Orakel – Traum – Wissenschaft
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Orakel – Traum – Wissenschaft
Peter Schneider Mittelweg 36 1 / 2000 Orakel – Traum – Wissenschaft Während Alexander der Große die syrische Stadt Tyros belagert, träumt er von einem tanzenden Satyr. In Alexanders Gefolge befindet sich der Seher und Opferschauer Aristander, der den Traum des Königs deutet, indem er das Wort »Satyr« in die Bestandteile »Sa« und »Tyros« zerlegt: Sa Tyros – Dein ist Tyros. Damit »bewirkte er, daß der König die Belagerung nachdrücklicher in Angriff nahm, so daß er Herr der Stadt wurde«. Artemidoros von Daldis erzählt diese Anekdote in seiner »Traumdeutung«, und Sigmund Freud zitiert sie etwa 1700 Jahre später in seinem Buch mit demselben Titel als das »schönste Beispiel einer Traumdeutung, welche uns aus dem Altertum überliefert ist« (GW II/III, S. 103 f., Fn. 1). Mehr als zwei Jahrtausende liegen zwischen der Deutung des Aristander, ihrer Kolportage durch Artemidoros und ihrer rühmenden Erwähnung bei Freud – und gravierende Veränderungen im Verständnis und nicht zuletzt im Renommee des Begriffs »Deutung«, an dem die Psychoanalyse in anachronistisch anmutender Weise festhält. Für Aristander offenbart sich im Traum Alexanders ein »objektives« göttliches Versprechen, das durch die Deutung lediglich explizit gemacht werden muß. Bereits Artemidoros jedoch scheint mehr an der psychischen Wirkung dieser Deutung interessiert zu sein als an deren religiöser Legitimation: Aristander habe Alexanders Wunsch angestachelt, indem er diesen deutend in ein Versprechen der Götter verwandelt habe. Freud seinerseits reiht mit dem Rückgriff auf Aristander und Artemidoros seine Theorie des Traumes in eine lange Tradition ein: Er schließt sich den Ansätzen einer psychologisierenden, subjektivierenden Traumkonzeption bei Artemidoros an und findet Gefallen am Vorgehen Aristanders, ein Traumbild beim Wort zu nehmen, in welchem er ein zentrales Stück seiner eigenen Methode wiederfindet. Zugleich aber betont er die Neuartigkeit seiner Auffassung des Traumes als einer wissenschaftlichen: Im Traum offenbart sich nicht der Wille der Götter, der den Wunsch des Königs erst legitimieren muß, damit dieser sich erfüllen kann; im Traum verbirgt sich vielmehr einzig und allein der Wunsch des Träumers, ein unbewußter Wunsch, der sich in entstellter Form in Szene setzt. Dieser Wunsch entspricht nicht nur keinem göttlichen Plan, er widerspricht darüber hinaus den bewußten Vorstellungen, den das Subjekt sich von sich selbst macht. Mit anderen Worten: Stellt man die religiöse Traumdeutung der Antike vom Kopf auf die Füße, kann man ihr das Laufen beibringen und ihre Schritte in eine wissenschaftliche Zukunft lenken. 24 Thema I 1 / 2000 Mittelweg 36 Wer die Gegenwart nach den Spuren der in ihr sich abzeichnenden Zukunft deutet, hat als Ziel, das Kommende mindestens soweit zu beherrschen, daß er sich auf es einrichten kann. Doch je mehr die Deutung der Zukunft ihren religiösen Charakter, ihre Rückbindung an den Willen der Götter, verliert, desto offenkundiger wird ihre Beeinflussung durch die menschlichen-allzumenschlichen Wünsche der Deuter und ihrer politischen Auftraggeber. Nachdem die Disziplin der Traumdeutung aus gerade diesem Grunde während vieler Jahrhunderte heillos dem Obskurantismus verfallen ist, versucht Freud ihre Wiederbelebung im wissenschaftlichen Geist. Daß die Psychoanalyse eine Wissenschaft ist, welche die unbewußten Wünsche zum Gegenstand hat, bedeutet für Freud, interesselos, das heißt ungetrübt durch die Verzerrungen der eigenen Wünsche, die Spuren dieser Wünsche zu lesen – in den Träumen, den Fehlleistungen und neurotischen Symptomen ebenso wie in der Religion und den Systemen der Moral. Mit diesem wissenschaftlichen Programm knüpft er zugleich an die klassische Epoche des Orakels an, an das delphische Motto: Erkenne Dich selbst! Doch Freuds Unterfangen kompliziert sich sogleich durch die eigenen Erkenntnisse. »All die komplizierte Denktätigkeit . . . stellt doch nur einen durch die Erfahrung notwendig gewordenen Umweg zur Wunscherfüllung dar . . ., da nichts anderes als ein Wunsch unseren seelischen Apparat zur Arbeit anzutreiben vermag«, schreibt er bereits in der »Traumdeutung« ( GW II/III, S. 572). Die Hemmung des Wunsches durch den Umweg, auf den man ihn schickt, genauer: das Maß dieser Hemmung und die Länge dieses Umweges, sind die einzigen Kriterien, welche Wahn und Erkenntnis, Magie und Wissenschaft voneinander unterscheiden können, und zwar lediglich graduell und quantitativ und keineswegs prinzipiell und qualitativ, denn sowohl das Wissen als auch der Aberglaube haben letztlich