Moderne Literatur aus Korea Hwang Sok-yong Yoon
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Moderne Literatur aus Korea Hwang Sok-yong Yoon
2014 Moderne Literatur aus Korea Hwang Sok-yong Yoon Sunghee Bok Koh-il Park Hyoung su Kim Kyung-uk Hwang Tong-gyu Kim E-seol LITPROM Moderne Literatur aus Korea Vorwort2 LITPROM Hwang Sok-yong 3 Baridegi Yoon Sunghee 7 Spectators Bok Koh-il 10 Paradise partly regained Park Hyoung su 14 Nana at Dawn Kim Kyung-uk 18 Gefährliche Lektüre Hwang Tong-gyu 21 Stille der Blüten Kim E-seol Welcome to Illusion LITPROM 25 Südkorea ist eine der größten Buchnationen der Welt, deren literarische Tradi tion mindestens ebenso alt und reich ist wie die Deutschlands oder Europas insgesamt. Auch heute noch ist Südkorea mit dem siebtgrößten Buchmarkt der Welt eine Nation von Bücherwürmern, Bibliophilen und nicht zuletzt einer Vielzahl großartiger Autorinnen und Autoren. LITPROM als eine Art Relaisstation für die Verbreitung außereuropäischer Literaturen im deutschsprachigen Raum hat in Zusammenarbeit mit dem Korean Institute for Literature and Translation (KLTI) eine Auswahl empfehlens werter koreanischer Literatur zusammengestellt. Die Auswahl fiel uns angesichts der schieren Fülle des Materials nicht leicht. Wir glauben aber, dass die in dieser Broschüre vorgestellten Titel einen guten Überblick über die Bandbreite der Themen und Genres geben und jeder einzelne für ein deutschsprachiges Publikum geeignet ist. Vom kosmopolitischen Märchen, der engagierten Milieustudie über philosophische Science Fiction bis zur quietschvergnügten K-Popliteratur mit Hang zum Fabulieren reicht das Spektrum dieser Texte. Und bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Werke, haben sie doch eines gemeinsam: Sie zeigen neue und interessante Facetten der Einen Welt der globalen Moderne. Wir freuen uns, wenn es uns gelingt, Ihre Neugierde zu wecken. Weiterführende Informationen und Leseproben der vorgestellten Titel finden Sie auf Englisch oder in deutscher Übersetzung unter www.litprom.de. Ansprechpartnerin bei LITPROM ist Anita Djafari: [email protected] oder Tel. 069/2102-113. Vorwort LITPROM 2 Hwang Sok-yong (*1943) zählt zu den bedeutendsten Autoren Koreas. Sein literarisches Werk ist aufs Engste mit politischem Engagement, einem turbulenten Lebensweg und seiner unbeugsamen inneren Haltung verknüpft. Als junger Mann früh durch den Vietnamkrieg politisiert, bei dem er an der Seite der amerikanischen Truppen dienen musste, schloss sich Hwang in den späten 1960er Jahren den Gewerkschafts- und Studentenbewe gungen an, die gegen das südkorea nische Militärregime protestierten. Seine 1972 erschienene Novelle Die Geschichte des Herrn Han, in der erstmals ein Protagonist auftauchte, dessen persönliches Drama die jüngere Geschichte der Teilung Koreas widerspiegelte, machte ihn auf einen Schlag berühmt und war stilbildend für eine Vielzahl von Autoren und Autorinnen. Mit diesem schmalen Buch läutete Hwang eine neue Epoche der literarischen Auseinandersetzung mit der absurden und repressiven politischen Gegenwart des Kalten Krieges ein. Als eminent engagierter Autor geriet Hwang Sok-yong immer wieder in Kon- flikte mit dem Regime unter Park Chung-hee. Der schwelende Konflikt mit der Obrigkeit eskalierte schließlich, als Hwang 1989 einen Schriftstellerkongress in Nordkorea besuchte. Wissend, dass ihm in Seoul das Gefängnis drohte, ging Hwang ins Exil nach New York und zwischenzeitlich Berlin – wo er den Fall der Mauer miterlebte. 1993 kehrte er nach Südkorea zurück und wurde dort zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, infolge einer Amnestie des frisch gewählten Präsidenten Kim Dae-jung im Jahr 1998 entlassen. Die Kombination von höchster moralischer Integrität und außerordentlicher literarischer Schaffenskraft haben Hwang Sok-yong zu einem Autor gemacht, der national und international große Wertschätzung genießt. Hwang Sok-yong Baridegi 3 Baridegi (ca. 160 Seiten) Hwang Sok-yongs realistischer Stil enthält trotz oder gerade wegen einer Beschränkung auf die alltäglichsten Dinge und Begebenheiten immer auch einen Zug zur Parabel. Nichts illustriert diesen Stil der leisen Unwucht genauer als Hwangs Aussage über sich selbst: „Ich bin ein idealistischer Realist.“ In seinem neuen Roman Baridegi weicht Hwang zwar von seinem bekannten Stil, nicht jedoch von seinem Selbstverständnis als Autor ab. Das Buch erzählt die Geschichte der jungen Nordkoreanerin Bari, die mit ihrer Familie vor der Hungersnot der 1990er-Jahre ins benachbarte China und über Umwege allein weiter nach Europa flieht. Wie Tausende andere Flüchtlinge erduldet sie die Gefahren des Grenzüberschritts, Hunger, Gewalt und Ausgrenzung auf ihrem entbehrungsreichen Weg nach Großbritannien. Dort findet sie Zuflucht und Liebe bei einer pakistanischen Einwandererfamilie und heiratet den jüngsten Sohn der Familie, bis ihr Leben ein zweites Mal aus den Fugen gerät, als ihr Schwager nach dem 11. September auf der Seite islamistischer Radikaler in den Afghanistankrieg zieht und Baris Ehemann ihm folgt, um ihn wieder nach Hause zu bringen. Dieser beinahe universellen Geschichte einer Flüchtlingsfamilie, die in die Strudel weltgeschichtlicher Ereignisse gerät, verleiht Hwang Sok-yong eine spezifisch koreanische Note, indem er die Ereignisse mit der Geschichte aus dem sehr beliebten Märchen von der Prinzessin Bari engführt. In der koreanischen Folklore ist die Geschichte der Prinzessin Bari, die das Wasser des Lebens finden muss, um ihren Vater von seinen Schmerzen zu erlösen, jedem Schulkind bekannt. Hwang Sok-yong benutzte dieses Gerüst, indem er die Fabel um die spirituelle Suche einer jungen Frau als Flucht vor dem Mühlwerk der Geschichte aktualisiert. Seine „Prinzessin Bari“ folgt dabei der noch heute in Südkorea lebendigen Tradition des Schamanismus. Die Seelenreisen der von Hunger und Verfolgung Versehrten bringen sie in Kontakt mit der Seele ihrer verstorbenen Großmutter, die sie auf ihrem gefahrvollen Weg unterstützt. Es sind diese Schilderungen der Seelenreise, in denen Bari eine überzeitliche und mythische Welt betritt, die Hwangs Stil eine neue und ungeahnte Dimension verleihen. Hier entpuppt er sich als ein Erzähler, der seine Zuhörerschaft magisch zu entrücken vermag. Dabei ist es gar nicht so sehr die „neue“ märchenhafte Tonlage, die zu verblüffen weiß, sondern die eigenartige Spannung, die von der übergeordneten Struktur des Märchens ausgeht. 