die Schule Koželuchs, eines weiteren Lehrers von Maria Theresia Paradis, galt
„in Betracht des wahren musikalischen Gefühls für die vortrefflichste“ 1255 – ein
Ausspruch, der wohl Paradis’ Anspruch an vollkommenen Ausdruck widerspiegelt.
Technisch gesehen dürfte sie selbst eine ähnliche Spielart wie Mozart besessen haben: ein noch vom Cembalospiel kommendes, gut ausgebildetes Fingerspiel, eine
empfindsame, an Carl Philipp Emanuel Bach geschulte Ausdrucksart mit CantabileElementen der sich erst entwickelnden Hammerclaviertechnik. Möglicherweise änderte und modernisierte sie diese Technik noch einmal an ihrem Brodman-Instru1248
1249
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1251
1252
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1254
1255
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Ullrich MP, Ullrich MS.
Fürst, S. 178-180, 183, 188-191.
AMÖ 1817, Sp. 321–322.
Fräulein Marie Therese Paradis. Eine biographische Skizze, in: WAMZ 1813, S. 483–
489, 493–498, hier S. 485.
Bach, 1. Hauptstück: Von der Finger=Setzung, §. 12., S. 18–19.
Bach, Einleitung, § 1., S. 1.
Bach, 3. Hauptstück, § 2., S. 117.
JBT.
ment.1256
Für den theoretischen Unterricht besaß Maria Theresia Paradis nach zeitgenössischer Berichterstattung eigens zu diesem Zwecke angefertigtes Lehrmaterial. Auf
kleine Kärtchen waren ausgeschnittene Noten, verschiedene Notenwerte, Versetzungszeichen, Pausen, Notenlinien und Notenschlüssel aufgeklebt, mit denen sie
mit ihren Schülerinnen spielte: „Sie gibt z. B. eine ganze Note hin, und lässt sich
den Werth derselben nach und nach in Halben, Vierteln u. s. w. dafür geben, auf andern Blättern hat sie die ganze Scala der Violin und des Basses; um die Nahmen
nach Tönen zu lernen.“ Wie bei Nina d’Aubigny geht es hier um eine Versinnlichung des theoretischen Lernstoffes. Anschließend wurde „eine kleine Schule, welche aus etwa 12 Beyspielen besteht, worin die gebundenen, stakkierten, geschliffenen, sincopirten Noten, die Triller, Mordenten, Vorschläge und Ligaturen vorkommen“ erarbeitet, Läufe und Passagen, Verzierungsmuster und Akkorde. Und „um
überhaupt sicher zu seyn, das sie überall die rechten Finger nehmen, auch die Hände schön halten, schwebt immer ganz leicht ihre Hand darüber her.“1257 Die Art der
Berichterstattung verdeutlicht den methodischen Anspruch, der mittlerweile allgemein an das Unterrichten gestellt wurde und der sich auch in vielen Artikeln der
AMZ von Autoren wie Carl Gottlieb Horstig oder Friedrich Guthmann widerspiegelt. Maria Theresia Paradis konnte diesem Anspruch offenbar völlig gerecht werden. Die Arbeitsweise und die Möglichkeiten der Blinden erregten öffentliches Interesse. U. U. ist es auch dieser Faszination zu verdanken, dass manche Leistungen
der Schülerinnen höher bewertet wurden, als hätten sie den Unterricht einer sehenden Lehrerin genossen. Johann Gänsbacher jedenfalls hielt in seinen Denkwürdigkeiten aus meinem Leben fest, er habe „öfters Productionen von ihren Schülerinnen
[gehört], die, wenn sie auch nicht ausgezeichnet spielten, doch unter ihrer Leitung
bis auf einen gewissen Grad große Fortschritte machten“.1258 Ob nun diese Berichterstattung wiederum der Wahrheit näher kommt, ist natürlich ebenfalls fraglich. Der
ganze Passus Gänsbachers über Maria Theresia Paradis ist nicht eben freundlich.
Leider wissen wir nicht, um welches Übungsheft mit „etwa zwölf Beispielen“
es sich handelte. Möglicherweise waren es von Paradis selbst zusammengestellte
Lektionen. Die offizielle Clavierschule des Pariser Conservatoire, nach welcher
dann in der Folge gelernt wurde, stammte von Louis Adam. Seine Méthode de Piano du Conservatoire erschien im Jahre 1802 und war bald das bahnbrechende Werk
des Pariser Kreises in Bezug auf eine ausgesprochene Hammerclaviertechnik. Die
Schule enthält keine Einweisung in die elementare Musiklehre mehr, wie sie in jeder Cembalo- und Clavichordschule zu finden war (daher das vorangestellte Einführungsprogramm von Paradis), sondern sie konzentriert sich ganz auf claviertech1256
1257
1258
Der Clavierbauer Joseph Brodman ist in Wien ca. 1800–1828 nachgewiesen und war
der Geschäftsvorgänger Ignaz Bösendorfers. Auch Carl Maria von Weber besaß seit
1812 einen Brodman-Flügel.
AMÖ 1817, Sp. 322–323.
Gänsbacher, S. 96.
345
nische Probleme. Zahlreiche Finger(satz)beispiele und reichlich Hinweise zu einer
guten Anschlagskultur bilden zusammen mit 50 Leçons progressives doigtées pour
les petites mains (also progressiv geordneten Übungsbeispielen mit Fingersätzen für
kleine Hände und damit vorwiegend für Kinder gedacht) sowie weiteren mit Fingersätzen versehenen Lektionen in steigendem Schwierigkeitsgrad und von verschiedenen Autoren den Kern dieser Schule.
Mit der Verwendung dieses Unterrichtswerkes demonstrierte Maria Theresia
Paradis nicht nur, dass ihre Schülerinnen dem internationalen Anspruch in spieltechnischer Hinsicht standhielten, sondern sie zeigte sich (wie auch in der Auswahl
der in den Schulkonzerten aufgeführten Stücke) auf der Höhe ihrer Zeit. Möglicherweise ist auch das von ihr intensiv gepflegte Zusammenspiel der Schülerinnen untereinander und mit musikalischen Dilettanten französisch beeinflusst. Joseph Nonot etwa beschrieb in seiner 1797 erschienenen Clavierschule Leçons méthodiques
de Clavecin et de Forte-Piano in einem Passus über den guten Vortrag die Vorteile
eines Akkompagnements durch eine erfahrene Person, da der „Wettstreit im Ausdruck, der zwischen dem Schüler und dem Akkompagnisten entsteht“, unweigerlich
den Schüler schneller weiterbringe.1259 Und er fügt einen eigenen Erfahrungsbericht
über drei seiner jungen Clavierschüler an, die regelmäßig mit guten Akkompagnisten spielten und dadurch solche Fortschritte an Ausdruckskraft und Sicherheit
machten, wie sie laut Nonot auf anderem Wege schwerlich zu erreichen gewesen
wären.1260
Schließlich ist sicher das freundschaftliche Verhältnis, der liebevolle Umgang
Maria Theresia Paradis’ mit ihren Schülerinnen nicht nur als persönlicher Wesenszug, sondern auch als Unterrichtsmethode zu werten, wie von einem guten Lehrmeister gefordert.
Die Musikalischen Uebungen
Zum pädagogischen Konzept Maria Theresia Paradis’ gehörten die seit 1809 stattfindenden Musikalischen Uebungen. Diese Hauskonzerte fanden sonntags in der
Mittagszeit statt, und zwar von November bis Jahresende sowie während der Fastenzeit vor Ostern. Die Schar der Zuhörenden war „groß“ (ein Begriff, der natürlich
in Relation zu den üblichen Veranstaltungsgrößen zu sehen ist) und „erlesen“ (womit wohl gemeint ist, dass viele namhafte Personen zum Publikum zählten). Auch
1259
1260
346
« La lutte d’expression qui s’établit entre l’éleve et celui qui l’accompagne hâte infailliblement les progrès du premier. » Nonot S. 4.
« J’ai eu une occasion particulaire de remarquer l’influence d’un accompagnateur sur
l’éducation musicale dans de très jeunes éleves confiées à mes soins pour l’étude du
Piano, et qui sont accompagnées par les C.ens Rousseau, freres, artistes dont les talents
distingués sur le Violon et le Violoncelle sont trop connus pour que j’entre dans aucun
détail à cet égard; ils sont parvenus à donner à ces enfants une expression et une
aplomp d’éxécution qu’il eut été dificile d’obtenir sans ce secours. » Nonot S. 4, Anmerkung.
die Persönlichkeit der blinden Lehrerin selbst blieb nicht ohne Wirkung: „Es ist
wirklich herzerhebend, wenn man Fr. P. im Kreise ihrer Schülerinnen sieht. Alle
hängen mit der grössten Herzlichkeit an ihr, und eifern in die Wette um ihre vorzügliche Gunst: sie hingegen lächelt eine jede mit liebender Miene an, und küsst bald
die Eine, bald die Andere. Diejenigen, welche sich zu produciren haben, werden
nach und nach von ihr aufgerufen: mit Verwunderung sieht man dann kleine, allerliebste, 9- bis 11-jährige Mädchen auftreten, und nicht selten die schwersten Sonaten mit so viel Fertigkeit, Reinheit und Ausdruck vortragen, dass es alle Erwartung
übertrift.“1261
Maria Theresia Paradis verfolgte mit ihren Musikalischen Uebungen das Ziel,
den Fleiss der Schülerinnen anzustacheln und ihnen Vorspielroutine in einem gesellschaftlich angemessenen Rahmen zu verschaffen. Sie bemühte sich um ein aktuelles und anspruchsvolles, natürlich den Möglichkeiten angepasstes Programm. So
lobt 1811 ein Rezensent der AMZ die Auswahl der vorgetragenen Kompositionen,
„indem Fräulein Paradis sich immer die Recensionen neuer Werke vorlesen lässt,
und bey der Wahl dessen, was sie ihren Schülerinnen, nach Massgabe der Fähigkeiten, giebt, sorgfältig darauf Rücksicht nimmt. Daher kömmt es denn auch, dass sie
immer gleichen Schritt mit den Kunsterzeugnissen der Zeit gehet, ohne die frühern
ausser Acht zu lassen.“1262 Auffällig ist die häufige Erwähnung sehr junger Mädchen als Vortragende, etwa 1810, ebenfalls in der AMZ: „Zwey liebe Mädchen, die
so klein waren, dass ich sie nicht sehen konnte, bis ich mich zum Clavier drängte,
spielten gar vortrefflich ein Doppelconcert von Schuster.“1263 Das Alter der Schülerinnen der Bildungsanstalt Maria Theresia Paradis’ soll i. A. zwischen sieben und
15 Jahren gelegen haben.1264 Neben den Schülerinnen wirkten „bereitwillige Kunstfreunde“ bei den musikalischen Darbietungen mit, deren viele auch zum SchubertKreis gehörten und die Gesang und Instrumentalspiel beisteuerten. Durch Zusammenspiel mit älteren und erfahreneren Musikern entstand also zusätzliche Übung.
Die Programme mehrerer Konzerte sind dank des großen Interesses der Presse an
der Schule der Blinden sowie der Tatsache, dass bei den Konzerten handgeschriebene Programme verteilt wurden, überliefert.1265 Sie sind beachtlich und es gab vielfältige, z. T. große Besetzungen. Der Berichterstatter der AMZ etwa hörte am 24.
