Theo Sommer Die Welt im Jahre 2003
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Theo Sommer Die Welt im Jahre 2003
Theo Sommer Die Welt im Jahre 2003 Athenée und Goethehaus Luxemburg 23. April 2003 1 Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, soll er zu ihr gesagt haben: „Wir leben in einer Übergangsphase.“ Auch wir leben in einer Übergangsphase. Die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges ist versunken. Eine neue Weltordnung hat sich bis heute nicht herausgebildet, wenngleich es immer wieder Anläufe dazu gegeben hat und gibt. Bush senior ist mit seinem multilateralen Ansatz nicht sehr weit gekommen. Bush junior versucht es nun auf die unilaterale Weise, indem er die amerikanische Übermacht einsetzt. Ich fürchte, er wird damit auch nicht viel weiter kommen als sein Vater. Wenn ich heute zu Ihnen über die gegenwärtige Weltlage spreche, so möchte ich dies in drei Schritten tun. Ich werde zunächst eine allgemeine Charakteristik unserer Epoche versuchen und auf ihr bestimmendes Merkmal hinweisen: die Gegenläufigkeit gleichzeitiger Entwicklungstendenzen. Danach werde ich mich der Frage zuwenden, ob Dialog der Kulturen oder Kampf der Kulturen unsere Zukunft dominieren wird. Schließlich will ich einige Gedanken über die unleugbare Entfremdung vortragen, die zwischen Amerika und Europa, zu registrieren ist, auch hier, scheint mir, ist der Dialog der Kulturen dringend vonnöten. I. Was unser Zeitalter in außergewöhnlichem Maße prägt, ist die Gegenläufigkeit der vorherrschenden Strömungen. Es gibt nicht nur eine 2 einzige Entwicklungsrichtung. Überall sind zur gleichen Zeit zwei entgegengesetzte Tendenzen am Werk. Zur gleichen Zeit bauen wir Grenzen ab und errichten neue Bollwerke. Die Globalisierung der Finanzmärkte und der Informationsnetze, freilich auch des Verbrechens und neuerdings des Terrors, spiegeln uns eine Welt ohne Mauern und Zäune vor. Typisch dafür ist der Slogan „On planet Reebok there are no boundaries.“ Doch die offene Welt steht gegen die Limes-Welt. Rund 700 Millionen Reisende tummeln sich jedes Jahr außerhalb der Grenzen ihres Landes; ihnen öffnen sich alle Tore. Die Hunderttausende von Flüchtlingen aber, die jährlich zu dem Heer der 35 Millionen Geflohenen und Vertriebenen neu hinzukommen, die Migrationströme der Mühseligen und Beladenen – sie treffen an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten auf drei Meter hohe Stahlmauern, an der deutsch-polnischen Grenze auf verschärfte Polizeikontrollen, an der italienischen Adria-Küste auf abweisende Torpedoboote. Im „Schengenland“ haben dreizehn EU-Staaten die Grenzkontrollen abgeschafft, doch ihre gemeinsame Außengrenze kontrollieren sie seitdem um so schärfer. Auf der einen Seite sehen wir die Kräfte der Globalisierung am Werk. Wir registrieren den Siegeszug des kapitalistischen Wirtschaftens. Mit gemischten Gefühlen genießen wir die moderne Schnellimbisswelt: McDonald’s und Häagen-Dasz, Wienerwald und Kentucky Fried Chicken. Immer stärker bildet sich eine Weltkultur heraus, geprägt vom amerikanischen Englisch, von Rock- und Popschlagern und Hollywood- 3 Filmen, von e-Mail und Internet, Jeans und T-Shirts, Gucci und Versace: eine erdumspannende Trivialkultur, die in den Flughäfen und EinkaufsMalls rund um den Globus ihren verdichteten Ausdruck findet. Nur wenig noch ist authentisch, organisch gewachsen, örtlich verwurzelt. Die Welle der kulturellen Homogenisierung rollt. Auf der anderen Seite nimmt der Beobachter verwundert wahr, wie dem Zug ins Weltweite eine Renaissance der Nahwelten entgegenwirkt, eine Flucht in die kleineren Einheiten, ein Aufleben von Stammesstolz und parochialem Selbstbewusstsein. Der Sprengel steht auf gegen die eine, einförmige Welt. Der Tribalismus erhebt sich gegen den Globalismus. Dem Zug ins Weltweite Althergebrachten, entspricht ein Zug zum Herkömmlichen, Einheimischen. Die Trachtenvereine blühen, die Volksmusik war noch nie so volkstümlich, stolz werden die Dialekte der Vorväter gepflegt: „Wi snackt platt!