Die Orgel der Universitätskirche in Marburg

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Die Orgel der Universitätskirche in Marburg
Die Orgel der
Universitätskirche
in Marburg
Die Orgel der Universitätskirche in Marburg
Marburg im März 2009
Herausgegeben von
Gerold Vorrath und Dietrich Hannes Eibach
Fotonachweis:
Oberhessische Presse (S. 1), Bildarchiv Foto Marburg (S. 11, 13, 15),
Archiv der Universitätskirchengemeinde (S. 22),
Gerold Vorrath (S. 3, 5, 17, 23, 25, 26, 27, 32),
Dietrich Hannes Eibach (S. 28)
Grafik und Layout:
Jörg Rustmeier
Endredaktion und Druck:
Heinrich Rockel (Just-In-Time-Printing)
Diese Broschüre ist in der Universitätskirche erhältlich.
Die Universitätskirchengemeinde
dankt für die Renovierung der Orgel
Das Instrument – im Jahr 1965 von der Orgelbauwerkstatt Emil Hammer erbaut – war in den letzten Jahren vor allem wegen der technischen Defekte kaum noch spielbar. So ist der Kirchenvorstand froh darüber, dass ein Plan für die notwendigen Arbeiten entstanden ist und
die umfangreichen Maßnahmen vom Spätsommer 2008 bis März 2009
durchgeführt werden konnten. Die Hilfselektronik und die Mechanik
sind nun auf den neuesten Stand gebracht. Sämtliche Pfeifen wurden
repariert, gereinigt und intoniert, die Windversorgung stabilisiert. Der
Registerbestand ist von 46 auf 54 erweitert worden. Auch die großen
Originalpfeifen aus dem Jahr 1927, die bisher stumm waren, sind mit
in das Gesamtkonzept einbezogen, so dass die Orgel gerade in ihrem
Klangfundament deutlich gewonnen hat.
Ein langer Weg liegt hinter uns.
Am Anfang stellten die Orgelsachverständigen Gerold Vorrath und Peer
Schlechta einen Maßnahmenkatalog
auf, der im Wesentlichen von Landeskirchenmusikdirektor Uwe Maibaum
und dem Hessischen Baumanagement
unterstützt worden ist.
Der Leiter des Evangelischen Stadtkirchenamtes Marburg Heinz Gerbig
entwickelte einen Finanzierungsplan,
dem das Land Hessen und die Evangelische Landeskirche von KurhessenWaldeck zugestimmt haben. Auf der
Basis des Patronatsvertrages übernimmt das Bundesland 70 % der Kosten. Von dem verbleibenden Betrag
kann die Landeskirche 50 % abdecken.
Die noch aufzubringenden Finanzmittel für den Kirchenkreis wurden fast
vollständig durch vielfache Gemeinde-
Orgelbaustelle
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aktionen und Spenden so wie durch die Verdoppelung des gesammelten
Betrages von der Stiftung Kirchenerhaltungsfonds der Evangelischen
Kirche von Kurhessen-Waldeck aufgebracht.
Nachdem der Finanzierungsplan aufgestellt war, konnte das Hessische
Baumanagement unter der Projektleitung von Detlef Strack die Baumaßnahmen ausschreiben. Die Werkstatt Freiburger Orgelbau erhielt
den Zuschlag. Orgelbaumeister Hartwig Späth konnte mit seinen Mitarbeitern im August 2008 mit den notwendigen Arbeiten beginnen. Für
die Erneuerung des elektronischen Bereichs übernahm der Orgelbauer
Andreas Seul die Verantwortung.
Wenn am 22. März 2009 die Orgel in einem festlichen Rahmen wieder erklingen wird, ist dem Land Hessen und der Landeskirche, den
zahlreichen Spendern und all denen herzlich zu danken, die sich für die
Erhaltung des Instrumentes mit ihrem ganzen Können, vielen Ideen und
der Liebe zur Kirchenmusik geduldig und zielstrebig eingesetzt haben.
Möge dieses Instrument noch viele Generationen der Universitätskirchengemeinde erfreuen und zum Lobe Gottes einladen – so wie es im
Psalm 150 heißt:
„Lobet ihn mit Posaunen, lobet ihn mit Psalter und Harfen!
Lobet ihn mit Pauken und Reigen,
lobet ihn mit Saiten und Pfeifen!
Lobet ihn mit hellen Zimbeln, lobet ihn mit klingenden Zimbeln!
Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!“
Dietrich Hannes Eibach
Pfarrer
Der Evangelische Stadtkirchenkreis
Marburg sagt Dank
Ein herzlicher Glückwunsch gilt der Universitätskirchengemeinde Marburg, wenn in einem festlichen Gottesdienst am 22. März 2009 die Orgel
in der Universitätskirche nach umfangreicher Sanierung wieder in Gebrauch genommen werden kann. Jahrelang hatte sich Kantor Gerold
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Vorrath mit großem Engagement persönlich darum bemüht, das Instrument – so gut es ging – spielbar zu halten. Es hat einige Zeit in
Anspruch genommen, bis der Plan für eine Sanierung aufgestellt und
die dazu erforderliche Finanzierung gesichert werden konnten.
Heute möchte ich im Namen des Evangelischen Stadtkirchenkreises Marburg allen an
der Planung, der Ausführung und der Finanzierung der Arbeiten Beteiligten sehr herzlich danken. Hier sind insbesondere der Kantor an der
Universitätskirche, der Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche von KurhessenWaldeck, Orgelsachverständige der Landeskirche, das Landesamt für Denkmalpflege und
die ausführende Werkstatt Freiburger Orgelbau
Hartwig Späth zu nennen. Allen voran gebührt
jedoch ein besonderer Dank dem Hessischen
Baumanagement, Regionalniederlassung Mitte,
das mit der Planung und Begleitung der Arbeiten beauftragt war.
Wie kommt das Hessische Baumanagement
dazu, sich um Orgelbauarbeiten in der Universitätskirche Marburg zu kümmern?