März 1811, im „letzten Cursus dieser musikalischen Uebungen“, u. a. „ein Ottomani für zwey Pianoforte von J. Fuss [...]. Dies letzte Stück scheint eigends für vier
junge Schülerinnen zwischen 9 und 11 Jahren componirt zu seyn; auch hatte der
Verf. das lohnende Vergnügen, dass es mit der äussersten Präcision, Empfindung
und Lebhaftigkeit ausgeführt wurde und so grossen Beyfall erhielt, dass es nicht nur
1261
1262
1263
1264
1265
AMZ 1810, Sp. 473–474.
AMZ 1811, Sp. 475–476.
AMZ 1810, Sp. 474.
Fräulein Marie Therese Paradis. Eine biographische Skizze, in: WAMZ 1813, S. 483–
489, 493–498, hier S. 497.
Siehe Ullrich MuS.
347
am nämlichen Abend, sondern auch in der nächsten Musik wiederholt werden
musste.“1266 Es handelt sich dabei um ein Werk des damals bekannten Komponisten
Janos Fuss1267, das von Tonia Farrari, Nanette Sprinz, Sophie Ascher und Therese
Lauda gespielt wurde.1268 Für den Herbst und Winter des Jahres 1816 vermerkte die
Allgemeine Musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat acht Konzerte zwischen dem 3. November und dem 25. Dezember, in denen von den Schülerinnen insgesamt 29 Pianoforte-Stücke vorgetragen
wurden.1269 Auch größere Werke wie z. B. das erste Finale aus dem Don Giovanni
wurden im Lauf der Zeit einstudiert.1270 Später fanden auch Konzerte außerhalb der
Schule statt, so etwa am 16. Mai 1817 im erzbischöflichen Palais zugunsten des
Wiener Armenfonds (s. o.), bei dem die besten Schülerinnen auftraten.1271 Zu nennen ist an dieser Stelle auch das Benefizkonzert vom 19. April 1822 im Kanzleisaal
des großen Musikvereins in den Tuchlauben, in dem, wie oben berichtet, Fanny Diwald auftrat.
Als Maria Theresia Paradis am 1. Februar 1824 einem Lungenleiden erlag,
hinterließ sie, so die AMZ am 18. März, „viele, um ihren Verlust innig trauernde
Schülerinnen, in deren dankbaren Herzen ihr theures Andenken noch lange fortleben wird“ 1272 . Wenige Wochen vor ihrem Tode hatte die letzte Musikalische
Uebung stattgefunden.1273
Die Schule schloss mit dem Tod ihrer Leiterin. Sie war eng mit der Person
ihrer Gründerin verknüpft gewesen. Und dennoch – die Wiener Musikalische Bildungsanstalt für Frauen der Maria Theresia Paradis war Vorbild für die Schule eines anderen blinden Musikers in Reichenberg, die des Klarinettisten Joseph Proksch
(1794–1864). So reichte ihr musikpädagogischer Einfluss über ihren Tod hinaus.1274
1266
1267
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1274
348
AMZ 1811, Sp. 476.
Weitere Angaben zu diesem Werk finden sich bei Fürst, S. 187.
Siehe Höslinger, S. 65.
AMÖ 1817, hier Sp. 323–324.
Ullrich MuS, S. 58.
In AMÖ 1817, Sp. 181 erfolgte der Abdruck des gesamten Programmes.
AMZ 1824, Sp. 184.
Ullrich MuS, S. 58.
Siehe Fürst, S. 180–182.
5
Das Berufsbild: Zum Selbstverständnis der deutschen
Clavierlehrerinnen
Drei (Auto-)biografien von Lehrerinnen sind mir bekannt: diejenigen von Sophia
Häßler, Therese aus dem Winckel und Josepha Müllner-Gollenhofer. Alle drei sind
im Anhang in vollständigem Wortlaut wiedergegeben. Gerade anhand dieser Quellen lässt sich einiges zum Selbstbild dieser Frauen sagen. Bei den übrigen Lehrerinnen ist dies schwieriger. Nur wenig Briefzeugnisse sind überliefert, und meist ist
man auf die beschreibenden Worte ihrer Zeitgenossen, lexikalische Einträge, Zeitungsberichte oder offizielle Schreiben angewiesen, möchte man sich über das Leben dieser Frauen informieren. Der persönlichen Sichtweise der Lehrerinnen selbst
ist in diesen Quellen, eigene Briefe ausgenommen, wenig Platz eingeräumt, ja, man
kann nicht sicher sein, inwiefern Tatsachen nicht in ein gewünschtes Bild eingepasst wurden.
Die Lehrerinnen, welche bereits als Kinder unterrichteten, verstanden sich zu
diesem Zeitpunkt sicher nicht als Berufskräfte. Sie taten ganz einfach dasselbe wie
ihre Eltern. Sie waren u. U. eigens um Unterricht gebeten worden, waren vielleicht
auch stolz darauf, wie dies immer wieder in Josepha Müllner-Gollenhofers Text
durchschimmert, waren aber wirtschaftlich nicht eigenständig. Sie trugen mit ihren
Einnahmen zum Familieneinkommen bei, waren aber noch abhängiger Teil dieser
Gemeinschaft.
Sophia Häßler: Ehefrau und Unternehmerin
Differenzierter stellt sich das Bild bei den Erwachsenen dar. Sophie Häßlers Lebenslauf bildet fast das Musterbeispiel einer Frau in einer bürgerlichen Familie. Als
junges Mädchen war sie sehr behütet aufgewachsen. Als Gattin eines Plüschmützenfabrikanten arbeitete sie dann selbstverständlich in der Fabrik, selbst wenn
abends ein Konzert anstand, und die Hände noch schnell von Farbresten gereinigt
werden mussten. Sie hielt ihrem Mann den Rücken frei, wo es nur möglich war. Sie
galt als fleißig, arbeitsam, sparsam, zuverlässig und hatte sich durch ihre Beständigkeit – und natürlich ihre sängerischen Fähigkeiten – einen Namen nicht nur beim
Musik liebenden Statthalter Carl Theodor Freiherr von Dalberg gemacht. Im Umgang mit den Obrigkeiten zeigte sie einigen Mut. In der Stunde der Not, da ihr
Mann in Russland weilte und die Orchestermusiker Sophia Häßler bei den von ihr
veranstalteten Konzerten nur noch für ein wesentlich höheres Honorar unterstützen
wollten, wandte sie sich direkt an den Koadjutor und verstand es, diesen für ihre Sache zu gewinnen (wenn auch letztendlich das Ergebnis der Verhandlungen nicht in
Sophia Häßlers Sinn war).
Ganz deutlich war es Sophia Häßler, die, nachdem sie die Wichtigkeit erkannt
hatte, den Überblick über die finanzielle Lage der Familie besaß. Geldangelegenheiten spielen in ihrer Autobiografie eine große Rolle und die finanziellen Sorgen
dürften einen Großteil ihrer Gedanken bewegt haben. Als kluge Hausfrau handelte
349
sie zielorientiert und praktisch. Wären da nicht die Winterkonzerte gewesen, es
könnten dies die Lebenserinnerungen einer bürgerlichen Frau ohne jeglichen musikalischen Bezug sein. Doch auch ein zweiter Wesenszug spricht aus diesem Text.
Da ist der Stolz auf den Mann, auf sein Können, seine Erfolge; da ist aber auch ein
Wissen um die eigene Stärke. Zwischen den Zeilen sind Zähigkeit und Unbeugsamkeit herauszulesen, die es Sophia Häßler ermöglichten, ihrem Mann nicht einfach
nach Russland zu folgen, sondern sich erst einmal auszubedingen, nach Erfurt zurückkehren zu dürfen, sollte es ihr in der Fremde nicht gefallen. Ihr Selbstvertrauen
war so groß, dass sie darauf baute, sich daheim eine eigene Existenz aufbauen zu
können, was ihr durch die Schulgründung auch glückte.
Ihre Autobiografie schrieb Sophia Häßler für ihre Nachkommen, damit diese
sich die Geschichte „in langweiligen Winterabenden“ gegenseitig vorlesen oder erzählen könnten. Es ist ein privates, kein öffentliches Dokument, das sich bis ins 20.
Jahrhundert in Familienbesitz befand. 1952 übergab Sophia Häßlers Urenkelin, die
Erfurter Oberschullehrerin Gertrude Bischoff, dem dortigen Stadtarchiv eine in den
20er oder 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von ihr oder einem anderen Nachfahren
der Häßlers mit Schreibmaschine angefertigte Abschrift. 1275 Sophia Häßlers Text
wurde also in der Familie so in Ehren gehalten, wie seine Autorin es gewünscht hatte. Sicherlich war Sophia Häßlers Intention auch, ihren Nachkommen das ‚fantastische’ Leben ihres Mannes nahe zu bringen, es ist aber auch das Dokument einer
selbstbewussten Frau, einer Frau, die ihre Fähigkeiten kennt. Doch begreift sie sich
selbst als Lehrerin? Zwar endet der noch lesbare Teil des Textes vor der Schulgründung, doch ist das Bild, das er uns bietet, das der Ehefrau und vielleicht eher einer
Existenzgründerin denn das einer Lehrerin.
Rollenwechsel zwischen Künstlerin und Lehrerin
Eine andere Gruppe der Lehrerinnen dürfte sich vorrangig als Virtuosinnen begriffen haben. Zu ihnen zählte sicher Josepha von Aurnhammer, deren Wunsch es war,
die Musik zu ihrem Beruf, ihrem Metier zu machen. Dass zum ‚Metier’ auch automatisch Clavierunterricht gehörte, davon kann wohl ausgegangen werden, zeigt sich
doch Josepha von Aurnhammer in all ihren (überlieferten) Äußerungen als realitätsbewusste Person. Doch hätte man sie gefragt: Sie hätte sich wohl als Virtuosin vorgestellt. Das Stundengeben war für sie sicherlich eher ein selbstverständliches und
notwendiges Beiwerk zur Karriere der Künstlerin.
Den Rollenwechsel zwischen Künstlerin und Musiklehrerin vollzog besonders
virtuos Caroline Krähmer, so jedenfalls erschien es Marie von Ebner-Eschenbach
als Kind: Die Großmutter hatte Marie und ihre Schwester mit zu einem Konzert der
Klarinettistin genommen. Die bis dahin stets bespöttelte und ungeliebte Lehrerin
entlockte den Kindern auf der Bühne allerhöchste Bewunderung. Am nächsten
Morgen erwarteten die beiden Mädchen die Lehrerin voller Ungeduld: „Wir hatten
ausgemacht, meine Schwester und ich, daß wir auf sie zugehen und ihr die Hand
1275
350
Frd. Auskunft von Walter Blaha, Abteilungsleiter des Stadtarchives Erfurt.
küssen würden. Doch verging uns bei ihrem Anblick der Mut dazu. Wir brachten
nur stammelnd heraus, daß es gestern so schön gewesen wäre – so schön. Sie wies
uns kurz ab; sie war nicht mehr die herzbezwingende Künstlerin, sie war wieder die
strenge Lehrerin. Emsig wie immer flog der Elfenbeinstab vom Notenblatt herunter
auf die Knöchel meiner Finger. Indessen – das große Mitleid ist eine große Kraft,
die doppelt wirkt. Sie beschützt den, der sie erregt, sie macht den unverletzlich, der
sie empfindet. Die Klapse taten nicht mehr weh.“1276 Einmal die gestrenge Lehrerin,
dann die glanzvoll konzertierende Musikerin. Man darf allerdings nicht vergessen,
dass diese Beschreibung erst aus späteren Jahren stammt und wahrscheinlich emotional gefärbt ist.
