zur Lesebrobe als PDF (Anfang der Kapitel 6 und 14)

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GÜTERSLOHER
VERLAGSHAUS
Charles Marsh
Dietrich Bonhoeffer
Der verklärte Fremde
Eine Biografie
Aus dem amerikanischen Englisch
übersetzt von Karin Schreiber
Gütersloher Verlagshaus
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Columbia University Libraries, at Union Theological Seminary, New York
S. 180: Mississippi Departement of Archives and History
S. 206: bpk / Friedrich Seidenstücker
S. 367, 485: Freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt.
Kapitel 1
1906-1923
Kind der Ewigkeit
9
Kapitel 2
1923-1924
»Italien erschöpft sich nie«
Verlagsgruppe Random House FSC® N001967
Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier
Munken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.
Titel der Originalausgabe: Strange Glory. A Life of Dietrich Bonhoeffer
© 2014 by Charles Marsh; published by Alfred A. Knopf, a devision of
Random House LLC, New York, and in Canada by Random House of
Canada Limited, Penguin Random House companics
32
Kapitel 3
1924-1928
Universität und Studium
57
1. Auflage der deutschsprachigen Ausgabe 2015
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Coverfoto: Dietrich Bonhoeffer, August 1932, © Gütersloher Verlagshaus,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-579-07148-0
www.gtvh.de
Kapitel 4
1928-1929
Mit MatadorengruSS
84
Kapitel 5
1929-1930
»Von Tradition bemoost«
119
5
Kapitel 6
Kapitel 11
1930-1931
1938-1940
»Ich habe in Negerkirchen das
Evangelium predigen hören«
136
Ich muss ein Gast und
Fremdling sein
333
Kapitel 12
Kapitel 7
1940-1941
1931-1933
Unter dem Zwang der Gnade
183
Weihnachten unter Trümmern
366
Kapitel 13
Kapitel 8
1941-1943
1933
Theologische Sturmtruppen
auf dem Vormarsch
210
Den Wahnsinnigen töten
391
Kapitel 14
1943-1945
Kapitel 9
1933-1935: London
Rufer in der Wüste
»Höchstes Fest auf dem Wege
zur Freiheit«
428
247
Dank
Kapitel 10
Anmerkungen
1935-1937
Eine neue Art Mönchtum
6
487
493
Literaturverzeichnis
287
NamenRegister
557
582
7
Kapitel 6
1930 – 1931
»Ich habe in Negerkirchen das
Evangelium predigen hören«
Am 6. September 1930 ging Dietrich Bonhoeffer in Bremerhaven
an Bord der Columbus und begann seine Reise nach Amerika. Wieder
unterwegs fühlte er, wie der Druck der vorangegangenen Monate von
ihm abfiel, als die Außenweser und der Horizont der deutschen Bucht
sich vor ihm öffneten.
»Das Schiff ist ganz ruhig«, schrieb er seiner Großmutter Julie Bonhoeffer. Vermutlich war das nichts Besonderes bei diesem 32.000-Tonnen-Dampfschiff, Deutschlands größtem und schnellstem Eigenbau
nach dem Ersten Weltkrieg. »Der Tag war wunderschön ... Bis jetzt war
es ... wie auf dem Wannsee, völlig unbewegt«.
In der ersten Nacht beobachtete Bonhoeffer, wie die fernen Lichter
der belgischen Küste im Osten glitzerten und der Vollmond die Meeresoberfläche in silbernes Licht tauchte. »Von unserem Deck sieht man
ungefähr zwölf oder mehr Meter tief herunter auf das Wasser, in das
das Schiff eine tiefe Furche zeichnet«, schrieb er seiner Großmutter
weiter. »Meine Kabine scheint nicht ungünstig. Sie liegt tief im Bauch
des Schiffes. Meinen Reisegefährten habe ich noch nicht zu Gesicht
bekommen. Aus seinen abgelegten Utensilien versuche ich mir bisher
ein Bild von ihm zu machen. Der Hut, der Spazierstock und ein Roman von Seymour läßt mich auf einen gebildeten jungen Amerikaner
schließen. Hoffentlich wird es nicht zuletzt ein alter deutscher Prolet.«1 Wohl eine unnötige Befürchtung, konnten sich doch nur wenige
»Proleten« eine Kabine auf dem luxuriösen Schiff leisten.
Die Menschen, mit denen Bonhoeffer auf dieser neuntägigen Reise zusammenkam, hatten einen ähnlichen gesellschaftlichen Hintergrund wie er. Er verbrachte geruhsame Tage an Bord und genoss die
136
zahlreichen Annehmlichkeiten des Schiffs. Mit Aristid von Grosse,
einem »Chemiker und Atomwissenschaftler«, der seinen Bruder KarlFriedrich von Berufs wegen kannte und der nicht aufhören konnte, die
Ähnlichkeit der beiden Brüder zu erwähnen, pflegte er einen regen
Austausch.2 Zudem lernte Bonhoeffer die attraktive Louise Schaefer
Ern und ihren Sohn Richard kennen, die auf dem Heimweg von der
Schweiz nach Connecticut waren. Ihre Tochter war in der Schweiz
geblieben, um »wegen Meningitis homöopathisch behandelt zu werden«3. Als Bonhoeffers geheimnisvoller Kabinennachbar entpuppte
sich ein gewisser Edmund De Long Lucas, Dekan eines presbyterianischen Colleges in Lahore im heutigen Pakistan. Dieser reiste zu einem
kurzen Heimaturlaub in die Vereinigten Staaten.4 Lucas schenkte Bonhoeffer ein von ihm selbst verfasstes Buch mit dem Titel: The Economic
Life of a Punjab Village und erzählte von seiner Zeit auf dem Subkontinent.
Die Columbus hatte 1924 ihre Jungfernfahrt von Bremerhaven nach
New York absolviert. Sie war nicht nur das größte und schnellste Passagierschiff, das in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg gebaut
worden war, sondern auch das am luxuriösesten ausgestattete. Eine
vorzügliche Küche bot exzellente Speisen. Ein nach außen gelegener
Ballsaal für abendliche Tanzvergnügen wurde von einem Dutzend
Kristallleuchtern erhellt und war mit Arbeiten des deutschen Künstlers Emil Rudolf Weiss geschmückt. Massive Doppelpfeiler mit Bronzebüsten klassischer Dichter standen in einer Bibliothek mit eingebauten Bücherregalen aus Zedernholz und bequemen Ledersesseln.
Bonhoeffer konnte seine Mahlzeiten in einem der vier Speisesäle einnehmen, im Pool an Deck schwimmen oder auf der Aussichtsplattform
ein Nickerchen in der Sonne machen. Aus seinen Briefen und Notizen
spricht der aus seinen Berichten von unterwegs gewohnte Ton: blumig und voller Erwartung. Die Seereise sei »tadellos« und »fabelhaft
schön«. Er wüsste nicht, »wo man anfangen soll mit Erzählen«5.
Am 15. September 1930 tauchte die Silhouette von New York am
westlichen Horizont auf, ein großartiges Panorama, bestimmt vom
fast fertiggestellten Empire State Building mit seinen 102 Stockwerken.
137
Bonhoeffer hatte nie zuvor eine derart riesige und imposante Stadt gesehen. Er wurde am Chelsea Hafen von seiner Tante Irma und seinem
Onkel Harold Boericke, Verwandten mütterlicherseits, abgeholt, die
ihn für einen fünftägigen Besuch in ihr komfortables Haus in Drexel
Hill in Philadelphia mitnahmen. Sein Vetter Ray und seine Kusinen
Betty und Binkie widmeten ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, seine
Tante und sein Onkel behandelten ihn wie königlichen Besuch. Man
verbrachte die Vormittage in den Clubs der Stadt, machte Ausflüge in
Museen und Parks, spielte abends Brettspiele. »Man glaubt hier kaum,
dass man soweit von Europa weg ist, es ist doch vieles sehr ähnlich«,
befand Bonhoeffer. Nur das Golfspielen war unter Deutschen seiner
Herkunft nicht sehr verbreitet. Bonhoeffer verbrachte einen ganzen
Tag damit, es zu lernen. Die Boerickes unterhielten Bonhoeffer mit
Geschichten über ihr neues Leben in Amerika. Sie hatten ihren Berliner Witz noch nicht verloren. Als er abreiste, musste er versprechen,
wiederzukommen.6
In der dritten Septemberwoche bezog Bonhoeffer ein Zimmer im
Studentenwohnheim an der Ecke 121. Straße und Broadway. Er staunte über die George Washington Brücke, die über dem Hudson in der
Sonne glitzerte. Sie war kurz vor der Fertigstellung und die Bauarbeiter
waren rund um die Uhr mit dem Gitterwerk aus Pfeilern und Kabeln
beschäftigt. Es gab viele solcher Wunder in der Stadt. Das über 300
Meter hohe Chrysler Building mit seinen Wasserspeiern aus Stahl und
der über 50 Meter langen, im Art Déco gehaltenen Spitze war erst im
Mai fertig geworden. Bonhoeffer spürte, dass ein spannendes Jahr vor
ihm lag.
1930 war das Union Theological Seminary das stolze Flaggschiff
der liberalen evangelischen Theologie in Nordamerika. Die Studenten kamen, weil sie Pfarrer werden oder ein anderes geistliches Amt
übernehmen wollten. Einige wurden Professoren, aber alles stand unter dem Vorzeichen des Dienstes an der Menschheit. Die meisten Seminaristen stammten aus dem Nordosten des Landes, dennoch war
die Studentenschaft so vielfältig wie nie zuvor in der hundertjährigen
Geschichte dieser Institution. Ihr gehörten Afroamerikaner, Asiaten
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und Amerikaner asiatischer Herkunft ebenso an wie Frauen und arme
Weiße aus dem ländlichen Süden.7 Henry Sloane Coffin, seit 1926 Präsident des Seminars, steuerte einen beständigen Kurs, indem er seine
Kontakte zu traditionell wohlhabenden Familien, seine an den klassischen amerikanischen Eliteuniversitäten erworbene Bildung und seinen ansteckenden protestantischen Optimismus geschickt miteinander zu verbinden wusste. Früher Pfarrer der Madison Avenue Kirche,
beschrieb er sich selbst als »liberal evangelisch«. Seine erste Anstellung
hatte Coffin in einer Mission in der Bronx gehabt, wo er den Armen
»über einem Fleischmarkt mit einem Hackklotz als Kanzel« von Hoffnung predigte.8
Bei der Wahl der zwölf Kurse, die Bonhoeffer als Sloane-Stipendiat
am Union besuchte, konzentrierte er sich auf Religionsphilosophie,
Theologie und Sozialethik. Der Stoff war ihm vertraut, aber der institutionelle Kontext unterschied sich von allem, was er kannte.9 Als er
in seiner Bewerbung für das Stipendium schrieb, sein Ziel sei es, seine
»Wissenschaftsdisziplin, die systematische Theologie, so wie sie sich
unter völlig anderen allgemeinen Voraussetzungen entfaltet hat«10 besser zu verstehen, hatte er nicht wissen können, dass die Theologie, wie
sie hier praktiziert wurde, für ihn nicht wiederzuerkennen sein würde.