4 Einschätzung Hwang hat mit der Erweiterung seines Repertoires für einen etablierten Autor ein sehr ungewöhnliches Experiment gewagt. Sein eine ganze Epoche prägender Stil des literarischen Realismus wird nun durch fantastische Elemente ergänzt. Nachdem er über Jahrzehnte als literarisches Gewissen einer ganzen Nation agiert hat, scheint er an einem Punkt in seinem Leben und Schaffen angekommen zu sein, der ihn ins Herz der Gegenwart führt. Kein bisschen altersmüde oder -milde geworden, widmet er sich nach wie vor den brisanten Themen. Die Flüchtlingsproblematik und die globalisierten Konflikte, die in Baridegi thematisiert werden, sprechen für eine verstärkte Ausrichtung seines Schaffens hin zu den außerkoreanischen Konflikten, die das Land durch ziehen. Die Selbstbesinnung, die Vergegenwärtigung der heute oft totgeschwiegenen Problematik beim nördlichen Bruderstaat, mit dem man sich irgendwie arrangiert zu haben glaubt, kann nicht ohne eine globale Perspektive erfolgen. Hwang führt diese Perspektive in sein Werk interessanterweise ein, indem er eine der ältesten Formen des Erzählens wieder für sich entdeckt: das Märchen. Dieses neue Register im Repertoire der literarischen Kunst Hwangs ist äußerst spannend. Denn auch wenn die Leser im Westen das Märchen von der Prinzessin Bari nicht kennen, so kommen sie doch in den Genuss der Antizipa tion und leisen Ahnung. Denn Märchen verlaufen in vielen Kulturen, auch wenn sich die Protagonisten und Requisiten natürlich verändern, doch meist nach überraschend ähnlichen Mustern. Daher können auch sie das Schockierende und den dramatisch klug gesetz- ten Bruch nachvollziehen, wenn das „Märchen“ von der Flucht Baris nicht in einem Happy End ausklingt. Denn das Wasser des Lebens, das zu finden Hwangs Bari genauso wie der Prinzessin im Märchen aufgetragen ist, besteht nicht in dem Zaubermittel einer eindeutigen Glücksformel. Und so kann auch die vertriebene Prinzessin im vergegenwärtigten Märchen trotz ihrer mystischen Kräfte keine endgültige Lösung für Konflikte finden, deren Dynamiken sie als Ausge stoßene nicht beeinflussen kann. Das können nur die Leser dieser parabelhaften Erzählung, die durch sie daran erinnert werden: Das Leid der Flüchtlinge geht uns etwas an. Das Leben steht nie still und das Wasser des Lebens muss immer wieder aufs Neue gefunden werden. Hwang ist idealistischer Realist genug, um zu wissen, dass kein Goldtopf am Ende des Regenbogens vergraben ist – weil der Regenbogen nirgends endet. 5 Preise Manhae Literary Prize (1989) Danjae Literary Prize (2000) Isan Literary Prize (2000) Daesan Literature Prize (2001) Manhae Literary Prize (2004) Korean Culture and Arts Foundation This Years’s Art Prize (2004) Marc of Respect Award (2008) Publikationen Die Geschichte des Herrn Han (dtv 2005, übersetzt von Oh Dong-Sik, Kang Seung-Hee und Torsten Zaiak) Der ferne Garten (dtv 2005, übersetzt von Oh Dong-Sik, Kang Seung-Hee und Torsten Zaiak) Der Gast (dtv 2007, übersetzt von Lie Young, Katrin Mensing und Matthias Augustin) Unkraut und andere Prosa (Edition Delta 2011, übersetzt von Oh Dong-Sik, Kang Seung-Hee, Torsten Zaiak und Martin Tusch) Auf Französisch sind außerdem erschienen: Shim Chong, fille vendue (Edition Points 2011) Les Terres étrangères (Edition Zulma 2004) L’Ombre des armes (Edition Zulma 2003) La Route de Sampo (Edition Zulma 2002) Außerdem zahlreiche Übersetzungen ins Spanische, Niederländische, Schwedische, Italienische, Chinesische, Polnische und Hebräische. 6 Die Autorin Yoon Sunghee (*1973) ist eine Entdeckung der besonderen Art. Nach einem Studium am Seoul Institute of Arts mit einem Abschluss in Creative Writing gewann Yoon bereits mit ihrer ersten Publikation den renommierten Dong-a Ilbo Spring Literary Prize. Wie schon der Titel der preisgekrönten Erzählung The House Made of Lego andeutet, bewegen sich ihre Geschichten und ihr unverkennbarer Stil in einem der vielen Zwischenbereiche von anspruchsvoller und unterhaltender Literatur. Yoon ist eine fantasievolle Autorin, die das rare Talent besitzt, mit schrägem Humor unterhalten zu können, ohne platt zu wirken. Sie schreibt in einer atemlosen, Staunen erregenden Prosa, die mühelos zwischen allen erdenklichen Ebenen kultureller Codes, Symboliken und emotionaler Schattierungen changiert und dabei nicht eine einzige Sekunde langweilig wirkt. Ihre frische und eigentümlich schiefe Herangehensweise an die Welt und das (oft ärmliche) Leben ihrer Protagonisten sprudelt geradezu über vor Ideen. Spectators ist ihr erster Roman. Yoon Sunghee Spectators 7 Spectators (ca. 320 Seiten) Man könnte Spectators einfach einen Familienroman nennen. Erzählt wird aus der Sicht eines Kleinkindes die Geschichte einer neunköpfigen Familie, die beengten Umstände, in denen unzählige Tanten und Onkel, Mütter und Großmütter mitein ander leben, ihr Anrennen und Abstrampeln, ihre Freude und ihr Unglück, ihre fixen Ideen und Spleens. Man könnte das Buch aber auch einen K-Pop-Roman, einen literarischen Zuckerschub, eine Fantasieinfusion oder einen Romanzyklus im Zeitraffer nennen. Denn parallel zu der den Erzählverlauf strukturierenden Geschichte der Großfamilie werden noch unzählige andere erzählt. Ob es die gestohlenen Vorhänge in einem Hotelzimmer sind, die auf die Vorgeschichte eines fremden Liebespaares hindeuten, ob es der Kaffeefleck auf einem Sitz ist, der letztlich jemandem das Leben rettet, die Frau, der beim Bärenfüttern im Zoo die Hand abgebissen wird, oder der signierte Geldschein, der zur Versöhnung zerstrittener Eheleute führt: Jedes Detail in der Geschichte dieser Familien kann