70_REP Sils_HO 5_08
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REPORTAGE Ein Familienbetrieb wird 100 Jahre alt Mit frischem Wind in die Zukunft Das Hotel Waldhaus Sils-Maria wird dieses Jahr 100 Jahre alt. Kein Grund Nathalie Kopsa für das legendäre Grandhotel, sich zur Ruhe zu setzen. Der Familienbetrieb im Engadin hat noch viel vor. Womit wurde das Hotel Waldhaus in Sils-Maria nicht alles verglichen: Ein gestrandetes Schiff auf einem Felsen sei das Hotel, eine Arche Noah, ein nach oben geschwemmter Ozeandampfer. In den Ohren der Hotelmanager und Eigentümer Urs Kienberger und Felix Dietrich müssen diese Vergleiche klingen wie der Alarm einer Schiffsglocke beim Anrücken eines Eisbergs. Das Waldhaus als Sinnbild einer untergegangenen Ära oder als letzter Überlebender einer universellen Katastrophe? Nichts davon wollen sie sein. Kein Hotel-Museum und auch kein überfälliger Kandidat für die Übernahme durch einen zahlungskräf70 5/2008 tigen Investor – sondern eine Herberge für ein sehr lebenslustiges und unternehmungsfreudiges Publikum, quer durch alle Jahrgänge. Drei Viertel der Gäste kommen bereits in der zweiten, dritten, vierten Generation. Der Kinderanteil im Waldhaus Sils beträgt beachtliche 12 Prozent. «Das Waldhaus hat nicht bloss eine stolze Geschichte, sondern auch eine stolze Gegenwart. Es ist kein Schaustück, kein verspieltes Liebhaberobjekt, sondern ein Hotel zum Brauchen, Bewohnen und Arbeiten», sagt Urs Kienberger. Max Liebermann wusste dies ebenso zu schätzen wie Marc Chagall, Joseph Beuys, Gerhard Richter oder die Verleger Siegfried Unseld und Klaus Piper – überflüssig zu erwähnen, dass die Liste berühmter Waldhausgäste noch viel, viel länger ist. ZEHNJAHRESPLAN FÜR RENOVIERUNGEN In den letzten Monaten ging es im Waldhaus Sils turbulent zu. In der Zwischensaison war Theaterregisseur Christoph Marthaler mit Mitgliedern seines Ensembles im ganzen Hotel unterwegs, auf der Suche nach geeigneten Spielorten für das geplante Stück, das hier – bei laufendem Betrieb und anlässlich des Hoteljubiläums – uraufgeführt werden soll. Zur selben Zeit war das hauseigene Handwerker-Team angerückt, das wie jedes Jahr die anfallenden Renovierungsarbeiten in den Zimmern und auf den Fluren des Hotels durchführt. Ausserdem standen umfangreiche Renovierungsarbeiten hinter den Kulissen auf dem Plan: Lagerräume, Küche, Mezzanin, Personalzimmer und das Mitarbeiter-Restaurant wurden auf den neues- den Köpfen der Besitzer geplant. Im Mai, da die Sommersaison vor der Tür stand, mussten anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten rund 32 000 Briefe an die Gäste weltweit verschickt werden. Darin das Jubiläumsprogramm für die kommende Saison, welches erahnen lässt, dass der Trubel rund um den hundertjährigen Geburtstag der Grande Dame nun richtig losgeht: Von Juni bis Oktober steht Auf erhöhtem Platz oberhalb von Sils-Maria gelegen, bietet das Waldhaus eine tolle Aussicht auf See und Berge. Bild Max Weiss neben den Aufführungen von Christoph Marthaler auch die Eröffnung eines kleinen Hotelmuseums im verwinkelten Untergeschoss des Hotels auf dem Plan. Der Künstler Giuseppe Reichmuth hat dieses Museum mit zahlreichen Kuriositäten aus 100 Jahren Hotelgeschichte ausgestattet. Drei grosse Familientage, ein grosser Tag der offenen Tür am 13. Juli, am 14. September ein besonderer Anlass zum «Tag des Europäischen Denkmals» und am 20. Dezember ein festlicher Ball zum Auftakt der Wintersaison sind neben den ohnehin zahlreichen Lesungen, Konzerten und weiteren kulturellen Darbietungen geplant. Nein, die Zeit ist nicht stehen geblieben: «Das Waldhaus hat nicht bloss eine stolze Geschichte, sondern auch eine stolze Gegenwart», sagt Urs Kienberger. Bild A.T. Schaefer ten Stand gebracht. Ein Areal von insgesamt 5800 m3 wurde erneuert, die Investitionen hierfür beliefen sich auf rund 9,5 Millionen Franken. Die Renovierungsarbeiten bilden den vorläufigen Abschluss eines auf zehn Jahre angelegten Planes. Die nächsten zehn Jahre sind aber auch schon auf Papier und in KEIN FAMILIENSILBER VERSCHERBELT Das Waldhaus ist mit seiner langen Tradition und seinem Beharrungswillen ein Unikat in der Hotelwelt. 