Therese aus dem Winckel war das Leben als Virtuosin allein schon aus finanziellen Gründen versagt geblieben. Die Offizierstochter hatte den Sprung in ein reines Künstlerinnendasein nicht geschafft und arrangierte sich nur schwer mit dieser
Tatsache, die, wie ihr wohl bewusst war, auch mit ihrem Geschlecht zusammenhing. Die Lehrtätigkeit ist bei ihr zunächst ein notwendiges Übel, ein Muss, das sie
dann aber – ganz ‚bürgerliche Perfektionistin’? – pflichtbewusst und sorgfältig ausfüllt. „Ich habe sehr harte Kämpfe durchgekämpft, ich sah, daß ich Plänen und
Hoffnungen entsagen muß, auf die ich ernst losgearbeitet habe und die das höchste
Glück meines Lebens ausgemacht hätten. Sie waren so harmlos und edel, doch Gott
und Menschen begünstigen sie nicht, ich muß vernünftig sein und entsagen, da ich
leider kein Mann bin, der kühn wagen darf! Ich ergebe mich, doch lebenslang trauern werde ich, daß mir die Art von Künstlerlaufbahn nicht wird, die das Element
meines Lebens gewesen wäre!“1277, so schrieb sie an ihren Freund, Herzog Georg
August von Sachsen-Gotha und Altenburg am 29. Mai 1810. Die Entsagung, der
Verzicht auf die angestrebte Karriere, führte dazu, dass Therese aus dem Winckel
sich völlig in die ‚weibliche Welt’ zurückzog. Zu ihr gehörten Ordnung und stete
Tätigkeit ebenso wie Zurückgezogenheit und ein dienender Beruf. Wie pedantisch
Therese aus dem Winckel im Folgenden ihr Leben organisierte, zeigt der Bericht
des schwedischen Dichters Per Daniel Amadeus Atterbom, der zwischen 1817 und
1819 in Deutschland weilte. „Jeden Morgen steht sie um 5 Uhr auf, arbeitet nach regelrecht abgeteilten Stunden all ihre 27 Talente durch bis nachts 2 Uhr, zu welcher
Zeit sie gewöhnlich endlich zu Bett geht, nachdem sie noch zuvor ihren Tag mit
Abfassung einer Theaterkritik für die Dresdener Abend-Zeitung beschlossen hat. So
hat sie es ungefähr fünfzehn oder zwanzig Jahre lang ausgehalten (sie sieht mir so
aus, als ob sie etwa 36 Jahre alt wäre). [...] Wenn sie des Abends Besuche macht,
bricht sie daher immer zu einer bestimmten Stunde auf und geht [...]. Auch auf
Malsburgs Einladung am letzten Abend konnte sie nicht kommen, weil sie notwendigerweise von 7 bis ½ 9 Uhr die Harfe spielen mußte. Ich bin sicher, daß, wenn sie
sich verheiratete, es nicht selten geschehen würde, daß sie in den Armen ihres Man1276
1277
Ebner-Eschenbach, S. 791-792.
Brief Th. a. d. Winckels an Herzog G. A. von Sachsen-Gotha und Altenburg vom
29. 5. 1810, abgedr. bei Metzsch-Schillbach S. 271-274, hier S. 272.
351
nes inmitten der seligsten Augenblicke ehelicher Berauschung ausriefe: ,Um Gottes
willlen, Geliebter, spute dich, es ist schon 7 Minuten und 2/3 Sekunden über 5 Uhr,
und ich muß noch die mittelste Klaue am Fuß von Jupiters Adler fertigmachen, was
würde sonst der Prinz Rusczradschbradzcssinsky zu meinem Ganymedes sagen’“.1278 In puncto Pflichtbewusstsein übertraf sie, ganz nach Knigges Idealvorstellung, sicherlich all ihre Bekannten.
Die Pflicht regierte ihr Leben, und so verwundern auch die späten Beschreibungen ihrer Person, ihr sorgfältiges, altmodisches Erscheinungsbild, wenig. Die
Parallele zu Louise Reichardt drängt sich einerseits auf, wenn man daran denkt,
dass deren Gesicht „von harten Kämpfen und schweren Entsagungen“ sprach. Doch
sah man Louise Reichardt diese Kämpfe zwar an, sie hatte aber im Unterrichten (so
heißt es zumindest) Befriedigung und Ausgleich gefunden, während sich Therese
aus dem Winckel nur notgedrungen damit abgefunden hatte.
Ihre Autobiografie schrieb Therese aus dem Winckel im Mai 1860 im Alter
von 76 Jahren auf Wunsch des Akademie-Professors Ferdinand Hartmann. Erstaunlich wenig Raum gibt sie darin dem Unterrichten, einer Tätigkeit, der sie doch, so
Karl August Varnhagen von Ense, selbst als 80-Jährige „vier bis fünf Stunden“ täglich widmete.1279 Dies kann allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass die
Anregung zur Niederschrift des Textes von einem bildenden Künstler kam. Nicht
nur in Bezug auf ihr Alter, sondern auch bezüglich ihrer Lebensaufgabe malt sie
uns, trotz der vorgenommenen „strengen Wahrheitsliebe“, ein Bild: das Bild der eigentlichen Künstlerin, der unter glücklicheren Umständen oder als Mann der
Durchbruch vielleicht nicht versagt geblieben wäre. Bitterkeit ist an manchen Stellen trotz Abfindens mit dem Verlauf ihres Lebens herauszuhören, wenn sie etwa berichtet, wie wenig offizielle Unterstützung sie genossen habe. Der Passus um das
Orchesterspiel ringt um eine objektive Darstellung: Tatsächlich waren wohl die
Schülerinnen, aus welchen Gründen auch immer, der Lehrerin vorgezogen worden.
Und sicherlich war sie nicht wirklich die einzige bedeutende Harfenlehrerin in
Deutschland.
Josepha Müllner-Gollenhofer: eine Virtuosin von Beruf
Als Virtuosin ersten Ranges begriff sich Josepha Müllner-Gollenhofer. Sie war die
Frau, die all das erreicht hatte, was Therese aus dem Winckel versagt geblieben
war: eine öffentliche anerkannte Künstlerinnenlaufbahn und eine gesicherte Anstellung. Aus dieser allseits bewunderten Position heraus war es für sie ein Leichtes,
auf ihre Unterrichtstätigkeit stolz zu sein. Dieser Stolz beruhte im eigentlichen Sinne wohl darauf, dass sie bereits als Kind um Unterricht gebeten wurde und beson1278
1279
352
Per Daniel Amadeus Atterbom, Reisebilder aus dem romantischen Deutschland. Jugenderinnerungen eines romantischen Dichters und Kunstgelehrten aus den Jahren
1817 bis 1819, Berlin 1867, neu hrsg. von Elmar Jansen, Stuttgart 1970, nach Strittmatter, S. 273.
Tagebucheintragung vom 18. 7. 1857, Varnhagen von Ense, S. 13.
ders auf der Tatsache, dass all ihre Schülerinnen „vornehme Damen“ waren, viele
sogar aus der kaiserlichen Familie stammten. Er bezieht sich weniger auf Unterrichtserfolge, sondern mehr auf das sich darin widerspiegelnde Ansehen der Person
Josepha Müllner-Gollenhofers: Sie war eine Bürgerliche, die den Sprung nach oben
geschafft hatte. Die Beschreibung des Ganges zum Kaiser noch im Kindesalter, um
diesen um ein Konzert zu bitten, zeigt neben aller Naivität ihre Zielstrebigkeit. Sie
besaß nicht nur die Gunst des Kaisers, der sie als Kind lieb gewonnen hatte, sondern sie war bei mehreren Generationen des kaiserlichen Hauses beliebt. Und so
sieht sie sich auch selbst als erfolgreiche, beim Publikum beliebte und vom Vaterland gefeierte Virtuosin.
Ihre Schrift entstand im Zuge einer 1825 in Wien von Joseph Sonnleithner angeregten Sammlung von Biografien einheimischer Musiker, ursprünglich als Ergänzung zu Gerbers Lexika gedacht. Im Juli 1825 waren bereits 90 Biografien zusammengetragen worden, wobei 63 von Joseph Sonnleithner, 15 von Johann Baptist
Geißler und die übrigen von verschiedenen Autoren stammten.1280 Die Biografie Josepha Müllner-Gollenhofers scheint kurz nach Beginn der Sammlung entstanden zu
sein. Da sie angeblich 18 Jahre nach der Eheschließung der Künstlerin verfasst wurde1281, wäre die Niederschrift im Jahr 1826 erfolgt. Ob es sich um ihre eigene Handschrift handelt, konnte leider nicht in Erfahrung gebracht werden1282, doch ist der
Text derart persönlich, dass er sicher direkt auf Josepha Müllner-Gollenhofer zurückgeht.
Die Lehrerinnen
Stolz auf pädagogische Erfolge und methodisches Vorgehen stellt sich erst bei den
Lehrerinnen späterer Jahre ein. Nina d’Aubigny von Engelbrunner etwa, die Adelige, die aus finanzieller Notwendigkeit heraus eine unter ihrem Stand stehende Lehrtätigkeit aufnahm, war durchaus stolz auf ihre Methodik. Lehren und Lernen als
zwei sich gegenseitig durchdringende Prozesse, dieser Gedanke ist neuartig. Er
zeigt nicht nur neue Unterrichtswege, sondern auch ein gewandeltes Selbstbild der
Lehrerin, die sich nicht nur als Allwissende, allein Gebende, sondern auch als Empfangende, stetig mit den Schülerinnen Weiterlernende versteht. Ein Gedanke, der
die Person des Lehrmeisters ‚vom Sockel hebt’, der ihn menschlich macht und in
diesem Sinne ganz den zeitgenössischen Forderungen an den ‚guten Lehrmeister’
entspricht.
Louise Reichardt schrieb am 26. März 1812 an Achim von Arnim: „Einige von
meinen Schülerinn[en] fangen indess an mir viel Freude zumachen und die große
1280
1281
1282
Otto Biba, Nachrichten über Joseph Haydn, Michael Haydn und Wolfgang Amadeus
Mozart in der Sammlung handschriftlicher Biographien der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, in: Otto Biba, David Wyn Jones, Studies in Music History, London
1996, S. 152 ff., hier S. 153.
Bio M-Gol, S. 17.
Die meisten Biografien liegen in Kanzlei-Abschriften vor.