Die Universitätskirche gehört nach dem Vertrag des Landes Hessen mit den Evangelischen
Kirchen in Hessen vom 18. 02. 1960 zu den vier
bedeutenden denkmalgeschützten Patronatskirchen, für die das Land weiterhin die bauliche
Unterhaltung zu tragen hat. Für alle anderen
bis dahin in der Unterhaltungsverpflichtung des
Staates stehenden kirchlichen Gebäude wurde
durch eine umfangreiche Abfindungszahlung des
Landes die Baulast an die Kirchengemeinden
übertragen. In den vergangenen Jahrhunderten
wechselten mehrfach die Patronatsinhaber. Waren es ursprünglich die Stifter und kirchlichen
Landesherren, so brachte der Reichsdeputati-
Der Orgelbauer Alexander
Heldt beim Abbau der großen
Pfeifen von 1927
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onshauptschluss von 1803 und die darauf beruhende Säkularisierung
eine grundlegende Änderung. Mit dem Übergang der kirchlichen Vermögen rückten vielfach neue weltliche Landesherren an die Position
der Patronatsverpflichteten, in deren Rechtsnachfolge nach dem zweiten Weltkrieg das Land Hessen eingetreten ist. Für die Erfüllung der
Aufgaben des Landes zur Unterhaltung der Patronatskirchen ist das
Hessische Baumanagement zuständig.
Der Umfang der staatlichen Leistungen ist in den so genannten Patronatsverzeichnissen erfasst. Für die Orgel in der Universitätskirche ist
dort festgehalten, dass sich das Land Hessen an den Unterhaltungskosten mit 70 % der Aufwendungen beteiligt.
Während die Planung für die Sanierung der Orgel auf vollen Touren
lief, wurde gleichzeitig fieberhaft daran gearbeitet, dass die notwendigen Finanzierungsmittel auch zur Verfügung gestellt werden konnten.
Auch wenn das Land Hessen verpflichtet ist, 70 % der Kosten zu tragen, bedeutet das noch lange nicht, dass diese Mittel im Haushalt des
Landes auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Auch wenn der verbleibende kirchliche Finanzierungsanteil „nur“ 30 % beträgt, bedeutet das
nicht, dass dieses Geld irgendwo herumliegt, um es für diese Maßnahme
einzusetzen.
Nach intensiven Verhandlungen mit dem Hessischen Kultusministerium und dem Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von
Kurhessen-Waldeck ist es schließlich gelungen, dass der größte Teil der
Finanzmittel in den Jahren 2008 und 2009 zur Verfügung gestellt werden konnte. Sowohl dem Hessischen Kultusministerium als auch dem
Landeskirchenamt gebührt ein herzliches Dankeschön, dem Landeskirchenamt auch dafür, dass es für das Land sogar teilweise in Vorlage
getreten ist.
Nun wurde es Zeit für den so genannten „Kassensturz“. Es galt zu
ermitteln, welche Mittel immer noch fehlten, um das Projekt der Orgelsanierung zu verwirklichen.
Die Gesamtkosten einschließlich aller Nebenkosten sind mit
290.000,00 Euro veranschlagt. Davon trägt das Land Hessen 70 % =
203.000,00 Euro. Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck trägt
50 % der durch das Land nicht gedeckten Kosten = 43.500,00 Euro. Der
Evangelische Stadtkirchenkreis Marburg als Bauträger sah sich nicht in
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der Lage, den verbleibenden Anteil in dieser Höhe aufzubringen. Also
musste eine andere Lösung gefunden werden. Hier war die Kirchengemeinde der Universitätskirche gefordert.
Der Kirchenvorstand hat im Frühjahr 2008 eine umfangreiche Spendenaktion ins Leben gerufen, die auf ein großartiges Echo gestoßen ist.
Bei verschiedenen Veranstaltungen und Aktionen wurde für die Sanierung gesammelt. Zusammen mit vielen großen und kleinen Einzelspenden sind auf diese Weise bis Mitte Februar 2009 mehr als 20.000,00
Euro zusammen gekommen. Allen Spenderinnen und Spendern sei an
dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Nur durch diese Spendeneinnahmen
ist es möglich geworden, dass die Stiftung Kirchenerhaltungsfonds der
Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck für das Orgelbauprojekt
19.000,00 Euro (Verdoppelung des Spendenstandes am Vergabetermin
im Dezember 2008) bewilligen konnte. Damit konnte die Finanzierungslücke bis auf 3.500,00 Euro geschlossen werden. Diese Lücke wird der
Stadtkirchenkreis aus Baurücklagen stopfen.
Herzlichen Dank nochmals an alle, die mitgeholfen haben, das Werk
zu vollenden. Möge die Orgel recht lange und gut erklingen, zum Lobe
Gottes und zur Erbauung der Menschen, die ihr zuhören und mit ihr
musizieren.
Heinz Gerbig
Leiter des Evangelischen Stadtkirchenamtes Marburg
Frischer Wind
Erst Stille,
dann – einzelne Töne, ein Klang, eine Linie.
Einzelstimmen – leise, lauter und wieder verhallend.
Dann Stille.
Töne – schnarrend oder ganz weich,
hell und leuchtend oder auch spitz,
und dann grundig und tief
und sehr innen,
und ganz wild.
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Dann wieder Stille.
Manchmal einsam und alleine,
manchmal zu zweit sich und uns umwebend,
manchmal auch alle zusammen – wuchtig, mächtig, groß und prächtig,
entfaltet im Körper, im Resonanzkörper Kirchraum,
wie ein Ruf zu Ihm.
Von Ihm?
Manchmal geschieht es – das leise Säuseln ganz tief in uns beim Klang
einer Orgel in einem Kirchraum –
Ein Säuseln, mit dem Er kommt und ahnbar wird.
In Marburgs Universitätskirche ist es nun wieder soweit. Die alte Orgel ist restauriert, nun kann der Wind wieder wirken. Ich wünsche es
Ihnen, liebe Gemeinde, in vielen Variationen, auch immer wieder in Erinnerung an diejenigen, die dieses Instrument mit ihrem persönlichen
und liebevollen Einsatz geschaffen und erneuert haben.
Uwe Maibaum
Landeskirchenmusikdirektor
der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck
Soli Deo Gloria
Diese so oft zitierten Worte sollen den Sinn und Zweck, für den Kunst,
Musik, Architektur – Schönes und Wertvolles – geschaffen wurden, erläutern. Diese Worte drücken auch die Mahnung aus, Verantwortung
für das Geschaffene zu zeigen: Es muss bewahrt und gepflegt, bisweilen
auch restauriert oder erneuert werden, damit es zum Ruhm und zur
Ehre Gottes dienen kann.
Auch in der Universitätskirche kann man diese Worte lesen, und sie
treffen auch hier zu.
Betritt man die Universitätskirche, so fällt der Blick unweigerlich
über Altar, Kanzel und Lettner auf die Orgel. Das dunkle, fast schwarze Orgelgehäuse, 1927 im beeindruckenden Stil der damaligen Jahre
erbaut, trägt als Schmuck eben dieses Zitat.
