Routes to Work

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Routes to Work
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Routes to Work
Arbeitsmarktpolitik im schottischen Bellshill
Das britische Jobcenter mit seinem individuellen Ansatz kundenspezifischer Leistungen und
dem „Fördern und Fordern“-Prinzip war Vorbild für die Umstrukturierung der deutschen Agenturen für Arbeit. Auch die Verknüpfung von Arbeitsvermittlung mit der Bereitstellung von
Leistungen aus dem Sozialsystem in einem so genannten „Jobcentre Plus“ fand hierzulande viel
Beachtung. Großbritannien, so schien es, hatte mit diesen Institutionen ein optimales Mittel für
die Wiedereingliederung von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt gefunden. Umso erstaunlicher
dann, bei einem Besuch in der schottischen Region North Lanarkshire von einer regionalen
Initiative namens „Routes to Work“ (RTW Ltd.) zu hören, deren Handlungsschwerpunkt auf Zielgruppen mit größerem Abstand zum ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet ist. Wieso eine zusätzliche Initiative? War der Ansatz von „Jobcentre Plus“ doch zu kurz gedacht und weniger erfolgreich als erwartet? Wir haben uns das von der Region North Lanarkshire und der Europäischen
Union finanzierte Routes to Work-Programm einmal genauer angesehen. Das Gespräch mit
Robin Turner, Manager von Routes to Work in Bellshill, einem Mittelzentrum in der Nähe von
Glasgow, gibt Einblick in Hintergrund, Ziele und Verfahren der Initiative, die spezielle Dienstleistungen für spezielle Zielgruppen erbringt – mit einem ungewöhnlichen Marketingkonzept.
G.I.B.: Mit den Job Centres und mit Jobcentre Plus, so
der Plan, sollten in ganz Großbritannien alle Leistungen
abgedeckt werden, die beim Matching von Nachfrage und
Angebot am Arbeitsmarkt von Arbeitslosen, aber auch
von einstellungsbereiten Arbeitgebern benötigt werden. Warum eine weitere Dienstleistungseinrichtung für
Arbeitslose?
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Robin Turner: Routes to Work schließt
eine Lücke, die trotz Job Centres und
Jobcentre Plus besteht. Die Organisation
ermöglicht Menschen den Zugang zu
Leistungen und Förderprogrammen, die
am stärksten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Dies gelingt durch die Integration von Dienstleistungen sowie die
Zusammenlegung von Mitteln und Pro-
grammen unterschiedlicher Agenturen,
mit denen RTW eng kooperiert, aber vor
allem mit einer ungewöhnlichen Form der
Ansprache dieser Zielgruppe, mit einem
innovativen Marketingkonzept: Wir präsentieren uns und unsere Beratungs- und
Unterstützungsleistungen in Einkaufszentren, Bibliotheken, Gemeindezentren und
manchmal auch auf der Straße, um so die
Bevölkerung zu motivieren, unsere Leistungen in Anspruch zu nehmen. Anders
als vergleichbare traditionelle Einrichtungen betrachten wir unser Dienstleistungsangebot als Bringschuld.
Aber vielleicht zunächst einige Anmerkungen zum allgemeinen Hintergrund:
Routes to Work ist eine regionale Vermittlungsstelle für die Förderung des Zugangs
zum Arbeitsmarkt, die hauptsächlich
in den so genannten Social Inclusion
Partnership Areas, also benachteiligten
Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit, in
North Lanarkshire tätig ist.
in Zusammenarbeit mit der Gemeinde gegründet, um innovative Lösungen für die Probleme im Zusammenhang mit niedrigem
Ausbildungsstand und Arbeitslosigkeit in den Social Inclusion
Partnership Areas zu finden. Die Initiative baut auf den Stärken
bereits bestehender Arbeitsvermittlungsprogramme in North
Lanarkshire auf. RTW ergänzt und erweitert die Tätigkeiten von
Jobcentre Plus. Wir arbeiten mit dem gemeinsamen Ziel, den
Kunden bestmögliche Dienstleistungen anzubieten.