Er blieb jedoch entschieden unbeeindruckt von einer religiösen Kultur, in der die Menschen ihre Glaubensüberzeugungen in der gleichen
Weise zusammenstellten wie andere ein Auto beim Hersteller orderten
– ganz nach Geschmack und Vorlieben.
Aus diesem Grund organisierte er ein Tutorium über die Philosophie von William James, und traf dafür alle zwei Wochen mit Eugene W. Lyman zusammen. Bonhoeffer hielt Lyman, der an der Theologischen Fakultät von Yale Examen gemacht und auch in Halle und
Magdeburg studiert hatte, für »einen genuinen Vertreter rein amerikanischer Philosophie«11. Er besuchte auch Lymans Vorlesungen über
Religionsphilosophie, der Intuition folgend, dass Pragmatismus vieles
an der Form des Protestantismus in der Neuen Welt erklären konnte.12
In einem später verfassten Bericht über seinen Aufenthalt schrieb er, er
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habe »fast das gesamte philosophische Werk von William James« gelesen ebenso wie die wichtigsten Bücher von John Dewey, Ralph Barton
Perry, Bertrand Russell, Alfred North-Whitehead, George Santyana,
J.B. Watson und Albert Knudson, zusammen mit der »behavioristischen Literatur«. Aber, so Bonhoeffer, bei James, vor allem in seinen
Werken The Will to Believe und Varieties of Religious Experience, habe
er »den Schlüssel zur modernen theologischen Sprache und den Denkformen des liberalen aufgeklärten Amerikaners« gefunden. Er glaubte,
dass hier die intellektuelle Ursache für den Drang liege, »an schwierigen Problemen« vorbeizuziehen und »bei Dingen, die entweder selbstverständlich oder aber so ohne weitere Vorarbeiten wohl garnicht zu
bewältigen sind«, zu verweilen.13 Karl-Friedrich vertraute er an, dass
er die »amerikanische Philosophie ziemlich gründlich kennengelernt«
habe, auch wenn er »der ganzen Sache nicht viel gläubiger gegegenüberstehe als vorher ...«14. Wahrheit ist »wesentlich teleologisch, intentional auf das Leben«, erinnerte er sich.15
Ohne Zweifel hatte die pragmatische Haltung, wie Bonhoeffer anerkannte, eine produktive Effizienz hervorgebracht. Die Konsequenzen für eine ernsthafte christliche Theologie aber waren verheerend.
»Die Studenten – durchschnittlich 25-30 Jahre alt – sind restlos ahnungslos, worum es eigentlich in der Dogmatik geht. Sie kennen nicht
die einfachsten Fragestellungen.« So sei man gegenüber zweitausend
Jahren christlichen Gedankenguts von unbekümmerter Gleichgültigkeit. Die beliebteste Freizeitbeschäftigung der Studenten vom Union
Seminar schien, sich »an liberalen, und humanistischen Redensarten«
zu »berauschen«, man »belächelt die Fundamentalisten und ist ihnen
im Grund nicht einmal gewachsen«16. »Man verschwatzt hier unheimlich viel Zeit.«17 »Eine Theologie gibt es hier nicht«, schloss Bonhoeffer
rundweg. Mit Erstaunen hörte er, wie Studenten – Seminaristen, die
sich auf ihr Amt als Pfarrer vorbereiteten – gelegentlich fragten, »... ob
man eigentlich von Christus predigen müsse ...«18. Doch Bonhoeffer
vermisste die deutsche Theologie nicht. Wie sein Freund Fritz Hildebrandt ihm mit typischer Respektlosigkeit versicherte: »Von der Berliner Theologie ist nicht viel Besseres ... zu berichten.« Und weiter: »Dr.
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Dr. Dr. Deissmann, Rektor Magnificus, beschrieb Stunden lang unter
fort-laufendem Beifall der Studenten (am Schluß waren die Emporen
halb leer), die Schicksale des NT.« Und Professor (Gerhard) Schwebel
»fiel ... mit einem wie Kraut und Rüben verwirrten Diskurs über Aussichten und Kampf der Kirche, Obrigkeit, Schule und Verdienste der
Hohenzollern sowie den Geist des Glaubensgehorsams und der Zucht
so völlig ab ...«19. Nur in ihrer Korrespondenz könnten er und Dietrich
hoffen, »eine Oase in der Wüste« zu finden.20
Bonhoeffer war jedoch nicht so sehr verärgert über den theologischen Modernismus am Union Theological Seminary als vielmehr
über die allgegenwärtige wie es schien eigensinnige, wenn nicht sogar
selige Naivität. In »Akt und Sein« hatte er nur zurückhaltende Kritik
an der liberalen Tradition geübt verglichen mit dem harten Urteil über
Barths theologische Schizophrenie und überdeterminierte Sicht der
göttlichen Offenbarung, in der Barths »ganz anderer« Gott rücksichtslos über seine Natur als eine sozial und historisch lokalisierte Person in
Jesus hinweggehe. Das Problem mit den Studenten am Union Seminar
war nicht ihre liberale Gesinnung, sondern vielmehr ihre Schlampigkeit. Im Gegensatz zur deutschen Variante – »die doch ganz zweifellos
eine durchaus kräftige Erscheinung in seinen guten Vertretern war« –
schien Amerikas intellektuelles Erbe des 19. Jahrhunderts »schauerlich
sentimentalisiert«. Der protestantische Liberalismus, wie er am Union
vertreten wurde, schien nicht mehr als ein freundliches Zwicken der
»James’schen Weisheit vom endlichen Gott«, der alte Pragmatismus,
nur leicht überarbeitet für fortschrittliche Männer der Kirche.21
Ein Beispiel: Während eines Referats über Martin Luthers »De servo
abitrio« wurde im Seminar laut gelacht. Dass ein gebildeter Mensch
die Überlegungen eines neurotischen Mönchs aus dem 16. Jahrhundert ernstnehmen sollte, hielten die Studenten für komisch.22 Die
Studierenden hätten »... offenbar vergessen, wofür christliche Theologie ihrem Wesen nach steht«23, urteilte Bonhoeffer. Ein tugendhafter Mensch zu sein hieße kaum mehr, als sich wie ein »good fellow«,
ein guter Kamerad zu verhalten. Die Diskussionen unter Studenten
klängen wie das Geblöke von »Erstsemestern«. Die Dogmatik sei »in
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völliger Unordnung«. Am Ende des Herbstsemesters am Union war
Bonhoeffer »bitter enttäuscht«24. Allerdings sollte man, wenn man die
Reaktionen Bonhoeffers auf die Situation am Union Theological Seminary betrachtet, nicht vergessen, wie gereizt er auch in Berlin über
studentische Arbeiten geurteilt hatte: »... und dabei soll man Gedanken
produzieren und grunddumme Seminararbeiten korrigieren!«25
Es gab aber auch einzelne Menschen, die Bonhoeffer faszinierten,
einer im Besonderen. In einer Fakultät mit fast vierzig Mitgliedern verkörperte keiner die Ideale und Energien der amerikanischen Sozialtheologie klarer als der unermüdliche Reinhold Niebuhr. Bonhoeffer
hatte nie zuvor jemanden wie diesen leicht erregbaren Theologen und
Aktivisten getroffen, einen »Dramatiker der theologischen Ideen auf
der öffentlichen Bühne«26. Das, was Bonhoeffer ahnte, betonte Niebuhr: Die Frage, wie man in der Welt sei, d.h. wie man die gegenwärtige
soziale Situation wahrnehme und auf die Notwendigkeiten und Konflikte darin reagiere, bedeute mehr für die Theologie als jedes Analysieren von Lehrmeinungen.27
Niebuhrs Konzept vom »christlichen Realismus« zufolge, das er in
Seminaren und Vorlesungen entwickelt hatte, dürfen alle Menschen, ob
gläubig oder nicht, ihre zahlreichen
Verflechtungen mit den beschädigten und – darauf bestand er – sündigen Strukturen der Welt niemals
vergessen. Dieser Realismus setze an
bei der nüchternen Akzeptanz der
Tatsache, dass man »in der historischen Existenz den Widersprüchen
nicht entkommen kann, in die die
menschliche Natur verstrickt ist«28.
Reinhold Niebuhr, »Dramatiker
Niebuhrs klares Verständnis der Dytheologischer Ideen auf der
öffentlichen Bühne«
namik von Macht und Gerechtigkeit
142
sprach zu denen, die nach einem Weg suchten, der über den liberalen
Idealismus und viktorianischen Quietismus, über Utopismus und Resignation hinausführte.
Bonhoeffer besuchte Niebuhrs Veranstaltungen in beiden Semestern. Er hatte Freude an den Inhalten, besonders an dem Thema
»Ethical Viewpoints in Modern Literature«, das im Team unterrichtet
wurde, aktuelle Ereignisse »auf das soziale und christliche Problem hin
untersucht[e]« und ihn mit den Schriften von James Weldon Johnson,
Booker T. Washington und W.E.B. Du Bois bekannt machte. Aber er
fand Niebuhrs Ansichten geradezu verwirrend. Der Mann schien über
alles zu sprechen außer über Gott.