für Yoon zum Anlass werden, eine kleine Schleife zu knüpfen, eine erzähltechnische Pirouette zu drehen. Und in jeder dieser Schleifen verbirgt sich ein charmanter Exkurs zu den irren Zufällen und Wechselwirkungen des Lebens, die allesamt wunderschön und traurig zugleich sind. So erleben die überrumpelt sich die Augen reibenden, verzückten Spectators – oder Leser – einen wuchernden GeschichtenSchaumteppich, eine Art Wimmelbildpanorama, das dank Yoons unverkennbar dynamischem Stil jedoch nie in Unübersichtlichkeit ausartet. Vielmehr gelingt es ihr mit sicherer Hand, die losen Enden der von ihrem kindlichen allwissenden Erzähler begonnen Exkurse immer wieder auf neue und unvorhergesehene Weise an die Familie im Zentrum der Erzählung zu knüpfen. Diese erlebt unterdessen ihre eigenen kleinen und großen Dramen: Ihr Haus ist eine schiefe Villa Kunterbunt voller fensterloser Räume und Treppen, die anstatt innen an der Außenfassade angebracht sind. Der Vater wird als Kind zwei Tage in einer Eisbox gefangen, die ihm die Geschichte ihrer Vorbesitzer erzählt. Seinem Bruder erscheint zur gleichen Zeit der Geist eines Mädchens, mit dem er sich anfreundet, die er aber letztlich wegschickt, damit sie wieder geboren wird und endlich das 1x1 lernt. Die Tante gibt vor, nachdem sie erfahren hat, dass der dritte Bruder sich das Leben nehmen will, unter Depressionen zu leiden und klopft, unter dem Vorwand sich einsam zu fühlen, jede Nacht an seine Tür. Jahre später überlebt die ganze Familie einen schweren Verkehrs unfall, jedoch wird der älteste Sohn im Krankenhaus von einer Selbstmörderin erschlagen, die sich vom Dach stürzt. Daraufhin machen sich die trauernden Eltern auf eine Reise ans andere Ende der Welt, um einen Mann zu besuchen, dessen Sohn exakt das gleiche Unglück widerfahren ist. Auf dem Weg schreiben 8 sie eine Unmenge an Karten an den Erzähler, die der Großvater später in einem Buch randvoll mit weiteren Absurditäten zusammenfasst. Bei all diesem kunterbunten Chaos fällt es schwer, die ganze Sippe nicht sofort ins Herz zu schließen. Das unerhörte Tempo und der schräge Witz tun ihr Übriges, sodass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen mag. Einschätzung Trotz des unkonventionellen Aufbaus wirkt der Roman nie überkonstruiert. Bedenken dieser Art lassen der ungeheuer schnelle Erzählfluss und die überbordende Fantasie der Autorin gar nicht erst aufkommen. Zudem hält sie die fan tastischen Elemente in ihrer Geschichte auf einen gewissen Wert begrenzt und macht sie nicht zu eigentlichen Handlungsträgern. Stattdessen findet sie im großen Durcheinander des verwunschenen Alltäglichen die unzähligen witzigen, traurigen, frechen Geschichten in diesem Roman. Diese Bindung an die nur scheinbar profane Welt des Alltäglichen bewahrt das versponnene Geflecht aus Mikroerzählungen auch davor, in einen postmodern-avantgardistischen Habitus oder barocke Grillen zu verfallen und zusammenhanglos zu wirken. Getreu dem Motto Charles Bukowskis, wonach die Form erst dann zum zentralen Interesse der Poesie wird, wenn der Dichter nichts mehr zu sagen hat, kann man von Yoon Sunghee sagen, dass sie eine wirklich atemberaubend potente Erzählerin ist. Ihr einzigartig frecher Stil, ihr Gespür für Zwischentöne und vor allem die ungeheure Dynamik, die ihre Prosa entwickelt, schlagen den Leser vom ersten Satz an in ihren Bann. Spectators ist als skurrile Familiengeschichte ein zweites Hotel New Hampshire ohne verkleidete Bärin (John Irving). Es hat den anekdotenreichen Witz der Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene (Bohumil Hrabal) und das lustigste Defilee an Eigenheiten und Steckenpferden seit Tristram Shandy (Lawrence Sterne). Kurz: eine fantasiebetriebene Dampflok, ein wehmütiger Manga, eine Chronik der Gefühle im Dauerlauf. Voll von unkonventionellem, skurrilem Humor. Preise (eine Auswahl) Dong-a Ilbo Spring Literary Prize (1999) Yisu Literary Award (2007) Hwang Sun-won Award (2011) Publikationen Spectators Roman The House Made of Lego Erzählband You, there, cold Erzählband While we laugh Erzählband Bok Koh-il (*1946) arbeitete als Geschäftsmann im Handel und Bank wesen, bevor er 1987 sein literarisches Debüt vorlegte. Seine frühen Werke zählen zu den ersten auf Koreanisch geschriebenen Büchern, in denen Science-Fiction-Elemente benutzt werden. Bok ist einer der produktivsten Autoren Koreas. Neben seinem literarischen Schaffen hat er sich durch zahlreiche Essays und eine ganze Bandbreite an Sachbüchern immer wieder in Debatten um Kultur und Politik seines Landes eingeschaltet. Doch sein größtes Verdienst als Autor liegt zweifellos in der Erschließung des intelligenten Science-Fiction für ein breiteres Lesepublikum. Als Meister dieses Genres tritt er in die Fußstapfen von Autoren wie Stanisław Lem, Philipp K. Dick und Kobo Abe. Bok Koh-il Paradise partly regained 10 Paradise partly regained (ca. 240 Seiten) In einer nicht allzu fernen Zukunft wird der Zwangsarbeiter Sain Yoon nach 25 Jahren Haft unerwartet entlassen. Einst für sein halbherziges Engagement in einem verbotenen Lesezirkel vom nordkoreanischen Regime drakonisch bestraft und aus seinem Leben gerissen, ist er nun mit einem Mal wieder ein freier Mann. Doch die lange Zeit in der Arbeitsbrigade, die ihm sowohl Gefängnis als auch Familie gewesen ist, hat Sain tief geprägt. Seine Jugend ist vergangen, seine Eltern unterdessen gestorben. Nordkorea hat sich unter einer neuen politischen Führung radikal gewandelt. Alle Fäden, die ihn mit seinem vergangenen Leben verbunden hatten, sind gerissen. Der freie Mann ist zu einem Heimatlosen geworden, einer Person mit ausgelöschter Vergangenheit, der sich selbst wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche vorkommt, während sich die Welt außerhalb seiner Gefängnismauern weiterbewegt hat. Aus einem Gefühl der Hilflosigkeit und der Melancholie heraus sucht der in seiner Identität erschütterte Sain seine alte Jugendliebe Minee auf und ist überwältigt, als er von dieser erfährt, dass er Vater einer