100 Jahre im Dienst des Gastes und ununterbrochen in Familienhand – weitere Beispiele in der Fünfsterne-Hotellerie lassen sich an den Fingern abzählen. «Wir haben keine reichen ‹Göttis› und aussenstehende Aktionäre und haben auch kein Familiensilber verscherbelt, haben weder den Hotelpark verkauft, noch Residenzen mit feudalen Eigentumswohnungen aufgestellt», lautet die Bilanz von Urs Kienberger, der gemeinsam mit Schwester Maria und Schwager Felix Dietrich die Führungsspitze des Grandhotels bildet. Die Unabhängigkeit zu bewahren, hat oberste Priorität bei der Hotelierfamilie. Auf aussenstehende Berater verzichtet man deshalb gerne und fällt alle wichtigen Entscheidungen innerhalb des familiären Verwaltungsrates. Alle Gäste des Hauses persönlich zu begrüssen und mit Namen anzusprechen, ist noch immer ein unumstössliches Prinzip im Hotel Waldhaus. Gemeinsam sind deshalb Urs Kienberger und Maria und Felix Dietrich für die Betreuung der Gäste zuständig. «Wir versuchen nicht, den anderen auszustechen, sondern uns untereinander abzusprechen und uns im Umgang mit den Gästen gegenseitig abzulösen», erklärt Felix Dietrich. Um die anderen Abläufe im täglichen Geschäft optimal zu gestalten, hat jeder seinen klar umrissenen Zuständigkeitsbereich. Die Vergabe der Zimmer zum Beispiel, das ist typisch für das Waldhaus Sils, ist Chefsache. Alle Abteilungsleiter sind dem scheinbar immer gut gelaunten Felix Dietrich unterstellt. Urs Kienberger, der studierte Mathematiker und Altphilologe, zurückhaltend und mit leiser Stimme, übernimmt dafür die Gestaltung des Kulturprogramms, schreibt die Begleittexte, Broschüren und Speisekarten. «Mein Schwager ist Dialektiker, ich sorge für die Umsetzung», sagt Dietrich, der nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann seine Laufbahn in der Hotellerie zunächst als Kellner und Koch begonnen und anschliessend die Hotelfachschule 5/2008 71 Der Clan hinter dem Waldhaus Sils: Urs Kienberger (links) mit seiner Frau Nancy (Stuhl links), Felix Dietrich (in grauem Gilet) mit Ehefrau Maria (Stuhl mitte) sowie Jürg Kienberger (mit Brille) und rechts neben ihm seine Frau Claudia Carigiet, die für das Waldhaus und anlässlich des Jubiläums das Kinderbuch «Gian» geschrieben hat. Bild Stefan Pielow in Lausanne besucht hat. Man ergänzt sich demnach also aufs Beste. BAUSÜNDEN WERDEN BESEITIGT Die Gefahr bei einem Hotel mit einer 100-jährigen Tradition ist gross, es zu einem Museum werden zu lassen. Die GESCHICHTE HOTEL WALDHAUS SILS-MARIA Josef und Amalie Giger, die Urgrosseltern der heutigen Gastgeber, hatten bereits 30 Jahre Führungserfahrung in der Hotellerie gesammelt, bevor sie 1905 mit dem Bau des Hotels Waldhaus Sils-Maria begannen. Den Entwurf und Bau des markanten Hotelgebäudes gab das Paar beim bekannten Hotelarchitekten Karl Koller in Auftrag, der zuvor Hotels wie das Parkhotel Weggis, das Grandhotel St. Moritz oder das Bristol Ragaz erbaut hatte. Josef Giger (1847 -1921) gab die Nachfolge an seinen Schwiegersohn Oskar Kienberger (1879-1965) weiter, der als Bauherr hinter den Erweiterungen und Umbauten des Hotelgebäudes stand, die bis 1946 allesamt von Karl Koller durchgeführt wurden. Oskar Kienberger wuchs in Bad Ragaz auf, wo seine Eltern das Grand Hotel Quellenhof führten. Er lernte seinen Beruf von der Pike auf und durchlief mehrere Stationen an Häusern im Ausland, bevor er eine Stelle im Hotel du Lac in St. Moritz annahm, das unter der Leitung von Josef Giger stand. Dort lernte er Gigers Tochter Helene (1882-1959) kennen, die er 1911 heiratete. Er führte in den folgenden Jahren den Engadinerhof in St. Moritz-Bad, das Grand Hotel Rigi-Kaltbad und ab 1918 das Palace Lugano in Sils-Maria, bevor er die Nachfolge von Josef Giger im Waldhaus Sils antrat. 