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In der Vergangenheit verweigerte die Orgel bisweilen den Dienst, und
ihrer „Stimme“ fehlten Glanz und Schönheit. Es freut mich außerordentlich, dass es möglich war, mit entscheidender finanzieller Hilfe des
Landes Hessen auf der Grundlage des Patronatsvertrages die Instandsetzung der Orgel durchführen zu können.
Die Kirchengemeinde ist zu der gelungenen Orgelrenovierung zu beglückwünschen.
Die Orgel gehört nunmehr nicht nur zu den drei größten in Marburg und Umgebung, sondern auch zu den klangschönsten und verlässlichsten. Möge die Kirchengemeinde hieran für lange Zeit große Freude
haben.
Als Projektleiter des hessischen Baumanagements bin ich verantwortlich für die Durchführung dieser Instandsetzungsmaßnahme. In dieser
Funktion möchte ich allen Beteiligten herzlich danken für das Engagement, die Mühe und für die investierte Arbeit.
Zu danken ist den Mitgliedern der „Projektgruppe“: Herrn LKMD
Maibaum, Herrn OSV Schlechta, Herrn OSV Vorrath sowie Herrn
Dr. Buchstab vom Landesamt für Denkmalpflege, die zielgerichtet mit
mir gemeinsam die Maßnahme vorangetrieben haben.
Weiterhin danke ich der Fa. Freiburger Orgelbau mit ihrem Inhaber Herrn Orgelbaumeister Hartwig Späth und seinen Mitarbeitern,
den Herren Manuel Diesing, Eckhard Dittmer, Alexander Held, Harald
Höck, Reiner Janke, Stefan Theileis, Erich Weber und darüber hinaus
Herrn Andreas Seul als Subunternehmer. Die Fa. Freiburger Orgelbau
hat sich als kompetente und äußerst fachkundige Firma gezeigt.
Ebenso ist meinen Kollegen Herrn Waschkowitz und Herrn Turba für
ihre tatkräftige Mitarbeit zu danken.
Nicht zuletzt danke ich Herrn Pfr. Eibach und dem evangelischen
Stadtkirchenkreis für die harmonische Zusammenarbeit.
Die Renovierung ist erfolgreich abgeschlossen. Der Wohlklang der
Orgel möge davon zeugen. Die Orgel erklingt nun wahrhaftig zum Ruhm
und zur Ehre Gottes.
Detlef Strack
Hessisches Baumanagement
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Freiburger Orgelbau
Als August Späth mit seinem Sohn Hartwig 1964 die Firma „Freiburger
Orgelbau“ gründete, führte er in dritter Generation die Orgelbautradition seiner Familie weiter. 1862 hatte Alois Späth die Werkstatt von
Vitus Klingler in Ennetach übernommen. Seine beiden Söhne Franz
Xaver und Albert Späth firmierten 1891 als die „Gebrüder Späth“ und
erhielten 1912 den Titel „Hoforgelbaumeister des Fürstenhauses Sigmaringen“. August Späth war seit 1934 Mitinhaber der väterlichen Firma,
konzentrierte sich dann aber ganz auf die Freiburger Filiale. Hartwig
Späth führt sie seit 1979 alleine und kann heute auf eine sehr erfolgreiche Geschichte des Freiburger Orgelbaus schauen. 200 neue Orgeln sind
entstanden. Davon wurden 30 Orgeln ins Ausland geliefert. 2008 hat
Tilmann Späth seine Meisterprüfung abgelegt und ist nun in fünfter Generation Mitinhaber der Werkstatt seines Vaters in March-Hugstetten.
Zur Zeit arbeitet die Firma auch an den Projekten in St. Michaelis
in Hamburg und am Kaiserdom von Königslutter. Die Werkstatt Freiburger Orgelbau ist u. a. durch ihre künstlerisch hochwertige Intonation
international bekannt geworden.
Zur Geschichte der Orgeln in der
Marburger Universitätskirche
1526 verließen im Zuge der Reformation die Dominikanermönche am
Lahntor ihr dem Täufer Johannes geweihtes Kloster. Es wurde von der
neu gegründeten Universität übernommen. Die Klosterkirche war überflüssig geworden, verfiel und wurde schließlich zu einem Kornspeicher
umgebaut. Über die mittelalterliche Ausstattung der Kirche ist nichts
bekannt, außer dass sie eine Orgel gehabt haben muss, denn in einer
Stiftungsurkunde des Jahres 1459 heißt es:
Johann Quinckus gibt dem Bruder Henriecus Mengelonis, Prior, Ludwig Bordiclois und den übrigen Herrn und Brüdern des Predigerordens
100 Gulden zu einem Testament. Dafür sollen sie jeden Donnerstag auf
dem hohen Altar ihrer Kirche eine Singmesse halten de corpore Christi
mit Orgelspiel und Sequenz Lauda Sion oder einigen Versen daraus; ecce
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Orgel aus der Werkstatt Friedrich Krebaum 1846
planes angelorum nach Gelegenheit der Zeit. 1459, in die assumptionis
Virginies gloriosae. (Mariä Himmelfahrt wird am 15. August gefeiert.)
Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Dominikanerkirche
im Jahre 1653 als protestantische Gemeinde- und Universitätskirche
wieder ihrer ursprünglichen kultischen Bestimmung zugeführt und neu
eingerichtet. Dabei ist auch eine Orgel aufgestellt worden, da die Rechnungen der niederhessisch-reformierten Kirchengemeinde der Universitätskirche stets einen Etat für einen Organisten auswiesen. In der Tat
berichtet Superintendent Wolff aus Eschwege in seiner 1896 erschienenen Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde in Marburg,
dass in den Jahren 1667–1668 der Schmalkaldener Orgelbauer Kaspar
Lehmann eine Orgel aufstellte, für die Landgräfin Hedwig Sophia von
Hessen-Kassel 400 Reichstaler beisteuerte. Den Restbetrag von 1200
Talern musste die Gemeinde selbst aufbringen.
Näheres über diese Orgel ist nicht bekannt. 1841 wurde eine umfassende Renovierung des Innenraumes der Kirche vorgenommen und bei
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dieser Gelegenheit eine neue Orgel bei dem Eschweger Orgelbaumeister
Friedrich Krebaum bestellt. Krebaum war schon 1829 durch die Aufstellung einer Orgel in der Kugelkirche in Marburg bekannt geworden.