Eines Tages, nach einer lebhaften Diskussion im Seminar, ging Bonhoeffer zu Niebuhr und fragte ihn empört: »Ist das ein Seminar für
Theologie oder für Politiker?«29
Niebuhr war gleichermaßen verblüfft von dem theologischen
Wunderkind aus Berlin und scheute sich nicht, das auch zu sagen. Als
Bonhoeffer in einer Seminararbeit behauptete, dass der »Gott der Führung« nur vom »Gott der Rechtfertigung« her erkannt werden könne,
antwortete Niebuhr scharf, dass dieses Konzept von Gnade zu transzendent sei.30 Bonhoeffer hatte in energischer lutherischer Weise argumentiert, dass Gnade keine menschliche Anstrengung zuließe, um
Gott zu erreichen. »Der Mensch in seiner ganzen Art« sei immer »ein
Sünder« und jemand, der die »Herrlichkeit, die nur Gottes ist«, nur
beleidigen könne.
Niebuhr veranlasste ihn dazu, in praktischeren Begriffen über den
»Gott der Führung« in der menschlichen Realität nachzudenken. »So
transzendent, wie Sie die Gnade machen«, sagte Niebuhr, »weiß ich
nicht, wie Sie ihr irgendeine ethische Bedeutung zuschreiben können.
Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber kann eine religiöse Erfahrung
sein, aber sie ist erst eine ethische, wenn sie sich in Handlungen niederschlägt, die soziale Wertschätzung erfahren.«31
Als Sohn eines evangelischen Pfarrers in einer Einwanderergemeinde im Mittleren Westen hatte sich Niebuhr voll und ganz der SocialGospel-Bewegung hingegeben, seit er ihr das erste Mal als Student
143
am Elmhurst College begegnet war. Der Geist dieser Bewegung hatte
sich seines schmalen Körpers bemächtigt und seine durchdringenden
blauen Augen mit Leben erfüllt. Niebuhr würde immer bereit sein,
sich für eine gerechte Sache einzusetzen. Er hatte seine Pfarrstelle in
der Innenstadt von Detroit erst zwei Jahre zuvor verlassen und brachte eine »explosive Denkweise« in die Seminarräume. Ein Student und
späterer Arbeitervertreter im Süden meinte, sie »erweiterte förmlich
das Bewusstsein«32. In der kommenden Generation von progressiven
Kirchenmännern verbreitete sich die Nachricht von Niebuhrs Ausstrahlung und menschlicher Größe schnell. Er war nicht nur »jung und
radikal und voller Enthusiasmus«, sondern auch ehrlich »an den Problemen der Menschen interessiert«, alles in allem »ein inspirierender
Lehrer, Redner und Entdecker«33.
Als Bonhoeffer im Herbst 1930 nach New York kam, hatte Niebuhr
bereits begonnen, viele seiner grundlegenden Ansichten zu überdenken. In den Jahren davor, noch als Pfarrer in Detroit, waren seine Predigten von einer robusten Mischung aus Social Gospel, christlichem
Pazifismus und der populistischen Hinwendung zu den Unterdrückten
geprägt gewesen. Aber mit seinem Buch Moral Man and Immoral Society, das 1932 erscheinen sollte, und in dem ein »eisiger, aggressiver
und schaurig allwissender« Ton herrschte, kamen seine idealistischen
Überlegungen über das Reich Gottes in Amerika an ein Ende. Er war
zu der Überzeugung gelangt, dass aller guter Wille und alle Anstrengungen des Menschen niemals ausreichen würden, um einem Zeitalter
ewigen Friedens den Weg zu bahnen.34 Während einzelne Menschen
(der moralische Mensch) gelegentlich in der Lage sein könnten, altruistisch und mitfühlend zu handeln, blieben Gruppen und Kollektive
(die unmoralische Gesellschaft) von den Geboten der Liebe oder den
Mahnungen der Vernunft unberührt.35
Besonders überzeugend war Niebuhr, wenn er »die Strukturen und
das Verhalten von politischen Systemen analysierte und eine theologische Deutung« von Ereignissen »als Basis für gemeinsames Handeln
für ein breites Publikum« bot. Um mehr Gehör zu finden, trug er seine Ideen häufig in einer Weise vor, die sein theologisches Engagement
144
unausgesprochen ließ. Nach seinem Verständnis war es unvermeidbar,
dass der Theologe, der in die Öffentlichkeit ging, bisweilen missverstanden wurde, gerade auch in den Feinheiten der Lehre. Dennoch hatte er beschlossen, in den Ring zu steigen, um den »christlichen Glauben in einem säkularen Zeitalter zu verteidigen« und dabei zugleich
gemeinsame Sache mit den weltlichen Progressiven zu machen, wenn
es um verantwortungsvolles Handeln ging.36 In einem autobiografischen Essay erklärt Niebuhr: »Ich war nie besonders kompetent, was
die Feinheiten reiner Theologie betrifft. Und ich muß zugeben, daß
ich bisher nicht genügend daran interessiert war, mir diese Kompetenz
anzueignen.«37
Zum Ende des Jahrzehnts war Niebuhr zu solcher Berühmtheit gelangt, dass in den fünfziger Jahren keine ernsthafte Debatte über Innen- oder Außenpolitik seine Überlegungen des christlichen Realismus außer Acht lassen konnte. Sein persönliches Engagement bei der
Organisation fortschrittlicher Strömungen in der sozialen Bewegungen und zur Rassenfrage war am stärksten in der Zeit, als Bonhoeffer
sein Sloane Stipendium am Union Seminar wahrnahm. Im Sommer
1931 eilte Niebuhr mit einem anspruchsvollen Programm von Vorlesungen von einem College für Afroamerikaner im Süden zum anderen
und hielt Vorträge an Akademien, die von der American Missionary
Society unterstützt wurden. Er hoffte, sagte er, stille schwarze Studenten für die aktivierenden Energien des religiösen Glaubens begeistern
zu können. Hinsichtlich seiner Aussagen über die rassistisch motivierte Ungleichbehandlung war Niebuhr nie klarer, auch später zu Zeiten
der Bürgerrechtsbewegung nicht. In Moral Man and Immoral Society
formuliert er: »Die weiße Rasse in Amerika wird dem Schwarzen keine
gleichen Rechte zuerkennen, wenn sie nicht dazu gezwungen wird.«
In zahlreichen Schriften, veröffentlichten und unveröffentlichten, klagt
er über die Mühen, die die Teilnehmer an seinen Seminaren damit haben, weiße und schwarze Arbeiter im Süden in einer Bewegung zu
organisieren. Betroffen von ihrem Leid und ihrer Selbstaufopferung,
verteidigte er sie oft in der Öffentlichkeit. Aber als viele dieser jungen
radikalen Christen die Idee einer pragmatischen, sich nach und nach
145
vollziehenden Reform aufgaben und sich einem doktrinären marxistischen Radikalismus zuwandten, wurde Niebuhr immer zurückhaltender, was eine uneingeschränkte Unterstützung anging.38
Bonhoeffer sah sich Niebuhr gegenüber theologisch nie in der
Schuld. Seine Sorge, dass es Niebuhrs Theologie an konfessionellem
Gehalt fehlen könnte, war fundamental und wohl begründet. Und
doch blieben die beiden über das nächste Jahrzehnt hinweg in Kontakt.39 Bonhoeffer schrieb ihm oft auf Deutsch, das Niebuhr gut lesen
konnte, und dieser wiederum antwortete auf Englisch. Als Bonhoeffer
im Sommer 1939 vor einer schicksalsträchtigen Entscheidung stand,
bot ihm Niebuhr eine Zuflucht in New York an. Unabhängig von ihrer
Uneinigkeit, wenn es um die Methode ging, war Bonhoeffer doch begeistert davon, wie Niebuhr die Berufung eines öffentlichen Theologen
bestimmte und richtete seine eigene Sichtweise danach aus.40 Niebuhrs
Von links: Harry Ward, Reinhold Niebuhr, Professor Swift und Henry Sloane Coffin
im Union Theological Seminary, New York 1931
146
Einfluss auf Bonhoeffer wird nach 1933 sichtbar, wenn dieser einen
Glauben, der frei ist von Ethik, mit einer toten Religion vergleicht und
feststellt, dass die »teure« Gnade nicht verlangt, dass man ein Heiliger wird, ein Genie oder ein schlauer Taktiker, sondern ein ehrlicher,
nüchterner und unerschrockener Realist.41 Es ist Niebuhrs Stimme, die
in Bonhoeffers späterer Entscheidung mitklingt, als Mitglied des deutschen Widerstands »von Gott zu sprechen als Mitte des Lebens und an
die Kraft von Männern und Frauen zu appellieren, das heißt, an ihre
Reife und Autonomie als verantwortliche Menschen«42.
Das Beispiel eines Theologen, der die soziale Ordnung mit Zivilcourage und tief empfundener Ehrlichkeit angriff, berührte Bonhoeffer und inspirierte ihn zugleich. Niebuhr seinerseits fand Bonhoeffer
sehr sympathisch, trotz seiner gebieterischen Miene und seiner Angewohnheit, den Stift kurz nach Beginn der Vorlesung beiseitezulegen.
