Routes to Work
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Routes to Work
Länderübergreifender Transfer info 3.05 Routes to Work Arbeitsmarktpolitik im schottischen Bellshill Das britische Jobcenter mit seinem individuellen Ansatz kundenspezifischer Leistungen und dem „Fördern und Fordern“-Prinzip war Vorbild für die Umstrukturierung der deutschen Agenturen für Arbeit. Auch die Verknüpfung von Arbeitsvermittlung mit der Bereitstellung von Leistungen aus dem Sozialsystem in einem so genannten „Jobcentre Plus“ fand hierzulande viel Beachtung. Großbritannien, so schien es, hatte mit diesen Institutionen ein optimales Mittel für die Wiedereingliederung von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt gefunden. Umso erstaunlicher dann, bei einem Besuch in der schottischen Region North Lanarkshire von einer regionalen Initiative namens „Routes to Work“ (RTW Ltd.) zu hören, deren Handlungsschwerpunkt auf Zielgruppen mit größerem Abstand zum ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet ist. Wieso eine zusätzliche Initiative? War der Ansatz von „Jobcentre Plus“ doch zu kurz gedacht und weniger erfolgreich als erwartet? Wir haben uns das von der Region North Lanarkshire und der Europäischen Union finanzierte Routes to Work-Programm einmal genauer angesehen. Das Gespräch mit Robin Turner, Manager von Routes to Work in Bellshill, einem Mittelzentrum in der Nähe von Glasgow, gibt Einblick in Hintergrund, Ziele und Verfahren der Initiative, die spezielle Dienstleistungen für spezielle Zielgruppen erbringt – mit einem ungewöhnlichen Marketingkonzept. G.I.B.: Mit den Job Centres und mit Jobcentre Plus, so der Plan, sollten in ganz Großbritannien alle Leistungen abgedeckt werden, die beim Matching von Nachfrage und Angebot am Arbeitsmarkt von Arbeitslosen, aber auch von einstellungsbereiten Arbeitgebern benötigt werden. Warum eine weitere Dienstleistungseinrichtung für Arbeitslose? 64 Robin Turner: Routes to Work schließt eine Lücke, die trotz Job Centres und Jobcentre Plus besteht. Die Organisation ermöglicht Menschen den Zugang zu Leistungen und Förderprogrammen, die am stärksten vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Dies gelingt durch die Integration von Dienstleistungen sowie die Zusammenlegung von Mitteln und Pro- grammen unterschiedlicher Agenturen, mit denen RTW eng kooperiert, aber vor allem mit einer ungewöhnlichen Form der Ansprache dieser Zielgruppe, mit einem innovativen Marketingkonzept: Wir präsentieren uns und unsere Beratungs- und Unterstützungsleistungen in Einkaufszentren, Bibliotheken, Gemeindezentren und manchmal auch auf der Straße, um so die Bevölkerung zu motivieren, unsere Leistungen in Anspruch zu nehmen. Anders als vergleichbare traditionelle Einrichtungen betrachten wir unser Dienstleistungsangebot als Bringschuld. Aber vielleicht zunächst einige Anmerkungen zum allgemeinen Hintergrund: Routes to Work ist eine regionale Vermittlungsstelle für die Förderung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, die hauptsächlich in den so genannten Social Inclusion Partnership Areas, also benachteiligten Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit, in North Lanarkshire tätig ist. in Zusammenarbeit mit der Gemeinde gegründet, um innovative Lösungen für die Probleme im Zusammenhang mit niedrigem Ausbildungsstand und Arbeitslosigkeit in den Social Inclusion Partnership Areas zu finden. Die Initiative baut auf den Stärken bereits bestehender Arbeitsvermittlungsprogramme