353
Verschiedenheit der Stimmen und des Vortrags macht mir den Unterricht interessant und daß alle ohne Ausnahme mich herzlich lieb haben.“1283 Das Unterrichten
an sich, die Individualität der Schülerinnen, das ist es, was Louise Reichardt hier
hervorhebt. Nicht nur die endgültige Leistung ist es, die zählt, sondern es ist auch
die persönliche Entfaltung und Weiterentwicklung, die der Lehrerin Freude bereiten. Sah sie sich selbst als die asketische, fleißige, gottesfürchtige Frau, als die ihr
Nachruf sie darstellt? Sie lebte ganz für ihre Schülerinnen und fand darin ihre Bestimmung. Vermutlich sah sie sich als Mittelpunkt dieses ihres selbst gewählten
Kreises, stand aber weniger gern im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Somit hatte sie
im Lehrberuf auch eine Stelle gefunden, an der sie sich persönlich wohl fühlte und
die ihrem Wesen entgegenkam.
Maria Theresia Paradis schließlich scheint mit der Rolle der Lehrerin ebenfalls
glücklich gewesen zu sein. Wenn es heißt, sie habe die Schülerinnen während der
Schulkonzerte angelächelt und geküsst, so war ihr wahrscheinlich auch bewusst,
dass diese Gesten ihre Wirkung auf Außenstehende nicht verfehlten. Sie stellte ihre
Person durchaus zur Schau. Gleichwohl ging Maria Theresia Paradis in der Schularbeit auf. Sie, die als Virtuosin zwar gefeiert, doch immer als ausgesprochen scheu
beschrieben wurde, blühte auf und bewegte sich in ihrem eigenen Kreis frei und sicher (ein Umstand, der sicherlich teilweise auch auf ihre Blindheit zurückzuführen
ist). Auf ihre methodischen Überlegungen dürfte sie stolz gewesen sein. Unterrichtsmaterial, wie sie es verwendete, war neu zu dieser Zeit und galt als fortschrittliche Errungenschaft. Immerhin wurde über den Unterrichtsstil Maria Theresia Paradis’ so oft ausführlich in Zeitungen geschrieben, dass der Anstoß zu dieser ausgiebigen Berichterstattung wohl auch von der Blinden selbst oder indirekt durch ihren
Freund Johann Riedinger gekommen sein dürfte.
So früh bereits wichtige Überlegungen zur Unterrichtsmethodik in Deutschland angestellt und auch veröffentlicht wurden – Matthesons Kleine General-Baß-Schule
mit ihrem langen Abschnitt vom ‚guten Lehrmeister’ stammt immerhin aus dem
Jahre 1735 – so spät konnten Frauen von diesen Eigenschaften profitieren und auf
einen systematischen und gut durchdachten Unterricht anerkanntermaßen stolz sein.
Erst mehr als 50 Jahre nach Matthesons Schrift lassen sich die ersten Anzeichen dazu entdecken. Diese Entwicklung weicht allerdings nicht völlig von derjenigen der
männlichen Lehrkräfte ab. Natürlich gab es die Schriften der Theoretiker schon länger, doch zu einer allgemeinen Diskussion kam es erst gegen Ende des Jahrhunderts
mit den regelmäßig erscheinenden musikalischen Zeitschriften wie etwa der AMZ.
Hier eröffnete sich ein neuartiges Forum der Diskussion und der Verbreitung von
Ideen und Idealvorstellungen.
Michael Roske stellte die Unterrichtsmotivation der männlichen Lehrkräfte
wie folgt dar: Eine freie Lehrtätigkeit in angesehenen Familien war zu Johann Matt1283
354
Brief L. Reichardts an Achim von Arnim vom 26. 3. 1812, Freies Deutsches Hochstift
Frankfurt/Main Handschrift FDH-7657, nach Moering, S. 266-268, hier S. 267-268.
hesons Zeit für jeden Musiker eine Grundvoraussetzung, um später ein festes Anstellungsverhältnis als Hofmusiker oder Organist zu finden. 1284 Unterrichten war
meist ein Durchgangsstadium (Roske spricht von der ‚Mobilität der Berufe’), es
war ökonomische Notwendigkeit, keine ‚Berufung’ und oftmals eine ungeliebte Beschäftigung. Je hochwertiger jedoch die Anstellung als Lehrer war, umso besser war
auch die Stellung, die sich ein Musiker später erhoffen durfte. Ein wichtiges Kriterium, das gegen eine ausschließliche Tätigkeit als freier Musiklehrer sprach, war das
Fehlen einer Altersversorgung, um die ja auch Therese aus dem Winckel so bangte.
Daher rührte der Drang, im Laufe des Lebens nach einer Festanstellung zu suchen.
Außerdem öffnete das Stundengeben, so ungeliebt es zum Teil auch war, nicht nur
die Tür zu höheren sozialen Schichten, wie es das Beispiel Catharina Cibbini-Koželuchs eindrucksvoll demonstriert, sondern es ließ auch einen recht guten Verdienst
durch die ständige Nachfrage erwarten. Letzteren Punkt belegt das Schicksal Louise
Reichardts.
Häufig waren auch nach Antritt einer festen Anstellung Unterrichtsstunden
Teil des Tagwerks der Musiker, besonders der Organisten. Einzelne Beispiele von
Privatlehrern ohne feste Anstellung wie etwa des Bremers Johann Christian Seelhorst, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts in der Hansestadt als Lehrer so erfolgreich war, dass er mehr verdiente als seine Musikerkollegen am Bremer Dom, bilden eher die Ausnahme, zumal für das private Stundengeben an manchen Orten wie
etwa Bremen eine Konzession von Nöten war.1285 Um 1800 gab es in Deutschland
eine Vielzahl neuer Berufskombinationen. Musiklehrer waren gleichzeitig beispielsweise Notenhändler, Brauer, Organisten oder Instrumentenstimmer. 1286 Der
Trend entwickelte sich langsam in Richtung einer freien Tätigkeit. Solange es noch
keinen festen pädagogischen Ausbildungsritus gab, keine Prüfung, deren Ablegen
Frauen aufgrund ihres Geschlechtes versagt geblieben wäre, solange eröffnete sich
hier eine Nische. Mit Mut und Unternehmungsgeist florierten die Schulen von Elise
Müller, Sophia Häßler und Maria Theresia Paradis. Für Clavier und Harfe, die bevorzugten Instrumente der Mädchen und Frauen, wurden zahlreiche Lehrkräfte in
bürgerlichen Kreisen gesucht, sodass besonders Unverheiratete wie Louise
Reichardt hier ein reiches Betätigungsfeld fanden.
1284
1285
1286
Roske, S. 29-31.
Roske, S. 42-48.
Roske, S. 52-53.
355
Zusammenfassung
Der Beruf der Clavierlehrerin gehört zu den frühesten außerhäuslichen Professionen, die Frauen ausübten. Es ist ein Themenbereich, der, obschon selten im Blickwinkel der Diskussion, auch bei der Betrachtung der Entwicklung selbstständiger
Berufstätigkeit von Frauen allgemein von Interesse ist. Allerdings nimmt die Entwicklung dieses Berufes insofern eine Sonderrolle ein, als die Lehrerinnen i. d. R
aus einer ganz bestimmten Klientel, nämlich Musikerfamilien, stammten. Nur so
konnten sie das notwendige Rüstzeug, die nötige Ausbildung, für diesen Beruf mitbringen. Die Gruppe der Musiker aber hatte immer einen sozialen Sonderstatus inne. Somit ist die Entwicklung der musikalischen Berufe auch in diesem Kontext zu
sehen. Die weiblichen Angehörigen dieses Standes besaßen einen weit größeren
Handlungsspielraum als die meisten bürgerlichen Frauen. Gleichwohl hatten sie für
Letztere gewissermaßen Vorbildfunktion. Diese Entwicklung bahnt sich im betrachteten Zeitraum bereits an und wird vielleicht besonders deutlich anhand der Beispiele französischer Clavierlehrerinnen nach der Revolution. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts spitzte sich die Situation zu: Immer mehr Frauen ergriffen den Beruf der
Klavierlehrerin. Sie hatten als Kinder das Klavierspiel erlernt, hatten aber gleichzeitig meist eine Erziehung nach streng bürgerlichen Maßstäben genossen. Sie vermittelten in strenger Disziplin ein „domestiziertes Virtuosentum, das mehr mit penibler
Haushaltsführung zu tun hatte als mit Kunst“.1287 Die Klavierlehrerin wurde zum
genügsam bekannten Schreckensbild und Klischee, von dem sie sich erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts wieder zu befreien vermochte. Doch vor dem Wiener
Kongress gestaltete sich das Bild (aus heutiger Sicht) freundlicher.
Die Entwicklung des Berufes der Clavierlehrerin bis 1815 kann von mehreren
Seiten aus betrachtet werden: in seiner zeitlichen Entwicklung, in den regionalen
Besonderheiten und in den länderübergreifenden Einflüssen ebenso wie in den inhaltlichen Aspekten des Unterrichts und seiner Gestaltung. Dabei sind persönliche
Eigenheiten in den Biografien der Lehrerinnen oft verallgemeinerbar, teils sind sie
allerdings auch auf Ausnahmesituationen zurückzuführen. Zur Verdeutlichung dieser Entwicklung vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Wiener Kongress sollen
die wichtigsten Punkte hier noch einmal zusammengefasst werden.
Geografische Besonderheiten
1. Frankreich
In Frankreich mit seiner völligen Ausrichtung auf die Hauptstadt und den Königshof war praktisch das gesamte musikalische Leben in Paris angesiedelt.
Hier lebte die Klientel, für die Musikgenuss zum täglichen Leben gehörte. Die
Nähe des Hofes und hohen Adels war für Musiker unbedingt nötig. In Paris
1287
356
Grete Wehmeyer, Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier oder Die Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideologie, Kassel – Basel – London – Zürich
1983, S. 114.
nahmen die musikalisch begabten Mädchen und Frauen aus Musikerfamilien
offenbar lange Zeit eine soziale Sonderstellung ein: Sie waren am Clavier konzertierend und unterrichtend tätig, sie traten ohne Statusverlust in der Öffentlichkeit auf, ja, man huldigte ihnen sogar, wie dies die Gedichte an MargueriteAntoinette Couperin und Marie Françoise Certain zeigen. Der Musikerberuf
oder die intensive Beziehung des Elternhauses zur Musik ermöglichte eine
hochkarätige Ausbildung der Töchter. Die Allgemeinbildung scheint dagegen
recht unterschiedlich gewesen zu sein, vergleicht man etwa die Informationen
über Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre und Marie-Françoise de Mars. Da
Töchter meist im Berufsmilieu des Vaters verheiratet wurden (wozu neben den
Musikern selbst auch Instrumentenbauer und Musikverleger1288 zu zählen sind)
endete die musikalische Arbeit, manchmal sogar die Karriere, nicht unweigerlich mit der Eheschließung. Im Gegenteil: Die Frauen musizierten oftmals weiterhin öffentlich an der Seite ihres Mannes, sie kopierten Noten, sie unterrichteten und arbeiteten ähnlich wie es für die Herkunftsfamilien typisch ist in ihrem
neuen Umfeld mit. Die Pariser Adressverzeichnisse belegen das verwandtschaftliche Geflecht zwischen Musikern und Musikerinnen eindrucksvoll.
Besonders als Generalbassspielerinnen waren viele Frauen auch noch nach
einer Heirat künstlerisch professionell tätig, oft an der Seite ihres Ehemannes.