Niebuhr schätzte Bonhoeffers Intellekt, seine Intensität und seinen Eifer. Und er verstand, welche Besonderheit darin lag, dass ein deutscher
Theologe mit all seinen überkommenen Vorurteilen ein Jahr in Amerika verbringen wollte. Niebuhr war auch zuversichtlich, dass er einen
positiven Einfluss auf den ruhelosen vierundzwanzigjährigen Berliner
ausüben konnte, der zwei akademische Titel sein Eigen nannte, während Niebuhr nichts dergleichen vorzuweisen hatte.43
Auch wenn er von Natur aus sehr offen war, suchte Bonhoeffer
in den ersten Wochen des Semesters vor allem die Gesellschaft der
anderen europäischen Sloane-Stipendiaten Erwin Sutz, einem Theologiestudenten aus einem deutschsprachigen Kanton in der Schweiz,
und Jean Lasserre, einem reformierten französischen Pfarrer aus
Lyon. Während Sutz fließend Französisch sprach, konnte Lasserre
kaum Deutsch und Bonhoeffer hatte seine Schwierigkeiten mit dem
Französischen. So sprachen die drei Englisch, wenn sie zusammen
waren. Sutz und Lasserre hatten, wie Bonhoeffer, ein humanistisches
Gymnasium besucht und glaubten, dass die Amerikaner Zweckmäßigkeiten zu viel Aufmerksamkeit schenkten und den Ideen an sich zu
wenig Wert beimaßen. »Wir waren Europäer, die nachdenken wollten,
147
bevor sie handelten«, erinnert sich Lasserre, »während die Amerikaner auf uns den Eindruck machten, als wollten sie handeln, bevor sie
nachdachten«. Die intellektuelle Nähe zwischen den Dreien führte zu
»häufigem und intensivem« Austausch. Diskussionen über die Feinheiten theologischer Lehrmeinungen dauerten manchmal bis zwei
Uhr morgens. Das brachte sie »eng zusammen«44. Auch das Interesse
für Musik verband sie. Sutz und Bonhoeffer waren beide gute Pianisten und spielten oft zusammen im großen Gemeinschaftsraum, von
dem aus man das Geviert des Innenhofs sah, während Lasserre gerne
zuhörte.45
Aber ihre Kameradschaft war wesentlich brüchiger, als sie auf ihre
amerikanischen Kommilitonen wirken musste. Bonhoeffer war ein
typischer Vertreter der Deutschen seiner Generation. Der verhasste
Artikel 231 im Versailler Vertrag von 1919, der die alleinige Verantwortung für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs den Deutschen
anlastete und die Grundlage dafür lieferte, Deutschland enorme Reparationsleistungen und Strafmaßnahmen aufzuerlegen, hatte ein Land
verbittert, das unter massiver Arbeitslosigkeit und einer galoppierenden Inflation litt. Das Ressentiment gegen den Vertrag hatte Demokraten und Nationalisten »in einer Allianz des Selbstmitleids« geeint. Zuerst umgingen Bonhoeffer, Lasserre und Sutz ihre entgegengesetzten
Ansichten zum Versailler Vertrag. Aber als das Semester voranschritt,
spürten sie, dass sie in einer Umgebung, die frei von Gespenstern war,
über ihre Meinungsverschiedenheiten sprechen konnten, auch über
die strittige Frage nach der Loyalität zur eigenen Nation.
An einem kalten, stürmischen Abend unter der Woche gingen Bonhoeffer und Lasserre in ein Kino in Manhattan, um den Film Im Westen
nichts Neues zu sehen, der im August herausgekommen war. Basierend
auf dem internationalen Bestseller des deutschen Autors Erich Maria
Remarque begleitet der Film eine Gruppe von Klassenkameraden – patriotische junge Männer, die ihr Vaterland verteidigen wollen –, wie sie
sich zum Militär melden, für den Kampf ausgebildet werden und mit
Überzeugung an die Front gehen. Dort erleben sie ein unvorstellbares
Grauen, und alle sterben.
148
»Der Saal war voll«, berichtete Lasserre. »Das Publikum war amerikanisch, aber da der Film aus der Perspektive der deutschen Soldaten
gemacht war, fühlte jeder sofort mit ihnen. Wenn französische Soldaten auf der Leinwand erschossen wurden, lachte und applaudierte die
Menge. Wenn andererseits die deutschen Soldaten verwundet und
getötet wurden, gab es eine große Stille und ein Gefühl tiefen Mitleidens. Das war für uns beide eine ziemlich schwierige Situation, weil wir
nebeneinander saßen, er, der Deutsche und ich, ein Franzose«. Bonhoeffer schien von der Darstellung peinlich berührt. Natürlich war das
Erlebnis umso verwirrender, als »die Amerikaner auf Seiten der Franzosen gegen die Deutschen gekämpft hatten«.
Vom »brüderlichen Standpunkt aus«, fuhr Lasserrer fort, habe es
ihn tief berührt, als er sah, welche Mühe Bonhoeffer sich gab, ihn zu
trösten, als der Film vorbei war.46 »Ich war sehr bewegt und auch er war
bewegt, aber wegen mir«, erinnerte sich Lasserre. »Ich glaube, es war
dort, dass wir beide entdeckten, dass die Gemeinschaft der Kirche viel
wichtiger ist, als die Gemeinschaft der Nation.«47
Als das Ende des Herbstsemesters nahte und damit der Advent, fand
Bonhoeffer es ungewöhnlich schwierig, in eine adventliche Stimmung
zu kommen.48 Er hatte Weihnachten selten getrennt von seiner Familie verbracht. Die Erinnerungen an vergangene Feste, die seine Mutter
mit großer Sorgfalt geplant hatte, machten ihn melancholisch. Aber
Heimweh war nicht der einzige Grund für seine Gefühle. Er schrieb seinem Freund Helmut Rößler in Berlin und gestand ihm, dass seine Hoffnung, eine »Wolke von Zeugen« zu finden, »bitter enttäuscht worden«
sei. »Man fühlt sich hier wie auf einem Aussichtsturm über die ganze
Welt«, schrieb er, »und was man auch sieht, es ist das Meiste so unendlich deprimierend.« Der »Leichtsinn«49 der großen Kirchen in Amerika
war ihm von Beginn an ein Ärgernis gewesen, aber jetzt schienen sie
seiner Seele einen Spiegel vorzuhalten. Die Zusammenfassungen von
am Tag zuvor gehaltenen Predigten auf der Seite drei in der Montagsausgabe der New York Times, lasen sich wie Nachrichten aus der Wüste.
Die Überschriften offenbarten ein protestantisches Establishment, das
um jeden Preis nach Bedeutung suchte. »Jesus verbirgt das Glaubens149
bekenntnis«, »Pfarrer besteht auf starken Werten«, »Letztendlich zählt
nur der Charakter«, »Dr. Fosdick fordert die Gemeinde auf, aus einem
schlimmen Durcheinander das Beste zu machen.« »Man kann in New
York über fast alles predigen hören«, sagte Bonhoeffer, »nur über eines
nicht ..., nämlich das Evangelium Jesu Christi.«50
Harry Emerson Fosdick, Pfarrer der Riverside Church, einem
mächtigen neogotischen Gebäude, das zusammen mit dem Seminar
einen ganzen Häuserblock umfasste, regierte wie ein wohlmeinender
Fürst über dieses protestantische Establishment. Bonhoeffer hatte
noch nie von ihm gehört, bevor er nach Amerika kam, auch wenn ihm
der Name Emerson bekannt war, weil er den gleichnamigen Transzendentalisten aus New England gelesen hatte, der meinte, Gott finde
sich im Wohlwollen der Natur. Nach einem sonntäglichen Besuch in
der Riverside Church waren für Bonhoeffer die beiden Denker für immer miteinander verbunden als diejenigen, die eine Art amerikanische
Gottheit geschaffen hatten. Fosdick predigte »einen fortschrittsgläubigen ethischen und sozialen Idealismus« und: »... anstelle der Kirche als Gemeinde der Gläubigen Christi, steht die Kirche als soziales
Unternehmen«51. Seine Predigt richtete sich an weltläufige Städter,
die sich in diesen angstbesetzten Zeiten unsicher fühlten. Ihnen wollte er neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben, indem er an ihr
Durchhaltevermögen appellierte und der negativen Stimmung einen
Glauben entgegensetzte, der voller Elan, Nutzenversprechen und Eifer
war. Das waren alles noble Ziele. Aber das Evangelium Fosdicks war
des Wunderbaren beraubt, es war modernisiert und amerikanisiert.
»Die Predigt ist herabgewürdigt zu kirchlichen Randbemerkungen zu
Zeitereignissen«, klagte Bonhoeffer.52 Letztlich suche Emerson nur
die Gemeinschaft mit den übernatürlichen Schwingungen der Bäche,
Teiche und Wälder. »Dahinein fällt nun wieder Weihnachten, Gott sei
Dank«, schrieb Bonhoeffer im schon erwähnten Brief an Helmut Rößler, »sonst wäre es zum Verzweifeln«53.
Doch diese kritischen Bemerkungen machte Bonhoeffer Monate bevor er in die Kapelle von St. Marks’ in the Bowery spazierte, wo
150
er noch ganz anderes kennenlernte. Er wollte einem Karfreitagsgottesdienst beiwohnen, in dem der populäre Pfarrer William Norman
Guthrie die sieben letzten Worte Christi in Form einer Rezitation
erschloss, die von Ezra Pounds Cantos inspiriert war. Guthrie zielte
auf eine »überzeugendere Offenbarung des heldenhaften Menschensohnes«54. Er hätte nicht weiter entfernt sein können von dem Karfreitagsgottesdienst, den Bonhoeffer sieben Jahre zuvor im Petersdom
erlebt hatte, mit seinem »großartigen Gesang« und der »außerordentlich feierlichen Anbetung des Kreuzes«55. Nachdem Guthrie zeitweilig
von seinen »bischöflichen Aufgaben« entbunden gewesen war, weil er
einen Tanz für den ägyptischen Sonnengott in der Kirche hatte aufführen lassen, forderte er das Schicksal am Karfreitag 1931 noch einmal heraus, indem er das Kreuz rundweg ablehnte. »... ich will keinen
solchen Christus«, sagte er. Einen Christus, der geschickt worden war,
um für die Sünden der Welt zu sterben? Nein, erklärte Guthrie: »Ich
leugne die Versöhnung durch das Kreuz ...«56 Stattdessen bot er seiner
Herde ein synkretistisches Buffet mit exotischen Naschereien: einen
Brahmanen, der Hindugebete intonierte, einen Mohawk-Indianer in
voller Kriegsbemalung, einen heiligen Mann des Zoroaster-Kults, der
eine Feuerzeremonie abhielt, und eine barfüßige Tanzgruppe vom Barnard College, die eine Improvisation zur Verkündigung darbot.57
Licht ins Dunkel brachte Ende 1930 die Einladung, Weihnachten in
Kuba als Gastdozent an der Deutschen Schule in Havanna zu verbringen. Mit Sutz, seinem Schweizer Freund, verließ Bonhoeffer New York
am 11. Dezember 1930, glücklich, die winterliche Stadt hinter sich lassen zu können und zu erleben, wie die Landschaft immer grüner wurde, als der Zug gen Süden rollte. Er berichtete Sabine, dass er, während
sie weiße Weihnachten in Berlin genoss, »in tropischer Sonne« schwitzen würde.58 Vom Hafen von Tampa aus nahmen die Freunde einen
Regionalzug nach Key West und gingen dort für eine siebenstündige
Reise über ein raues Meer an Bord der SS Governor. In vier Tagen legten sie 2200 Kilometer zurück, die gleiche Entfernung wie die zwischen
Berlin und Südspanien.