“ Und gegen die Welle des vermeintlichen oder tatsächlichen amerikanischen „Kulturimperialismus“ erhebt sich Widerstand. Kultur, so lautet die Botschaft der dagegen Aufbegehrenden, ist ein unabdingbarer Teil der Identität eines jeden Volkes; sie darf nicht zu einer Kategorie des bloßen Kommerzes verkommen. In diesem Gegensatz von Globalisierung und Lokalisierung zeigt sich das Doppelgesicht der Epoche am deutlichsten. Integration und Fragmentierung, Zusammenwachsen und Zersplitterung vollziehen sich nebeneinander. Zugleich mit dem Drang zur Vereinheitlichung macht sich ein Zug zur Vielfalt geltend. Dem Traum von der „Einen Welt“ steht die Realität eines balkanisierten Planeten gegenüber. Der Sehnsucht nach der überwölbenden Weltgemeinschaft entspricht ein starkes Verlangen nach Identität und 4 Geborgenheit in der kleinen Einheit. Das Wiedererstarken von Ethnizität, Sprache, Geschlecht, Herkunft und Religion ist eine Antwort auf die drohende Homogenisierung, auf das Über-einen-Kamm-geschoren-Werden, auf Gleichschaltung und Gleichförmigkeit. Der Begriff „Glokalisierung“ verdankt dieser Ambivalenz, dieser Ambiguität sein entstehen. „Je globaler die Welt wird, desto lebendiger wird das Streben nach Identifikation“ – Elmer Johnson, der Präsident des Aspen Instituts, trifft mit seiner Analyse den Kern des Problems. Mehr denn je ist unsere Welt geprägt von Vielfalt und Verschiedenheit, von Diversität und Differenz. Die Frage ist: Wie gehen wir mit Differenz um? Diese Frage bewegt die Menschheit nicht erst seit dem Einsetzen der Globalisierung. Sie stand schon am Anfang jenes historischen Prozesses, im dem sich vor einem halben Jahrtausend die modernen Nationalstaaten Europas herausbildeten. Die oberste Aufgabe des Staates war es dabei, eine Eskalation der Differenzen innerhalb der einzelnen Länder zur Gewalt zu verhindern. Befriedung war das Ziel, Friedensbewahrung die zentrale Aufgabe der Herrscher. Wie der Staat diese Aufgabe der Pazifizierung leisten sollte, dazu gab es in der politischen Theorie zwei konträre Ansätze. Der eine Ansatz war der von Thomas Hobbes. Er setzte auf den starken Souverän, der mit dem Gewaltmonopol des Staates die Macht von Fürsten, Raubrittern und Briganten entprivatisiert und Sanktionen verhängt gegen alle jene, die die gesetzten Regeln durchbrechen und damit das Gefüge des 5 Gemeinwesens, seine Stabilität gefährden. Seinem Leviathan-Staat billigte Hobbes unbegrenzte Sanktionsmöglichkeiten zu. Auch entband er ihn von den Fesseln der Moral, wenn nur so der Bürgerkrieg zu verhindern wäre. Demgegenüber baute Jean-Jaques Rousseau auf den Gemeinwillen der Bürgerschaft, auf die gemeinsame Wertorientierung der Bürgerinnen und Bürger. Er baute auch einen normativen Konsens der Gesellschaft, der durch kluge Führung, durch Erziehung und kulturelle Angleichung herzustellen sei. Seine Grundidee bestand darin, „dass die Differenzen der Privatpersonen im Bürgerstatus eingeebnet werden“ (Nida-Rümelin). Wohl stehen staatliche Sanktionen im Hintergrund auch des Gemeinwillens, doch der Knüppel der obrigkeitlichen Gewalt bildet nicht die Hauptstütze der Stabilität. Diese Antworten, die Hobbes und Rousseau auf die Frage nach dem Umgang mit Differenz im einzelnen Staat gaben – taugen sie heute, um eine Weltordnung für über 200 Staaten zu schaffen? Ich gestehe: Hobbes im Weltmaßstab – das kann ich mir nicht vorstellen. Die globalisierte Welt kennt nur relativ schwache zentrale Institutionen. Die Vereinten Nationen sind kein Leviathan, der Fanatismus und Gewalttätigkeit rücksichtslos eindämmen kann; sie sind und bleiben Knetmasse in der Hand ihrer Mitglieder. Sie stellen heute keine Weltregierung dar und werden es auch schwerlich werden, ehe eine Invasion aus dem All die Völker