in North Lanarkshire auf. RTW ergänzt und erweitert die Tätigkeiten von Jobcentre Plus. Wir arbeiten mit dem gemeinsamen Ziel, den Kunden bestmögliche Dienstleistungen anzubieten. Unsere wichtigste Botschaft an die Öffentlichkeit ist die: Wir sind ein freier und auf vertraulicher Basis arbeitender Dienst innerhalb der Region. Länderübergreifender Transfer info 3.05 G.I.B.: Sie haben unkonventionelle Marketingmaßnahmen durchgeführt, die für öffentliche Einrichtungen eher unüblich sind. Sie verteilen Aktentaschen mit Schreibpapier und Stiften oder gar Haarbürsten und Sie bieten Ihre Dienste in öffentlichen Bibliotheken oder Einkaufszentren an. Sie verhalten sich ein bisschen wie eine Versicherungsagentur oder ein Kreditkartenunternehmen. Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden und welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Robin Turner: Zunächst haben wir auch eine ganze Reihe traditioneller Marketing- und Werbemaßnahmen durchgeführt, wie zum Beispiel Anzeigen in Zeitungen und Werbung im Zu den charakteristischen Aufgaben der Radio. Aber es ist richtig, wir verteilen auch Flyer und Poster in regionalen Vermittlungsstelle zählen die Gemeindezentren, Geschäften, in öffentlichen Gebäuden und Identifizierung, Förderung und aktive Integration von Kunden, die kaum Chan- Arztpraxen, präsentieren uns aber auch direkt in den Unternehmen. Außerdem haben wir eigens eine Stelle für die Entwickcen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, sowie von arbeitslosen Menschen, die von lung von Partnerschaften zu Organisationen eingerichtet, zu denen Schnittstellen mit unserer Arbeit bestehen oder deren Leistungen ausgeschlossen sind und deTätigkeit wir ergänzend unterstützen können. Um potenzielle Vermittler/innen dieser Partnerorganisationen zu gewinnen, haben wir einen Service-Leitfaden herausgegeben, in dem all unsere Maßnahmen beschrieben sind. Gleichzeitig bedienen wir uns für dieses Klientel auch solcher Marketinginstrumente wie der Verteilung von Aktentaschen. Die Haarbürsten aber sind etwa für Kunden gedacht, die ein Vorstellungsgespräch vor sich haben oder eine neue Arbeitsstelle antreten. Sie dienen als Gedächtnisstütze und sind Teil eines so genannten Startpakets. Einige dieser Produkte verwenden wir auch auf Veranstaltungen wie den Gala Days oder den College-Informationstagen. G.I.B.: Anders als vergleichbare öffentliche Einrichtungen durchbrechen Sie die bürokratische Sphäre von Anonymität und Zurückgezogenheit, agieren und präsentieren sich viel mehr in der Öffentlichkeit, gehen auf Ihre Kunden zu. Warum haben Sie sich für diesen Weg entschieden? Robin Turner, Manager von Routes to Work ren spezieller Bedarf von anderen, mehr auf das „allgemeine“ Klientel konzentrierten Anbietern nicht gedeckt wird. Unsere Organisation wurde als gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung von den öffentlichen Behörden Robin Turner: Dazu muss man wissen, dass North Lanarkshire ein sehr großes Gebiet umfasst mit allem anderen als optimalen Verkehrsverbindungen. Wir wollten die räumliche Distanz zu unseren Kunden reduzieren und unsere Leistungen deshalb nicht von einer Zentrale aus anbieten, womöglich noch in einer offiziellen Atmosphäre, die auf unsere Kunden abschreckend wirkt. Im Gegenteil: Wir wollen unseren Kunden die Chance geben, uns in der vertrauten Umgebung ihres Wohnumfelds aufzusuchen und so alle denkbaren Kontakt-Barrieren vermeiden. Diese Philosophie spiegelt sich auch in Einstellung