Unsere wichtigste Botschaft an die Öffentlichkeit ist die: Wir
sind ein freier und auf vertraulicher Basis arbeitender Dienst
innerhalb der Region.
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G.I.B.: Sie haben unkonventionelle Marketingmaßnahmen durchgeführt, die für öffentliche Einrichtungen eher
unüblich sind. Sie verteilen Aktentaschen mit Schreibpapier und Stiften oder gar Haarbürsten und Sie bieten Ihre
Dienste in öffentlichen Bibliotheken oder Einkaufszentren
an. Sie verhalten sich ein bisschen wie eine Versicherungsagentur oder ein Kreditkartenunternehmen. Warum
haben Sie sich für diesen Weg entschieden und welche
Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Robin Turner: Zunächst haben wir auch eine ganze Reihe
traditioneller Marketing- und Werbemaßnahmen durchgeführt,
wie zum Beispiel Anzeigen in Zeitungen und Werbung im
Zu den charakteristischen Aufgaben der
Radio. Aber es ist richtig, wir verteilen auch Flyer und Poster in
regionalen Vermittlungsstelle zählen die
Gemeindezentren, Geschäften, in öffentlichen Gebäuden und
Identifizierung, Förderung und aktive
Integration von Kunden, die kaum Chan- Arztpraxen, präsentieren uns aber auch direkt in den Unternehmen. Außerdem haben wir eigens eine Stelle für die Entwickcen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben,
sowie von arbeitslosen Menschen, die von lung von Partnerschaften zu Organisationen eingerichtet, zu
denen Schnittstellen mit unserer Arbeit bestehen oder deren
Leistungen ausgeschlossen sind und deTätigkeit wir ergänzend unterstützen können. Um potenzielle
Vermittler/innen dieser Partnerorganisationen zu gewinnen,
haben wir einen Service-Leitfaden herausgegeben, in dem all
unsere Maßnahmen beschrieben sind. Gleichzeitig bedienen
wir uns für dieses Klientel auch solcher Marketinginstrumente
wie der Verteilung von Aktentaschen. Die Haarbürsten aber
sind etwa für Kunden gedacht, die ein Vorstellungsgespräch vor
sich haben oder eine neue Arbeitsstelle antreten. Sie dienen als
Gedächtnisstütze und sind Teil eines so genannten Startpakets.
Einige dieser Produkte verwenden wir auch auf Veranstaltungen
wie den Gala Days oder den College-Informationstagen.
G.I.B.: Anders als vergleichbare öffentliche Einrichtungen
durchbrechen Sie die bürokratische Sphäre von Anonymität und Zurückgezogenheit, agieren und präsentieren sich
viel mehr in der Öffentlichkeit, gehen auf Ihre Kunden zu.
Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden?
Robin Turner, Manager von Routes to Work
ren spezieller Bedarf von anderen, mehr
auf das „allgemeine“ Klientel konzentrierten Anbietern nicht gedeckt wird.
Unsere Organisation wurde als gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter
Haftung von den öffentlichen Behörden
Robin Turner: Dazu muss man wissen, dass North Lanarkshire
ein sehr großes Gebiet umfasst mit allem anderen als optimalen Verkehrsverbindungen. Wir wollten die räumliche Distanz
zu unseren Kunden reduzieren und unsere Leistungen deshalb
nicht von einer Zentrale aus anbieten, womöglich noch in einer
offiziellen Atmosphäre, die auf unsere Kunden abschreckend
wirkt. Im Gegenteil: Wir wollen unseren Kunden die Chance
geben, uns in der vertrauten Umgebung ihres Wohnumfelds
aufzusuchen und so alle denkbaren Kontakt-Barrieren vermeiden. Diese Philosophie spiegelt sich auch in Einstellung und
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Haltung unserer Berater/innen: Sie nehmen sich Zeit, besitzen
Einfühlungsvermögen und suchen das Vier-Augen-Gespräch.