Als Generalbassspielerin war es möglich, gleichzeitig als Musikerin zu glänzen,
und doch bescheiden im Hintergrund zu bleiben. Die Geschlechterrolle blieb
damit am Besten gewahrt. Durch ihre männlichen Verwandten konnten sich die
Frauen künstlerisch entfalten. Ihre Möglichkeiten blieben lange Zeit kaum hinter denen der Männer zurück, wenn sie auch offiziell ‚Tochter von’ oder ‚Frau
von’ verblieben. Berufskombinationen waren dabei wie bei den männlichen
Kollegen an der Tagesordnung: Frauen waren Solistinnen (dies eher vor einer
Heirat), sie spielten in Musikensembles in Privathäusern (z. T. in festen Anstellungen, womit sie u. U. sogar den Familienunterhalt sicherten), sie waren Veranstalterinnen, Organistinnen und Gouvernanten (Lehrerinnen in Privathäusern). Für all diese Tätigkeiten wurden sie bezahlt. Sie bestritten damit entweder selbst ihren Lebensunterhalt oder trugen zum Familieneinkommen bei. Ihre
Bekanntheit, ihr persönlicher Einfluss und ihr Ansehen schufen die Voraussetzung, dass sie auch an der Einführung neuer Entwicklungen wie der des Hammerclaviers (wie Mlle Lechantre und Mme Louis, geb. Bayon) maßgeblich beteiligt waren.
Diese für berufstätige Frauen außerordentlich günstige Situation sollte erst
mit der Französischen Revolution eine Änderung erfahren (s. u.).
1288
Eine eigene Erforschung der musikalischen Entwicklung von Töchtern aus Musikverlegerfamilien wäre sicherlich lohnend und würde u. U. die Geschichte der frz. Musikerinnen und Musiklehrerinnen von einer weiteren Seite beleuchten.
357
2. Die Schweiz
In der Schweiz ist eine deutliche Trennung der französisch- und deutschsprachigen bzw. -beeinflussten Landesteile zu vermerken. Während aus der deutschen Schweiz in der Hauptsache Sängerinnen bekannt sind, hatten Frauen in
den an Frankreich orientierten Gebieten ähnliche Möglichkeiten wie in Paris.
Sie konnten öffentlich als Musikerinnen und Lehrerinnen in Erscheinung treten,
ohne damit Anstoß zu erregen. Da es keine Höfe gab, übernahmen die Häuser
des gehobenen Bürgertums deren Rolle. Durch die entschiedene Durchsetzung
calvinistischer Vorstellungen, die sich erst im 18. Jahrhundert langsam lockerten, fehlte eine eigenständige musikalische Entwicklung völlig und man holte
bevorzugt Musiker aus dem Ausland. Unter diesen befand sich auch ein größerer Teil Frauen.
In Bern ließen 1794 zwei Lehrerinnen eigene Annoncen veröffentlichen,
in denen sie selbstbewusst ihre eigenen Stärken darzustellen suchten. Sie handelten zielgruppenorientiert und suchten ihre werbewirksamen Eigenschaften
gezielt in das rechte Licht zu rücken. Selbstvermarktung und eine vorteilhafte
Präsentation der eigenen Person und des fachlichen Könnens waren eine wichtige Voraussetzung für den beruflichen Erfolg in einer Gegend, da die zugezogenen Lehrerinnen auf keinerlei familiäre Traditionen vor Ort zurückgreifen
konnten. Dennoch war die Einbindung in familiäre Zusammenhalte, in Glaubensgemeinschaften und die Gruppe eigener Landsleute auffällig stark.
Aufgrund der mageren musikalischen Tradition im Land wurde den ausländischen Lehrkräften, Männern wie Frauen, ein hoher Stellenwert eingeräumt. Sie waren wichtig für die musikalische Entwicklung einer Stadt, eines
Kantons, und nahmen damit eine Sonderstellung ein. Die Frauen lebten zumeist
in guten wirtschaftlichen Verhältnissen, waren als Lehrerinnen anerkannt. Waren einige von ihnen auch mit den hohen Herrschaften befreundet, so standen
sie dennoch von diesen in deutlicher Abhängigkeit.
3. Die Niederlande
Im Gegensatz zur Schweiz hatte die musikalische Ausbildung der Frauen in den
Niederlanden eine lange Tradition. Oft genug wurden die Mädchen sogar zur
Verfeinerung ihrer Künste (und anderer Fertigkeiten) nach Paris geschickt.
Spätestens mit der Heirat allerdings verschwanden die Frauen im eigenen
Heim. Bis auf wenige Ausnahmen – meist Sängerinnen – waren sie im Musikleben ihres Wohnortes nicht mehr präsent. Ihr Wirkungskreis blieb auf ihre Familie, das eigene Heim beschränkt. Davon bildete selbst die in ihrer Jugend
recht bekannte Elisabeth Jeanne Broes keine Ausnahme.
Erst mit der aus Deutschland stammenden Gertrude van den Bergh begann
für niederländische Musiklehrerinnen eine neue ‚Ära’. Diese Musikerin gehörte
zu einer offenbar den nördlichen Raum des europäischen Festlandes umfassenden Bewegung, in der Frauen wie Gertrude van den Bergh oder Louise
358
Reichardt als Chorleiterinnen (wenn auch ‚nur’ in der Vorbereitung und Planung von großen Veranstaltungen) ein Betätigungsfeld fanden. Dieses ließ sie
gemeinsam mit dem von ihnen erteilten Unterricht im Musikleben ihrer Stadt
präsent und anerkannt sein und fand sogar in überregionalen Zeitschriften wie
der AMZ lobende Erwähnung. Sowohl Gertrude van den Bergh (in Den Haag)
als auch Louise Reichardt (in Hamburg) wurden auf ihren Totenscheinen als
Musiklehrerinnen von Beruf bezeichnet.
4. Deutschland und Österreich
In Deutschland wurden die französischen Ideen und Vorstellungen über das
Wesen und den Geschlechtscharakter der Frau recht bald aufgenommen. Die
Werke Fénelons und Rousseaus wurden übersetzt, durchdacht und, besonders
im Kreise der Philanthropen, auch bald in ein neues, deutsches Gedankengebäude integriert. Damit war die Rolle der Mädchen und Frauen aus dem gehobenen Bürgertum sozusagen fest zementiert, jede Abweichung musste auf
‚Schicklichkeit’ geprüft werden. Auch die Möglichkeit einer Berufstätigkeit
von Frauen, die ja eigentlich als zur Hausfrau, Gattin und Mutter bestimmt galten, unterlag zunächst einmal einem Erklärungszwang. Begründungen wurden
recht bald für Berufszweige gefunden, die Ähnlichkeiten mit hausfraulichen
und mütterlichen Tätigkeiten aufwiesen. Unter ihnen befand sich auch der Beruf der Lehrerin, ein Beruf, der für eine geeignete Mädchenerziehung zur Verbreitung und Wahrung der neuen Ideale sogar als wichtig angesehen wurde. So
kam es, dass sich der Beruf der Clavierlehrerin laut Vorgaben der Theoretiker
in Deutschland recht bald auf den Anfangsunterricht, auf Kinder und Dilettantinnen als Schülerinnen beschränken musste. In der Praxis sah es allerdings so
aus, dass vor 1800 auch in Deutschland vorwiegend Frauen aus Musiker- und
Instrumentenbauerfamilien oder aus Familien mit langer musikalischer Tradition (Adel und Kirche) die Chance gehabt hatten, eine anspruchsvolle musikalische Ausbildung zu erhalten.
Gründe für die Berufstätigkeit einer Frau konnten etwa Witwentum (zur
Existenzsicherung), Unverheiratsein oder der Anschluss an eine Institution wie
die Berliner Singakademie als ‚Tarnung’ sein. Auch eine tiefe Religiosität und
die damit verbundene Bereitschaft zur Hingabe und Aufopferung konnten dazu
beitragen, eine Lehrtätigkeit ‚salonfähig’ zu machen, wie es das Beispiel
Louise Reichardts zeigt. Die angeführten Nachrufe auf einige der deutschen
Lehrerinnen belegen den ‚Begründungszwang’ und die Argumentationswege in
Deutschland, zeigen aber auch den Spielraum, den der Geschlechtscharakter
zuließ: Frauen besaßen durchaus Wahlmöglichkeiten. Es hing allerdings von
ihrer Persönlichkeit und ganz entscheidend von den äußeren Umständen ab, ob
und wie sie genutzt wurden oder werden konnten.
Bei all diesen Überlegungen darf nicht außer Acht gelassen werden, dass
im Deutschen Reich, dem Kleinstaatenland, wesentlich größere Unterschiede
herrschten, als dies in Frankreich der Fall war. Das Stadt-Land-Gefälle war
359
stark, die Chancen der Musiker vom Vorhandensein von Höfen und der Vorliebe der Herrscher für Kunst und Musik, die der Frauen zusätzlich vom geistigen
Klima ihres Ortes abhängig. Es verwundert daher wenig, dass die frühen, von
Frauen gegründeten reinen Musikschulen in Städten angesiedelt waren, die intellektuell oder kaufmännisch als weltoffen bezeichnet werden können: die
Schulen von Maria Theresia Paradis in Wien, von Elise Müller in Bremen und
Louise Reichardt in Hamburg. An solchen Orten gab es für Frauen größere Entfaltungsmöglichkeiten.
Weiterhin ist anzumerken, dass in Deutschland eine starke Mobilität der
Berufe herrschte. Die so stark unter Begründungszwang stehende Berufstätigkeit der Frauen fand in der Regel in klar begrenzten Lebensphasen statt: meist
bis zur Heirat oder in der Witwenzeit. Die Berufstätigkeit entsprang normalerweise wirtschaftlicher Notwendigkeit, entsprechend hoch waren die Zahlen der
Schülerinnen. Bei Verheirateten dagegen beschränkte sich die Lehrtätigkeit,
falls sie überhaupt stattfand, hauptsächlich auf wenige Schüler(innen), meist
vermutlich die Kinder von Bekannten (etwa bei Sophie Dülcken). Hier bildete
nur Wien eine Ausnahme, eine Stadt, in der fast alle bekannten Lehrerinnen
verheiratet waren. Sie wirkten privat, am Hof und in kirchlichen Kreisen.
Der gesellschaftliche Stand der Lehrerinnen war wohl in der Hauptsache
davon abhängig, ob sie als unverheiratetes Mädchen, als Ehefrau, Witwe, Gouvernante oder beispielsweise Virtuosin angesehen wurden, wie sie sich präsentierten und in welcher Gesellschaft sie sich bewegten. Er stand und fiel mit den
wirtschaftlichen Gegebenheiten ihres Umfeldes, war aber i. d. R. unter dem der
Schülerinnen angesiedelt.
Die zeitliche Folge
In Frankreich schuf eine lange Tradition in den Musiker-, Instrumentenbauer- und
Musikverlegerfamilien die Selbstverständlichkeit für das künstlerische Tun und damit auch eine professionelle Lehrtätigkeit der Töchter. Dies zeigt besonders eindrücklich das Beispiel mehrerer Generationen der Familie Couperin: Élisabeth-Antoinette, die Tochter eines Instrumentenbauers, die ihren Ehemann als Organistin
immer wieder vertrat und noch als betagte Lehrerin und Organistin öffentliche Anerkennung fand, Marguerite-Antoinette, die die Stelle ihres Vaters am Königshof
vertraglich übernahm und hier Prinzessinnen unterrichtete und die Jüngste, CélèsteThérèse Couperin, die ihren Lebensabend als Clavierlehrerin verbrachte.