72 5/2008 1950 stieg Kienbergers Sohn Rolf als rechte Hand in das Management des Hotels ein. Tatkräftig unterstützt wurde Rolf in den Folgejahren auch von seinen Geschwistern Helene, Oskar und Gertrud. In den 30er-Jahren sorgte die Wirtschaftsdepression für dramatisch sinkende Umsätze, was sich bis in die 50er-Jahre hinein so auswirkte, dass Rolf Kienberger grösseren Investitionen sehr zurückhaltend gegenüberstand. Erst die Öffnung des Hauses im Winter verbesserte die Umsätze langfristig, so dass fällige Renovierungen in Angriff genommen werden konnten. Die erste grosse Modernisierungsphase begann 1959 unter der Führung des Architekten Alberto Camenzind, dem späteren Chefarchitekten der Schweizer Expo 64. Bis heute haben die Eigentümer seitdem Jahr für Jahr grössere Summen in die Verbesserung der Hotelinfrastruktur gesteckt. 1987 übernahmen Rolf Kienbergers Tochter Maria und ihr Ehemann Felix Dietrich das operative Geschäft im Waldhaus. Zwei Jahre später stieg Urs Kienberger mit ins Management ein. Die Geschwister Claudia und Jürg helfen aus der Ferne aktiv mit, Jürg Kienberger ist heute als Theatermusiker und Schauspieler tätig und glänzt als Waldhaus-Botschafter in aller Welt. steten Bemühungen der Betreiber, das Haus auch technisch auf dem neuesten Stand zu halten, ähneln aber einer Sisyphusarbeit. Die Geschichte des Traditionshotels ist daher auch eine der wiederkehrenden Investitionen. Seit 1960, als es sich das Haus nach einer längeren Durststrecke wieder leisten konnte, ist kein Jahr vergangen, in dem nicht ein mindestens sechsstelliger Betrag in Renovierungs- und Erweiterungsprojekte gesteckt wurde: Aus ursprünglich 40 Badezimmern sind 150 geworden, 50 Personalzimmer im Haupthaus und 30 Wohnungen und Studios in den Nebengebäuden sind entstanden, die Zimmer wurden mit Fernseher, Minibar und Internetanschluss ausgestattet, Saunas, Konferenzzimmer und ein Schwimmbad wurden neu gebaut und eingerichtet wie auch 110 Garagenplätze und eine Tennishalle. Doch nicht nur Neues wurde geschaffen, auch Altes wurde bewahrt: Die millionenschweren Umbauten von Halle, Bar und Eingangsbereich hätten nicht eine Modernisierung zum Ziel gehabt, sondern die Wiederaufwertung der schönen alten Räume, sagt Urs Kienberger. Für die kommende Renovierungswelle ist eine Rückführung eines Teils der insgesamt 150 Zimmer in ihren ursprünglichen Zustand geplant, auch der Speisesaal soll von einigen baulichen Veränderungen aus den 70er-Jahren befreit werden. Stolz weisen die Hoteliers darauf hin, dass sie auf eine kommerzielle Ausbeutung durch mehr Konferenzräume, Luxusboutiquen oder Gourmetrestaurants bewusst und zu Gunsten von Räumen zum «Wohnen und Ferienmachen» verzichtet hätten. Legendär sind die sichtbaren Zeugnisse einer lebendigen Vergangenheit, etwa die noch funktionierende Rufanlage auf allen Etagen oder das berühmte WelteMignon, ein gleichfalls funktionstüchtiges automatisches Klavier von 1910, das immer nur im Sommer in Betrieb genommen wird, weil es aufgrund seiner Kälteempfindlichkeit im Winter nicht funktioniert. LUXUS WIRD ANDERS DEFINIERT Eine gewisse Bodenständigkeit ist das Markenzeichen des Hotels Waldhaus geworden, die umso auffälliger ist, je mehr sich die Nobelherbergen in der Umgebung mit Superlativen bei der Ausstattung gegenseitig auszustechen versuchen. Keine goldenen Wasserhähne, keine Spa-Suiten, keine Promi-Events – Luxus wird