und 65 Länderübergreifender Transfer info 3.05 Haltung unserer Berater/innen: Sie nehmen sich Zeit, besitzen Einfühlungsvermögen und suchen das Vier-Augen-Gespräch. Sie haben die Fähigkeit zuzuhören und können so Skepsis und Zurückhaltung unserer Kunden überwinden und deren wirklichen Wünsche und Bedarfe erkunden. Auf dieser gesicherten und qualitativ hochwertigen Grundlage entwickeln wir unsere Beratungs- und Unterstützungsangebote. Aber noch einmal, weil es so wichtig ist: Das Leistungsangebot in der vertrauten Umgebung wahrnehmen zu können, reduziert Ängste und Abwehrhaltungen unserer Kunden und erhöht ihre Bereitschaft, sich auf Hilfeangebote überhaupt einzulassen. Die Bereitstellung unserer Dienstleistungen in der Nähe des Wohnorts unserer Kunden kommt anscheinend an: Ist erst mal der Kontakt zu einem Arbeitslosen hergestellt, folgen oft schon bald weitere arbeitslose Familienmitglieder oder Bekannte, die sich von dessen Erfahrungen mit uns motiviert zu fühlen scheinen. Beschäftigung aufzunehmen. Kurzum: Jeder Kunde erhält Betreuung genau in der Intensität, die er braucht. Sind wir einmal tatsächlich nicht in der Lage, unmittelbare Unterstützung anzubieten, vermitteln wir unsere Kunden an unsere Partnerorganisationen in dem von uns mitentwickelten komplexen Fördernetzwerk. Und noch eine Qualität, mit Verlaub, zeichnet unsere Arbeit aus: Unsere Reaktionszeiten sind extrem kurz. Wir helfen schnell. G.I.B.: Ihre Zusicherung an Kunden – „Wir werden Sie bei jedem Schritt auf Ihrem Weg unterstützen, damit Sie es schaffen, Ihr eigenes Potenzial zu nutzen und Ihre Ziele zu erreichen. Verlassen Sie sich auf uns!“ – klingt kundenorientiert und selbstbewusst. Welche Instrumente und Ressourcen stehen Ihnen zur Verfügung, um das ambitionierte Versprechen einlösen zu können? Robin Turner: Unser Angebot ist umfassend: Wir bieten individuelle Förderung auf vertraulicher Basis, verfügen über alle notwendigen Informationen zu spezifischen Aus- und Weiterbildungsangeboten genauso wie zu Finanzierungsmöglichkeiten im Fall pekuniärer Engpässe oder bieten Transportlösungen bei Mobilitätsproblemen. Wir helfen – ganz praktisch – bei der Erstellung des persönlichen Lebenslaufs, beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen, bei der Vorbereitung auf Vorstellungsgespräche, vermitteln Praktika oder ehrenamtliche Tätigkeiten, suchen geeignete Stellenangebote und helfen bei der Vermittlung. Sehr hilfreich sind dabei unsere engen Beziehungen zu lokalen Arbeitgebern und Ausbildungszentren. Kunden mit besonderen Behinderungen oder Bedürfnissen bieten wir Hausbesuche an. Routes to Work koordiniert außerdem die Unterstützung durch den neu gegründeten Working for Families Fund. Der unterstützt von Arbeitslosigkeit betroffene Eltern, indem er – gegebenenfalls mit finanzieller Unterstützung – sicherstellt, dass fehlende Kinderbetreuung kein Hindernis für Eltern ist, Aus- und Weiterbildungsangebote wahrzunehmen oder eine 66 G.I.B.: Wie reagieren Sie, wenn Sie feststellen, dass sich Kunden dauerhaft mit dem Leistungsbezug aus dem Sozialsystem arrangieren. Kommen Sanktionen für Sie in Betracht, wenn Kunden Ihre Angebote ablehnen? Robin Turner: Die Frage berührt einen zentralen Punkt unseres Leitbildes: RTW kann und wird keine Sanktionen verhängen. Derartige Maßnahmen fallen ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich von Jobcentre Plus. Das kennen unsere Kunden und das ist genau die Ursache für deren Vertrauen. Unsere Leistungen werden