In der Frühzeit, um 1700, waren einige der französischen Lehrerinnen, z. B.
Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre und Marie Françoise Certain, außerordentlich berühmt. Ihnen standen zahlreiche Türen offen, sie pflegten beste Kontakte, sie
waren wohlhabend, lebten in gut eingerichteten und ausgestatteten Wohnungen und
nannten reiche Bibliotheken und kostbare Instrumente ihr Eigentum. In Deutschland dagegen ist aus diesem Zeitraum (bislang) nur eine einzige Lehrerin bekannt:
Barbara Kluntz. Diese unterrichtete im Schutze der Mauern eines evangelischen
Damenstiftes in kirchlichem Umfeld. Die Kirche bot also den ersten bekannten
360
Raum für eine musikalische Unterrichtstätigkeit einer Frau in Deutschland, einen
Raum, der allerdings in späteren Jahren überraschend wenig genutzt werden sollte.
Erstaunlich ist auch, dass die nächsten namentlich bekannten Lehrerinnen in
Deutschland1289 erst mit großem zeitlichem Abstand in Erscheinung treten. Dies ist
vermutlich darauf zurückzuführen, dass im Unterschied zu Barbara Kluntz diese
Lehrerinnen auf dem freien Markt, im Umfeld des Bürgertums, zu finden waren. In
diesen Kreisen hatte nach 1700 die Diskussion um geeigneten Musikunterricht eingesetzt. Man beschäftigte sich vermehrt mit der Unterrichtsgestaltung und den Inhalten. Lehren und Lernen wurde auf neue Zielgruppen zugeschnitten: Kinder und
Erwachsene, angehende professionelle Musiker und Liebhaber, Männer und Frauen.
Chancen auf eine Lehrtätigkeit besaßen anfänglich in der Hauptsache die Frauen,
die als junge Mädchen guten Instrumentalunterricht und möglichst noch Unterweisung in Musiktheorie genossen hatten und deren Stand ihnen eine Berufstätigkeit
erlaubte: die Töchter aus Musiker- und Instrumentenbauerfamilien. Sie bildeten den
Kern des sich entwickelnden Berufsstandes der Clavierlehrerin. Auch junge Frauen,
die das neue Modeinstrument Harfe erlernt hatten, konnten rasch Schülerinnen finden. All diese Frauen waren in der Lage, hoch qualifizierten Unterricht zu erteilen,
ja, ehemalige Wunderkinder wie Maria Anna Mozart fanden hier gar eine Möglichkeit, auch nach der Pubertät ähnlich anspruchsvoll weiterzuarbeiten, wie sie es als
Kinder gewöhnt gewesen waren. Daneben gab es aber auch eine neue Generation
von Lehrerinnen, deren Tätigkeit oft mit dem Beruf der Gouvernante oder Schullehrerin verknüpft war und die allein in der musikalischen Ausbildung von Dilettantinnen wirkten. Besonders für sie setzte kurz vor 1800 die Publikation einer Fülle von
Unterrichtsmaterialien und Hilfsliteratur ein, die auf die Zielgruppe bürgerlicher
Kinder und Mädchen zugeschnitten war.
Beiden Gruppen von Lehrerinnen entsprachen unterschiedliche Formen der Eigenwerbung. Eigenes künstlerisches Tun, die Karriere einer Virtuosin, Auftritte gut
vorangekommener Schülerinnen und Kontaktpersonen, die womöglich noch aus
dem Bekanntenkreis der Eltern stammten, konnten die anspruchsvollen Lehrerinnen
in das rechte Licht der Öffentlichkeit rücken. Der zweiten Gruppe entsprachen wohl
eher Zeitungsannoncen, die Gründungen von Mädchenschulen, an denen auch Instrumentalunterricht erteilt wurde und die entsprechenden Kontakte. Fachspezifische
Publikationen blieben selten; sie setzten ein ausreichendes Kapital voraus. Allen
Lehrerinnen kam das noch ungeregelte Ausbildungswesen im Bereich Musik zugute, da es ihnen Nischen eröffnete, die ihnen ansonsten wohl verschlossen geblieben
wären (etwa die Gründung von Musikschulen oder die Ausbildung von Schüler(inne)n mit weit reichenden Ambitionen).
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts dürfte sich auch in Frankreich eine Änderung
der Verhältnisse angebahnt haben. Die Adressverzeichnisse dokumentieren auf der
einen Seite ein Kommen und Gehen unter den Lehrpersonen, auf der anderen Seite
1289
Das junge Fräulein von Freudenberg dürfte eine Sonderposition eingenommen haben.
361
auch langjährige Berufspraxis. Feste Organistenstellen konnten neben der freien
Lehrtätigkeit für ein relativ geregeltes Teilgehalt sorgen. Erstaunlich hoch ist die
überlieferte Zahl unterrichtender Frauen. Dabei kann sicher davon ausgegangen
werden, dass nur von einem Bruchteil der als Lehrerinnen arbeitenden Frauen diese
Tätigkeit überhaupt bekannt ist. Die Lehrerinnen stammten i. d. R. aus einer fest
umrissenen Bevölkerungsschicht und kannten sich vermutlich meist untereinander.
Lehrerinnen, die über längere Zeiträume unterrichteten, wechselten ihre Wohnung selten: Es war wichtig, auffindbar zu sein, ohne dass Interessenten erst lange
hätten suchen müssen. Sie lebten zur Miete, sicherlich meist in beengteren Verhältnissen, als dies bei Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre und Marie Françoise Certain der Fall gewesen war. Vermutlich waren auch ihre Instrumente nicht mehr von
solch erlesener Qualität wie die Ruckers-Cembali der beiden eben genannten Cembalistinnen. Lehrerinnen, die eine Pension unterhielten, dürften zahlreiche kleinere
Instrumente besessen haben, an denen die Schülerinnen üben konnten.
Die Eröffnung musikalischer Pensionen bildet an sich ein interessantes Phänomen, wurden diese doch, glaubt man dem Bild, das die Adressalmanache vermitteln, offenbar bevorzugt von Frauen unterhalten. Eine Pension bot auf der einen
Seite Sicherheit, da die Schülerinnen regelmäßig über einen längeren Zeitraum Unterricht erhielten und feste Monatshonorare ausgemacht waren. Auf der anderen
Seite war ein solch unternehmerischer Vorstoß auch mit Risiken verbunden: Raummieten mussten gezahlt werden, für Verpflegung war zu sorgen, Personal musste in
ausreichender Anzahl eingestellt und bezahlt werden.
Das Unterrichten bildete für die Pariser Clavierlehrerinnen in der Mitte des 18.
Jahrhunderts offenbar einen nicht unwichtigen Teilbaustein ihrer Einnahmen. Diese
Tätigkeit außer Acht zu lassen, hieße auch einen großen Teilbereich der Musikpraxis dieser Frauen zu vergessen.
Etwas anders stellt sich die Situation in der französischen Schweiz dar: Genovieffa
Ravissa, die Cembalistin im Neuenburger Orchester, dürfte in dieser Funktion (die
sie nur ein Jahr bekleidete) eine große Ausnahme gebildet haben, traten Frauen
doch üblicherweise in den Konzertgesellschaften und in den Abonnementkonzerten
nur als Sängerinnen in Erscheinung. Für die professionellen Lehrkräfte war das Erteilen von Unterrichtsstunden die Haupteinnahmequelle, das wichtigste Standbein.
Waren sie alleinstehend, so wurde ihr Broterwerb in den offiziellen Urkunden mit
‚Lehrerin’ angegeben. Diese Bezeichnung wurde hier also bereits früh amtlich in einem professionellen Sinne verwendet. Zur Eigenwerbung – und vermutlich (und
hoffentlich) auch zum eigenen Vergnügen – traten die Lehrerinnen dennoch auf,
dies aber zielgruppenorientiert dort, wo es eine potenzielle Schülerinnenklientel
gab: in privaten Salons und Akademien.
In Frankreich sorgten die Revolutionswirren für neue Voraussetzungen für den Beruf der Clavierlehrerin. Stammten die angehenden Lehrkräfte bisher vorrangig aus
musikverbundenem Milieu, so erweiterte sich dieser Kreis nun um Personen aus al-
362
tem (verarmtem, aber in der Jugend musikalisch gut ausgebildetem) Adel und um
Spätberufene. Gründe für die Unterrichtstätigkeit lagen nicht mehr zu einem großen
Teil in Traditionen, sondern sind in finanzieller Not, Verarmung, Scheidung, der
Notwendigkeit der Versorgung von Familienangehörigen und persönlichen Schicksalsschlägen zu suchen. Damit trennte sich der Bereich des Unterrichts vom Künstlertum. Waren Hélène de Montgeroult und Marie Bigot noch Claviervirtuosinnen
ersten Ranges, so lässt sich dies von Sophie Gail und Pauline Duchambge (beide in
der Hauptsache Sängerinnen) wahrscheinlich nur noch bedingt sagen. Andererseits
hatte sich auch die Klientel für den Unterricht und damit oftmals auch der persönliche Anspruch an dessen Inhalte verändert. Die Herangehensweise der Schülerinnen
war nicht mehr dieselbe; eine gut durchdachte Unterrichtsmethodik, ein eigenes
Konzept, wurde daher aufseiten der Lehrenden immer wichtiger. Damit verließen
die Clavierlehrerinnen aber auch – so meine These nach dem derzeitigen Forschungsstand – ihre bislang innegehabte soziale Sonderrolle. Ihre Lehrtätigkeit war
nicht mehr reine Selbstverständlichkeit, über die kaum diskutiert wurde, sondern es
begann die Auseinandersetzung eines Berufes mit dem Rollenbild des weiblichen
Geschlechtscharakters, der bis zu diesem Zeitpunkt davon offenbar weitestgehend
verschont geblieben war. Die Berichterstattung ändert sich, der Tenor der Quellen
ist ein anderer geworden. Dennoch: Die weitere Entwicklung des Berufes der Clavierlehrerin konnte durch die (verspätete) Diskussion nicht aufgehalten werden.
In Deutschland und Frankreich näherte man sich also von unterschiedlichen
Ausgangspunkten einer öffentlich respektierten professionellen Lehrtätigkeit von
Frauen: Auf der einen Seite war es die Tradition, auf der anderen Seite die Überlegung auf der Basis wirtschaftlicher Notwendigkeit. Das Ergebnis war jedoch in
zwei Punkten sicherlich vergleichbar: Nach 1800 hatte sich der Beruf der Clavierlehrerin offiziell etabliert, und die Angehörigen dieser Berufsgruppe stammten nicht
mehr wie anfangs fast ausschließlich aus Musikerfamilien und verwandten Berufszweigen.