Sie haben die Fähigkeit zuzuhören und können so Skepsis und
Zurückhaltung unserer Kunden überwinden und deren wirklichen Wünsche und Bedarfe erkunden. Auf dieser gesicherten
und qualitativ hochwertigen Grundlage entwickeln wir unsere
Beratungs- und Unterstützungsangebote. Aber noch einmal,
weil es so wichtig ist: Das Leistungsangebot in der vertrauten
Umgebung wahrnehmen zu können, reduziert Ängste und
Abwehrhaltungen unserer Kunden und erhöht ihre Bereitschaft,
sich auf Hilfeangebote überhaupt einzulassen. Die Bereitstellung
unserer Dienstleistungen in der
Nähe des Wohnorts unserer
Kunden kommt anscheinend
an: Ist erst mal der Kontakt zu
einem Arbeitslosen hergestellt,
folgen oft schon bald weitere
arbeitslose Familienmitglieder
oder Bekannte, die sich von
dessen Erfahrungen mit uns
motiviert zu fühlen scheinen.
Beschäftigung aufzunehmen. Kurzum: Jeder Kunde erhält Betreuung genau in der
Intensität, die er braucht. Sind wir einmal
tatsächlich nicht in der Lage, unmittelbare
Unterstützung anzubieten, vermitteln wir
unsere Kunden an unsere Partnerorganisationen in dem von uns mitentwickelten
komplexen Fördernetzwerk. Und noch
eine Qualität, mit Verlaub, zeichnet unsere Arbeit aus: Unsere Reaktionszeiten sind
extrem kurz. Wir helfen schnell.
G.I.B.: Ihre Zusicherung an
Kunden – „Wir werden Sie
bei jedem Schritt auf Ihrem
Weg unterstützen, damit
Sie es schaffen, Ihr eigenes
Potenzial zu nutzen und
Ihre Ziele zu erreichen.
Verlassen Sie sich auf uns!“
– klingt kundenorientiert
und selbstbewusst. Welche
Instrumente und Ressourcen stehen Ihnen zur Verfügung, um das ambitionierte
Versprechen einlösen zu
können?
Robin Turner: Unser Angebot ist umfassend: Wir bieten
individuelle Förderung auf vertraulicher Basis, verfügen über
alle notwendigen Informationen zu spezifischen Aus- und
Weiterbildungsangeboten genauso wie zu Finanzierungsmöglichkeiten im Fall pekuniärer Engpässe oder bieten Transportlösungen bei Mobilitätsproblemen. Wir helfen – ganz praktisch
– bei der Erstellung des persönlichen Lebenslaufs, beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen, bei der Vorbereitung auf
Vorstellungsgespräche, vermitteln Praktika oder ehrenamtliche
Tätigkeiten, suchen geeignete Stellenangebote und helfen bei
der Vermittlung. Sehr hilfreich sind dabei unsere engen Beziehungen zu lokalen Arbeitgebern und Ausbildungszentren. Kunden mit besonderen Behinderungen oder Bedürfnissen bieten
wir Hausbesuche an. Routes to Work koordiniert außerdem die
Unterstützung durch den neu gegründeten Working for Families
Fund. Der unterstützt von Arbeitslosigkeit betroffene Eltern, indem er – gegebenenfalls mit finanzieller Unterstützung – sicherstellt, dass fehlende Kinderbetreuung kein Hindernis für Eltern
ist, Aus- und Weiterbildungsangebote wahrzunehmen oder eine
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G.I.B.: Wie reagieren Sie, wenn Sie
feststellen, dass sich Kunden dauerhaft mit dem Leistungsbezug aus dem
Sozialsystem arrangieren. Kommen
Sanktionen für Sie in Betracht, wenn
Kunden Ihre Angebote ablehnen?