Die Renovierungsarbeiten in der Universitätskirche zogen sich hin
und überdauerten den plötzlichen Tod Krebaums im April 1845. Die
Orgel muss damals schon fast vollendet gewesen sein, denn der Orgelbaumeister Bernhard aus Romrod erhielt den Auftrag, die fertigen
Orgelteile der Witwe Krebaums abzukaufen und die Orgel in Marburg
aufzustellen. Doch seine Verhandlungen mit der Witwe kamen nicht
zum Ziel, so dass der Kasseler Hoforgelbauer Wilhelm die Sache erfolgreich in die Hand nahm. Sein Bruder, der Kasseler Kreisorgelbaumeister
Gustav Wilhelm, stellte die Orgel auf. Sie konnte im Oktober 1846 mit
der nunmehr renovierten Kirche ihrer Bestimmung übergeben werden.
Die schöne klassizistische Fassade stammte auch von Friedrich Krebaum. Ein kleineres Gegenstück zur Orgel der Universitätskirche von
1845/46 ist vollständig erhalten und kürzlich restauriert worden in der
ev. Kirche Erksdorf/Kirchenkreis Kirchhain.
Sehr lange hat die Krebaumsche Orgel nicht in der Universitätskirche
gestanden. In der Wilhelminischen Zeit entsprach sie nicht mehr den
gestiegenen Ansprüchen und wurde durch einen neo-gotischen Prospekt
ersetzt. Die Firmen Ratzmann in Gelnhausen und Förster in Lich
bewarben sich beim preußischen Staat, dem Eigentümer der Kirche um
den Auftrag und legten ihre Pläne vor. Ratzmanns luxuriösere Ausführung wurde abgelehnt. Förster legte eine Zeichnung vor, auf deren
linker Hälfte eine einfachere, auf der rechten Hälfte eine anspruchsvollere Ausführung des Orgelprospektes zu sehen ist. Ein späteres Foto der
Orgel zeigt, dass sich der sparsame preußische Staat für die schlichte
Ausführung entschieden hat. Im Jahre 1894 wurde die neugotische
Orgel auf der Westempore aufgestellt. 1904 wurde die Orgel im Zuge
einer neuen, umfassenden Innenrenovierung der Universitätskirche
wesentlich erweitert und in den Hohen Chor auf eine große, neu erbaute
Gegenüberliegende Seite: Entwürfe der Fa. Ratzmann (oben links) und der
Fa. Förster (oben rechts – linke Hälfte in der einfacheren und rechte Hälfte
in der anspruchsvolleren Ausführung, hier farbig hervorgehoben durch die
Herausgeber); Förster-Orgel auf der Westempore vor 1904 (unten)
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Ansicht der Förster-Orgel 1904 (links) und des Orgelprospektes von F. Keibel
1927 (rechts) im Ostchor. Gegenüberliegende Seite: Gesamtansicht von 1927
Sängerempore gesetzt. Auf diese Weise konnte das seit Jahrhunderten
vermauerte große Westfenster der Kirche wieder freigelegt und restauriert werden.
Der Förstersche Orgelprospekt wurde bei der Innenausgestaltung der
Kirche zur Vierhundertjahrfeier der Philipps-Universität im Jahre 1927
entfernt, das Pfeifenwerk aber im Wesentlichen in den neuen von Regierungsoberbaurat Fritz Keibel entworfenen expressionistischen Orgelprospekt eingearbeitet. Die von der Firma Walcker erneuerte Orgel wurde
am Standort ihrer Vorgängerin im Hohen Chor errichtet. Erst in den
fünfziger Jahren wurden teilweise neue Register eingebaut. Die alten
Windladen verschwanden erst Mitte der sechziger Jahre, nachdem sie
in dem kalten Winter 1962/63 gerissen und völlig unbrauchbar geworden waren.
Friedrich Dickmann
Pfarrer i. R.
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Die Orgel der Universitätskirche
Marburg 1927–2009
Die Walcker-Orgel von 1927
„Gerade in Hessen steht am Anfang der modernen Prospektgestaltung eine kaum weniger bedeutende Leistung als der Orgelprospekt der Göttinger Marienkirche, nämlich die Orgel der Universitätskirche in Marburg.
Das Werk wurde von der Firma E. F. Walcker in Ludwigsburg erbaut,
der Prospekt entstand unter dem Einfluss des preußischen Konservators
Hiecke. Er stellt einen außerordentlich bemerkenswerten Versuch dar,
mit modernen Mitteln des Aufbaus und der Ornamentik eine orgelgemäße Gehäuseform zu schaffen. Vom Standpunkt der Werkgerechtigkeit
lässt sich lediglich beanstanden, dass die Mittelgruppe einen Aufbau aus
drei Werken vortäuscht, während zur Erbauungszeit tatsächlich nur zwei
Werke dahinter standen . . .
Sehr beachtenswert ist die großzügige, durch Schrägfronten bereicherte
Pedalgestaltung. Gesimsformen und Ornamentformen sind aus dem damaligen Zackenstil des Expressionismus entwickelt. Es handelt sich also
um eine durchaus legitime moderne Schöpfung von im Wesentlichen orgelgerechtem Charakter, der eine größere Wirkung auf die Folgezeit zu
Unrecht versagt geblieben ist.“
So schrieb der Kunsthistoriker Dr. Dieter Großmann in der Fachzeitschrift Acta Organologica I 1967, vierzig Jahre nach Entstehung des
inzwischen unter Denkmalschutz stehenden Prospektbildes der Orgel.
Das Instrument ist aus der so genannten Orgelbewegung entstanden,
eine von Fachleuten und Laien in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts proklamierten Initiative, wieder Orgeln nach barocken Prinzipien
zu bauen. Viele „Bewegungen“ äußern sich gelegentlich in einer gewissen
Unerbittlichkeit; so hatte insbesondere die Intonation („Stimmbildung“)
der Orgeln in wesentlichen Bereichen keine Verbindungen mehr zu den
hoch entwickelten Intonationstechniken vorhergehender Jahrhunderte.
Kennzeichnend für die sich nun entwickelnde neobarocke Intonation ist ein kühler, obertonreicher und dabei oft scharfer Klang, dem
grundtönige und differenzierte Weichheit und Farbigkeit häufig fehlten.
Entsprechend wurde auch Orgelmusik des 19. Jahrhunderts nicht ge16 |
spielt. Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy jedoch standen außer
Frage; wegen seiner Verehrung der Kompositionskunst Bachs galten sie
als über jeden Zweifel erhaben. Und wie verhielt es sich mit der Orgelmusik von Max Reger (1874–1916)? Tatsächlich wurde noch in den
1950er Jahren erbittert um den „Wert“ seiner Orgelwerke gestritten;
an der Frankfurter Musikhochschule existierte kurzzeitig ein „RegerVerdikt“ . . .