Instrumentalschulen und Unterricht
Die Methodik des Clavierunterrichts dürfte sich bei Lehrerinnen und Lehrern kaum
unterschieden haben (und war natürlich immer stark von den Persönlichkeiten der
Lehrenden selbst abhängig). In Deutschland gab es seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts verstärkt Diskussionen um die Eigenschaften des ‚guten Lehrmeisters’,
Wesenszüge und Qualitäten, denen Frauen, wie gezeigt werden konnte, gemäß ihrer
Geschlechterrolle in fast allen Punkten entsprechen konnten. Allerdings waren viele
deutsche Lehrerinnen schon recht früh auf den Unterricht von Kindern und Anfängern, zumindest aber von Liebhaberinnen festgelegt. Dieser stellte geringere Anforderungen an das spieltechnische Können der Lehrerin selbst und beschränkte sich
hauptsächlich auf das Reproduzieren einer vorhandenen Methode. Eigene Konzepte
waren kaum von Nöten, da für den Bereich des Anfangsunterrichtes Literatur verfügbar war. Dass zudem aus Sittenstrenge hauptsächlich Mädchen und Frauen von
Lehrerinnen unterrichtet wurden, braucht kaum eigens erwähnt zu werden.
363
In Frankreich erschien sehr früh, nämlich bereits im Jahre 1702, eine Schule,
die sich allein dem Erlernen des Cembalospiels und damit auch der Vorgehensweise
beim Lehren und Lernen widmete: die Principes du Clavecin von Mr de Saint-Lambert.1290 Dass sich in der Folge auch solch berühmte Virtuosen wie François Couperin und Jean-Philippe Rameau zum Unterricht, ja, sogar zum Kinderunterricht äußerten,1291 zeigt die Untrennbarkeit der verschiedenen musikalischen Tätigkeiten in
Frankreich. Der Unterricht fand im Normalfall beinahe täglich statt. Das Anfangsalter war relativ niedrig, es lag etwa bei sechs Jahren. Die Lehrkräfte wurden häufig
nach ein paar Jahren (oder Monaten) gewechselt. Mit jedem/r neuen Lehrer/in
konnte eine Schwerpunktverlagerung des Unterrichts zwischen Instrumentalspiel,
Musiktheorie, Generalbass und Improvisation einhergehen. Oft entspannen sich aus
der Unterrichtssituation heraus lebenslange Freundschaften zwischen der an Jahren
manchmal gar nicht so weit auseinander liegenden Schülerin und ihrer Lehrerin.
Dies lässt sich in allen Ländern beobachten: Mlle Bayon (Mme Louis) und Angélique
Diderot, Genovieffa Ravissa und Angletine de Charrière de Sévery sowie Nina
d’Aubigny und die Gräfin Münster – sie alle sind Beispiele für dies Phänomen und
zeigen, auf welch persönlicher Ebene sich der Unterricht oftmals abspielte.
Dabei fand Instrumentalunterricht in der Schweiz offenbar eher punktuell und
auf besondere Verabredung hin statt, während das Tagebuch Maria Anna Mozarts
zeigt, dass einige Schülerinnen sehr häufig, andere dagegen nur mit großen zeitlichen Unterbrechungen oder gar projektbezogen Unterricht nahmen. Handelte es
sich nicht um eine Schule, eine standortgebundene Institution, so fand der Unterricht meist im Hause der Schülerin statt. Die Bezahlung erfolgte üblicherweise gegen eine bestimmte Anzahl der für jede erteilte Unterrichtsstunde erhaltenen Marken. Selten gab es fest vereinbarte Pauschalen. Eine Unterrichtseinheit dürfte im instrumentalen Einzelunterricht auf 60 Minuten vereinbart gewesen sein, auch wenn
sie in der Praxis manchmal länger gedauert haben mag. Das Alter der Schülerinnen
war unterschiedlich, doch sind bei einigen Lehrerinnen Schwerpunkte auszumachen: Nina d’Aubigny etwa unterrichtete bevorzugt Kinder, Josepha Müllner-Gollenhofer eher Erwachsene. Der gesellschaftliche Status der bezahlenden Schülerklientel war relativ hoch, schließlich mussten die Lektionen, Noten und ein Instrument
finanziert werden. Große Öffentlichkeitswirkung konnte in Deutschland durch die
Gründung einer Schule erreicht werden. Diese Institute waren von den Persönlichkeiten ihrer Leiterinnen stark geprägt, und dies umso mehr, je fachspezifischer sie
ausgerichtet waren und je klarer und individueller die methodischen Vorstellungen
der Gründerin waren. Lehrerinnen wie Elise Müller, Louise Reichardt und Maria
Theresia Paradis fanden in ihren Schulen offenbar Erfüllung und drückten diesen
ihren Stempel auf.
1290
1291
364
Saint-Lambert.
Couperin und Rameau.
Obgleich die Publikationen von Instrumentalschulen von Frauen in Frankreich ungleich zahlreicher als in Deutschland sind, ist keine einzige von einer Autorin verfasste Cembaloschule bekannt. Möglicherweise waren die Frauen des 18. Jahrhunderts in dem Alter, da die meisten Traktate geschrieben und publiziert wurden
(nämlich um das 30. Lebensjahr herum), verheiratet und dachten nicht an eine Publikation. Vermutlich war für die meisten Frauen das Unterrichten ein nicht in Frage
gestellter Teil ihrer musikalischen Tätigkeiten. Sie dachten weniger über eigene
Wege nach als eben so zu unterrichten, wie es in ihrem Umfeld üblich war und sie
es gerade für angemessen erachteten. Sie hielten sich selbst und ihre Arbeit nicht
für so wichtig und für andere bedeutsam, dass sie eigens Anstrengungen unternommen hätten, das Geld für einen Druck zusammenzusuchen, eine Erlaubnis zu beantragen und einen Verleger zu finden (alles Dinge, die Frauen sicherlich schwerer als
Männern gefallen wären).
Alle Traktate von französischen Frauen stammen aus späteren Jahren: Mme
Gougelet etwa, die Frau eines Komponisten, der recht regelmäßig eigene Werke
publizierte, veröffentlichte mit ihrer etwa 1771 erschienenen Methode gleichzeitig
einen neuen Ansatz zur Erlernung des Generalbassspieles: ein Novum und damit
der Publikation wert. Einen genau durchdachten und geplanten, dabei höchst ausführlichen und umfangreichen Lehrgang mit zahlreichen selbst komponierten Etüden veröffentlichte auch Hélène de Montgeroult, auch wenn sie angeblich lange
Zeit gezögert hatte, bevor sie sich um 1820 zum Druck entschloss. Eine verstärkte
Anzahl von Publikationen ist auf dem Gebiet der Harfe, einem typischen Fraueninstrument und damit eigenem Terrain, zu vermerken. Viele der am Conservatoire National de Musique et de Déclamation ausgebildete Frauen waren als Lehrerinnen tätig, entweder privat oder, mit ein wenig Glück, am Conservatoire selbst, wo mit der
steigenden Anzahl an Studentinnen auch immer wieder Lehrerinnen für die Mädchenklassen benötigt wurden. Häufig schrieben diese Frauen selbst für ihren Unterricht in Musiktheorie, Komposition und Clavierspiel. Diese Schulen scheinen speziell auf ihre eigenen Bedürfnisse abgestimmt gewesen zu sein. Dass sie dennoch gedruckt wurden, zeugt von der offenbar großen Anzahl ihrer Schülerinnen.
Beruf: Clavierlehrerin
Ein Eigenverständnis der Lehrerinnen als Pädagogin in Abgrenzung zur ausübenden
Musikerin trat recht spät ein, in Frankreich erst nach der Revolution. Bis dahin wurde eine Lehrtätigkeit, auch eine hauptberufliche, die Lebenshaltungskosten abdeckende professionelle Tätigkeit, immer als ein Teil des Musiker(innen)daseins
empfunden. Erst mit den veränderten sozialen Verhältnissen, der Entwicklung und
Stärkung des Bürgertums, seiner Imitation des Adels und den Auswirkungen dieser
Nachahmung auf das Musikleben (z. B. die Entwicklung des Konzertwesens und
das standardisierte Clavierspiel der höheren Töchter) begann der Prozess der Aufsplitterung des Berufes Musiker(in) in verschiedene Bereiche wie z. B. Virtuos(inn)en und Lehrer(innen). Je weiter die pädagogischen und methodischen Überlegungen in das Zentrum des Handelns einer Lehrkraft rückten, desto verstärkter
365
begriff sie sich als Lehrer(in). Wurde Unterrichten – wie von Maria Theresia Paradis überliefert – gar als Erfüllung empfunden, so war der Weg bereitet, sich selbst
als Lehrerin zu definieren. Diese Entwicklung nahm nach 1800 zu, dennoch war der
Beruf der Clavierlehrerin für einen großen Teil Frauen (und Männer) weiterhin Teil
– wenn auch mittlerweile ein Teilberuf – der Tätigkeit als Musiker(in).
Der Beruf der Clavierlehrerin hatte sich damit zum Zeitpunkt des Wiener Kongresses als Profession, als Berufsmöglichkeit für Frauen etabliert. Sein Gesicht war
allerdings multipel: Das Berufsbild zeigte ebenso deutliche regionale Ausprägungen
wie starke individuelle Züge.
366
Biografischer Anhang
1
Drei (Auto-) Biografien
1.1
Die Autobiografie der Therese aus dem Winckel
Therese aus dem Winckel verfasste im Mai 1860 auf Anfrage von Ferdinand
Hartmann, Professor an der Dresdener Kunstakademie, folgende Autobiografie (mit
Begleitschreiben):
Hochgeehrter Herr Professor!
Auf Ihre gütige Aufforderung erfülle ich hier Ihren Wunsch und lege Ihnen eine
kurzgefasste Biographie bei, welche wohl alles enthält was sich, mit strenger Wahrheitsliebe, von mir als Künstlerin erzählen lässt. Sie werden es hoffentlich billigen
dass ich als dritte Person die Schilderung entwerfe, ich wiederhole das „ich“ nicht
gern so oft; ich hielt mich am meisten bei Kindheit und erster Jugend auf, weil da
die Karakterzüge wohl am individuellsten und interessantesten sind, später verfliesst alles mehr im allgemeinen Lebensstrom. Verzeihen Sie dass ich die genauere
Bezeichnung der Jahreszahlen vermied, ich bin dies meiner jetzigen Lebenslage
schuldig; ich bin älter als ich scheine, da ich gesund und lebhaft bin; aber viele Eltern, sobald sie wüssten dass ich bejahrter bin, würden mir weniger Vertrauen
schenken, und glauben ich sey stumpfer oder nicht mit der Zeit fortgeschritten, und
nach sehr harten Verlusten die ich in neuerer Zeit erlitten, ist mir das Unterricht geben unentbehrlich um mich im Wohlstand zu erhalten; es kommt ja da wenig an auf
eine Jahreszahl! Dass ich natürlich nur ausführlicher erwähnt habe was Beziehung
auf Kunst hat, werden Sie wohl billigen. Kein Portrait kann ich beifügen weil ich
keines habe, und eigentlich nie mein Aeusseres meinem innern Selbst entsprechend
ähnlich fand! Nehmen Sie diese geringen Blätter nachsichtig und gütig auf, darum
bittet hochachtungsvoll
Ihre ergebenste Therese aus dem Winckel
Dresden 27. Mai 18601292
Biografie von Therese aus dem Winckel1293
Therese kam gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts in Weissenfels in Thüringen
zur Welt. Ihr Vater1294 war Obristlieutnant in Königl. Sächsischen Diensten, ihre
Mutter1295 eine wohlhabende Leipzigerin, von seltner Bildung an Geist und Sprachkentnissen; sie war schon über 50. Jahr alt, als sie dieser einzigen Tochter genas,
welche, wie gewöhnlich Kinder von so reifen Müttern, ein sehr kräftiges, gut organisirtes Kind war. Da die Eltern wünschten ihr eine sorgfältige Erziehung und gute
1292
1293
1294
1295
SLD, Mscr. Dresd. App. 1191, Nr. 986.