dieser Erde zusammenzwingt. Das Beispiel der Europäischen Union zeigt, wie schwer es ist, einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung über die 6 nationalstaatliche Integrationsstufe hinaus zu bindender Kraft zu verhelfen. Eine Hegemonialmacht aber wird auf die Dauer immer wieder konterkariert und ausbalanciert werden. Die Europäer haben dies durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder erfahren – Amerika steht diese Erfahrung wohl erst noch bevor. Hobbes wird uns also nicht weiterhelfen. Ich fürchte, wir werden auf Rousseaus Rezept zurückgeworfen: einen Gemeinwillen der Bürgerschaft herzustellen – durch kluge Führung, durch Erziehung, durch Angleichung, und all dies nunmehr auf globaler Ebene, mit dem Ziel der Weltbürgerschaft. Dies geht nur durch Dialog. Der Dialog aber muss in vielen Gesprächskreisen geführt werden: zwischen den Kirchen; zwischen den Regierungen; zwischen den Wissenschaftlern, der Jugend – Studenten und Schülern – den Medienvertretern, den Künstlern. Alle müssen sich daran beteiligen. Das Ziel muss es sein, im Dialog der Kulturen die bestehenden Differenzen in einem neuen Weltbürgerbewusstsein aufzuheben im dreifachen Hegelschen Sinne: bewahren, überwinden, emporheben. Wie Vaclav Havel es formuliert hat: „Die entscheidende Aufgabe besteht darin, von Grund auf ein System universeller, moralischer Werte zu stärken, die von allen geteilt werden. Ein System, das es in wirklich globalem Maßstab unmöglich macht, die diversen Regeln immer wieder mit mehr Einfallsreichtum zu unterlaufen, als in ihre Erfindung eingeflossen ist.“ Es gibt keinen anderen Weg. Er wird lang sein und steinig sein, aber die Menschheit muss ihn beherzt einschlagen. Den Vereinten Nationen kommt dabei eine bedeutsame Rolle zu. Sicherlich ist an der UNO vieles 7 verbesserungswürdig Weltorganisation eine und verbesserungsbedürftig. Einrichtung, die Doch Legitimation bleibt die verleiht und Partizipation verbürgt. Vor allem ist sie eine Stätte der Begegnung und eine Plattform für die Diskussion. Niemand sollte sie leichtfertig umgehen, bloß weil der Sicherheitsrat oder die Generalversammlung sich nicht als bloße Kopfnick-Maschine verstehen. Im Dialog der Kulturen wächst den Vereinten Nationen eine Aufgabe zu, die wichtiger ist als alles, wozu sie seit 1945 aufgerufen worden ist. Vor allen Dingen der UNESCO eröffnet sich hier ein weites und bedeutsames Bestätigungsfeld. Nun wissen wir alle: Es gibt viele, die nichts vom Dialog der Kulturen halten, sondern uns stattdessen raten, sich lieber auf einen Kampf der Kulturen einzurichten. Diesem Thema will ich mich jetzt zuwenden. II. Es ist vierzig Jahre her, dass der große französische Soziologe, Kulturphilosoph, Historiker und strategische Denker Raymond Aron sein magistrales Werk „Paix et Guerre“ veröffentlichte. Darin stellte er die ungemein hellsichtige These auf, die bipolare Aufteilung der Welt werde nicht von Dauer sein. Die eigentliche Aufteilung und Einteilung der Welt werde durch die Heterogeneität der Zivilisationen bestimmt werden, durch die Verschiedenheit der Kulturen also; und dieses Grundmuster werde nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zum Durchbruch kommen. Im Rückblick werde sich die Auseinandersetzung zwischen Ost und West angesichts des dann zutagetretenden Zivilisationskonflikts als eine Kleinigkeit ausnehmen. 8 Vor zehn Jahren griff der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington Arons Thema auf und spitzte es in Foreign Affairs zu der These zu, nach den Kriegen der Könige und nach den Kriegen der Völker beginne nun eine Phase der Kriege zwischen den Kulturen. Huntingtons Aufsatz trug den Titel The Clash of Civilizations? – mit Fragezeichen. Doch sein Befund widersprach dem Fragezeichen (das er dann in der späteren Buchausgabe auch fortließ). Klipp und klar befand er: „Der Zusammenprall der Kulturen wird die Weltpolitik beherrschen.