Im Zusammenhang mit der umfassenden Renovierung der Universitätskirche anlässlich des 400. Gründungsjubiläums der PhilippsUniversität durch Staatsregierung und Provinz, vorangetrieben durch
Kirchenrat Karl Bernhard Ritter, Geheimrat Freiherr von Soden und
Kurator Geheimrat von Hülsen, wurde auch die neue Orgel als op. 2162
von der weltweit bekannten Firma E. F. Walcker & Cie gebaut.
Das Instrument hatte auf zwei Manualen und Pedal 39 klingende Register. Seine
genaue Disposition ist dem in der Universität Hohenheim gelagerten Firmenarchiv
derzeit nicht zu entnehmen. Das Windladensystem, so genannte elektropneumatische Taschenladen, eignete sich auf Grund
problematischer Verschmelzungsfähigkeit
hoch klingender Register nur sehr bedingt
zur überzeugenden Darstellung neobarockobertöniger Orgelmusik.
Der Architekt Fritz Keibel schreibt über
die Orgel (Zeitschrift Die Denkmalpflege,
Wien und Berlin Jahrgang 1930):
„Die Prospektpfeifen sind alle tönend bis
auf die oberste Reihe des Mittelturmes. Da
Zinnpfeifen für den Prospekt leider zu teuer waren, mussten solche aus Zinkblech gewählt werden, die aber nicht in der üblichen hässlichen Art mit Aluminiumbronze
überzogen, sondern zum ersten Male hier,
auf den Vorschlag des Malers Fey hin, mit
Blattaluminium ähnlich einer Blattvergol-
Pedalpfeifen von 1927
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dung behandelt und danach mit einem durchsichtigen farblosen Lack gegen Patinierung geschützt wurden. Zu dem bewegten Umriss der Grundfläche kommt im Aufbau die fast gänzliche Auflösung der Flächen in
Pfeifen hinzu . . .
Hierdurch wurde erreicht, dass die große Masse der Orgel dem Beschauer nicht zum Bewusstsein kommt.“
Im Jahr 1952 wurde, angeregt durch den an der Universitätskirche
amtierenden Kirchenmusikdirektor Johannes Stadelmann, der in Leipzig entscheidende Prägung durch Karl Straube erfahren hatte, die
Walcker-Orgel technisch überholt, klanglich umgestaltet und erweitert.
Der Umbau, ausgeführt durch den legendären Walcker-Mitarbeiter
Orgelbaumeister Paul Tesche, intensivierte die bereits genannte neobarocke Klangausrichtung.
Es entstand die folgende Disposition:
Hauptwerk
Prinzipal
Weitprinzipal
Gedackt
Harfpfeife
Oktave
Flöte
Nasat
Waldflöte
Oktave
Mixtur 4fach
Sesquialter 2fach
Terzcymbel 3fach
Dulcian
Trompete
16’
8’
8’
8’
4’
4’
2 2/3’
2’
2’
umgebaut
Namensänderung
Namensänderung
neu gebaut
umgebaut
neu gebaut
16’
8’
Oberwerk
Hellprinzipal
Oktave
Engprinzipal
Quinte
Scharff 5fach
Terzmixtur 3fach
Lieblich Gedackt
Hohlflöte
Gedackt
18 |
8’
4’
2’
1 1/3’
16’
8’
8’
umgebaut
umgebaut
umgebaut
umgebaut
neu gebaut
Quintatön
Nachthorn
Kleine Flöte
Schwiegel
Rankett
Krummhorn
Geigenregal
8’
4’
2’
1’
16’
8’
4’
Namensänderung
umgebaut
Pedal
Prinzipal
16’
Contrabass
16’
Untersatz
16’
Gedacktbass
16’
Klangbass
10 2/3’
Oktavbass
8’
Choralbass
4’
Gedackt
4’
Prinzipal
2’
Pedalmixtur 4fach
Rankett
16’
Posaune
16’
neu gebaut?
umgebaut
neu gebaut?
Tremulant Oberwerk
Normalkoppeln II/I, II/P, I/P
Superoktavkoppel II/I
Suboktavkoppel II/I
Schweller Oberwerk
Rollschweller
42 klingende Register
Ein Zitat aus dem Abnahmegutachten vom 18. 06. 1952 mag die Intentionen des Organisten verdeutlichen:
„Die Firma Walcker (OBM Paul Tesche) hat sich in allen Punkten
nach den Anweisungen des Orgelpflegers gerichtet . . .
Das Werk funktioniert jetzt einwandfrei, sowohl in den elektrischen
als in den pneumatischen Stationen.
Die klangliche Umgestaltung brachte das gewünschte Ergebnis: Die
Orgel hat jetzt ausgesprochenen Werkcharakter. Obwohl äußerlich und
vom Spieltisch her gesehen nur das Hauptwerk, das Oberwerk und das
Pedal in Erscheinung treten, sind die Klangelemente eines Brustwerkes
zu erkennen (siehe Disposition).
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Die Klarheit der Orgel im polyphonen Spiel (Raumlinienstärke) hat
beträchtlich gewonnen. Die Grenzen, die in diesem Punkte gesetzt sind,
ergeben sich aus der Taschenlade (Registerkanzelle).
Es gelingt trotzdem, ein sechsstimmiges polyphones Gewebe klar darzustellen.“
In dieser Klanggestalt verblieb die Orgel bis zu ihrem technischen
Neubau im Jahr 1965.
Der Orgelneubau 1965
Die musikalischen und technischen Postulate der bereits genannten Orgelbewegung sind nun in ihren Konsequenzen auch in Hessen erkennbar.
In den Marburger Kirchen werden innerhalb von acht Jahren (1960
bis 1968) von vier Orgelbaufirmen elf neue Orgeln gebaut:
Elisabethkirche (Chororgel
und Westorgel)
Luth. Pfarrkirche
Universitätskirche
Lukaskapelle
Matthäuskirche
Markuskirche
Ortenberghaus
Pauluskirche
Kapelle St. Jost
Friedhofskapelle
Bosch/Kassel
Schuke/Berlin
Hammer/Arnum b. Hannover
Bosch
Bosch
Bosch
Bosch
Walcker
Walcker
Walcker
56
13
55
46
4
23
13
4
14
11
4
bzw.
