Kleingärten – Freizeiträume und grüne Lungen der Städte
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Kleingärten – Freizeiträume und grüne Lungen der Städte
Kleingärten – Freizeiträume und grüne Lungen der Städte Meike Wollkopf Die Entwicklung des Kleingartengedankens ist eng mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung verbunden. Die rasch an Zahl zunehmende Arbeiterschaft war in den anwachsenden Städten völlig unzureichenden Lebensbedingungen ausgesetzt: Wohnungsknappheit, fehlende Spielmöglichkeiten für Kinder, ungenügende Schulbildung, Unterernährung und Vitaminmangel wie auch ein Defizit an Sonne und frischer Luft. Dies führte zu einer Verelendung breiter Bevölkerungsschichten und verschiedenen sozialen Gegenbewegungen. Der Kleingarten als Programm Für die Entstehung des Kleingartenwesens in Deutschland gibt es mehrere A Alte Länder und DDR/neue Länder Mitglieder in Kleingartenverbänden 1978-2000 Kleingärten in Tsd. 1400 Mitglieder im Bundesverband deutscher Gartenfreunde neue Länder alte Länder 1200 DDR: VKSK 1000 (Verband der Kleingärtner Siedler und Kleintierzüchter mit Ø 1,5 Mitgliedern / Gartenparzelle) 800 600 400 200 0 78 1980 1985 © Institut für Länderkunde, Leipzig 2000 44 1990 1995 2000 Jahr Wurzeln. Nutzgärten sollten in erster Linie die ökonomische Situation von bedürftigen Familien verbessern. So entstanden die ersten sogenannten Armengärten bereits 1806 in SchleswigHolstein. In Sachsen war der Anlass die Verbesserung der Spielmöglichkeiten und der gymnastischen Erziehung von Kindern, worum sich der Orthopäde Dr. M. Schreber (1808-1861) sehr bemühte. Jahre später griff der Schuldirektor E. I. Hauschild dieses Anliegen auf und gründete 1864 in Leipzig den „Schreberverein“ mit einem zentralen Spielplatz und Kinderbeeten, die bald zu Familienanlagen wurden. Schließlich wurden Kleingärten durch die ebenfalls in Sachsen beheimatete Bewegung der Naturheilkunde gefördert. Heute sind die meisten Kleingärtner über ihre Vereine im Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e.V. organisiert, nämlich rd. 1,05 Mio. Weitere 67.000 gehören der Vereinigung der Bahn-Landwirte an, die Kleingärten auf Reserveflächen der Deutsche Bahn AG unterhält. Rund 170.000 Gärtner sind anderweitig oder gar nicht organisiert, so dass sich eine Gesamtzahl von etwa 1,3 Mio. Kleingärten in Deutschland ergibt (BMRBS 1998). Wie die Verbandsstatistik zeigt 1, ist in den alten Ländern zwischen 1981 und 2000 ein Rückgang des Bestandes zu verzeichnen. Allein in den dargestellten Städten belief er sich in diesem Zeitabschnitt auf ca. 75.000 Parzellen. Ursache ist in erster Linie der in den 1970er und 80er Jahren forcierte strukturelle und funktionale Umbau der Städte zu Dienstleistungszentren mit Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Freizeit und Tourismus ausgeprägtem stadtnahem Wohnungsbau sowie die deutliche Ausweitung der Verkehrsflächen. Dafür wurden oft Kleingartenflächen in Anspruch genommen, ohne dass entsprechende Ersatzflächen zur Verfügung gestellt wurden. In den neuen Ländern war zuerst ein starker Rückgang zu verzeichnen, da im DDR-Verband im Durchschnitt 1,5 Mitglieder je Kleingarten registriert waren und dieser Wert sich dem westdeutschen mit 1 Mitglied/Parzelle anpasste. Zudem traten die einzelnen Vereine erst mit Verzögerung dem Dachverband bei. Die traditionelle räumliche Differenzierung der Kleingartendichte hat sich seit Beginn des vorigen Jahrhunderts erhalten. Das Interesse an Kleingärten konzentriert sich naturgemäß auf die Städte, so dass die auf der Karte 3 dargestellten kreisfreien Städte zwar nur etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung repräsentieren, aber gut zwei Drittel aller Kleingärten. Regional weisen die Gebiete Süddeutschlands mit hohem Eigenheimanteil die geringste Kleingartendichte auf, während die gewerblichen Zentren Mitteldeutschlands und Berlin noch heute die Hochburgen bilden. Zudem hat sich aus der DDR-Tradition die deutlich hö- here Dichte aller neuen Länder gegenüber den alten erhalten. Die Zahl der Parzellen beträgt beispielsweise in Leipzig rund 39.000, so dass fast jeder fünfte Haushalt einen Kleingarten unterhält. Der soziale Stellenwert In Deutschland entfällt etwa auf jeden 20. Haushalt ein Kleingarten. Die wichtigste Funktion für ihre Pächter ist – nach Wegfallen der Notwendigkeit zur Selbstversorgung mit Obst, Gemüse und Blumen – heute eindeutig die Freizeitnutzung. Die Wohnfläche der Haushalte, die einen Kleingarten haben, ist im gesamten Bundesgebiet geringer als im Durchschnitt – eine Zahl, die jedoch auch vor dem Hintergrund der insgesamt kleineren Wohnflächen je Haushalt in den neuen Ländern gesehen werden muss. Die Gärten dienen vielfach als Platz für das Zusammenkommen mehrerer Generationen und für geselliges Beisammensein. Sie bieten nicht zuletzt Arbeitslosen und Rentnern Beschäftigung. Auch das Vereinsleben, für das in vielen der Anlagen ein Vereinsheim oder sogar ein bewirtschaftetes Lokal zur Verfügung steht, ist für die Gemeinschaft der Kleingärtner wichtig, auch wenn auf der anderen Seite von B Stadt Leipzig Kleingartenfläche und Einwohnerzahl 1870 - 1998 Kleingartenfläche in ha 1204* 1200 1100 1000 989 947 900 800 786 714 4 700 679 600 595 590 539 500 456 852 830 765 972 Einwohner in Tsd. 700 617 585 596 580 590 567 562 551 552 511 481 491* 195 106 42 51 1870 80 © Institut für Länderkunde, Leipzig 2000 500 300 200 199 100 78 90 1900 600 400 218 149 0 923 292 295 200 100 830 964 459 400 300 578 940 *Eingemeindungen 10 20 30 40 1950 60 70 80 90 2000 Jahr 0 einigen Nutzern die hohe soziale Kontrolle beklagt wird. Der soziale Stellenwert des Kleingartens hat sich besonders auf dem Gebiet der neuen Länder verändert. Für die DDR-Führung bedeuteten diese Gärten nicht nur, dass die Bevölkerung eine sinnvolle, produktive, in die Gemeinschaft eingebundene und gesundheitsfördernde Freizeitbetätigung hatte, sondern es wurde auch auf die volkswirtschaftlich wirksame Produktion über C Kleingärten 1981*und 2000 Flensburg Kiel Lübeck Bundeskleingartengesetz (BkleingG) von 1983, § 1 Oldenburg > 100 50 bis 100 30 bis 50 Neubrandenburg Müritz 10 bis 20 2 bis 10 Elb e Bremen Delmenhorst r de O Hannover Wolfsburg Osnabrück Bielefeld Münster Dessau Cottbus Hamm GE MH E Düsseldorf MG Leverkusen S Herne Dortmund BO Kassel Hagen Wuppertal Remscheid Solingen Ne Leipzig Görlitz Elb e Dresden Fu lda Köln Erfurt Weimar Eisenach ein Rh Werra Bonn le S aa Suhl Gera Jena Chemnitz Zwickau Relative Entwicklung der Zahl der Kleingärten 1981 - 2000 * nach kreisfreien Städten Plauen Koblenz el Mos Hof Frankfurt a. M. Darmstadt Frankenthal (Pfalz) LU Main Würzburg -10 bis +10% Weiden i.d. OPf. < - 10% Erlangen Mannheim Nürnberg Fürth Heidelberg Speyer Landau in der Pfalz > + 10% Bayreuth Bamberg Worms NW Schweinfurt Ma in Aschaffenburg Mainz Kaiserslautern Coburg Offenbach a. M. Wiesbaden Trier iße Hoyerswerda Halle/S. Aachen Stadtverband Saarbrücken Magdeburg zer sit Lau Krefeld Salzgitter Frankfurt (Oder) Potsdam e a al Duisburg Brandenburg an der Havel Braunschweig W Ansbach Amberg Kleingärten 2000 Schwabach Heilbronn neue Länder Regensburg Karlsruhe Pforzheim Ingolstadt Stuttgart Straubing n Do u a Baden-Baden Landshut Rhei n Ulm Die städtebauliche Bedeutung Do na Augsburg u