nunmehr erwachsenen Tochter, Shinji, ist. Als ihm Minee erzählt, dass Shinji heiraten wolle, sich die Familie aber keine hohe Mitgift für die Braut leisten könne, trifft Sain eine radikale Entscheidung. Um seiner Tochter, der er zeit ihres Lebens kein Vater sein konnte, die gewünschte pompöse Hochzeit zu ermöglichen, nutzt er eine jüngst entwickelte Transplantationstechnik und verkauft seinen Körper an einen reichen Geschäftsmann. Dieser überlässt ihm den alten, verbrauchten Körper eines dritten Mannes, mit dem der Geschäftsmann bereits zuvor einen ähnlichen Deal gemacht hatte. Sain, oder besser sein Gehirn, wird nun zum zweiten Mal aus seinem Lebensweg gerissen. Auf seine im Gefängnis verlorengegangene Jugend folgt eine vorzeitige Alterung durch den Körpertausch mit einem alten Mann. Seine zuvor schon brüchige Identität wird nun vollends zu einem wüsten Stückwerk aus fremdem Leib und gebrochener Seele, dessen Nähte und Bruchstellen einen Menschen konstituieren, der auf verheerende Weise zu einer zerrütteten Existenz geworden ist. Doch der Roman wartet mit einer Überraschung auf. Denn Sain trotzt die- sem existentiellen und unwiederbringlichen Verlust auf außergewöhnliche Weise: Er akzeptiert sein Schicksal, sucht die Witwe des Unbekannten auf, in dessen Körper er nun steckt, und beginnt, indem er vorgibt ihr Mann zu sein, mit ihr ein neues Leben! 11 Einschätzung Science-Fiction-Literatur erfreut sich mittlerweile großer Beliebtheit in Süd korea. Tatsächlich ist Südkorea geradezu prädestiniert für die Entstehung einer literarisch wertvollen und hochklassigen Science-Fiction-Tradition. Dies liegt zunächst an einem ideologisch neutraleren Umgang mit der Technik. Zum anderen aber vor allem an einem sich innerhalb der modernen koreanischen Literatur abzeichnenden neuen Genre, das man den „Vereinigungsroman“ nennen könnte. Denn nicht wenige der aufregendsten Publikationen der letzten Jahre nehmen sich utopische oder dystopische Szenarien einer Wiedervereinigung der beiden koreanischen Nationen zum Thema, die oft in einer von Hochtechnologien bestimmten Zukunft spielen. Genau wie die Autoren Lem und Dick zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren im Grunde Projektionen der zu ihrer Zeit virulenten Konflikte in die möglichen Welten der Science-Fiction beschrieben, ist auch der koreanische „Vereinigungsroman“ ein stilistisches Mittel, um Szenarien durchzuspielen und letztlich Träume der politischen Gegenwart zur Erfüllung zu bringen. Bok Koh-il erweist sich mit dieser Geschichte erneut als ein wahrer Meister der literarisch hochwertigen Science-Fiction. Denn wie nur wenige andere engagierte Autorinnen und Autoren neben Juli Zeh (Corpus delicti), Kazuo Ishiguro (Alles was wir geben mussten) oder João Ubaldo Ribeiro (Das Lächeln der Eidechse) versteht er es, die Science-Fiction-Elemente seiner Geschichten in einen gedachten Alltag zu integrieren. Es ist keine ferne Welt, in die er den Leser in diesem Roman führt, sondern ein fein durchdachtes Vexierbild des bereits Bestehenden. Nicht die utopische Technik, sondern die sich immer wieder in einem kulturellen, materiellen und geschichtlichen Umfeld aktualisierenden inneren Konflikte des Menschen sind die Triebkräfte dieses philosophischen Romans. Wo beginnt, wo endet das Ich? Wie klar verläuft die Trennlinie zwischen Geist und Körper? Welchen Anteil haben das persönliche Umfeld und die kontingenten materiellen Umstände an diesem Selbst? Boks Meisterschaft als Autor besteht darin, dass der Identitätskonflikt, den diese Fragen bei Sain Yoon auslösen, nicht auf die irreal erscheinende Gehirn-Transplantationstechnik reduziert wird: Diese dient dem Autor zur Artikulation latent schwelender Problematiken um Armut, Anerkennung und der Idee des guten Lebens. Ihm ist ein philosophisches Science-Fiction-Werk der leisen Töne geglückt. Für europäische Leserinnen und Leser ist Paradise partly regained jedoch aus noch einem weiteren Grund lesenswert. Und der liegt in dem verblüffenden Umgang eines sichtlich durch fernöstliche Philosophien geprägten Autors mit den philosophischen Implikationen des Plots. Denn der seines Körpers und seiner Identität verlustig gegangene Sain Yoon wird nicht zum tragischen Peer 12 Gynt oder Faust, die in einer manischen Jagd nach sich selbst die ganze Schöpfung durchrasen müssen. Der Körpertausch, dieser scheinbar faustische Pakt, ist nicht ein Skandalon, an dem der Held zerbricht. Genauso wenig wie die Gesellschaft, in der so etwas möglich ist, als reine Dystopie dargestellt wird. Die soziale Realität ist ambivalent! Und so zeigt Bok Koh-il, dass es neben der durch die abendländische Meta- physik geprägten Dramatisierung des Individuums andere literarische Traditionen, andere Wege gibt, sich mit dem Leben, mit dem bockigen, begehrenden, wetterwendigen Ich zu versöhnen. Publikationen Von Bok Koh-il liegen auf Koreanisch eine Erzählsammlung (Roman Longing), zwei Gedichtbände (Autumn in the Wuzhang Plains, Lullaby for an Aging Woman) und mehr als zwanzig Bände mit Essaysammlungen und politische Schriften vor. Außerdem hat er eine Anthologie der Fantastischen Literatur und mehr als ein Dutzend Romane publiziert. Zu seinen Hauptwerken zählen unter anderem: In Search of an Epitath (1987) A Wanderer in History (1991) Under the Bloo Moon (1992) Guardian of the Magic Castle (2001) My Fresh Green Perillas (2001) 13 Park Hyoung su (*1972) gilt als der aufstrebende Stern unter den jungen koreanischen Autoren. Nach seinem Studium trat er eine Professur für Kreatives Schreiben an der Korea University (Seoul) an. Er veröffentlichte bisher zwei Bände mit Kurzgeschichten, für die er mit den Daesan Literary Award ausgezeichnet wurde. Nana at Dawn ist sein erster Roman, für den er über ein halbes Jahr in Bangkok geforscht hat. Sein unkonventioneller Stil, der mit innovativen Metaphern und dosiert eingesetzten Elementen eines magischen Realismus‘ arbeitet, hat ihm unter Kritikern hohe Anerkennung eingetragen. Park Hyoung su Nana at Dawn 14 Nana at Dawn (ca. 400 Seiten) In Nana at Dawn wird die Geschichte des schüchternen Studenten Leo erzählt, der sich nach seinem Studium auf eine Reise um die Welt begeben will, jedoch im Prostituiertenbezirk Nana oder Soi 16 in Bangkok hängen bleibt. Durch eine eigentümliche Verkettung von „Schicksal und Zufall“ trifft er an einem Imbissstand auf eine Frau, die ihn augenblicklich in ihren Bann zieht. Fasziniert und abgestoßen zugleich von seiner Ahnung, dass es sich bei dieser unbekannten Schönen um eine Prostituierte handeln könnte, spricht er sie an. Während der kurzen Unterredung glaubt er, etwas an Ploy, so der Name der Frau, wiederzuerkennen. Als gäbe es schon eine Geschichte zwischen ihnen. Eine Geschichte wie aus einem anderen Leben. Wenige Tage später sucht er sie in ihrer Wohnung in Nana auf. Doch die Ver- hältnisse, in denen Ploy dort wohnt, geben einen sehr schlechten Hintergrund für die sich anbahnende Romanze ab. Zusammen mit drei anderen Prostituierten lebt Ploy in der völlig heruntergekommenen Mietwohnung eines schäbigen Hauses, das einen bunten, stinkenden Haufen von verarmten, verzweifelten und verwirrten Menschen beherbergt. Der sensible, ja geradezu ängstliche Leo ist abgestoßen von der erbärmlichen Unterseite der Neonglitzerwelt Bangkoks, die von Stumpfheit, Drogen, Not und Gewalt geprägt ist. Das Wort „Thai“, bemerkt Leo einmal, bedeutet „frei sein“: Und tatsächlich scheinen jedem auf der von Touristen aus aller Welt frequentierten Amüsiermeilen der Hauptstadt in diesem Thailand alle Freiheiten offenzustehen. Für die reichen Erlebnistouristen ist hier jede Art von Ausschweifung, jede Form von Perversion käuflich zu erwerben. In Nana jedoch erlebt Leo die Schattenseite dieser Freiheit. Er lernt die stinkenden Eingeweide des Amüsiermolochs kennen, die in den ärmlichen Behausungen der Prostituierten und Drogensüchtigen keinem neugierigen Blick verborgen bleiben. Eine Stauchung des Beins, die er sich im Treppenhaus von Ploys Wohnung zuzieht, bindet ihn für einen Monat an diesen Ort. Er verbringt diese Zeit bei den Prostituierten, die ihn bei sich dulden. Ob aus Schuldbewusstsein, da sie für seinen Sturz verantwortlich sind, oder weil sie in ihm eine stets sprudelnde Geldquelle sehen, weiß Leo nicht. In dem Haus gehen Drogensüchtige, Prostituierte und transsexuelle Khatoeys (oder „Lady-Boys“) ein und aus, und Leo hat genug Zeit, sie zu studieren. Er lauscht den Geschichten ihres zerrütteten Lebens, den wilden über eigenartige Kunden und Sexpraktiken, den traurigen über Betrug und Missgunst, den verzweifelten über Drogensucht und Armut. So lernt er den Bezirk Nana als das eigentliche, pochende Herz Bangkoks kennen, das Park treffend als ein großes Raubtier beschreibt: brutal und träge zugleich. 15 Doch obwohl Leo und Ploy nun ein Bett teilen, entwickelt sich nur eine sehr fragile Beziehung zwischen den beiden. Der unerfahrene, von den Extremen in Nana verstörte Leo führt dies auf den „Beruf“ Ploys zurück, die er sowohl anbetet als auch wegen ihrer moralischen Verwerflichkeit verteufelt. Argwohn und Eifersucht treiben ihn um, während er sich zwar in ihrem Zimmer, nicht jedoch in ihrem Herzen festsetzen kann. Es ist ihm nicht möglich, obwohl er die Lebensumstände dieser Frau zur Genüge kennenlernt, ihre Beweggründe und die Zwänge, unter denen sie leben muss, zu verstehen. Nichts unterstreicht dieses ungleiche Verhältnis eindringlicher als seine ständige Sorge, sie könnte seine Reisekasse stehlen und ihn hintergehen. Sie hingegen, in Dingen des Lebens wie der Liebe um einiges erfahrener als er, weiß es besser: Er wird ihr freiwillig sein Geld geben. Enttäuscht von dieser widersprüchlichen Erfahrung, kehrt Leo nach Korea zurück. Doch die mysteriöse Ploy und die Bilder eines vergangenen Lebens, die sie in ihm evoziert, verfolgen ihn weiterhin. Bis er viele Jahre später nach Bangkok zurückkehrt – zurück in den Rachen dieser Bestie. Einschätzung Das „Manifest der 343 Dreckskerle“ heißt eine Initiative, die sich 2013 öffent lichkeitswirksam gegen das in Frankreich geplante (und mittlerweile verabschiedete) Gesetz einer Bestrafung von Freiern wendet. Die gebildeteren unter diesen „Dreckskerlen“ verwiesen in ihrer Argumentation für das „Recht auf Prostitution“ auf einige der wichtigsten französischen Autoren von Jean Baudrillard, Emil M. Cioran bis Michel Houellebecq, dessen 2001 erschienener Sextourismus-Roman Plattform für einigen luziden Schauer im Feuilleton gesorgt hatte. (Houellebecq selbst jedoch hat diesen Aufruf nicht unterschrieben.) Nana at Dawn von Park Hyuong-su spielt in einem ähnlichen Milieu, verfügt jedoch über eine völlig andere Herangehensweise und könnte deshalb als koreanische Antwort auf eine weltweit virulente Thematik gelesen werden, die neben dem Franzosen Houellebecq auch jüngst den deutschen Autor Clemens Meyer (Im Stein) und Jeet Thayil (Narcopolis) aus Indien beschäftigt hat. Park Hyoung su ist mit Nana at Dawn ein virtuoser, atmosphärisch dichter Roman gelungen. Obwohl er zum größten Teil aus der Sicht des unverständigen Leo geschrieben ist, gelingt es dem Autor, ein überzeugendes Bild eines für koreanische und deutsche Leser gleichermaßen exotischen und unverständ lichen Lebens voller Verzweiflung zu zeichnen. Speziell die in emotionaler und wirtschaftlicher Hinsicht asymmetrische Beziehung zwischen Ploy und Leo ist mit viel emotionalem Gespür und einer Intelligenz beschrieben, die auf das große Talent dieses jungen Autors hindeuten. 