Register
Register
Register
Register
Register
Register
Register
Register
Register
Register
Wer kann das bezahlen in dieser Wirtschafts-Wunder-Zeit? Wie immer
in der Kirche zunächst ungezählte Spenderinnen und Spender aus den
Kirchengemeinden, dann die Evangelische Kirche Kurhessen-Waldeck
und das Land Hessen im Falle der beiden Staatspatronate Elisabethkirche und Universitätskirche.
Nach den „orgelbewegten“ Vorstellungen Johannes Stadelmanns, der
auch landeskirchlicher Orgelsachverständiger war, baute die 1835 gegründete Traditionsfirma Emil Hammer, ehemals Furtwängler & Hammer, ein neues Werk mit 46 klingenden Registern auf 3 Manualen und
Pedal.
Anlässlich der Orgelweihe in der Universitätskirche war zu lesen:
„Es ist nötig, . . . sich jenes Instrumentes zu erinnern, das über vie20 |
le Jahre den Dienst in der Universitätskirche getan hat und zugleich
für die Gesamtgemeinde (heute Kirchenkreis Marburg-Stadt, Anm. d.
Verf.) von Bedeutung gewesen ist durch die Tatsache, dass es eine Disposition im Sinne der Orgelbewegung hatte, . . . die die Literatur aller
Stilepochen wiedergeben konnte. Seit längerer Zeit bestand die Sorge um
den allmählichen Verfall der Windladen. Sie stammen aus einer Orgel,
die um die Jahrhundertwende gebaut worden war. In der außergewöhnlichen Frostperiode des Winters 1962/63 jedoch rissen die Windladen
und ein Teil der Holzpfeifen, als an der Fensterseite der Orgel −10 ℃ gemessen wurden und an der Vorderfront nach intensiver Heizung +15 ℃.
Eine Reparatur des alten Instrumentes wäre der hohen Kosten und des
unsicheren Erfolges wegen nicht zu verantworten gewesen.“ (Die neue
Orgel der Universitätskirche, Marburg 1965.)
Die Hammer-Orgel hatte folgende Disposition:
Hauptwerk (I) C-g’’’
Prinzipal (Prospekt)
Oktave
Rauschquarte
Mixtur 5-6fach
Cymbel 4fach
Sesquialtera
Rohrflöte
Spitzflöte
Kleingedackt
Nasat
Waldflöte
Fagott
Trompete
Oberwerk (II) C-g’’’
8’
4’
2 2/3’ + 2’
1 1/3’
1/2’
2 2/3’ + 1 3/5’
8’
8’
4’
2 2/3’
2’
16’
8’
Hellprinzipal (Prospekt)
Oktave
Superoktave
Quartan
Scharff 4-5fach
Oberton zu Scharff
Strichflöte
Nachthorn
Terz
None
Dulcian
Kopftrompete
Positiv-Schwellwerk (III) C-g’’’
Pedal C-f ’
Quintade
Metallgedackt
Blockflöte
Flachflöte
Schwiegel
Nonenkornett
16’
8’
4’
2’
1’
5 1/3’ + 3 1/5’
+ 2 2/7’ + 1 7/9’
Scharffmixtur 3-4fach
1’
Trichterschalmey
8’
Prinzipalbass (Prospekt)
Quintbass
Oktavbass
Choralbass
Mixtur 5fach
Hornterz
Subbass
Gemshorn
Rohrschelle
Nachthorn
8’
4’
2’
1 1/3’ + 1’
1’
8/9’
8’
4’
1 3/5’
8/9’
16’
8’
16’
10 2/3’
8’
4’
2 2/3’
1 3/5’
16’
8’
4’
2’
| 21
Posaune
Trompete
Clarine
16’
8’
4’
Tremulant II und III
Normalkoppeln
4 freie Kombinationen
Elektrische Schleifladen
Was hatte sich verändert? Alles bis auf
das Orgelgehäuse. Wiederum sei Johannes Stadelmann zitiert:
„In den Aufbau des gesamten Werkes wurde der bisherige Prospekt einbezogen, obwohl er den Vorstellungen unserer Zeit nicht mehr entspricht. (Glücklicherweise steht er unter Denkmalschutz, Anm. d. Verf.)
Er ist aber in seinen Stilelementen
dem Lettner verwandt und hervorragend in den Raum eingegliedert. Die
Windladen aus massiver Eiche sind
nach neuesten Erkenntnissen gebaut
und gegen Temperaturschwankungen
weniger empfindlich, als es früher der
Fall war. Beim Pfeifenwerk wurden
jene hohen Materialqualitäten eingesetzt, die einer Orgel dieser Bedeutung
zukommen. Auch die großen 16-FußProspektpfeifen bestehen aus der hochKirchenmusikdirektor Johannes
wertigen Zinnlegierung von 75 %.“
Stadelmann am Spieltisch der
Klanglich war eine durchgreifende
Hammer-Orgel 1965
Veränderung eingetreten. Die vorher
noch bestehende relative Gravität des Walcker-Registerbestandes wurde ausgedünnt. So verschwanden im Hauptwerk der Prinzipal 16’, im
Oberwerk das Lieblich Gedackt 16’, im Pedal Contrabass 16’ und Gedacktbass 16’. Hohe Tonbereiche wurden dagegen bevorzugt und sogar noch weiter ausgebaut. Die so genannten Klangkronen Mixturen,
22 |
Spieltisch vor der Renovierung 2009
Scharff und Cymbel repetierten bis an die Hörgrenze. Grundstimmen
und Zungen bekamen relativ enge Mensuren.
Signifikant für den in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts weiter entwickelten neobarocken Orgelbau wurden entlegene Aliquotstimmen, u. a. Terzen, Septimen und Nonen in teilweise abenteuerlichen Zusammensetzungen (Nonenkornett, None, Oberton zu Scharff, Hornterz,
Quartan etc.).
Die Vorstellungen des Disponenten sollen hier erneut zitiert werden:
„Die Frage nach dem musikalischen Stil dieser Orgel ist gegenstandslos. Es ist keine Imitation eines historischen Typs versucht worden, vielmehr wurde Wert darauf gelegt, das ‚Gesetz der Orgel‘ zu erfüllen . . . Die
entlegenen Obertöne stellen ein reiches Farbelement dar, das der Interpretation der modernen Musik zustatten kommt.“
| 23
Das Jahr 1986
Seit Mitte des Jahres 1980 waren die so genannte elektrische Spieltraktur und der im Jahr 1952 gebaute, 1965 übernommene EisenschmidSpieltisch Ursache für immer häufiger auftretende technische Störungen im vielfältigen musikalischen Einsatz der Hammer-Orgel bei Gottesdiensten, Konzerten und Seminaren des Fachbereiches Evangelische
Theologie.