eine gemeinsame Wurzel – den Wunsch. In »Totem und Tabu« spricht Freud es sogar explizit aus, daß in der Wissenschaft, welche »mit den Gesetzen der Wirklichkeit rechnet, . . . ein Stück des primitiven Allmachtsglaubens« (GW IX, S. 109) weiterlebt, welcher in den magischen Praktiken noch deutlicher sichtbar ist. Ironie des Schicksals: Gerade die Radikalität, mit der Freud seine Wissenschaft entwirft, unterminiert den von ihm selbst gestellten wissenschaftlichen Anspruch. Freud konnte diesen Widerspruch offensichtlich besser ertragen als seine heutigen Adepten. So kommt gegenwärtig das uneingestandene Unbehagen der Psychotherapeuten am prekären Status ihrer Disziplin gerade dann besonders deutlich zum Vorschein, wenn sie sich selbst (und ihre Klientel) jener szientifischen Seriosität zu versichern suchen, die ihre Tätigkeit als legitime ausweisen soll, die sich jedoch unter psychoanalytischer Perspektive längst als Schimäre erwiesen hat. »Die PraxisInfrastruktur«, heißt es zum Beispiel im Ergebnisbericht einer Arbeitsgruppe des Schweizerischen Psychotherapeutenverbandes zum »Quali- 25 Thema I 1 / 2000 Mittelweg 36 tätsmanagement in der Psychotherapie«, »muß den Erfordernissen einer qualifizierten therapeutischen Tätigkeit genügen. Konkretisierung: Die Räumlichlichkeiten müssen einladend, freundlich, sauber und zweckmäßig eingerichtet sein. Der Raum muß adäquat beleuchtet sein (keine › Schummer-Atmosphäre‹, kein grelles Spital-Licht) . . . Der Raum sollte nicht ›privaten‹ Wohnzimmer-Charakter haben, sondern deutlich als – durchaus persönlich charakterisierter – Arbeitsraum erkennbar sein«. Aus der Not, nicht Fisch noch Vogel, nicht Wahrsager und nicht Neurologe zu sein, wird hier in tragikomisch anmutendem Bemühen eine Scheintugend gemacht: »Methodenübergreifend« (wenn auch die Methoden einander in ihren Theoremen widersprechen mögen) gibt man sich einen Verhaltenskodex, welcher sich bis in die Details der Ausführungsbestimmungen dem Kompromiß verschreibt, statt den unumgänglichen epistemologischen Widerspruch der eigenen Praxis und Theorie offenzulegen. Freud leitet den Erkenntnisdrang, den Willen zum Wissen, bekanntlich aus der kindlichen Schaulust und der Sexualneugierde ab. In einem kleinen Aufsatz, der dem Thema der »Psychogenen Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung« gewidmet ist, schreibt Freud ( GW VIII, S. 99): »Wenn der sexuelle Partialtrieb, der sich des Schauens bedient, die sexuelle Schaulust, wegen seiner übergroßen Ansprüche die Gegenwehr der Ichtriebe auf sich gezogen hat, so daß die Vorstellungen, in denen sich sein Streben ausdrückt, der Verdrängung verfallen und vom Bewußtwerden abgehalten werden, so ist damit die Beziehung des Auges und des Sehens zum Ich und zum Bewußtsein überhaupt gestört . . . Es macht den Eindruck, als ginge die Verdrängung von seiten des Ichs zu weit, als schüttete sie das Kind mit dem Bade aus, indem das Ich jetzt überhaupt nichts mehr sehen will, seitdem sich die sexuellen Interessen im Sehen so sehr vorgedrängt haben. Zutreffender ist aber wohl die andere Darstellung, welche die Aktivität nach der Seite der verdrängten Schaulust verlegt. Es ist die Rache, die Entschädigung des verdrängten Triebes, daß er, von weiterer psychischer Entfaltung abgehalten, seine Herrschaft über das ihm dienende Organ nun zu steigern vermag.« Wenn man diese Sätze auf das Verhältnis von Wunsch und Wissenschaft anwendet, so ergibt sich, daß die Wissenschaft gerade dort ihre blindesten Flecken hat, wo sie sich am wissenschaftlichsten aufführt; nämlich da, wo sie meint, den eigenen Wünschen entkommen zu sein. Das Orakel glaubt, die Zukunft aus den Zeichen der Gegenwart – dem Vogelflug, dem Kaffeesatz, dem Traum oder den Innereien der Opfertiere – lesen zu können. Freud dreht die Blickrichtung um und erkennt in der Gegenwart die Überreste einer Vergangenheit, die im »unzerstörbaren Wunsch« ( GW II/III, S. 626) weiterlebt. »Und der Wert des Traums für die Zukunft? Daran ist natürlich nicht zu denken . . . Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns aller- 26 Thema I Mittelweg 36 1 / 2000 dings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörbaren Wunsch zum Ebenbild jener Vergangenheit gestaltet.« Mit diesem Satz endet die »Traumdeutung«, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte Freud aus Angst, doch noch mit den Wahrsagern in einen Topf geworfen zu werden, die Dimension der Zukunft zugunsten der Vorstellung einer endlos wiederkehrenden Vergangenheit geopfert, eine Fiktion, durch welche der Wunsch selbst eines seiner wesentlichen Momente beraubt wird: der kapriziösen Unvorhersehbarkeit seiner Wandlungen. 27 Thema I