“ Und an anderer Stelle: „Der nächste Weltkrieg, wenn es einen geben sollte, wird ein Krieg zwischen den Zivilisationen sein.“ Ganz konkret beschwor der dabei einen bewaffneten Konflikt des Westens mit dem islamischen Kulturkreis, dem ein waffenlieferndes konfuzianisches China als Verbündeter zur Seite steht. Nach dem ersten Golfkrieg 1991, nach den mörderischen Anschlägen des 11. September und nach dem anglo-amerikanischen Krieg zur Entwaffnung des Irak und zum Sturz Saddam Husseins fragen sich viele besorgte Zeitgenossen, ob die Prophezeiungen Arons und Huntingtons jetzt etwa in Erfüllung gehen. Lassen Sie mich meine Antwort auf diese Frage vorwegnehmen: Wir sollten um Gotteswillen nicht in lähmende Resignation verfallen. Es wäre absolut falsch, so zu tun, als sei der Kampf der Kulturen unausweichlich. Die Terroranschläge der Al-Qaida sind nicht die erste Schlacht in einem Krieg zwischen Morgenland und Abendland. Vielmehr müssen wir alles daran setzen, um ihn zu vermeiden; um Brücken zu bauen, anstatt Schützengräben auszuheben; um zu lernen, mit Differenz zu leben. Dies aber erfordert, dass wir gegen die fundamentalistischen Kreuzzügler auf allen Seiten – und ich 9 sage ausdrücklich: auf allen Seiten – die Vernunft mobilisieren, das leidenschaftliche Bemühen darum, die Grenzen zwischen den Kulturen nicht zu Frontlinien werden zu lassen. Es erfordert die niemals erlahmende intellektuelle Anstrengung, vorhandene, wenngleich möglicherweise verschüttete Gemeinsamkeiten wieder ans Tageslicht zu fördern. Und es erfordert die Bereitschaft, den Willen, die Kraft zum Dialog. Auf diesen Dialog müssen wir uns mit dem islamischen Kulturkreis einlassen, aber genauso notwendig ist er zwischen uns und den Millionen Muslimen, die seit Jahrzehnten mitten unter uns leben und die – machen wir uns da keine Illusionen – ein bleibender Bestandteil unserer Bevölkerung und unserer Gesellschaften geworden sind. Wir stehen vor der doppelten Aufgabe: einmal den externen Dialog mit der islamischen Welt zu führen, zum anderen das interne Gespräch mit unseren Mitbürgern aus jenen Regionen zu pflegen, in denen Minarette, nicht Kirchtürme das Bild der Städte und Dörfer bestimmen. In beiderlei Hinsicht geht es darum, Anerkennung von Identität mit Integration zu verbinden. Die Epoche der Glaubenskriege, der Kreuzzüge, der Inquisition und Exkommunikation, der Pogrome und der Rassenverfolgung, des Wettkampfs der Ideologien auch im Kalten Krieg – sie sollte uns Europäer gelehrt haben, dass daraus nichts Gutes erwachsen kann. Es ist schlimm genug, wenn die Völker um Interessen Krieg führen, um Land, um Beute, um territorialen oder ökonomischen Zugewinn. Wenn sie aber um Seelen und Gewissen kämpfen, wenn sie dem Gegner eine alleinseligmachende Wahrheit aufzuzwingen suchen, verschärfen sich die 10 Kriegsgründe. Dann verbieten sich Kompromisslösungen; dann geht es um alles oder nichts; dann heißt die Parole: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Dann wird Intoleranz Trumpf. In diese Falle, die uns die Bin Ladens dieser Welt stellen, dürfen wir keineswegs tappen. Wo sie uns den Heiligen Krieg erklären, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit allen Kräften zu wehren. Aber wir sollten uns davor hüten, nun selber Kreuzzüge auszurufen. Abwehr und Eindämmung ist eines; missionarischer Gegenangriff ein ganz Anderes. Wir Europäer haben die Epochen der Glaubenskriege hinter uns. Die Einsichten, die sie uns hinterlassen hat, dürfen wir nicht einfach in den Wind schlagen. Und sowenig wir in die Falle Bin Ladens tappen dürfen, so wenig sollten wir uns von den Huntington-Theorien ins Bockhorn jagen lassen. Der Dialog der Kulturen ist nach dem 11. September wichtiger denn je. Dabei kann das Erbe der europäischen Aufklärung uns auch heute den Weg weisen. Lessings Nathan und seine bohrende Frage sind von beklemmender Aktualität: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude / als Mensch?