151
Kapitel 14
1943 – 1945
»Höchstes Fest auf dem Wege
zur Freiheit«
In seiner ersten Nacht im Gefängnis schlief Bonhoeffer schlecht.
Die dünne Decke in der Zugangszelle stank und Bonhoeffer ekelte sich
davor, sich damit zuzudecken trotz der Kälte der verregneten, stürmischen Aprilnacht. Aus der Zelle nebenan war das laute Weinen eines
anderen Gefangenen zu hören.
Früh am nächsten Morgen öffnete sich quietschend eine Klappe in
der Tür und eine kleine Portion Brot auf einem Blechteller kam zum
Vorschein. Die Gefängniswärter sprachen die Männer als »Halunken«,
»Abschaum«, »Verräter«, »Schweine« an. Es sollte vier Monate dauern,
bis Bonhoeffer seinen Haftbefehl zu sehen bekam.
Irgendwann gegen Ende der ersten Woche wurde er in eine Isolationszelle im obersten Stock verlegt. Er durfte weder Bücher noch Zeitungen oder Tabak haben. Er durfte keine Briefe schreiben. Erst nach
achtundvierzig Stunden gab man ihm seine Bibel zurück. »Sie war
durchsucht worden, ob ich Säge, Rasiermesser etc. hineingeschmuggelt hatte.«1
Er blieb zwölf Tage in Einzelhaft. Die Zellentür öffnete sich in dieser Zeit nur, um Essen hinein zu befördern oder den Latrineneimer zu
holen. Davon abgesehen war es, als sei er gar nicht da. Die Wärter antworteten nicht auf seine Fragen und begegneten ihm mit Gleichgültigkeit. Auch die halbe Stunde Freizeit im Gefängnishof, die den anderen
Gefangenen zugestanden wurde, war ihm versagt. Mit der Nacht kam
das erstickte Schluchzen von Männern, die die Haft gebrochen hatte,
seiner neuen Gemeinde.
Bonhoeffer betete für seine unsichtbaren Nachbarn, morgens und
abends, und sprach still den Segen über sie. Obwohl es auf dem Gefäng428
nisgelände eine Kapelle gab, waren Gottesdienste zu jener Zeit verboten.2 Nach 12 Tagen, als bekannt geworden war, das Bonhoeffer mit dem
Berliner Stadtkommandanten verwandt war, besserte sich seine Haftsituation spürbar. Er bekam eine geräumigere Zelle, man ging jetzt freundlich mit ihm um. »Peinlich«, fand Bonhoeffer. Aber als er auch Füller
und Papier haben durfte, schrieb er Gebete für die Rettung seiner Mitgefangenen auf Blätter mit dem Wasserzeichen Beroer 4b normal. Diese
schickte er seinen Eltern mit der Post, und die gaben sie im Gefängnis
ab. Die Zeilen waren nicht »spontan« niedergeschrieben, sondern »aus
langer Meditation und erfahrener Disziplin entworfen« worden.3
Mit der Dringlichkeit des Psalmisten rezitierte er Gebete aus dem
Gedächtnis: »Ich bin einsam, aber du verläßt mich nicht. Ich bin ruhelos, aber bei dir ist Frieden.« Oder: »Ich danke dir, daß du den Tag zu
einem Ende gebracht hast.« Er dankte Gott für jeden neuen Tag, dafür,
dass er ihm Kraft gab und ihm erlaubte, Hoffnung von seiner Familie
und seinen Freunden zu empfangen. Aber Gott riss die Gefängnismauern nicht nieder wie die Mauer von Jericho. Auch würde kein heftiges
Erdbeben seine Fundamente erschüttern und ihn befreien, wie es Paul
und Silas in der Apostelgeschichte erlebt hatten. Bonhoeffer wusste
das. Und so verfiel er in den ersten Wochen einer großen Hoffnungslosigkeit. In den Jahren des Kirchenkampfes hatte er das Schweigen
und die kontemplativen Disziplinen geübt. Aber in der Einzelhaft, zum
Stillsein gezwungen, fühlte er die tröstende Gegenwart seines geliebten
Christus nicht, sondern nur die Kälte von Beton und Eisen. Er erlebte
einen überwältigenden Verlust, mit dem es weder ein Gebet noch ein
Segen aufnehmen konnte.
Er kritzelte ängstliche Notizen in sein Tagebuch und dachte über
extreme Maßnahmen nach: »Trennung von Menschen, von der Arbeit,
von der Vergangenheit, von der Zukunft, von der Ehre, von Gott.«4
Selbstmord, unter den meisten Umständen als eine Sünde betrachtet,
war zu einer akzeptablen Möglichkeit für viele Verschwörer geworden,
zu einem ehrenhaften Akt des Widerstands.
Bonhoeffers Gedanken gingen auch zu seinen betagten Eltern, die
verrückt vor Sorge waren. »Vor allem müßt Ihr wissen und auch wirk429
lich glauben, daß es mir gut geht«, schrieb er ihnen am 14. April 1943
im ersten Brief, den er schreiben durfte.5 Danach konnte er ihnen und
seinem Bruder Karl-Friedrich alle zehn Tage einen Brief zukommen
lassen. Das Gefängnis, versicherte er ihnen tapfer, sei nichts weiter als
ein »gutes seelisches Dampfbad«6. »Man kann sich auch mit trocken
Brot morgens satt essen – übrigens gibt es auch allerlei Gutes! – und
die Pritsche macht mir schon garnichts aus und schlafen kann man
von abends 8 bis morgens um 6 Uhr reichlich. Besonders überrascht
hat es mich eigentlich, daß ich vom ersten Augenblick an so gut wie
nie Verlangen nach Zigaretten hatte ... ich glaube eben doch, daß eine
so starke innere Umstellung, wie sie eine so überraschende Verhaftung
mit sich führt, die Nötigung, sich innerlich zurecht- und abzufinden
mit einer völlig neuen Situation, – das alles läßt das Körperliche völlig
zurücktreten und unwesentlich werden; und das empfinde ich als eine
wirkliche Bereicherung meiner Erfahrung.«7
»Hier im Gefängnishof singt morgens und auch jetzt abends eine
Singdrossel ganz wunderbar«, schrieb er.8 Und in einem späteren Brief,
nachdem ihm Ende April gestattet worden war, eine halbe Stunde nach
draußen zu gehen, um frische Luft zu schnappen, berichtete er den Eltern von der halben Stunde »Bewegung« auf dem Gefängnishof, auf
dem ja ein paar schöne Kastanien und Linden stehen.9 Er erzählte seinen Eltern auch, dass er wieder rauchen durfte, dass er manchmal »die
augenblickliche Situation ganz« vergaß10: Dort, im Zellenblock 25, in
Zelle 92, verbrachte Bonhoeffer die nächsten achtzehn Monate.
Am Sonntagmorgen konnte er hören, wie die Kirchenglocken in
der Nähe die Gläubigen zum Gottesdienst riefen. Während der Luftangriffe, als er in eine Zelle im zweiten Stock verlegt wurde, konnte
er von seinem Fenster »gerade auf die Kirchtürme« sehen, was »sehr
hübsch«11 war. Es rührte ihn, wenn er daran dachte, dass es immer
noch Menschen gab, vorwiegend ältere, die zur Kirche gingen; dass
mitten in diesem Durcheinander weiterhin gepredigt und Gottesdienst
gefeiert wurde. Er vermisste vor allem die Kirchenmusik. »... manchmal trägt mir der Wind Bruchstücke der Choräle zu«12. Bonhoeffer
430
wusste nichts von der Größe der Sorgen seiner Eltern, nichts davon,
dass die Gestapo bei der Razzia gegen angebliche Verräter auch seine Schwester Christine gefangengenommen hatte und dass sie im Polizeigefängnis am Kaiserdamm unter der Anklage der »Beihilfe zum
Hochverrat« festgehalten wurde. Und er wusste zunächst auch nicht,
dass ihr Mann, Hans von Dohnanyi, im Militärgefängnis an der Lehrter
Straße in Berlin-Moabit eingekerkert war. Christine wurde zwei Wochen festgehalten. Dann wurde die Anklage gegen sie fallengelassen.
Am 23. April setzte man sie auf freien Fuß.
Er wusste auch nicht, dass seine Mutter immer wieder ohnmächtig
wurde und sich bewegte, als habe sie einen Schlaganfall erlitten. Sie
war in die gleiche Dunkelheit gestürzt, die sie zweiundzwanzig Jahre
zuvor nach dem Tod ihres Sohnes Walter umfangen hatte. »Es kam
eben alles doch zu plötzlich«, sagte Paula.13 Bonhoeffer bat seine Eltern
um Verzeihung für den Kummer, den er ihnen zweifellos bereitete.
Manchmal schrieb er mehrere Entwürfe eines Briefes für zu Hause.
Er versuchte, seine Empfindungen zu kontrollieren und so zu schreiben, dass er die Eltern möglichst wenig beunruhigte.14 Er erzählte, dass
er nach dem Ende der ersten beiden Verhörwochen viel besser behandelt worden war und sogar wieder Zeit habe zu lesen. Zuerst hatte er es
schwierig gefunden, sich auf eine Arbeit zu konzentrieren, aber in der
Karwoche konnte er sich mit der Leidensgeschichte »gründlich befassen«15, vor allem mit Johannes 17, wo Jesus sein priesterliches Gebet
spricht: »Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der
Sohn dich verherrlicht ...« Er ruhte sich auch aus, wie er ihnen mitteilte. Nach den hektischen Monaten vor seiner Festnahme war es eine
Erleichterung, um acht Uhr ins Bett zu gehen und sich auf die Stille der
Nacht zu freuen. »Ich träume täglich und eigentlich immer schön.«16
Bonhoeffer hatte sogar mit »einer kleinen Studie über ›Das Zeitgefühl‹« begonnen. Die Erfahrung von Zeit war seit den Meditationen
über die Ewigkeit, die er als Kind angestellt hatte, wohl nicht mehr so
verwirrend gewesen. Der Essay entstünde aus »dem Bedürfnis, mir
meine eigene Vergangenheit gegenwärtig zu machen in einer Situation, in der die Zeit so leicht ›leer‹ und ›verloren‹ erscheinen konnte«17.