Kaufbeuren Bodensee Inn Zahl der Kleingärten 2000 83135 München Memmingen Freiburg i. B. Passau Ammersee Starnberger See Rosenheim 50000 20000 10000 5000 2000 1000 500 73 Chiemsee Kempten (Allgäu) Autorin: M.Wollkopf 1mm² = 300 Kleingärten < Die Bedeutung der Kleingärten für die Stadtökologie wurde lange Zeit unterbewertet. Inzwischen werden sie in die Planung von Grünzonen und Frischluftschneisen einbezogen, ihre Gemeinflächen zu den Erholungsflächen von Stadtvierteln hinzugezählt und ihre Wege in Spazier- und Wanderwegekonzepte integriert. Auch die in Anspruch genommenen Flächenpotenziale sind eine wichtige stadtgestalterische Kalkulationseinheit. Bei Durchschnittsgartengrößen von 350 m² (alte Länder) und 305 m² (neue Länder) sowie einem Anteil von 15% (alte Länder) bzw. 11% (neue Länder) an Gemeinflächen je Anlage ergeben sich rein rechnerisch rund 500 km² Kleingartenfläche in Deutschland, wobei sich in Süddeutsch- Schwerin BERLIN Bottrop Oberhausen den Eigenbedarf hinaus gedrungen. Rund 30% von Obst und Gemüse gingen in den Verkauf (HENTSCHEL 1990, S. 60). Auffallend ist das Durchschnittsalter der Pächter. Fast 50% sind zwischen 55 und 65 Jahre alt. Sie gehören überwiegend einkommensschwachen Haushalten an, da es auch diese sind, die kein Eigentum bzw. keine Häuser mit Garten haben. Dementsprechend wichtig ist die Höhe des Pachtzinses, der nach der Wende besonders für die ostdeutschen Gärten drastisch angestiegen ist. Bei einem Großteil der Anlagen bewegt sich die jährliche Pacht zwischen 0,10 und 0,40 DM je m². Seit Ende der 1990er Jahre findet in ganz Deutschland eine moderate Wiederinwertsetzung des Kleingartens statt, der sich besonders zur Wochenendgestaltung großer Beliebtheit erfreut. Bei 67% der Vereine in den alten und bei 58% in den neuen Ländern bestehen wieder Bewerber-Wartelisten (BMRBS 1998). Hamburg Kleingärten je 1 000 Haushalte 2000 nach Ländern Kummerower See Plauer See Bochum Essen Gelsenkirchen Ludwigshafen am Rhein Mönchengladbach Mülheim an der Ruhr Neustadt an der Weinstraße er es Ein Kleingarten ist ein Garten, der 1. dem Nutzer (Kleingärtner) zur nichterwerbsmäßigen gärtnerischen Nutzung, insbesondere zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf, und zur Erholung dient (...) und 2. in einer Anlage liegt, in der mehrere Einzelgärten mit gemeinschaftlichen Einrichtungen, z.B. Wegen, Spielflächen und Vereinshäusern zusammengefasst sind (Kleingartenanlage). Schweriner See Emden BO E GE LU MG MH NW Greifswald Wismar Bremerhaven Wilhelmshaven Stralsund Rostock Neumünster © Institut für Länderkunde, Leipzig 2000 land zwischen 20 und 40% dieser Flächen und in Westdeutschland zwischen 80 und 100% in Gemeindebesitz befinden. Das Beispiel der Stadt Leipzig B zeigt nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal nach der Wiedervereinigung trotz sinkender Bevölkerungszahlen ansteigende Kleingartenflächen, was nicht * Die Entwicklung ist wegen Fehlens vergleichbarer Daten nur für die alten Länder dargestellt. nur auf mehr, sondern auch auf größere Kleingärten zurückzuführen ist. Immer öfter werden die Kleingärten jedoch als Reserveflächen für städtebauliche Entwicklungen verwendet. Dadurch werden die Gartenanlagen an den Stadtrand verdrängt, in meist deutlich wohnungsfernere Lagen. Die Konsequenz ist auf der einen Seite ein erhöh- 0 25 50 75 Maßstab 1 : 3 750 000 tes Verkehrsaufkommen, auf der anderen Seite ein steigender Bedarf an Infrastruktur in den Gärten, da mit wachsender Entfernung vom Wohnstandort der Übernachtungswunsch und damit auch die Anforderungen an die Lauben steigen.? Kleingärten – Freizeiträume und grüne Lungen der Städte 45 100 km