“ Lessings Botschaft der Humanität lautete schlicht: „Begnügt Euch doch, ein Mensch zu sein!“ Doch ist dies nur die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite liegt darin, dass Unterschiedlichkeit nie gänzlich aufzuheben ist. Es haften dem Menschen stets kulturelle Prägungen an, die Toleranz verlangen. Seine Identität ergibt sich aus diesen kulturellen Prägungen. Was folgt daraus? 11 Eine Maxime aus Goethes Nachlass mag uns hier weiterhelfen, die der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg ausgegraben hat. Sie lautet: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Dulden heißt beleidigen – das ist ein Satz, der provoziert. Zumindest provoziert er das Nachdenken über Toleranz und Identität. Toleranz soll nach Goethe nur eine vorübergehende Gesinnung sein, aus ihr müsse Anerkennung wachsen. Die Freiheit des Andersdenkenden, anders zu denken, ist nicht nur hinzunehmen. Sie ist zu würdigen, zu schützen. Dies schränkt die Freiheit zu missionieren ein oder schafft sie sogar ab. In der Deutung von Adolf Muschg: „Zur eigenen Wahrheit gehört unverzichtbar die Wahrheit der anderen Seite.“ Für den Erfolg eines jeden Dialogs der Kulturen folgt daraus, dass er im Bewusstsein der gleichen Würde aller Kulturen geführt werden muss. Das schließt einen Siegeszug, gar einen Oktroi westlicher Vorstellungen aus. Die Beleidigung des Duldens hört erst auf, wo die Achtung der anderen Kulturen beginnt, ihre Anerkennung in ihrem Anders-Sein. Allein auf dieser Grundlage kann sich ein fruchtbarer Dialog entfalten. Wie Martin Buber es vor fünfzig Jahren in seiner Frankfurter Friedenspreisrede formulierte: „Die Akzeptanz des Gegenübers ist die Grundlage des Dialogs.“ Ich beeile mich jedoch, gleich etwas Wichtiges hinzuzusetzen. Achtung vor anderen Kulturen setzt voraus, dass diese ihrerseits Respekt bezeigen gegenüber jenen Werten und Normen, die allen Zivilisationen gemeinsam sind; dass sie die unveräußerlichen Rechte des einzelnen Menschen 12 anerkennen; dass jegliche Obrigkeit entwürdigende Praktiken wie Folter, Verweigerung politischer Teilhabe oder das Predigen von Hass unterlässt. Schon ein oberflächlicher Blick auf den Globus enthüllt, dass diese Forderungen noch keineswegs überall erfüllt sind. Aber vergessen wir nicht: Auch in unseren Breiten haben sich Demokratie und Menschenrechte erst ziemlich spät durchgesetzt. Dies geschah in einer langen Folge mühseliger kleiner Schritte und immer wieder mit entsetzlichen Rückfällen und Rückschlägen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch heute noch manche Lücken. Und gerade im Blick auf den Menschenrechtsgedanken und die Idee des laizistischen Staates wird man auch darauf hinweisen müssen, dass der Widerstand auch der christlichen Religionsgemeinschaften den Modernisierungsprozess, den wir heute als selbstverständlich begreifen, lange Zeit behindert und verhindert hat. Vertrauen wir darauf, dass sich der Fortschritt allen Widerständen und Hemmnissen zum Trotz auch anderswo im Walten der Geschichte durchsetzen wird. Jacob Burckhardts finsteres Diktum, die islamische Welt sei „unfähig zur Wandlung“, muss nicht für alle Zeiten gelten. Dass die Wandlung allerdings am besten mit Waffengewalt in Gang zu setzen sei, darf man mit fug und Recht bezweifeln. Und damit bin ich beim dritten Teil meiner Darlegungen: dem derzeitigen Verhältnis zwischen Amerika und Europa, dem Zustand der Atlantischen Gemeinschaft, die weit mehr ist als nur die NATO, und den Aussichten, die vor und während des Irak-Krieges sichtbar gewordenen Differenzen zu überwinden. 