im Waldhaus anders definiert. Zum Beispiel dadurch, dass es hier noch immer ein dreiköpfiges Salonorchester gibt, welches sich die Eigentümer einen stolzen Betrag im Jahr kosten lassen. Und dadurch, dass in der grosszügigen Hotelhalle mit dem grandiosen Ausblick noch das lebendige Gemurmel von Gästen dominiert und nicht die Dauerberieselung durch Musik vom Band. Oder durch die Halbpension, deren Wichtigkeit als «tägliches kollektives Ritual» für das «Erlebnis Grandhotel» und für 90 Prozent der Gäste aus der Sicht von Urs Kienberger gar nicht überschätzt werden könne. Auch kein Handyklingeln ist zu hören, denn für Nutzer mobiler Telefone stehen zwei separate Kabinen zur Verfügung. Es brauche ein hohes Mass an Standfestigkeit und Überzeugungskraft, um immer wieder den kritischen Blicken und Reaktionen derer zu trotzen, deren Vorstellungen von einem Luxushotel von den Quellenhöfen und Adlons dieser Welt geprägt sind, gibt Urs Kienberger zu bedenken. Standfest ist die Waldhaus-Familie, aber keinesfalls rückständig. Anregungen aus anderen Häusern werden gerne aufge- nommen, zur Diskussion gestellt und umgesetzt. Zu diesem Zweck durften Chefkoch Kurt Röösli und sein Sous-Chef Dennis Brunner auf Kosten des Hauses für zwei Wochen nach Hongkong fliegen, um sich dort in zwei Hotels auf der Suche nach aktuellen Trends in der asiatischen Küche weiterzubilden. Intensiv wird auch der Austausch mit anderen Hoteliers aus der Gruppe der Private Selection Hotels und der Swiss Historic Hotels gepflegt, mit denen das Waldhaus Sils aktiv kooperiert. Angebote von Investoren, das Waldhaus Sils zu einem der Adlons oder Quellenhöfe dieser Welt zu machen, gab und gäbe es auch heute zuhauf, heisst es. Doch in diesem Punkt ist sich die Familie Kienberger-Dietrich einig: Sie will auch nach hundert Jahren als Familienbetrieb weitermachen wie bisher und solange es geht. «Wir sind inzwischen Exoten, das ist klar. Ich muss aber auch sagen, je länger wir solchen Angeboten von aussen widerstehen, desto mehr macht uns diese Rolle Spass. Wir wollen erst recht beweisen, dass das möglich ist», sagt Felix Dietrich. Das Hotel Waldhaus Sils-Maria, so scheint es, ist noch lange nicht gestrandet. Es segelt auf festem Kurs und mit frischem Wind der Zukunft entgegen. ZAHLEN UND FAKTEN WALDHAUS SILS Eröffnungsjahr: 1908 Gästestruktur: 90 % Leisure-/Individualreisende, 5 % Kongress und Incentive, 5 % Business und Hochzeiten Herkunft der Gäste: CH / D / USA / I / GB / F / Benelux / Japan / ESP / Südamerika / Asien und andere Lage: erhöht auf 1850 m.ü.M. mit Rundblick auf Seen und Berge Besitzer: AG Hotel Waldhaus Sils (Familie Kienberger / Dietrich und Verwandte) – reine Familien-AG Direktoren: Urs Kienberger & Felix Dietrich Hotelzimmer: 140 Zimmer (230 Betten), davon 10 Suiten. Rund 10 % behindertenfreundliche Zimmer, alles Nichtraucherzimmer Zimmergrössen: Small 21 – 24 m2, Standard 26 – 32 m2, Suiten 60 – 90 m2 Preise Zimmer pro Nacht: ab CHF 440 bis 925, Suiten ab CHF 960 bis 1480 Gastronomie: Jugenstil-Speisesäle, à la carte Arvenstube Anzahl Konferenzzimmer: 5 Infrastruktur: Hallenbad, Saunalandschaft, Fitness, Massagen, Tennishalle, 3 Tennisplätze, Kinderbetreuung mit Kinderclub «John & Din» und Kinderspielplatz, Mini-Golf, 2 Tiefgaragen, Coiffeursalon, Wanderleiter/in, Tennislehrer, 5 Golf-Plätze in nächster Umgebung, reiches Kulturprogramm mit Musik, Lesungen, Theater u.a. Durchschnittliche Auslastung: im Winter 85 – 90 %, im Sommer 70 % Erwartete Auslastung 2008: im Winter 95 %, im Sommer 75 % Anzahl Mitarbeitende: rund 150 Im Waldhaus pflegt man die schönen alten Räume – hier der Blaue Salon samt Welte-MignonKlavier im Hintergrund. Farblich frisch und doch im Stil eines Grandhotels: die klassischen Zimmer. Bilder Ralph Feiner 5/2008 73