16 Zusätzlich liefert der verschüchterte Held, dessen Gefühle zu Ploy wegen ihrer Arbeit als Prostituierte immer wieder zwischen Liebe und Verachtung schwanken, auch eine Antwort auf die Position der „343 Dreckskerle“. Es ist eine Antwort, die, auch wenn man seinen buddhistischen Glauben nicht teilt, trotzdem einiges zu der europäischen Debatte um die Misere der Prostitution beisteuern kann. Denn wenn jeder Mensch tausende Leben durchläuft, dann ist er immer zu irgendeiner Zeit eine Prostituierte auf die eine oder andere Weise gewesen. Niemand, so Leos Einsicht, kann die Frauen von Nana für das verurteilen, was sie sind, aus dem einfachen Grund, weil er selbst (weil wir) auch etwas von ihnen haben. Preise Daesan Literature Prize (2010) Publikationen What You Have to Know to Raise a Rabbit. Erzählsammlung Fiction at Midnight. Erzählsammlung Nana at Dawn. Roman 17 Kim Kyung-uks (*1971) Selbstverständnis als Autor ist eine Umkehrung des alten Credos von Hans Blumenberg, wonach das Geschriebene sich stets an die Stelle der Wirklichkeit schieben und diese verdecken will. Für Kim ist die Welt tatsächlich wie ein Text voller „Lesbarkeit“. Eine Welt, in der sich „lesen“ lässt. Von dem umfangreichen Ertrag dieser „Lektüren“ zeugen knapp ein Dutzend Bücher, die er bisher veröffentlicht hat, und die ihm die Reputation eines brillanten und maßgeblichen Autors ein getragen haben. Ein beredter Beweis für diese Wertschätzung ist die Vielzahl an literarischen Preisen, die Kim Kyung-uk für seine Erzählungen erhalten hat. Darunter der renommierte Dongin Literaturpreis für den Band Gefähr liche Lektüre, mit dem er, so die Begründung der Kritiker, der koreanischen erzählenden Kurzprosa neue Wege gewiesen hat. Kim Kyung-uk Gefährliche Lektüre 18 Gefährliche Lektüre (ca. 180 Seiten) Die Kurzgeschichten, die Kim Kyung-uk in dem Band Gefähr liche Lektüre versammelt hat, breiten ein großes Panorama der modernen koreanischen Gesellschaft aus. Da ist die junge Mitarbeiterin in einer McDonald’s-Filiale, die ihren Arbeitsplatz und die segenspendende Standardisierung des Lebens durch diesen weltweit operierenden Großkonzern gegen seine Kritiker verteidigen will. Da ist der Angestellte, der seinen Job kündigt und mit seiner stets etwas distanziert wirkenden Frau aufs Land zieht, um einen Roman zu schreiben, bald aber schon feststellen muss, dass jede seiner Plot-Ideen schon durch einen anderen Autor realisiert worden ist, während parallel zu seinem eigenen Drama des Nicht-Vorankommens seine Frau eine eigenartige Wandlung vollzieht. Oder der Buchtherapeut, der seinen Patientinnen verspricht, sie durch die richtige Lektüreempfehlungen von ihren Sorgen zu befreien, dessen heiß geliebte Favoritin aber die Behandlung abbricht und ihr Glück stattdessen in einem Blog über das Backen und in Soap Operas findet. Mit viel Witz und Sinn für das romantisch Obskure erzählt Kim Kyunguk Geschichten über Menschen aus allen möglichen Nischen und Lagen des Lebens. Dabei ist jede dieser Erzählungen ein raffiniertes Schächtelchen, das die Leserschaft verblüfft und eigentümlich innerlich angestoßen zurücklässt. Ein sanfter Stoß, der einen nicht nur verdutzt, sondern auch schmunzelnd zurücklässt. Einschätzung So skurril und unterschiedlich die Geschichten in diesem Band auf den ersten Blick auch erscheinen mögen – die Auswahl ist keineswegs zusammenhanglos. Kim Kyung-uks brennendes Interesse an den kleinen Absonderlichkeiten des Lebens gilt uneingeschränkt Alt und Jung, Arm und Reich, Träumern und Realisten. Und doch gibt es eine Gemeinsamkeit, die sein Figurendefilee und die merkwürdigen Geschichten, die ihnen zustoßen, zusammenführt: das Lesen. Denn in jeder Erzählung spielen Texte eine zentrale Rolle. Dabei kann es sich um Klassiker der Weltliteratur wie Thomas Manns Zauberberg, um das ver waschene Pamphlet einer radikalen Tierschutzgruppe, welches die Mitarbeiter der McDonald’s-Filiale zu entziffern versuchen, oder auch um die Bloge in träge der dem Buchtherapeut davongelaufenen Frau handeln. Das Lesen und Wiederlesen der Welt, eines Menschen oder eben eines Buches ist das zarte Motiv, das diese fantasievollen, lebhaften und außergewöhnlich schönen Geschichten miteinander verbindet. Deshalb dürfte es leicht fallen, der Auf forderung des Autors nachzukommen: Dieses Mal sind Sie an der Reihe zu lesen. Lesen Sie mich. 19 Preise Hanguk Ilbo Literature Prize (2004) Hyondae Literaturr Prize (2007) Dogan Literary Award (2008) Tongin Literature Prize (2009) Publikationen Erzählbände Im Café Bagdad gibt es keinen Kaffee (1996) Gehen, um Betty zu treffen (1999) Wer hat Kurt Cobain getötet? (2003) Leslie Cheung soll gestorben sein? (2005) Gefährliche Lektüre (2008) Gott hat keine Enkel (2011) Romane Akropolis (1995) Morrison Hotel (1997) Goldener Apfel (2002) Das tausendjährige Königreich (2006) Wie im Märchen (2010) 20 Der 1938 als Sohn eines berühmten Romanciers geborene Hwang Tonggyu wurde während der 1970er Jahre zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen seiner Generation. Und dies, obwohl er sich bewusst gegen die damals vorherrschende Schule der minjung- oder Volks-Dichtung richtete, die das Gedicht als ein Mittel für politisches Engagement ansah. Eine politisierte Strömung, die zu dieser Zeit (ähnlich wie in Deutschland und Westeuropa) die junge Dichterszene und Literatur dominierte. Im Gegensatz zu dieser Dichtung und ihrem Zeitkolorit stellte Hwang Tong-gyu die Innerlichkeit und das Erleben des Dichters in den Mittelpunkt seines Schaffens. Seine vom „materialistischen“ Rechtfertigungszwang emanzipierten Verse gehören zum Besten in der koreanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, gerade weil er sich nicht dazu aufgerufen sah, auf anmaßende Weise ein Plädoyer für die „Interessen des Volkes“ zu singen. Stattdessen wählte er einen individuellen Zugang zum dichterischen Wort, der aus der Lektüre klassisch koreanischer und chinesischer sowie europäischer Dichtung entstand. Hwang Tong-gyu hat für sich den Weg einer Zusammenführung westlicher und fernöstlicher Dichtung gefunden. Einen subtilen Weg, den er bis heute beschreitet. Im aktuellen Zeitalter des Kosmo politismus scheint die Saat der großen emanzipatorischen Kraft in seinen Gedichten aufzugehen. Hwang Tong-gyu Stille der Blüten 21 Stille der Blüten (ca. 180 Seiten) In der Sammlung Stille der Blüten entfaltet Hwang Tong-gyu gleichsam den großen Fächer seiner poetischen Sujets: Vergänglichkeit, lyrische Einfühlung sowie der Dialog zwischen östlichem und westlichem Denken. In dem in drei Teile ge gliederten Corpus werden wieder, ähnlich wie schon im Band Windbestattung, die Vergänglichkeit und das Vorüberhuschen des Augenblicks zu einem bestimmenden Thema. Durch das Spiel mit der Form und die Auseinandersetzung mit der Sprache gelingt es dem Autor, Momente von großer Intimität in Dichterworten zu fangen und einen Nachklang zu erzeugen, der typisch für seine Gedichte ist. Wenn die Schiffe auch verschwunden sind, wird doch die Stelle wohl bleiben, an der sie festgemacht waren. (aus dem Gedicht: Brief vom Frühling 2003) Unverkennbar drückt sich in diesem Vers der Leitsatz seines Selbstverständnisses als Dichter aus: „Im Wandel liegt die Freiheit.