13 III. Ich mache mir Sorgen um die Atlantische Gemeinschaft. In ihr sind in den vergangenen Jahren tiefe Risse sichtbar geworden, und zum ersten Mal seit fünfzig Jahren bin ich nicht mehr sicher, dass sie gekittet und geschlossen werden können. Um es gleich zu sagen: Ich führe dies nicht auf die raffinierte Entschlossenheit (oder entschlossene Raffinesse) der Franzosen zurück, auch nicht auf die hanebüchene Ungeschicklichkeiten der rot-grünen deutschen Außenpolitik. Die ist gewiss zu beklagen. Aber auch mehr diplomatische Handwerklichkeit in Berlin, mehr Eleganz der Darlegung, weniger Moralisieren hätte wohl keine größere Wirkung gezeigt – wir sehen dies am Beispiel der Franzosen. Die Ursache der Misere ist vielmehr eine unter George W. Bush sichtbar gewordene völlig neue amerikanische Geisteshaltung. Sie basiert auf der Devise von Schillers Tell: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ Verbündete passen dazu nur insoweit, wie sie fraglos und klaglos Gefolgschaft leisten. Bündnistreue wird da leicht auf Vasallentum reduziert. Internationale Organisationen werden umgangen oder übergangen, wo sie nicht Washington zu willen sind. Vertraglichen Verpflichtungen entzieht man sich, sobald sie die eigene Handlungsfreiheit auf lästige Weise einengen. 14 Es ist daher absolut töricht, Kritik an der Bush-Administration als Kritik an Amerika überhaupt hinzustellen oder sie schlichtweg als Antiamerikanismus abzustempeln. Worum es den besorgten Kritikern heute geht, ist die Abkehr der Bush-Administration von jener Gemeinsamkeit der Werte und Bewertungen, die den Westen während des Kalten Krieges ein halbes Jahrhundert lang zusammengehalten hat. Um es ganz klar zu sagen: Die vielbeschworene Wertegemeinschaft gibt es derzeit nur in der rhetorischen Beschwörung. In der aktuellen Politik ist sie nicht mehr zu finden. Und dies hat mit dem Irak-Krieg allein relativ wenig zu tun. Da mag man streiten, ob er sachlich gerechtfertigt, ob er nötig, ob er vom Völkerrecht gedeckt gewesen sei. Der Realist wird einer Großmacht immer zugestehen, dass sie im Einzelfall, wo sie sich existentiell bedroht fühlt, das Heft in der Hand nimmt und die Gefahr, ob eingebildet oder real, im Alleingang abwendet. Schwierig wird die Sache jedoch, wenn sie den Einzelfall zum Normalfall erhebt – wenn sie also das Völkerrecht nicht bloß für einmal ignoriert, sondern wenn sie den gesamten Korpus des Völkerrechts überhaupt für hinfällig erklärt und die Freiheit des eigenen Handelns über alles stellt. Genau dies tut die Bush-Equipe. Im Wahlkampf erklärte George W. Bush noch: eine neue Bescheidenheit müsse die „unentbehrliche Nation“ auf der Weltbühne üben, auf die Verbündeten müsse sie hören, einem spezifisch amerikanischen Internationalismus werde er huldigen. In der Praxis verkehrte sich dies alsbald ins schiere Gegenteil. 15 Gewiss stand zu erwarten, dass der Konservative Bush sein Regierungshandeln wieder stärker an eng national definierten Interessen ausrichten werde. Was in diesem Ausmaß jedoch nicht vorherzusehen war, das war die Fülle der Alleingänge. – Nein zum Kyoto-Protokoll über den Klimaschutz („fehlerhaft und hinfällig“). – Nein zur Kontrolle des Kleinwaffenhandels, der weltweiten Pest. – Nein zu einem Abkommen, das die Kontrolle über das Verbot von biologischen Waffen gewährleisten soll. – Nein zum ABM-Vertrag, der 1972 die Raketenabwehrsysteme der Mächte begrenzte („nicht mehr zeitgemäß“). – Nein zu einem Internationalen Strafgerichtshof. Eine lange Veto-Serie also, anknüpfend an frühere amerikanische „Nyets“: zur Ächtung von Landminen etwa oder zu einem umfassenden Atomversuchsstop. Diplomatisch-ideologische Alleingänge zweifelhafter Weisheit kamen hinzu. China wurde vom strategischen Partner heruntergestuft zum geopolitischen Rivalen. Der Entspannungspolitik auf der koreanischen Halbinsel entzog der neue Präsident schnöde den Boden. Den hochexplosiven Nahen Osten überließ er ungerührt sich selbst. Und in einer Welt, an deren Horizont nicht ein einziger Feind im klassischen Sinne zu sehen war, rückte sie militärische Höchstbereitschaft in den Vordergrund. 