431
Aber das war nicht der einzige Grund. Jemand, der vor ihm in seiner
Zelle gesessen hatte, hatte über die Tür gekritzelt: »In hundert Jahren
ist alles vorbei.«18 Diese Inschrift hing wie eine fatalistische Stickerei
über dem Raum. Obwohl Bonhoeffer, wie er seinen Eltern schrieb, der
Aussage nicht ganz zustimmte, gäbe es doch eine Menge darüber zu
sagen.
Die Morgende waren nach dem Frühstück von etwa sieben Uhr an
dem Schreiben gewidmet. Nachmittags las er. Er konnte noch »allerlei lernen«. Wenn er genug Schwung hatte, schrieb er noch einmal bis
zum Abendessen. »Abends bin ich dann müde genug, um mich gern
hinzulegen, wenn auch noch nicht zu schlafen.«19
Seine Nachrichten für Zuhause enthalten kaum eine Klage. Aber,
wie in besseren Zeiten, bat er um Hilfe bei der Ausstattung seiner Zelle, in Fragen seiner Garderobe und bei der Beschaffung der Utensilien
für die Körperpflege. Die Absätze an seinen Schuhen fielen ab. Er wäre
dankbar, wenn seine Eltern ihm das neuere braune Paar Schuhe schicken könnten oder, noch besser, die hohen schwarzen Schnürschuhe.
Er bat auch um seinen bevorzugten braunen Anzug, da der, den er seit
seiner Festnahme trug, nicht mehr sauber zu bekommen war. Was er
noch brauchte: eine Haarbürste, Toilettensachen, einen Kleiderbügel,
reichlich Streichhölzer, eine Pfeife mit Tabak mit einem Etui für beides,
auch Pfeifenreiniger und deutsche Zigaretten. Und könnten sie auch
noch Band 2 von Schellings Moralphilosophie und Adalbert Stifters
Roman Der Nachsommer in eines der Pakete stecken? Um ihnen und
sich Ruhe und Linderung zu verschaffen, schlug er vor, dass sie alle drei
– Vater, Mutter und jüngster Sohn – einige der großen Kirchenlieder
der Reformation auswendig lernten.
Bonhoeffer wollte seinen Eltern die schlimmsten seiner Erlebnisse
ersparen, seine Berichte an Bethge aber waren vollkommen unzensiert. Den ersten Brief an ihn konnte er jedoch erst am 18. November
1943 schicken. Da es ihm verboten war, mit irgendjemand zu korrespondieren, mit dem er nicht verwandt war, konnte er Bethge nur dank
des hilfsbereiten Unteroffiziers Knobloch, einem Angehörigen der
Wachmannschaften in Tegel, schreiben, der während Bonhoeffers ge432
samter Gefangenschaft die Briefe an Bethge weiterleitete.20 Knobloch,
offenbar ein Mann der Kirche, der Bonhoeffers Schriften kannte und
ihn vielleicht vor Jahren predigen gehört hatte, nahm die Briefe mit
nach Hause und schickte sie von seiner eigenen Adresse aus ab. Im
Gegenzug schickte Bethge seine Briefe an Knobloch, der sie Bonhoeffer ins Gefängnis brachte. »Du bist der einzige Mensch, der weiß, daß
die ›acedia‹ – tristitia mit ihren bedrohlichen Folgen mir oft nachgestellt hat«, schrieb er dem Freund. Tatsächlich kannte niemand außer
Eberhard diese »Melancholie des Herzens«, die Bonhoeffer manchmal
überfallen konnte.
Nachts, wenn er beim Schein einer einzelnen Kerze (ein weiterer
Luxus, der ihm nach den Tagen der Einzelhaft erlaubt wurde) allein
in seiner Zelle saß, erinnerte er sich an die zahllosen »abendliche Gespräche«, die er mit Bethge geführt hatte. »Ich stelle mir also vor, wir
säßen wie in alten Zeiten nach dem Abendbrot (und der regelmäßigen abendlichen Arbeit!!) zusammen oben in meinem Zimmer und
rauchten, schlügen gelegentlich Akkorde auf dem Klavichord an und
erzählten uns, was der Tag gebracht hat.« Er würde »unendlich viel
zu fragen« haben: über Bethges Militärdienst, seine Reisen, seine Seelsorgearbeit. Über das »Verheiratetsein«21. Bethge war im September
1943 einberufen und nach einer Grundausbildung in Spandau und im
polnischen Lissa im Januar 1944 im italienischen Rignano stationiert
worden. Ein Standort seiner Einheit befand sich auch in Velletri, wo
er die Flotte der Alliierten in der Ferne bei Nettuno und Anzio sehen
und den Lärm heftigen Beschusses hören konnte.22 Seine Aufgabe als
Schreiber bewahrte ihn selbst vor der Teilnahme an unmittelbaren
Kampfhandlungen.23
Bonhoeffer vertraut Bethge in dem Brief, in dem er ihre gemeinsamen Abende imaginierte auch an, »dass es trotz allem, was ich so
geschrieben habe, hier scheußlich ist«.
Beängstigende Gedanken verfolgten ihn »bis in die Nacht«. Er wurde nur damit fertig, indem er »unzählige Liederverse« aufsagte. Aber
auch dann wachte er normalerweise mit einem Seufzer oder Keuchen
auf und nicht mit einem Segenswort oder einem Lobpreis auf den Lip433
pen. »An die physischen Entbehrungen gewöhnt man sich, ja man lebt
monatelang sozusagen leiblos – fast zu sehr –, an die psychischen Belastungen gewöhnt man sich nicht, im Gegenteil; ich habe das Gefühl,
ich werde durch das, was ich sehe und höre, um Jahre älter und die
Welt wird mir oft zum Ekel und zur Last.«24
Und mancher Gedanke war sogar zu dunkel, um ihn mit Bethge
zu teilen. Bonhoeffer hatte eine grüblerische Selbsterforschung betrieben, niedergeschrieben als »Notizen I; Mai 1943« und »Notizen II,
Mai 1943«. Ihre Fragmente tauchten erst nach seinem Tod auf. Diese
»Notizen«, die »kleine Studie«, die er seinen Eltern gegenüber fröhlich
erwähnt hatte, offenbaren die ruhelosen Gedanken einer äußerst verzweifelten Seele.
»Wandspruch – Zeit als Hilfe – als Qual, als Feind.
Langeweile als Ausdruck der Verzweiflung.
Ps 31,1
Zeit
Wohltat der Zeit: Vergessen, Vernarben
Gegensatz: Die Unwiderruflichkeit.
Trennung – vom Vergangenen und Zukünftigen
›Der ist nicht stark, der in Not nicht fest ist‹
Spr. 31 lacht des kommenden Tages
Mt 6 sorget nicht ...
Warten
Langeweile
...
Kontinuität mit der Vergangenheit und Zukunft unterbrochen
Unzufriedenheit – Gespanntheit
Ungeduld
Sehnsucht
Langeweile
Nacht – tief einsam
434
Gleichgültigkeit
Beschäftigungsdrang, Abwechslung, Neuigkeit
Stumpfheit Müdigkeit, schlafen – dagegen harte ›Ordnung‹
Das Phantasieren, Verzerrung der Vergangenheit und Zukunft
Selbstmord, nicht aus Schuldbewußtsein, sondern weil ich
imgrunde schon tot bin, Schlußstrich,
Fazit.«
Diese im Telegrammstil gehaltenen Zeilen erreichten schließlich
Bethge, der in ihnen zweifellos eine sie vereinende Empfindsamkeit
erkannte. Aber als Bonhoeffer sie im Mai 1943 in sauberer lateinischer
Schrift niederschrieb, waren sie wie so viele stille Schreie.25
In den zwei Jahren zwischen seiner Festnahme und seinem Tod
hörte Bonhoeffer nie auf zu schreiben: Er verfasste Briefe, Gedichte,
Gebete, einen Romanentwurf, ein kleines Drama und Geschichten,
Skizzen für zukünftige Bücher und Essays, Aphorismen und Schriftauslegungen sowie Entwürfe zu verschiedenen Themen. Zusammengenommen geben die Briefe und Schriften aus dem Gefängnis Einblick
in sein Gefühlsleben jener Tage.
Er wies den Gedanken zurück, dass er im Gefängnis litt. Das zu behaupten, erschien ihm wie eine »Profanierung«. Die ersten Wochen
waren elend gewesen, wie er seinen Eltern gegenüber nur indirekt und
Bethge gegenüber offener zugab. Aber er hatte das Gefühl, sich selbst
viel zu wichtig zu nehmen, wenn er behauptete zu leiden. Und er sehnte sich auch nicht nach dem Martyrium. »Man darf diese Dinge nicht
dramatisieren«, warnte Bonhoeffer. »Natürlich ist vieles scheußlich«,
sagte er, »aber wo ist es das nicht?« Die Juden litten, die Familien der
gefallenen Brüder litten, die geistig Behinderten, die abgeholt und
ermordet worden waren, hatten gelitten, seine Eltern litten in ihrer
Angst. »Nein, Leiden muß etwas ganz anderes sein, eine ganz andere
Dimension haben, als was ich bisher erlebt habe.«26
Siebenhundert Männer waren im Wehrmachtsuntersuchungsge435
fängnis in Berlin-Tegel untergebracht. Die meisten wurden monatelang ohne das Recht auf einen Anwalt verhört. Die Wärter kannten,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen Anstand. Selbst die Kranken wurden geschlagen und gequält. Männer, die Krämpfe hatten oder
andere nervöse Anfälle, blieben unversorgt. Alles an diesem Ort – die
randvollen Latrinen, die endlose Wiederholung derselben Fragen, die
Ketten und Handschellen – schien dazu bestimmt, den Geist zu brechen.
