Nachfolge CHRISTI - Thomas von Kempen

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Nachfolge CHRISTI - Thomas von Kempen
Nachfolge CHRISTI - Thomas von Kempen
Erstes Buch - 19. Kapitel
Von den Übungen einer guten Ordensperson
Der wahrhaft gute Ordensmann
Das Leben eines guten Ordensmannes muss an allen Tugenden reich sein, damit er
innerlich so sei, wie er äußerlich den Menschen erscheint.
Ja, er soll innerlich viel mehr sein, als man äußerlich an ihm wahrnimmt. Denn Gott
ist es, der uns ins Herz schaut! Ihn müssen wir, wo wir auch sein mögen, aufs
Höchste verehren, vor seinem Angesicht müssen wir wie Engel wandeln.
Jeden Tag sollen wir unseren Vorsatz erneuern und uns zum Eifer anregen, als ob
wir uns gerade erst bekehrt hätten, und müssen beten:
Mein Herr und Gott, stehe mir bei in meinem guten Vorsatz und in Deinem
heiligen Dienste! Gib mir heute die Gnade, mit größtem Ernst zu beginnen,
weil das nichts ist, was ich bisher getan habe.
Unsere Fortschritte im Guten richten sich nach unserem Vorsatz, und wer kräftig
fortschreiten will, muss größten Eifer aufwenden.
Wenn selbst einer, der sich etwas fest vornimmt, oft schwach wird, wie viel mehr, wer
selten und nur lässig einen festen Vorsatz fasst.
Auf mancherlei Art werden wir unserem Vorsatze untreu, und schon eine geringe
Unterlassung geht kaum ohne Schaden vorüber. Der Vorsatz der Gerechten gründet
mehr in der Gnade Gottes als in der eigenen Weisheit; und was sie sich auch immer
vornehmen, sie vertrauen allezeit auf Gott.
Denn der Mensch denkt, aber Gott lenkt, und der Mensch ist nicht Herr seines
Weges.
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Wird eine gewohnte Übung bisweilen aus Liebe unterlassen oder um den
Brüdern zu nutzen, so kann sie später leicht nachgeholt werden.
Wird sie aber aus innerem Überdruss oder aus Nachlässigkeit leichtfertig
versäumt, so ist das strafbar genug, und der Schaden wird sich schon fühlbar
machen.
Bemühen wir uns, so viel wir können; wir machen ohnehin in vielem kleine Fehler.
Immer jedoch müssen wir uns etwas Bestimmtes vornehmen, und besonders gegen
das, was uns am meisten im Wege ist.
Unser Äußeres und Inneres müssen wir mit gleicher Strenge prüfen und ordnen, weil
beides zum Fortschritt im Guten hilft.
Sammle dich, wenn du es nicht immer kannst, wenigstens zuweilen, wenigstens
einmal täglich, wenn möglich morgens oder abends.
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Am Morgen fasse deine Vorsätze, am Abend überdenke den Tageslauf, wie du heute
in deinen Gedanken, Reden und Handlungen gewesen bist; vielleicht hast du dabei
öfter gegen Gott und den Nächsten gesündigt.
Wappne dich wie ein Mann gegen die boshaften Angriffe des Teufels; zügle den
Gaumen; dann wirst du um so leichter jede Sinneslust zügeln.
Sei niemals ganz müßig, sondern lies oder schreibe, bete, betrachte oder arbeite
etwas zum Wohle der Gemeinschaft.
Körperliche Bußübungen sind jedoch mit Maß anzuwenden. Sie können auch nicht
von allen in gleicher Art vorgenommen werden.
Übungen, die nicht gemeinschaftlich sind, soll man nicht vor jedermann zeigen; denn
diese besonderen Übungen werden mit größerem Nutzen im Verborgenen angestellt.
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Hüte dich jedoch, dass du nicht für gemeinschaftliche Übungen träge, für
private dagegen schnell bereit bist.
 Erfülle erst vollständig und treu die pflichtmäßig auferlegten Übungen, und
wenn dir dann noch freie Zeit bleibt, magst du dich dir selbst widmen, wie die
Gnade es dir eingibt.
Nicht jede Übung ist für alle angemessen; die eine passt mehr für diesen, die andere
mehr für einen anderen.
Auch ein Wechsel der Übungen nach der Zeit ist praktisch; einige passen mehr zu
Festtagen, andere zu Werktagen.
Dieser bedürfen wir zur Zeit der Versuchung, anderer in Zeiten des Friedens und der
Ruhe. Manches überdenken wir gern, wenn wir traurig, anderes, wenn wir fröhlich
sind. Um die Zeit der hohen Feste sind bewährte Übungen aufs Neue zu beginnen
und die Heiligen eifriger um ihre Fürbitte anzurufen.
Von einem Fest zum anderen müssen wir die Vorsätze so fassen, als ob wir bis zum
nächsten aus dieser Welt scheiden und zum ewigen Festtag gelangen würden.
Darum sollen wir uns in den heiligen Zeiten sorgfältig vorbereiten, gottseliger
wandeln und jede Vorschrift strenger beobachten, als wenn wir bald den Lohn
unserer Arbeit von Gott empfangen würden.
Und wenn sich dies noch verzögert, so wollen wir denken, wir seien noch nicht genug
vorbereitet, und noch unwürdig einer so großen Herrlichkeit, wie sie zur vorherbestimmten Zeit an uns soll offenbar werden, und wollen uns noch besser auf unsern
Tod vorzubereiten suchen. „Selig der Knecht“, heißt es beim Evangelisten Lukas,
„den der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich ich sage euch, er wird ihn
über alle seine Güter setzen“ (Lk 12,43).
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