“ Form und Thematik seiner Wortkunst sind in allem dazu angelegt, den Dingen diese Freiheit zu gewähren. Sie besteht also auch darin, nach dem Maß ihres freien Laufs zu vergehen. Im Gedicht lässt sich kein Begriff, kein Zugriff auf die Welt bilden. Stattdessen wirkt es nach innen, lehrt die Dinge fahren zu lassen und sie gerade dadurch zu erkennen. „Unwissenheit“, „Leerheit“ und „Alleinheit“ (ein geschickter Neologismus der Übersetzer Kim Kyung-hee und Theodor Ickler) sind die drei Tugenden, die den Gedichten Hwang Tong-gyus durch seine intensive Beschäftigung mit dem Buddhismus zukommen. Ergänzt werden diese durch ein dichterisches Ich, dass meisterlich die Stimmungen und Zustände des eigenen Welt innenraums zu beschreiben und im Leser zu evozieren weiß. Wie ein Licht, das sich beugt und bricht, wenn es ins Wasser eindringt, neige ich mich und gehe in die Traurigkeit. (aus dem Gedicht: Der Nachtalkohol) Verse wie dieser sind tief von einem emotionalen Zustand durchdrungen, den das Koreanische mit „han“ benennt. Ein Gefühl zwischen Schmerz, Trauer und Sehnsucht – der Saudade bei Pessoa nicht unähnlich. Ganz besonders interessant erscheinen diejenigen Gedichte in Stille der Blüten, in denen Hwang eine Begegnung zwischen Ost und West, zwischen Christentum und Buddhismus, zwischen europäischer und ostasiatischer Lyrik 22 inszeniert. Programmatisch wird diese Abteilung durch eine Serie von Gedichten vertreten, die ein Zwiegespräch oder eine Unterhaltung zwischen Buddha und Jesus darstellen. Südkorea ist, obwohl dieser Umstand nur wenig bekannt ist, eine der zentralen Begegnungsstätten zwischen der christlichen und der buddhistischen Religion (die dort zusätzlich auf konfuzianische und schamanische Traditionen stoßen). Dieser mal philosophisch, mal eher launisch oder neckend geführte Austausch zwischen den beiden Religionsstiftern ist von einem tiefen Verständnis für beide Glaubenssysteme durchdrungen. Hwang schafft es hier, die beiden unterschiedliche Glaubensvorstellungen lehrenden Figuren in einen unterhaltsamen und spannenden Austausch zu verwickeln, der schließlich in Buddhas scherzhafte Frage mündet: Meinen Sie nicht, dass wir zu viele Worte machen über die Erleuchtung? Wenn der Frühling kommt, blühen die Gräser und Bäume von selbst. (aus dem Gedicht: Das hässliche Entchen) Diese Stellen werden durch Anmerkungen Hwangs und ein ausführliches Nachwort des Übersetzers Kim Kyung-hee erläutert. Es ist der Brückenschlag zwischen den Kulturen im Gedicht, der diesen Band so einzigartig macht. Hwang Tong-gyu schreitet mit diesem Kombinationsspiel westlicher und östlicher Kulturen und Dichtungsformen weit auf dem überaus fruchtbaren Weg fort, den vor ihm schon Dichter wie Goethe (West-östlicher Divan), T. S. Eliot (The Waste Land) oder Ezra Pound (Nachdichtung chinesischer Klassiker) eingeschlagen haben. Eine mögliche Zukunft des Gedichts liegt genau hier: in der Denkkontinente verbindenden Kraft des Gedichts. Denn, so Hwang an die Adresse Franz Schuberts in seinem Gedicht Schubert zerbrechen: Schubert, wälzen Sie sich nicht schlaflos herum. Wenn man sich in der Stille umsieht, ist der Mensch in Wahrheit etwas, was nur mit Mühe unzerbrochen existiert. Preise Korean Literature Award (1980) Isan Literature Prize (1991) Daesan Literature Prize (1995) Midang Literature Prize (2002) Manhae Literary Prize (2006) Kim Dal-Jin Literature Prize (2009) Gu-Sang Literature Prize (2011) 23 Publikationen zuletzt erschienen: Lyrik Das Liebeslied im Berkeley-Stil (2000) Es gab eine Zeit, in der ich mich am Zufall anlehnte (2003) Stille der Blüten (2006) Winternacht 0 Uhr 15 Minuten (2009) Freude am Leben (2013) Essays Schau zurück mit nassen Händen (2001) Einige Tupfer vom Duft des Lebens (2008) Auf Deutsch erschienen: Windbestattung (Edition Peperkorn 1996, übersetzt von Kim Miy-He und Sylvia Bräsel) Der Band liegt auch auf Englisch und Spanisch vor. 24 Kim E-seol (*1975) ist eine Ausnahme erscheinung unter den koreanischen Autorinnen ihrer Generation. Dabei sind es nicht allein ihr literarisches Können und der große Erfolg, den sie schon mit ihren beiden ersten Büchern in Korea und Frankreich verzeichnen konnte, sondern vor allem ihre ungewöhnlichen literarischen Sujets, die sie als interessante Newcomerin und Querdenkerin auszeichnen. Denn anders als der Großteil ihrer eloquenten, sehr belesenen und kosmopolitisch orientierten Schriftstellerkollegen widmet sich Kim E-seol in ihren Erzählungen und Romanen gerne dem wenig besungenen Leben auf der Unterseite der glitzernden, boomenden Wirtschaftsmacht Südkoreas. Ihr hard-boiled realism ist moderne engagierte Literatur im besten Sinne. Kim E-seol Welcome to Illusion 25 Welcome to Illusion (ca. 180 Seiten) Das Versprechen klingt eigentlich überall gleich, ob nun in den USA, Südkorea oder Deutschland: „Arbeite hart, nimm deine Dir zugedachte Rolle in Familie und Betrieb an, finde schließlich das Glück mit Eigenheim, einem Kind und einem Auto!