«II a chargé pour Soleure»
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«II a chargé pour Soleure»
«II a chargé pour Soleure» Jürg Leibundgut Schiffer mit hohem Alkoholspiegel… Warum diese für Solothurn bestimmten Schiffsladungen mit betrunkenen Besatzungen in Verbindung steht, erklärt der mühselige Weintransport von den Rebhängen des Genfersees über den «Canal d’Entreroches», die Juragewässer und die Aare nach Solothurn. Spürsinn für Transhelvetischen Kanal? Zwischen 1639 und 1829 gab es eine durchgehende Schiffahrt zwischen Cossonay VD, der Ebene von Orbe, Yverdon, dem Neuenburger- und Bielersee sowie der Aare. Von den Rebbergen des Genfersees mussten die Weinfässer auf holprigen Strassen hügelwärts bis zum «Canal d’Entreroches» geschleppt werden, einer Art Vorläufer des legendären Transhelvetischen Kanals. Weinflösser auf der Aare. (Bild: zvg) Eigenartige Bräuche an Bord Während diesen 191 Jahren Kanal-Schiffahrt spielten sich eigenartige Episoden an Bord der Barken ab, die noch heute als verbale Volksbelustigung in Form von Witzen weiterleben. In Yverdon wurde die 30-Tonnen-Fracht von den «razels» (kleine Barken) auf grosse, wiederum barkenähnliche Transportschiffe (teils Vorwärtsbewegung durch Segel und/oder Bootshaken) umgeladen (über die Juragewässer nach Solothurn). Die leeren «razels» wurden von Yverdon in vier Stunden von starken «compagnons» mittels Leinen zurück nach Entreroches geschleppt. Schleusen mussten passiert werden. Schleusen zum Genfersee? Die Vorstellung einer Wasserverbindung Rhone (Genfersee)–Rhein existierte bereits vor 350 Jahren in den Köpfen. Nur 59 Meter Höhendifferenz und 12,5 Kilometer Luftlinie, sowie 40 Schleusen (!) wären nötig gewesen, um diesen Plan zu 103 realisieren. Verschiedene Flüsse, die sich in die Waadtländer Ebene ergossen (Orbe, Thièle, Le Talent, Le Nozon, La Venoge) sorgten für genügend Wassertiefe. Das aufkommende Strassennetz liess dann aber die Bedeutung als Verkehrsader dieses komplizierten Kanals schwinden. Die erste Eisenbahnlinie der Schweiz verband Morges, Lausanne und Yverdon bereits im Jahre 1855. Heute sind die Spuren des Canal d’Entreroches weitgehend verschwunden. Beim Schluchteingang von Mauremont ist der Verlauf aber noch erkennbar. Mit den Arbeiten zur Ersten Juragewässerkorrektion verschwand der Kanal allmählich. «Brasserie de Soleure» Anfangs des 20. Jahrhunderts gab es in Yverdon eine «Brasserie de Soleure». Wie erwähnt, wurden in Yverdon die Weinfässer, welche auf dem Canal d’Entreroches herbeigeschafft wurden, auf grössere Schiffe umgeladen. Hafenatmosphäre in Yverdon? Zahlreiche «bateliers» (Schiffer) wurden für die Weintransporte im Umladehafen von Yverdon angeheuert. Die Berner und Solothurner Patrizier besassen Weingüter an der Côte (Genfersee) oder im Chablais. Im Ausdruck «Il a chargé pour Soleure» verbirgt sich noch heute etwas Schelmisch-Humorvolles. Warum? Die Kanalschiffer hatten das Recht, als Zugabe zu ihrer miserablen Gage einige Fässer unterwegs anzuzapfen, um Wein zu trinken – eine sogenannte freie Quote! So trafen die Weinkonvois oft mit fragwürdigen Besatzungen in Yverdon ein. Dieser Brauch des «Weinkonsums» übertrug sich ebenfalls auf die Besatzungen der grossen Barken für den «Fernverkehr» zwischen Yverdon und Solothurn. Die «patrons» billigten ihren Besatzungen als Lohnanteil eine «Weingage» zu. Die Schiffer litten unter chronischem Durst. (Bedienung der Bootshaken bei Windstille!) Wo bewegte sich die Grenze zum «genug Wein»? Oft, ja sehr oft wurde eben über den Durst getrunken. Das Überkontingent an Getrunkenem wurde deshalb durch Seewasser ersetzt! In der Ebene von Orbe oder im Hafen von Yverdon gab es öfters Streitereien zwischen der Schiffergilde von Orbe und den Kanalbenützern. Die Geschichte spricht von tätlichen Auseinandersetzungen. Die Orbe war auf einer Länge von 6,6 Kilometern schiffbar; diese Teilstrecke gehörte zum teilweise künstlich angelegten Kanal. Zwischen Cossonay und dem Neuenburgersee (25,2 km) ermöglichten mehrere Schleusen die Höhendifferenz von 18 Metern zu bewältigen. Wildwest-Atmosphäre Die Schiffer mussten überwacht werden, damit sie nicht «schwarz» Waren transportierten! Wildwest-Atmosphäre im Waadtland! Der Kanal wurde zum Arbeitgeber. Jedes Jahr setzten die Hochwasser führende Orbe und Le Talent die Ebene unter Wasser, was sich auf den Kanalverkehr auswirkte. Im Winter gefror diese 105 Wasserader öfters, ebenfalls die schiffbare Orbe. Nicht allein die Schiffahrt war Nutzniesser der zugeführten Gewässer. Mühlen und Schmieden zweigten das kostbare Nass ab. 1776 klagte das Kraftwerk der Venoge die Kanalleitung wegen unrechtmässigen Wasserverbrauchs an! Zur lustigen Redewendung Ich verwickelte soeben ein Dutzend Romands, allesamt im Waadtland ansässig, mit der Redewendung «Il a chargé pour Soleure» oder «Etre sur Soleure». Und siehe da: Acht Angesprochene kicherten und betrachteten mich etwas von der Seite… Dieser ursprünglich von den betrunkenen Schiffern stammende Ausdruck qualifiziert heute noch den «Beschwipsten» im Welschland. Die grobe, feucht-fröhliche Schiffergilde mit dem hohen Alkoholspiegel ist von ihrem Einsatzgebiet, den Gewässern des Jurasüdfusses, verschwunden. Gerade die «bateliers» haben indessen dazu beigetragen, die Verstösse des Fassanzapfens als Kavaliersdelikt den Nachfahren weiter zu vermitteln. Zwischen Cossonay–Eclépens–Orbe–Yverdon–St. Blaise, Nidau und Solothurn haben sich damals Szenen an Bord der Schiffe abgespielt, die wohl nur infolge des Schritt-Tempos stillschweigend toleriert werden konnten. Jürg Leibundgut (1951) Bereits in der Schule führte ich eine «Aufsatzbörse», wo ich Kameraden im Austausch für mathematisches Wissen Handlungsabläufe vorgab. Als Sohn eines Stationsvorstandes hinterliess der mehrmalige Wohnsitz-/Schulwechsel längs der Strecke der Bern–Lötschberg–Simplon-Bahn (BLS) Neugierde und Wunschvorstellungen nach Unterwegssein, dessen Schauplatz sich gleich jenseits der Grenze abspielte. Als späterer Reisebüroangestellter durfte ich den Fremdenverkehr – vorerst in Europa – mitgestalten. Stets gefragt waren Texte, Berichte, Ideen, die ich denn auch verwirklichte. Das ständige Unterwegssein, geographisch wie in Gedanken, belebte meine Schreibweise in Zeitschriften und Zeitungen. Ein besonderes Augenmerk gilt in letzter Zeit der Geschichte und den Geschichten im deutsch-welschen Sprachraum, wo das Geschehen des «Seebutz» angesiedelt ist. Möge das Heimatbuch weiterhin die Rolle der gemütlich-heiteren Seeländer Lebensart verkörpern, hinter der sich ein schaffiges Volk verbirgt. 106