Wenn es aber einen Gefangenen gab, der besondere Privilegien hatte, dann war es Bonhoeffer. Zuerst war der Gefängnisleitung nicht klar
gewesen, dass er ein protestantischer Theologe und Pfarrer und der
Sohn des berühmten Psychiaters Karl Bonhoeffer war. Sie wusste auch
nicht, dass dieser Pfarrer Bonhoeffer der Neffe von General Paul von
Hase war, des Stadtkommandanten von Berlin. Als diese und andere
Einzelheiten ans Licht kamen, sorgten die Wärter dafür, dass Bonhoeffer zusätzliche Essensrationen, heißen Kaffee und Zigaretten bekam.
Mehrmals in der Woche wurde ihm sein Essen so serviert, wie es auch
die Angestellten bekamen: auf einem Porzellanteller und mit ordentlichem Besteck. Die Beamten behandelten ihn mit »ausgesuchter Höflichkeit«, berichtete Bonhoeffer, »mehrere kamen sich sogar entschuldigen«, nachdem man mit ihm Anfangs ebenso rüde umgegangen war
wie mit den anderen, weniger prominenten Gefangenen.27
Gelegentlich stattete der Kommandant des Gefängnisses Hauptmann Walter Maetz Bonhoeffer einen Besuch ab und begleitete ihn
auf seinem Gang im Gefängnishof. Maetz erlaubte Karl und Paula,
ihrem Sohn einen »bunten Dahlienstrauß« zu bringen und Trauben
aus ihrem Garten als Erinnerung daran, »wie schön die Welt in diesen Herbsttagen sein kann«. Sein Onkel von Hase besuchte ihn einmal,
sie tranken Champagner und redeten fünf Stunden lang.28 Bonhoeffer
sagte seinem Vater, ihm wären die Nettigkeiten peinlich. Er lehnte die
zusätzlichen Essensrationen ab, nahm den Champagner, die Zigaretten
und andere Privilegien aber gerne an.
An die Wand seiner Zelle hängte er einen Druck von Dürers Apokalyptischen Reitern, der die Offenbarung 12,7 abbildet, den Kampf
436
zwischen Gut und Böse, wo St. Michael die Engel im Kampf gegen den
Drachen anführt.29 Auf seinen Tisch stellte er die Blumen von seinen
Eltern.
Vor dem Hintergrund der Todeslager mögen die Beschwerden eines evangelischen Pfarrers, der sein Essen im Gefängnis manchmal
auf Porzellan serviert bekam und vergleichsweise privilegiert lebte,
trivial erscheinen. Das hatte etwas von der Empörung eines beleidigten Adeligen. Doch Bonhoeffer wollte auch kleine Unregelmäßigkeiten
in dem, was ihm zustand, nicht ignorieren. Denn es gab eine direkte
Verbindung vom Einzelnen zum Allgemeinen – von den kleinen Demütigungen zum großen Machtmissbrauch. Das war eine Lektion, die
er schon als Kind gelernt hatte und die er bis zum Ende seines Lebens
nicht vergessen würde.
Und so beschwerte er sich viel und mit regelrechter Verachtung
über die Zustände. Er hielt es, gerade weil er Privilegien genoss, für
seine Pflicht, die kleinen und großen Sorgen aller vorzubringen. Wenn
die Suppe nur ein Stückchen Speck enthielt, bemängelte er, dass die
Fleischrationen nicht einer angemessenen Ernährung entsprachen.
Er beklagte sich darüber, dass die Küche die Brot- und Wurstscheiben
ungleich schnitt. In einem Haftbericht, den er für seinen Onkel von
Hase verfasste30, betont er, dass er selbst ein Stück Wurst abwog, um
zu beweisen, dass es fünfzehn Gramm wog und nicht fünfundzwanzig,
wie gesetzlich vorgeschrieben. Er klagte darüber, dass die Gefängnisärzte und -beamte randvolle Teller mit Fleisch in Sahnesoße bekamen,
wenn sie die Qualität des Gefängnisessens prüfen sollten, und dass ein
Vergleich zwischen den Mahlzeiten für die Gefangenen und für das
Personal »einfach verblüffend« sei. Die Mahlzeiten der Gefangenen
am Sonntag und an Feiertagen seien dabei »unter aller Kritik« und bestünden aus »einer völlig fett-, fleisch- und kartoffellosen Wasserkohlsuppe«31. An Winterabenden löschten die Wärter oft das Licht in den
Zellen, verboten den Insassen aber, sich vor dem Zapfenstreich auf ihre
Pritschen zu legen, und zwangen sie so, allein im Dunkeln zu stehen.
Schlimmer noch war das Fehlen eines Luftschutzbunkers für das gan437
ze Gefängnis. Es befand sich neben der riesigen Maschinenbaufabrik
Borsig, die von den Briten bevorzugt angegriffen wurde. »Schauderhaft das Toben und Schreien der Gefangenen in ihren Zellen«, schrieb
Bonhoeffer.32 (Er bezeichnete die Luftangriffe nie als »Bombenterror«,
wie viele andere Deutsche und auch die nationalsozialistische Propaganda dies tat, um den Angriffen der Alliierten einen moralisch negativen Stempel aufzudrücken.) Wenn der Nachthimmel von den grünen
Lichtern erhellt wurde, die man »Christbäume« nannte und die, abgeworfen von sogenannten »Pfadfinder-Maschinen«, den anfliegenden
Bombern der englischen Luftwaffe dazu dienten, ihre Ziele zu finden,
sprach Bonhoeffer von dem Paradoxon von Zorn und Gnade. Die Szenerie erinnerte ihn an die Beschreibung des göttlichen Zorns als unauslöschliches Feuer beim Propheten Amos im Alten Testament.
Seit seinen Studientagen hatte er nicht mehr so viel Zeit zum Lesen
gehabt, musste er doch die meiste Zeit des Tages in seiner Zelle verbringen. Da er sich jetzt wieder seinen Studien zuwenden konnte, bat er
um Bücher aus den Bereichen Philosophie, Naturwissenschaft, Kunst,
Politiktheorie, Geschichte und Literatur. Die Gefängnisbücherei hatte
nur einen begrenzten Bestand, und so las er, was immer Familie und
Freunde ihm schickten. Er verschlang die Bücher, manchmal aus wissenschaftlichem Interesse, manchmal zum Vergnügen. Neben Stifters
Roman gehörten zu seinen liebsten Büchern Geist und Geld von Jeremias Gotthelf, die Gedichte und Geschichten von Theodor Fontane
und Zum Weltbild der Physik von Carl Friedrich von Weizsäcker. Er las
Immanuel Kants Schriften über Anthropologie und Wilhelm Diltheys
Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, eine Studie über die Menschheit und die nach der Renaissance und der Reformation entstandene Weltsicht. »Ich arbeite wieder
etwas konzentrierter und lese mit besonderer Freude Dilthey«, schrieb
Bonhoeffer seinen Eltern.33 Er las etwas über griechische Mythologie
von Walter Otto, über Geschichtsphilosophie von José Ortega y Gasset
und Adolf von Harnacks Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie, die er »sehr schön« fand.34 Er tauchte ein in Nicolai Hartmanns
438
Systematische Philosophie, freudig erregt durch die Aussicht, sich mehrere Wochen den deutschen Idealisten widmen zu können.
In einem Brief an Bethge schreibt er, dass er »etwas planlos durcheinander gelesen« habe: eine Geschichte von Scotland Yard, eine Studie
der Ursprünge der Prostitution, ein Buch von Hans Delbrück – obwohl
er »seine Probleme eigentlich uninteressant« fand; Reinhold Schneiders Sonette – »sehr verschieden in der Güte, einige sehr gut«. Er hatte
»einen riesigen englischen Roman, der von 1500 bis heute geht« gelesen, Hugh Walpoles Herries-Romane und »das Buch für Sanitätspersonal, für alle Fälle«35.
Er las Dostojewskis Totenhaus, weil ihn die Notwendigkeit von
Hoffnung
»beschäftigte«
zu einem Zeitpunkt, als er
selbst die Hoffnung auf Entlassung verloren hatte. »Ich
lese mit großem Interesse
das ›Totenhaus‹«, berichtete
er, »und bin beeindruckt von
dem völlig moralfreien Mitleid mit dem die Menschen
außerhalb desselben sich zu
seinen Insassen verhalten.
Sollte diese Amoralität, die
aus der Religiosität kommt,
vielleicht ein wesentlicher
Zug dieses Volkes sein und
auch gegenwärtigere Ereignisse verständlich machen?«36 In seinem letzten
Brief an sie sollte er seine
Eltern bitten, H. Pestalozzis
Lienhard und Gertrud und
Abendstunden eines Einsied- Dietrich Bonhoeffer im Hof des Wehrmachtslers, Paul Natorps Sozialpä- untersuchungsgefängnisses in Berlin-Tegel
439
dagogik und Plutarchs Große Männerbiografien im Gestapo-Gefängnis
in der Prinz-Albrecht-Straße 8 abzugeben, wohin er am 8. Oktober
1944 verlegt wurde, in eine fensterlose Zelle.
Bonhoeffer las so gut wie alles außer theologischer Literatur – mit
einer bedeutsamen Ausnahme: Der soeben erschienene jüngst Teil
von Karl Barths Kirchlicher Dogmatik versetzte ihn in Begeisterung.
Er war ein Höhepunkt in Barths Werk und viele Theologen hielten
ihn für so genial, dass er allein dem Autor einen Platz neben Martin
Luther und Johannes Calvin im Pantheon der Reformation verschafft
hätte. Denn in diesem Band stellte Barth die umstrittene Doktrin der
doppelten Prädestination auf den Kopf: dass Gott einige zum Heil
vorherbestimmt habe, und andere zur Hölle verdammt seien. Gottes
Gnade sei unaufhaltsam, sagte Barth in Übereinstimmung mit den Kirchenvätern, und aus diesem Grund könne letztendlich keine endliche
Wirklichkeit ihre Macht zu retten leugnen oder sich ihrem Wirkungsbereich entziehen. Die ganze Menschheit, die vergangene, die gegenwärtige und die zukünftige, sei vom Fluch der Sünde durch den Tod
und die Auferstehung Jesu Christi erlöst. Jeder sei jetzt »auserwählt«.