“ Wie Millionen anderer auch träumt die junge Yunyeong diesen bescheidenen, etwas fantasielosen Traum. Aber warum sollte der Traum nicht in Erfüllung gehen, in einem Land wie Südkorea, das mittlerweile unbestritten zur Wirtschaftselite der globalen Industrieländer gehört. Die von dem sozialen Elend ihrer Familie schwer gebeutelte Yunyeong wähnt den Traum von den bescheidenen, aber gesicherten Verhältnissen schon ganz nah, als sie einen jungen Mann heiratet, der einmal Beamter werden will. Als sie kurz darauf schwanger wird, ziehen sie zusammen. Ihr Mann kann jedoch einstweilen nicht für den Lebensunterhalt sorgen, weil er mitten in den Vorbereitungen für die Aufnahmeprüfung zur Beamtenlaufbahn steckt. Also muss die ungelernte Yunyeong sich vorübergehend einen Job suchen. Sie findet Arbeit in einem heruntergekommen Restaurant, dessen Besitzer nebenbei ein paar „private Räume“ in einem Nebengebäude betreibt, wo sich heimliche Liebespaare treffen. Doch anscheinend werden diese Räume auch von einer der Kellnerinnen genutzt, die den Kunden dort einen „speziellen Service des Hauses“ angedeihen lässt. Yunyeong beißt die Zähne zusammen und will durchhalten, bis ihr Mann für die Familie wird sorgen können. Doch die Studien ihres Mannes kommen nicht voran und aus dem Provisorium wird schnell die einzige, wenn auch dürftige Einnahmequelle der Familie. Als ihre Schwester Minyeong sie anruft und sie bedrängt, ihr unverzüglich einen nicht unbedeutenden Betrag Geldes zu überweisen, übernimmt Yunyeong zum ersten Mal den Dienst in den „privaten Räumen“ neben dem Restaurant. Schnell wird ihr die Prostitution zur Gewohnheit, da sie glaubt, so etwas Geld für sich und das Kind ansparen zu können. Doch Yunyeongs Traum zerplatzt sehr bald, als ihre Mutter zum Pflegefall wird und bei dem Kind, das seine Mutter kaum kennt, weil es sie – wenn überhaupt– nur in den Abendstunden sieht, eine Behinderung festgestellt wird. Gefangen in prekären Verhältnissen, erdrückt von Schulden und einem ihr zur Hölle gewordenen Familienleben, ist Yunyeong gezwungen, ihren Körper weiter zu verkaufen, um auch nur für das Allernötigste zu sorgen. Obwohl sie jeden Tag hart um ihr Lebensglück kämpft, muss Yunyeong schließlich einsehen, dass es für sie keinen Ausweg mehr gibt. 26 Einschätzung Kim E-seol erzählt die Geschichte von diesem schrittweisen Zerfall eines Menschen mit einer eigentümlich kalten Empathie und brutalen Abgebrühtheit. Schon der erste Satz der Geschichte ist förmlich ein Schlag ins Gesicht, ein Vorgeschmack auf die Unbedingtheit und Rigorosität, mit der sich die Autorin ihrem Thema verschrieben hat. Er spiegelt die kühle Haltung einer zugrunde gerichteten Frau, die sich Selbstmitleid nicht leisten kann, wider. Obwohl die Schilderung des zähen Ringens Yunseongs mit ihren Lebensum- ständen und ihr allmähliches Abgleiten in den Strudel des Elends großes Mitleid und Sympathie für ihre Protagonistin hervorrufen, erspart sie dem Leser auch nicht die unschönen Effekte, die eine solche emotionale Belastung im Gemüt eines Menschen zeitigen muss. Yunyeong, die vielleicht anfangs etwas zu naive Träumerin, ist keine Heilige, die Schicksalsschläge einfach abschütteln könnte und erst recht keine Frau, die dem koreanischen Tugendideal weiblicher Zurückhaltung entspräche. Ihr Sturz in die Armut und Prostitution hinterlassen entstellende Narben auf ihrer Seele. In die „Unsicherheit der menschlichen Verhältnisse“ (B. Brecht) gestoßen, wird sie immer bösartiger, habgieriger und egoistischer, entdeckt aber, ganz im Gegensatz zu ihrem schwachen Ehemann, auch immer neue Kraft in sich, das eigene Leben und das ihrer Familie gegen diese Verhältnisse zu behaupten. Und diese Verhältnisse ähneln sich in allen Ländern, in denen der alte Traum vom kleinen Glück geträumt wird. Die Hochtechnologie- und Wissensgesellschaft Südkoreas, deren politische Institutionen und sozialer Kitt oft als ein die ganze Gesellschaft umfassender Schulhof beschrieben wurden (etwa von Yi Munyol in Unser entstellter Held oder von Park Min-gyu in Sammi Superstars), produziert neben einem gewaltigen BIP auch eine Schicht unterqualifizierter und prekarisierter Menschen. Dieser anachronistische Rückstand eines entlumpten Proletariats, der von den immer höher spezialisierten und lebenslänglich sich selbst optimierenden Gewinnern der allseitigen Ausbildung schon längst abgehängt worden ist, ist gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit den miserabelsten Jobs zu bestreiten. Das verheerende Phänomen der „Working Poor“, der morschen untersten Stufe der sozialen Leiter, ist ein globales Phänomen. Fatalerweise trifft es in den reichen Gesellschaften vornehmlich die alleinerziehenden oder ihre Familien allein versorgenden Frauen. Ein Paradox. Mit Kim E-seol hat sich eine engagierte und unverkennbare Stimme zu Wort gemeldet, die auf die Lebensumstände eines Teils der Gesellschaft aufmerksam macht, der kaum eine Gelegenheit bekommt, „sich vom großen Brotlaib seinen Teil abzuschneiden“. Kims unerbittliche Prosa ist ein scharfes Riechsalz, das die Leserschaft aus dem bunten Traumland der großen Illusion vom allseitigen Wohlstand und Glück ins Hier und Jetzt zurückholt. 27 Preise Hwang Sun-won Literary Award (2012) Publikationen Bad Blood. Roman (2009) The Unspoken. Kurzgeschichten (2010) Welcome to Illusion. Roman (2011) A Promenade with Godess (in einer Anthologie mit anderen 2012) Erotic Talk between Eves (in einer Anthologie mit anderen 2012) Welcome to Illusion erschien 2013 unter dem Titel Bienvenue auf Französisch im Verlag Editions Picquier. 28 Bildrechte Impressum Die Bildrechte der Autorenportraits Redaktion: Anita Djafari und der Cover liegen ausschließlich Mitarbeit: Florian Kniffka bei den Verlagen. Die Verlage zu den Texte: Achim Stanislawski einzelnen Titeln sind wie folgend: Textauswahl: LITPROM in Zusammenarbeit mit LTI Korea Baridegi: (Literature Translation Institute Changbi Publishers of Korea) Spectators: Gestaltung: www.textgrafik.com Munhakdongne Publishing Group Gefährliche Lektüre: Weitere Informationen zu den Munhakdongne Publishing Group vorgestellten Titeln unter Paradise partly regained: www.litprom.de/aktuelles/ Jaeum & Moeum Publishing Co. literatur-aus-korea.html. Nana at dawn: Moonji Publishing Co. Bei Interesse richten Sie Ihre Anfrage Stille der Blüten: bitte an [email protected]. Moonji Publishing Co. Welcome to Illusion: © LITPROM Moonji Publishing Co. März 2014