Gemeinsame Überlegungen von Kirchengemeinde, Gesamtverband
und dem damaligen Hessischen Staatsbauamt führten zu der Erkenntnis, zur Abhilfe der Störungen grundlegend vorzugehen.
Die elektrische Spieltraktur trägt ein grundsätzliches Problem mit
all ihren musikalisch-technischen Fragen in sich: In diesem System werden die tonauslösenden und gestaltenden Hände und Füße des Organisten durch elektrische Zwischenglieder vom bewussten Tonansatz ausgeschlossen. Vereinfacht formuliert gibt es nur „Ton an“ und „Ton aus“.
Und überspitzt, gleichwohl konsequent fortgeführt: Wer „lässt“ seine
Geige, Blockflöte oder Basstuba freiwillig relaisgesteuert spielen? Also,
was den Pianisten etc. recht ist, soll auch den Organisten billig sein –
so wie in den knapp tausend Jahren Orgelbaugeschichte bisher.
So erhielt die Orgel im Jahr 1986 eine aufwändig und detailgenau konstruierte mechanische Spieltraktur nach den handwerklichen Grundsätzen des klassischen Orgelbaus. Dem Konstrukteur Josef Ecke und dem
ausführenden Orgelbaumeister August Kracke aus der Firma Hammer
gebühren dafür noch heute prinzipieller Dank.
Das Äußere des Orgelgehäuses sollte selbstverständlich unangetastet bleiben. Darum wurde ein neuer freistehender Spieltisch aus massiver, schwarz gebeizter Esche mit Blickrichtung zum Kirchenschiff vor
der Orgel aufgebaut. Die neue Registeransteuerung im Spieltisch wurde
durch eine 128fache elektronische Setzeranlage für bedarfsweise schnellen Klangfarbenwechsel eingerichtet.
Auf dem Weg zur Renovierung 2009
Die Orgelbauwerkstatt Emil Hammer gehörte bis in die siebziger Jahre
des 20. Jahrhunderts zu den führenden Orgelbaufirmen der Bundesrepublik Deutschland. Sie war bekannt für ihre hohe Verarbeitungsqua24 |
lität im Pfeifenbau und im Windladenbau (Eiche massiv, kaum „neue
Werkstoffe“). Bei der Intonation, der Gestaltung des Klangbildes im
Kirchenraum, fehlte jedoch häufig die über Jahrzehnte prägende Handschrift (oder das Ohr) eines führenden Intonateurs. Erst nach dem Einbau der neuen mechanischen Spieltraktur wurden durch den damaligen
Intonateur OBM Ottermann manche Notwendigkeiten und Wünsche
ansatzweise realisiert.
Die elektropneumatische Register- Andreas Seul bei der Installation der
traktur von 1965 war beibehalten wor- Setzeranlage
den. Im Jahr 1992 wurden die großen
Prospektpfeifen des Prinzipalbass 16’
aus Stabilitätsgründen mit veränderter Wandstärke und innen verstärkten
Pfeifenfüßen neu eingebaut.
Während der Jahre 2001 bis 2005
zeigten sich zunehmend gravierende
und teils irreparable Schäden in der
für diese Orgel „lebenswichtigen“ umfangreichen elektrischen Hilfstechnik
(defekte Setzeranlage, blockierte Registrierungen, Ausfall von Schleifenzugapparaten, Ausfall oder Blockade von Koppeln etc.). Die Windversorgung war wegen des hohen Arbeitswindbedarfes der pneumatischen
Hilfsaggregate unzureichend, als Folge
waren insbesondere die so genannten
Zungenstimmen kaum noch stimmbar.
Alle mechanischen Spieltrakturen waren dereguliert, was häufig zu permanenten, oft schwer zu beseitigenden „Tonhängern“ führte.
Für viele Organistinnen und Organisten und auch für die singende
Gemeinde waren inzwischen erhebliche Klangdefizite des Instrumentes
im Kirchenraum spürbar. Zur anschaulichen, pointierten Erläuterung
sei ein Zitat von Martin Weyer angeführt:
„Schräge Farbregister mit Septimen und Nonen sind zu dieser Zeit
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(1965, Anm. d. Verf.) Mode im Zeichen der Orgelmusik von Reda und
Bornefeld. Die engen Prinzipalmensuren sind ebenfalls gängig. Was
wurde auf diesen Instrumenten gespielt? ‚Alles!‘, könnte man antworten. Es gehört zu den naiven Überzeugungen der Orgelbewegung, dass
mit ihr der Zenit der Entwicklung erreicht sei. Also haben sich Komponisten, die stilistisch da nicht hingehören, zu ihrem Heil anzupassen.
Reger wird ebenso barockisiert wie César Franck eingedeutscht wird. Die
‚große‘ Geschichte der Kirchenmusik reichte bis Bach, dann war 150
Jahre ‚Verfallszeit‘ und erst mit Distler, Pepping, David und anderen
Erneuerern war nach dem Zug durch die Wüste des 19. Jahrhunderts
das gelobte Land erreicht.“ (Die Klais-Orgel in der Elisabethkirche Marburg, Marburg 2006.)
Eine sorgfältige, am Bestand
orientierte klangliche Veränderung der Orgel war inzwischen unumgänglich geworden.
Das von Kirchengemeinde, Kirchenkreis und dem Hessischen
Baumanagement intensiv vorangetriebene Renovierungsprojekt
wurde scharf beobachtet: „Das
Pfeifenwerk in seiner unverändert erhaltenen neobarocken
Ausprägung, zusammen mit dem
gesamten Windsystem, besitzen
in ihrer Aussagekraft DenkmalOrgelzungenbecher vor der Renovierung
wert . . . Dazu gehört auch . . .
eine behutsame Intonation, welche die obertonreiche Aussagekraft des
Pfeifenwerks beibehält.“ (Zitat Landesamt für Denkmalpflege, Brief vom
28. 11. 2006).
In der Konsequenz war somit überhöhte Obertönigkeit nicht zu kappen; die Orgel musste sehr überlegt klanglich „tiefer gelegt“ werden. Hier
führte die intensive, teilweise kontrovers geführte Diskussion zwischen
Bauleitung, Orgelbauer, Orgelsachverständigen und Denkmalpflege zu
einem konstruktiven Ergebnis.