16 Dann kam der 11. September. Er fügte dem Gefühl der Allmacht eine neue Facette hinzu: das Gefühl der enormen Verletzlichkeit. Zu beiden trat dann unter Bush II noch ein quasi-religiöses Element hinzu: Die Welt wird in Gut und Böse eingeteilt. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, lautet die Devise. Dieses Element hat es in Amerika immer gegeben. In „Gottes eigenem Land“ kann die Obrigkeit seit jeher auf einen Fundus zurückgreifen, der gleich unter der Oberfläche der Zivilgesellschaft und der Konsumgesellschaft liegt. Da wandelt immer wieder einmal einen Präsidenten die Versuchung an, die robuste eigene Politik als bloßen Vollzug eines göttlichen Auftrags darzustellen. Bündnispolitik – überhaupt Außenpolitik – wird dadurch nicht einfacher. Es ist diese Kombination von Allmachtsbewusstsein, Verletzlichkeitsgefühl und heilsgeschichtlich inspiriertem Missionsdrang, die Amerika heute von Europa unterscheidet. Leute wie Donald Rumsfeld, die über Old Europe höhnen, merken dabei gar nicht, dass auf die derzeitige Washingtoner Geisteshaltung das Etikett Old Europe viel eher zutrifft. Es verlässt sich am liebsten auf die eigene rohe Kraft – wie vor Zeiten Europa. Es hört dabei nicht auf andere, hört ihnen nicht einmal zu und ist beleidigt durch jede abweichende Meinung. Es ergibt sich einem Machiavellismus, den Europa Gott-sei-Dank überstanden hat. Der hochmütige Satz der Athener gegenüber den Meliern ist zum Leitsatz von Bushs Politik geworden: „Der Starke tut, was er kann, die Schwachen tun, was sie müssen.“ Doch ist die Vorstellung, die Amerikaner könnten als eine Art globaler Leviathan wirken, aus einem doppelten Grunde wenig überzeugend. Zum einen fehlt dem amerikanischen Volk der beständige Wille zum 17 Imperialismus: Es liebt Siege, doch keine Opfer; die drückende Last, die mit dem Imperium einhergeht, Rudyard Kiplings „White Man’s Burden“, ist seine Sache nicht und Stetigkeit nicht seine Stärke; es flüchtet, ängstigt oder langweilt sich immer wieder gern in die Isolation. Zum anderen übersteigt es die Kräfte selbst der einzig verbliebenen Supermacht Amerika, der hyperpuissance, wie die Franzosen sagen, unsere ewig gärende Welt ins Lot zu bringen oder im Lot zu halten. Kein Land kann die ganze Welt nach seinem eigenen Bilde umformen, es sei denn durch die Macht seines Beispiels – und da hat Amerika doch erhebliche Defizite. Was Douglas Hurd, der frühere englische Außenminister, 1993 zur Neunen Weltordnung Bushs des Älteren sagte, gilt zehn Jahre später erst recht für die Weltordnungspläne von Bush dem Jüngeren: „Es ist schlicht unmöglich, überall Ordnung und eine gute Regierungsführung zu garantieren. Deswegen war das Gerede über eine Neue Weltordnung wenig hilfreich. Der Begriff versprach mehr, als wir jemals werden bewerkstelligen können.“ Was die Sache so bedenklich macht, ist nicht der Fall Irak, ich betone das noch einmal. Es ist vielmehr die Tatsache, dass er nicht die Ausnahme bleiben, sondern zum Regelfall werden soll. „Der Krieg im Irak ist nur die erste Rate“. Dieser Satz steht wörtlich in dem neuen Buch der beiden neokonservativen Vordenker William Kristol und Lawrence Kaplan. Es sind dies dieselben Leute, die intellektuell zum Irak-Krieg getrieben haben, und zwar schon lange vor dem 11. September, die jetzt die nächsten Raten verlangen (oder ankündigen). Syrien, Iran, Nordkorea – die Achse des Bösen soll anscheinend Stück für Stück zerschmettert werden. 