von unseren Kunden freiwillig in Anspruch genommen, es gibt keinerlei Zwang. Wir sorgen dafür, dass jeder, der Ausbildungs- oder Arbeitsangebote wahrnehmen möchte, sich darüber im Klaren ist, wie sich dieser Schritt auf die von ihm bezogenen Leistungen aus dem Sozialsystem auswirken wird. Wir raten erst dann dazu, wenn wir nach genauer Prüfung festgestellt haben, dass die Maßnahme die finanzielle Situation unserer Kunden verbessert. Das heißt: Wir bewerten sol- che Angebote aus der Perspektive des Kunden und nicht aus der Sicht des Staates, der Kosten sparen will. Letztlich zahlt sich das aus: Die Bereitschaft, kurzfristig angelegte Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Arbeitsfähigkeit anzunehmen, die keinen Einfluss auf Leistungsbezüge aus dem Sozialsystem haben, steigt und öffnet die Tür zu neuen Optionen. Der freiwillige Charakter unserer Leistungen ist eins unserer stärksten „Verkaufsargumente“. G.I.B.: Sie werden vom North Lanarkshire Council und der Europäischen Union finanziert. Beide versprechen sich von Ihrer Tätigkeit zumindest langfristig sicher eine Investitionsrendite. Verlangen sie einen Nachweis über die Wirksamkeit Ihrer Maßnahmen. Gibt es Zielvorgaben seitens Ihrer Finanzgeber? Welche Monitoring- und Controllinginstrumente kommen zum Einsatz? Länderübergreifender Transfer info 3.05 Robin Turner: Routes to Work verfügt in der Tat über Zielund Ergebnisvorgaben. Dazu erfassen wir die Entwicklung der einzelnen Kunden in einer Datenbank, so dass wir jederzeit einen genauen Überblick über den Stand unserer Arbeit haben und exakt bestimmen können, wie weit wir noch von unserem gesteckten Ziel entfernt sind. Die Kontrolle ist engmaschig: In wöchentlichen Mitarbeiterbesprechungen werden Abweichungen von der Zielvorgabe ermittelt und diskutiert, Vorstand und Finanzgeber werden in Monats- und Quartalsberichten über die Zielerreichung informiert. G.I.B.: Ein Blick in die Zukunft: Wie sieht Routes to Work in drei Jahren aus? Robin Turner: Wir hoffen, dass Routes to Work die Kapazitäten entwickeln wird, die erforderlich sind, um nationale Ausbildungsprogramme sowie von Jobcentre Plus ausgelagerte Leistungen anbieten und über Auftragnehmer weitere, lokal ausgerichtete Programme durchführen zu können. Routes to Work wird darüber hinaus neue Finanzierungsquellen erschließen, unter anderem aus der Privatwirtschaft. Das wird uns dabei helfen, uns auf lokaler Ebene noch stärker als zentraler Partner für arbeitslose Menschen in North Lanarkshire zu etablieren. G.I.B.: Vielen Dank für das Gespräch. Ihnen und Routes to Work in North Lanarkshire alles Gute für die Zukunft. Service://Länderübergreifender Transfer/Routes to Work ABSTRACT Routes to Work ist eine regionale Vermittlungsstelle in Schottland für die Förderung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, die hauptsächlich in den so genannten Social Inclusion Partnership Areas, also benachteiligten Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit, in North Lanarkshire tätig ist. Zu den charakteristischen Aufgaben der regionalen Vermittlungsstelle zählen die Identifizierung, Förderung und aktive Integration von Kunden, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, sowie von arbeitslosen Menschen, die von Leistungen ausgeschlossen sind. LINK www.northlan.gov.uk/business+and+employment/employment+support/routes+to+work/index.html KONTAKT Routes to Work Ltd 168-170 Main Street, Bellshill ML4 1AE, Fon 0800 7834731, E-Mail [email protected] 67