SLD, Mscr. Dresd. App. 1191, Nr. 987.
Oberstleutnant Julius Heinrich aus dem Winckel.
Christiane Amalie, geb. Dietz aus Leipzig.
369
Lehrer zu geben, so beschloss die Mutter nach Dresden zu ziehen zu ihrer Mutter,
welche dort ein reizendes kleines Haus, an der Elbe gelegen, besass, wo der Vater
auf Urlaub seyn konnte, so oft es sein Dienst erlaubte.1296 Hier wuchs Therese still
und einsam, heiter und glücklich auf, von Mutter und Grossmutter liebevoll aber
streng erzogen und gut unterrichtet. Vor dem 4. Jahr konnte sie schon deutsch und
französisch fertig lesen und eben so gut Noten vom Blatte. Das Kind war sehr gern
fleissig, aber weder Spielzeug noch Umgang mit Kindern machte ihr Freude; sie
war seelenfroh wenn sie im Garten herumspringen und die Natur belauschen konnte, oder ruhig in einem Eckchen sitzend sich Geschichten und Mährchen ersinnen,
die sie mit ihren 10 Fingern ihrer stehenden Schauspielergesellschaft dramatisch
ausführte. Sie las gern, aber nur ernste Bücher; ausser der heiligen Schrift wurden
von ihrem 8.ten Jahr an, Youngs Nachtgedanken1297, gut übersetzt, ihr Lieblingswerk, sie bat sich aus Sonntags darin für sich allein lesen zu dürfen. Die einzige
Theresen sehr liebe Erholung war der Besuch des Theaters. Hier lernte das Kind
aufmerksam die Folgen der Handlungen beobachten, es ward ihr eine Schule der
Welt und wie man sich darin zu betragen habe; die Richtung war, durch die Vorliebe die man für die Ifflandischen Stücke1298 hatte, eine sehr sittliche; Therese war
durch ihr lebhaftes Interesse dafür, wie mitten in der Welt, ohne selbst eine Rolle
dabei spielen zu wollen, und ohne dass ihre Eitelkeit im mindesten geweckt wurde.
Sie hörte gern und still Gesprächen älterer Personen zu. Von ihrem Vater lernte sie
mit großer Freude alle Anfangsgründe der Geometrie; Rechnen nur als Pflicht. Geographie interessierte sie sehr, von Geschichte nur die der Griechen und Römer, und
Mythologie. Poesie liebte sie damals noch gar nicht, Reime schienen ihr ein tändelndes Spiel, und es schien ihr grausam den Flug der Gedanken so fesseln zu wollen; erst viel später, in erblühter Jugend, ergriff sie Schiller’s Geist mit namenlosen
Enthusiasmus, nun ging ihre ganze Seele der Dichtung auf.
Sie hatte mit grosser Leichtigkeit italiänisch und englisch gelernt und liebte
sehr die Litteratur beider Sprachen. Sie spielte Piano ziemlich gut; ihre grosse Vorliebe für Italien machte dass sie südliche Instrumente gern studierte, sie erreichte
schnell ausgezeichnete Fertigkeit auf Mandoline und Guitarre, doch all dies genügte
ihr gar nicht. Beethoven, den man damals noch wenig kannte und viel tadelte, war
der Künstler für den sie schwärmte, so, dass sie, die sonst ziemlich sanft war, eine
musikalische Zeitung wo er kritisiert wurde, vor Zorn in Stücken riss.
Natürlich stand sie mit all diesen Gefühlen sehr einsam, ihre Mutter war kenntnissvoll aber streng prosaisch, sie nahm alle Künste nur als Schmuck, nicht als
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Das Haus befand sich im sog. „Italienischen Dörfchen“ Nr. 17 am Theaterplatz, siehe
Strittmatter, S. 9.
Gemeint ist Edward Youngs 9-bändige Sammlung The Complaint; or Night Thoughts
of Life, Death, and Immortaly, erschienen 1742–1745 (GA 1747), seine Klagen oder
Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit.
Der dt. Dichter und Schauspieler August Wilhelm Iffland (1759–1814) war seit 1811
Generaldirektor am Königlichen Schauspiel in Berlin.
Zweck des Lebens. Tanz trieb Therese als gymnastische Uebung gern; Gesellschaftsbälle liebte sie gar nicht, aber in künstlichen Tänzen, wie Fandango, Gavotte,
Shawltanz1299 war sie sehr geschickt. In dieser Zeit war ein trefflicher alter Harfenlehrer als Emigrant aus Paris gekommen; dies Instrument ergriff Therese mit vollen
Enthusiasmus, der alte Lehrer hatte grosse Freude an den Fortschritten des Kindes,
er war der erste der ihr Muth einflösste, doch verliess er bald Dresden wieder; er
sah wohl ein dass sie ohne allen Unterricht und Vorbild, und ohne gutes Instrument,
endlose Schwierigkeiten würde zu überwinden haben, doch verlangte er ein heiliges
Versprechen von ihr, dass sie nie die Harfe aufgeben würde, weil er überzeugt sey,
sie würde einst ausgezeichnet gut spielen. Sie hat es treu gehalten und ihn oft dafür
gesegnet dafür, weil sie ohne dies Versprechen doch abgeschreckt worden wäre.
Zeichnen fieng sie mit grosser Lust an, bei einer geschickten Lehrerin; bald genügte ihr dies nicht, und sie wurde nun von einem akademischen Lehrer1300 unterrichtet. Mit Freuden liess sie sich Sonntags, wo niemand dort war, in die Akademiesäle einschliessen, um dort nach Skeletten zu zeichnen. Nun sollte sie anfangen zu
malen, ihr alter Lehrer war nur Zeichner, und konnte ihr nur einige Gemälde von
der Akademie leihen, aber sagen konnte er ihr gar nichts; wahre Künstler gaben damals keinen Unterricht an Mädchen, sie fing also ganz für sich allein an, und
kämpfte mit grossen Schwierigkeiten. Als nach einem Jahre der alte würdige Professor Graff1301 ihre Arbeiten sahe, ermunterte er sie sehr. Sie besuchte die Gallerie
sehr fleissig, wo die italiänischen Gemälde sie sehr anzogen; der niederländischen
Schule konnte sie gar keinen Geschmack abgewinnen; ihrer Meinung nach sollte
jede Kunst nur dazu dienen das Gemüth zu erheben und zu veredeln, für etwas anderes hatte sie noch gar keinen Sinn; den Pinsel bewundern konnte sie an keinem
Bilde, sie wollte lieber ganz vergessen dass es mit einem Pinsel gemacht war! Zufällig hatte ein junger Künstler aus Stuttgart, Prof: Hartmann1302, eine Madonna von
Annibal Caracci1303, in einem grossen, edlen Styl kopirt, und war so gefällig der
lernbegierigen Therese diese Kopie zu leihen, ohne sich weiter darum zu bekümmern. Sie wiederholte sie ganz für sich allein; wer es sah fand diese Arbeit gelungen. Therese wünschte sehnlich Schülerin des damals sehr berühmten Prof. Grassi1304 zu werden, dessen Werke sie mit Zaubergewalt anzogen. Nun glaubte ihre
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Ein Shawl ist ein gewebtes Umhängetuch. Der Shawltanz ist ein Solotanz, der bes. in
orientalisch inspirierten Balletten, außerdem im Kotillon (einem frz. Gesellschaftstanz)
und in Quadrillen eingesetzt wird.
Gemeint ist ein Lehrer der Kurfürstlich Sächsischen Akademie der Künste.
Prof. Anton Graff von der Dresdener Kunstakademie.
Prof. Ferdinand Hartmann von der Dresdener Kunstakademie, der Initiator der Autobiografie Th. a. d. Winckels.
Annibale Carracci, 1560–1609. Die Mitglieder der Bologneser Künstlerfamilie Carracci
griffen auf die Hochrenaissance zurück. Sie verarbeiteten in ihren Werken antike Einflüsse und strebten nach einem ‚klassischen’ Ideal.
Der Italiener Joseph Grassi war seit 1800 Professor an der Dresdener Kunstakademie.
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Mutter, sie dürfe ihn wohl einladen, ihm ihre Arbeiten zeigen und ihre Bitte vortragen. Grassi war erst freundlich und gefällig, sobald er aber die Madonna sahe, rief
er: „sie sind Schülerin von Hartmann, da brauchen sie mich nicht!“ Die heiligsten
Versicherungen dass Hartmann nie ihrer gewesen sey, von Mutter und Tochter halfen nichts, der grollende Italiäner rief: „machen sie mir das nicht weiss! ich sehe ja
Hartmanns Pinsel in jedem Strich!“ und eilte fort. Therese war untröstlich und
weinte Tagelang, doch man machte ihr begreiflich dass ihrem Talent treu zu kopiren kein größerer Lobspruch habe ertheilt werden können; sie sollte den ganzen
Vorfall als einen Wink der Vorsehung ansehen, auf dem begonnenen Wege ruhig
und muthig fortzugehen, aber er behielt Einfluss auf die Richtung ihres ganzen Lebens. Sie beschloss dass nur die alten großen Meister der Vorzeit fortan ihre Lehrer
seyn sollten; sie lernte immer mehr einsehen dass ächt weiblichen Karaktern wohl
sehr selten schöpferische Kraft verliehen ist, und diese seltnen Ausnahmen, seyen
es meist auch auf Kosten der Weiblichkeit. Dass sie hingegen gewiss bei ernsten
Studium, fähiger werden könnten, sich einem Original, was sie aus voller Seele bewunderten, treuer anzuschmiegen als es ein Mann vermöge, der unwillkührlich immer etwas von seiner Originalität hineinmischen werde; dieser werde auch stets
wünschen selbst genannt zu werden, statt dass das Weib mit Freuden vergessen
seyn wolle, wenn nur jeder Kenner bei ihrem Werk gleich den Namen des ersten
Schöpfers desselben ausrufe; sie fühlte, dass es schöner sey in einem untergeordneten Fach ausgezeichnet zu seyn, als in ein höheres zu pfuschen, und das der Welt in
Ländern wo man die Originale der grössten Meister nicht habe, auch mit einer
meisterhaften Kopie mehr gedient sey, als mit einem mittelmässigen Originale. In
dieser Richtung ging nun Theresens ganzes Streben; sie arbeitete rastlos fleissig auf
der Gallerie, sie lernte dort Herder1305 kennen der ihr väterliche Theilnahme schenkte, und für sie ein Stern ihres Jugendlebens wurde. Ihr innerer Ruf gieng stets nach
Rom; doch ihre weltkluge Mutter sah wohl ein dass in jenem ersten Jahrzehent des
19. Jahrhunderts, wo alle Meisterwerke der Kunst in Paris vereinet waren, und wo
zugleich die wahre Pflanzschule für Theresens Lieblingsinstrument war, es für diese
weit vortheihafter sey in Paris ihre Studien fortzusetzen; Therese folgte mit schweren Herzen, dort stand ihr