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Mixturen in neuem Glanz
Disposition 2009
Unterwerk I
Quintade
Metallgedackt
Blockflöte
Flachflöte
Schwiegel
Nonenkornett 4fach
Scharffmixtur 3-4fach
Trichterschalmey
Hauptwerk
16’
8’
4’
2’
1’
1’
8’
Prinzipal
Prinzipal
Rohrflöte
Spitzflöte
Oktave
Kleingedackt
Quinte
Nasat
Oktave
Rauschquarte 2fach
Waldflöte
Sesquialtera 2fach
Mixtur 5-6fach
Cymbel 4fach
Fagott
Trompete
16’
8’
8’
8’
4’
4’
2 2/3’
2 2/3’
2’
2’
1 1/3’
1/2’
16’
8’
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Oberwerk III
Gedackt
Hellprinzipal
Strichflöte
Oktave
Nachthorn
Quinte
Oktave
Terz
Quinte
Oktave
Quartan 2fach
None
Scharff 4-5fach
None zu Scharff
Dulcian
Kopftrompete
Pedal
16’
8’
8’
4’
4’
2 2/3’
2’
1 3/5’
1 1/3’
1’
8/9’
1’
8/9’
16’
8’
Großbass
Großbordun
Prinzipal
Kontrabass
Subbass
Quintbass
Oktavbass
Gemshorn
Choralbass
Rohrschelle
Nachthorn
Hornterz
Mixtur 5fach
Posaune
Posaune
Clarine
32’
32’
16’
16’
16’
10 2/3’
8’
8’
4’
4’
2’
1 3/5’
2 2/3’
16’
16’
4’
Tremulant I und III
Normalkoppeln
Suboktavkoppel III
Superoktavkoppel II und III
Setzeranlage 11.000fach mit Sequenzern
Chefintonateur Reiner Janke
28 |
Die vorher bestehenden
Doppelregister in Hauptund Oberwerk wurden
einzeln spielbar eingerichtet, mussten jedoch um
ihre ursprünglichen Gruppenzüge ergänzt werden.
Beide Nonen im Oberwerk, der Nonenkornett
im Unterwerk und die
Hornterz im Pedal sollten
verbleiben (Konsequenz
aus der Forderung der
Denkmalpflege).
Zur Erreichung intensiver Grundtönigkeit wur-
den die letzten verbliebenen Walcker-Pfeifen aus dem Jahr 1927 zu einem Kontrabass 16’ vervollständigt. Besonders interessant ist hier seine
Verwendung mit einer neu gebauten Quinte 10 2/3’ in entsprechender
Mensur zu einem Großbass 32’, der erhebliche Gravität erwarten lässt.
Großbordun 32’ wird durch akustische Kombination der schon bestehenden Register Subbass 16’ und Quinte 10 2/3’ (Hammer) erzeugt.
Transmission des schlanken Prinzipal 16’ ins Hauptwerk vertieft dort
ebenfalls die Klangbasis. Das Oberwerk wurde durch die Register Gedackt 16’ und Quinte 2 2/3’ aufgefüllt. Sechs zusätzliche Windladen nehmen den erheblich erweiterten Pfeifenbestand auf und sind mit großem
Aufwand mechanisch und elektrisch in das Werk zu integrieren.
Auch der wertvolle, frei stehende Spieltisch war in hoher schreinerischer Qualität in seinem Design zu erweitern und zu ergänzen.
Eine grundlegende Nach- bzw. Neuintonation aller ca. 3.700 Pfeifen
und physikalische Stabilisierung der Windanlage führen jetzt zu einem
raumfüllenden, abgerundeten und reichhaltigen Klang der Orgel.
Innerhalb des Zeitraumes der Orgelrenovierung von etwa neun Monaten hätte durchaus auch ein vergleichbar großes neues Instrument
gebaut werden können; damit sei der hier notwendige technische und
intonatorische Aufwand skizziert.
Eine optische Aufarbeitung des Orgelprospektes in wünschenswert
veränderter Farbfassung und damit auch die Neufassung der hinteren
seitlichen Pedaltürme mit ihren Walcker-Pfeifen konnte leider aus Kostengründen innerhalb dieser Baumaßnahme nicht durchgeführt werden.
Kantor Gerold Vorrath
Landeskirchlicher Orgelsachverständiger
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Quellen und Literatur
Acta Organologica I, Berlin 1967
Archiv der Universitätskirchengemeinde
Archiv des Stadtkirchenkreises Marburg
Archiv Walcker, Gerhard Walcker-Mayer, 2009
Bücking, Wilhelm: Geschichtliche Bilder aus Marburgs Vergangenheit.
Marburg 1901, S. 70
Eggebrecht, Hans-Heinrich: Die Orgelbewegung, Frankfurt 1966
Großmann, Dieter: Die Eschweger Orgeln und ihre Erbauer. Hessische
Heimat, Neue Folge 24, Jahrgang 1974 Heft 2/3
Großmann, Dieter: Orgeln und Orgelbauer in Hessen, Marburg 1998
Handbuch Orgelmusik, Bärenreiter/Metzler 2002
Keibel, Fritz: Die Wiederherstellung der Universitätskirche zu Marburg
an der Lahn anlässlich der Vierhundertjahrfeier der Universität 1927. Die
Denkmalspflege Heft 1/2 1930, S. 17 ff.
Kerygma und Melos, Kassel 1970
Die Klais-Orgel der Elisabethkirche Marburg, Marburg 2006
Mundus Organorum, Berlin 1978
Orgeln im Magdeburger Dom, Magdeburg 2008
Les Orgues de Paris. Action Artistique de la Ville de Paris, 2005
Staatsbauamt Marburg: Risszeichnungen und Baupläne der Orgeln der
Universitätskirche 1892–1894
Stadelmann, Johannes: Die neue Orgel der Universitätskirche Marburg/Lahn
1965. In: Das Leuchten des Klanges. Hrsg. von Ilse SchleiermacherStadelmann und Friedrich Dickmann, Marburg 2002, S. 147 f.
Trinkaus, Eckhard: Orgeln und Orgelbauer im früheren Kreis Ziegenhain,
Marburg 1981
Wolff, W.: Die evangelisch-reformierte Gemeinde in Marburg. Kassel und
Marburg o. J.
Gegenüberliegende Seite: Grundriss der Universitätskirche nach der Renovierung 1927, Erdgeschoss (oben) und Emporegeschoss (unten)
Rückseite: Gesamtansicht des Altar- und Chorraumes 2008
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