18 Wenn dem so wäre, so müssten sich die Wege Europas und Amerikas trennen. Abrüstungskriege, Demokratisierungskriege, Machtwechselkriege, im übrigen auch noch präventiv geführt und wo nötig, mit Kernwaffen, also nicht präventives Handeln, wo Gefahr im Verzug läge, sondern militärisches Handeln auf bloßen Verdacht hin – das wird Europa, Old Europe and New Europe, nicht billigen und schon gar nicht mitmachen. Auch Blair, Aznar und Berlusconi würden sich einer solchen Politik angesichts der Stimmung in ihren Ländern nicht anschließen können. Aus dem neokonservativen Lager in Amerika hören wir in letzter Zeit beunruhigende Töne. Robert Kagan belehrt uns, dass die Europäer auf der Venus leben, Amerikaner aber auf dem Mars: in einer Hobbesschen Welt also Bushs USA, wo internationale Regelungen und das Völkerrecht ohne Belang sind, da nur militärische Stärke zählt; in einem Kantschen Paradies des Ewigen Friedens Europa, das auf Gesetze und Regeln baut, auf Verträge und Übereinkünfte, auf transnationale Verhandlungen und internationale Kooperation. Wenn diese politische Lokalisierung stimmte, dann wäre in der Tat die alte Wertegemeinschaft unwiederbringlich dahin. Die Europäer haben tausend Jahre Bruderkriege hinter sich. Die Einsichten, die sie uns hinterlassen haben, dürfen wir nicht einfach in den Wind schlagen. Sie gehören zum Kostbarsten, was uns die Geschichte beschert hat. Es wäre widersinnig, sie vor dem großen transatlantischen Verbündeten zu verschweigen. „Übermacht, ihr könnt es spüren, ist nicht aus der Welt zu schaffen“ – Goethes Wort trifft gewiss zu. Aber es kann nicht heißen, dass der Versuch, der westlichen Vormacht die Lehren aus unserer Geschichte zu 19 vermitteln, von vornherein ein Versuch am untauglichen Objekt sein muss. Viele Amerikaner denken schließlich genauso wie wir. Darin liegt Trost, aber auch Hoffnung. Es gibt viele Amerikas und viele verschiedene Traditionen amerikanischer Außenpolitik. Es gab den kommerziellen Realismus Hamiltons, den biegsamen Pazifismus Jeffersons, den Kreuzzugsidealismus Wilsons – aber es gab auch die robuste Immerfeste-druff-Mentalität Andrew Jacksons. Heute erleben wir eine Mischung von Kreuzzugsdenken und Hau-Drauf-Gelüsten. Zusammengenommen, addiert sich dies zu einem amerikanischen Neo-Imperialismus, der Europa verschreckt und vergrault. Die amerikanische Geschichte gibt indessen Anlass zu der Erwartung, dass diese Phase – wie alle anderen vor ihr – nicht dauern wird. George W. Bush regiert bis 2005, höchstens bis 2009. Danach ist am Potomac auf jeden Fall ein regime change fällig, ein Gesinnungswandel wohl auch und eine Richtungsänderung. Bis dahin mag es nicht einfach werden, die Scherben zu kitten. Aber unmöglich ist es auch nicht. Die Amerikaner haben den Krieg im wesentlichen allein gewonnen. Ihren Sieg müssen auch jene begrüßen, die den Krieg für unnötig hielten. Aber den Frieden werden die USA nicht allein gewinnen können, auch nicht mit der Flickenteppich-Koalition, der sie sogar einige winzige Südseeinseln zuschlugen, die von ihrem Glück gar nichts wussten. In dieser Einsicht liegt die Chance der Wiederannäherung und des Ausgleichs. 20 Europa ist ja nicht vom Grunde her gegen einen Hegemon Amerika. Es ist nur gegen einen Hegemon, der dampfwalzenhaft auch die Freunde und Verbündeten überfährt. Umgekehrt sind viele Amerikaner ja durchaus geneigt, den Europäern Gehör zu gewähren. „Die USA“, schreibt sogar Robert Kagan, „könnten dem Multilateralismus und der Herrschaft des Rechts ihren Respekt zollen und so versuchen, internationales politisches Kapital für jene Momente zu bilden, in denen der Multilateralismus unmöglich und einseitiges Vorgehen unumgänglich ist. Sie könnten sich, kurz gesagt, mehr Mühe geben, das an den Tag zu legen, was die Gründerväter „geziemende Achtung vor der Meinung der Menschheit“ nannten. Wenn diese Einsicht sich durchsetzt, dann allein haben die Freunde Amerikas auf dieser Seite des Atlantiks die Chance, die fortschreitende Entfremdung zwischen Amerika und Europa aufzuhalten. Dies ist ein guter Rat. Er weist den Ausweg aus der Krise. Wenn diese Einsicht sich am Potomac durchsetzt, dann haben die Freunde Amerikas auf dieser Seite des Atlantiks jede Chance, die derzeit zu beobachtende Entfremdung zwischen Amerika und Europa aufzuhalten. 21