Robin Turner: Die Frage berührt einen
zentralen Punkt unseres Leitbildes: RTW
kann und wird keine Sanktionen verhängen. Derartige Maßnahmen fallen ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich
von Jobcentre Plus. Das kennen unsere
Kunden und das ist genau die Ursache
für deren Vertrauen. Unsere Leistungen
werden von unseren Kunden freiwillig in
Anspruch genommen, es gibt keinerlei
Zwang. Wir sorgen dafür, dass jeder, der
Ausbildungs- oder Arbeitsangebote wahrnehmen möchte, sich darüber im Klaren
ist, wie sich dieser Schritt auf die von ihm
bezogenen Leistungen aus dem Sozialsystem auswirken wird. Wir raten erst dann
dazu, wenn wir nach genauer Prüfung
festgestellt haben, dass die Maßnahme
die finanzielle Situation unserer Kunden
verbessert. Das heißt: Wir bewerten sol-
che Angebote aus der Perspektive des Kunden und nicht aus der
Sicht des Staates, der Kosten sparen will. Letztlich zahlt sich das
aus: Die Bereitschaft, kurzfristig angelegte Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Arbeitsfähigkeit anzunehmen, die keinen Einfluss
auf Leistungsbezüge aus dem Sozialsystem haben, steigt und öffnet die Tür zu neuen Optionen. Der freiwillige Charakter unserer
Leistungen ist eins unserer stärksten „Verkaufsargumente“.
G.I.B.: Sie werden vom North Lanarkshire Council und
der Europäischen Union finanziert. Beide versprechen
sich von Ihrer Tätigkeit zumindest langfristig sicher eine
Investitionsrendite. Verlangen sie einen Nachweis über
die Wirksamkeit Ihrer Maßnahmen. Gibt es Zielvorgaben
seitens Ihrer Finanzgeber? Welche Monitoring- und Controllinginstrumente kommen zum Einsatz?
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Robin Turner: Routes to Work verfügt in der Tat über Zielund Ergebnisvorgaben. Dazu erfassen wir die Entwicklung der
einzelnen Kunden in einer Datenbank, so dass wir jederzeit
einen genauen Überblick über den Stand unserer Arbeit haben
und exakt bestimmen können, wie weit wir noch von unserem
gesteckten Ziel entfernt sind. Die Kontrolle ist engmaschig: In
wöchentlichen Mitarbeiterbesprechungen werden Abweichungen von der Zielvorgabe ermittelt und diskutiert, Vorstand und
Finanzgeber werden in Monats- und Quartalsberichten über die
Zielerreichung informiert.
G.I.B.: Ein Blick in die Zukunft: Wie sieht Routes to Work
in drei Jahren aus?
Robin Turner: Wir hoffen, dass Routes to Work die Kapazitäten entwickeln wird, die erforderlich sind, um nationale
Ausbildungsprogramme sowie von Jobcentre Plus ausgelagerte
Leistungen anbieten und über Auftragnehmer weitere, lokal
ausgerichtete Programme durchführen zu können. Routes to
Work wird darüber hinaus neue Finanzierungsquellen erschließen, unter anderem aus der Privatwirtschaft. Das wird uns dabei
helfen, uns auf lokaler Ebene noch stärker als zentraler Partner
für arbeitslose Menschen in North Lanarkshire zu etablieren.
G.I.B.: Vielen Dank für das Gespräch. Ihnen und Routes to
Work in North Lanarkshire alles Gute für die Zukunft.
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ABSTRACT
Routes to Work ist eine regionale Vermittlungsstelle in Schottland für die Förderung des Zugangs zum
Arbeitsmarkt, die hauptsächlich in den so genannten Social Inclusion Partnership Areas, also benachteiligten Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit, in North Lanarkshire tätig ist. Zu den charakteristischen
Aufgaben der regionalen Vermittlungsstelle zählen die Identifizierung, Förderung und aktive Integration
von Kunden, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, sowie von arbeitslosen Menschen,
die von Leistungen ausgeschlossen sind.
LINK
www.northlan.gov.uk/business+and+employment/employment+support/routes+to+work/index.html
KONTAKT
Routes to Work Ltd
168-170 Main Street, Bellshill ML4 1AE, Fon 0800 7834731, E-Mail [email protected]
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