Bonhoeffer verglich Barths Arbeit mit den römischen Kathedralen und
den Symphonien Mozarts und hielt sie für rundum überzeugend. Detailversessen und mit symphonischer Größe, hatte Barth das Wesen
Gottes als Liebe im Überfluss eingefangen. Für seine Schriften im Gefängnis hat Bonhoeffer vieles aus diesem Band gezogen.37
In den ersten Monaten seiner Gefangenschaft fanden Bonhoeffers
Vernehmungen unter der Leitung von Oberkriegsgerichtsrat Manfred
Roeder statt, der auch die Anklage gegen Dohnanyi verfolgte. Hintergrund seines Einsatzes waren die bitteren Rivalitäten zwischen der
Gestapo und der Abwehr. Die Gestapo war darum bemüht, die Unglaubwürdigkeit der Abwehr aufzuzeigen, indem sie Dohnanyi Korruption nachwies.38 Im Fall Bonhoeffer ging es Roeder vor allem darum, zu beweisen, dass er sich vor dem Militärdienst gedrückt hatte.
Roeder sollte große Hartnäckigkeit an den Tag legen, um dieses Ziel
zu erreichen.
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Ende Juli 1943, vier Monate nach seiner Festnahme, wurde Bonhoeffer endlich über die Anklagepunkte gegen ihn informiert. Die
Anklageschrift, die dann im September 1944 die Vorwürfe zusammenfasste, hielt ihm vor, sich durch Täuschung dem Militärdienst entzogen und anderen geholfen zu haben, es ihm gleichzutun.39 Sie listete
auch zahlreiche Aktivitäten Bonhoeffers in Bezug auf die Bekennende Kirche auf, das »Unternehmen 7« oder andere Aktivitäten in Zusammenhang mit dem Widerstand wurden interessanterweise jedoch
nicht erwähnt. Wenn man bedenkt, welcher Verbrechen er schließlich
angeklagt wurde, erscheinen diese Anklagepunkte von 1943 unbedeutend. Doch er hatte mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten gegen § 5
Abschnitt 1 Nr. 3 KSSVO, (2) § 74 RStGB verstoßen und sich, sollte
ein Gericht zu der Einschätzung kommen, dass die Vorwürfe zu Recht
erhoben wurden, des Verbrechens der Wehrkraftzersetzung schuldig
gemacht, auf das die Todesstrafe stand. Bonhoeffer reagierte entsetzt
auf die Vorwürfe, legte Widerspruch ein und versuchte gleichzeitig, sie
zu entschärfen.
»... was schon die Tatsache einer Anklageerhebung wegen Zersetzung der Wehrkraft für mich beruflich, persönlich und familiär bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu sagen«, schrieb er Roeder gereizt in
einem Brief vom 2. August. »... dafür kennen Sie meine beruflichen
und persönlichen Verhältnisse gut genug. Wenn das Gesetz die Anklage fordert, so muß sie geschehen, das verstehe ich. Daß ich sie nicht
erwartet habe, mag auf der mir fehlenden Kenntnis des Gesetzestextes
wie auch auf der Tatsache beruhen, daß ich mich dem Vorwurf der
Zersetzung der Wehrkraft gegenüber schuldlos gefühlt habe und nach
erneuter Prüfung dessen, was Sie mir am Freitag gesagt haben, auch
immer noch fühle.«
Doch Unkenntnis der Gesetze ist keine gute Verteidigung. Bonhoeffer aber tat bewußt naiv in den Briefen, die er Roeder schrieb,
so, als hätte er den Ernst der Lage noch nicht erkannt oder glaubte,
dass man ihm aufgrund seiner Popularität einen ehrlich zugegebenen
Fehler verzeihen würde. Er beendete den Brief freundlich: »Darf ich
schließlich noch hinzufügen, was eigentlich keines Wortes bedarf, daß
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ich mich für den Fall, daß meine Tätigkeit für die Abwehr nicht mehr
als wichtig angesehen würde, sofort für jeden anderen Dienst zur Verfügung stelle.«40 Davon unbeeindruckt erhob Roeder am 21. September 1944 formell Anklage.
Am 16. September 1943 wurde Kurt Wergin, ein mit Klaus Bonhoeffer befreundeter Rechtsanwalt und Notar, als Verteidiger Bonhoeffers bestellt. Wie Bonhoeffer seinen Eltern am 25. September
schrieb, war er »richtig froh, als gestern erst die Zulassung des Anwalts
und dann der Haftbefehl kam. So kommt das scheinbar ziellose Warten doch wohl bald zum Ende.«41 Er hoffte weiterhin auf ein positives
Resultat und behandelte seine schwierige Lage wie ein nebensächliches Geplänkel: »R. wollte mir am Anfang gar zu gern an den Kopf;
nun mußte er sich mit einer höchst lächerlichen Anklage begnügen,
die ihm wenig Ruhm eintragen wird.«42 Tatsächlich gab es am Ende der
ersten Verhöre noch eine echte Chance, dass er »nicht verurteilt werde,
sondern freikomme«43.
Als Roeder im Zusammenhang mit den parallel stattfindenden
Vernehmungen Dohnanyis seine Aufmerksamkeit dem »Unternehmen 7« zuwandte, hatte es Grund zur Sorge gegeben. Aber da es in
diesem Punkt keine Beweise gegen Bonhoeffer gab, konzentrierte sich
Roeder auf das einzige Thema, das Resultate versprach: Bonhoeffers
UK-Stellung.44 Auch so zogen sich die Verhöre hin, und als eine Reihe
von Unterlagen durch einen Luftangriff zerstört wurde, wuchs Bonhoeffers Hoffnung auf ein gutes Ende des Ganzen. Er schrieb an seine
Eltern dass sie sich »in nicht zu ferner Zeit in Freiheit wiedersehen«
würden.45 Auch wenn er Weihnachten 1943 allein im Gefängnis verbringen musste, war er jetzt voller Hoffnung, dass er nach Neujahr mit
seiner Familie, seiner Verlobten und seinem Freund im hellen Licht
eines Wintermorgens wieder vereint sein würde. An seinem achtunddreißigsten Geburtstag, dem 4. Februar 1944, mehr als einen Monat
später, stellte sich Bonhoeffer in einem Brief vor, wie er und Bethge
wie früher zusammen wären, was eine Flut von Erinnerungen in ihm
auslöste:
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»Vor 8 Jahren saßen wir abends am Kamin zusammen, Ihr
hattet mir das Violinkonzert D-dur geschenkt und wir hörten es
zusammen, dann mußte ich Euch etwas von Harnack und vergangenen Zeiten erzählen, was Euch aus irgendeinem Grunde
besonders gefiel, und schließlich wurde die Schwedenreise definitiv beschlossen. Ein Jahr später schenktet Ihr mir die Septemberbibel mit einem hübschen Votum und Deinem Namen
an der Spitze. Es folgten Schlönwitz und Sigurdshof und viele
feierten damals mit, die nicht mehr unter uns sind. Das Singen
vor der Tür, das Gebet bei der Andacht, das Du an diesen Tagen
übernahmst, das Claudiusʾsche Lied, das ich Gerhard verdanke,
– dies alles bleiben schöne Erinnerungen, denen die scheußliche
Atmosphäre hier nichts anhaben kann. Voller Zuversicht denke ich daran, daß wir Deinen nächsten Geburtstag wieder zusammen feiern und – wer weiß? – vielleicht schon Ostern! Dann
werden wir wieder zu unsrer eigentlichen Lebensaufgabe zurückkehren, und es wird viel und schöne Arbeit geben; und das,
was wir inzwischen erlebt haben, wird nicht umsonst gewesen
sein. Daß wir das Gegenwärtige aber so erleben können, wie wir
es beide tun, dafür werden wir einander wohl immer dankbar
bleiben. Ich weiß, daß Du heute an mich denkst, und wenn in
diesen Gedanken nicht nur das Vergangene, sondern auch die
Hoffnung auf eine – wenn auch veränderte, so doch gemeinsame
Zukunft enthalten ist, dann bin ich sehr froh.«46
Im Gefängnis nahmen Bonhoeffers Gedanken eine neue Richtung,
während er sich gleichzeitig intensiver seinen früheren Leidenschaften
zuwandte wie ein gereifter Künstler, der Pinselstrich auf Pinselstrich
legt.47 Er erinnerte sich an seine Studienjahre und seinen geselligen
Austausch mit den Professoren Adolf von Harnack und Karl Holl. Er
hatte eine nostalgische Sehnsucht nach den verschwundenen Idealen
des deutschen Liberalismus. Es war zehn Jahre her, dass er an der Universität gearbeitet hatte. Er fand wieder Nahrung in »großen geistesgeschichtlichen Bewegungen«48, auch wenn ihre beengenden intellek443
tuellen Grenzen, früher eine Art Schutz, langsam vor seinem neuen
Erwachen zu dem, was er die »Polyphonie des Lebens«49 nannte, zusammenbrachen.
Er sprach von Verlusten, vom Loslassen, von unerfüllten akademischen Ambitionen, von nicht erfüllten Verpflichtungen, von unbeendeten Briefen. Manchmal war die Aufzählung kaum auszuhalten. Aber
er wusste, dass er leicht als jemand hätte enden können, der sich »von
Ereignissen und Fragen zerreißen« ließ.50 Und so machte er sich den
Kopf frei und nahm das Unvermeidliche der Unfertigkeit mancher
Dinge in seinem Leben und selbst seine Einbrüche mit entwaffnender
Dankbarkeit an.
»Aber gerade das Fragment kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen ...«, tröstete
Bonhoeffer sich.51 Wir können uns noch so anstrengen, die einzige Arbeit von Bedeutung vollbringt allein die Gnade. Bonhoeffer war voller
Anerkennung für die Ganzheit, die er erfahren hatte, und wandte sich
den kleinen und manchmal zerbrochenen Dingen zu, nicht in Resignation, sondern in Mitgefühl. »Ein Vers von Storm, den ich dieser Tage
kennen lernte, gehört so ungefähr zu dieser Stimmung und geht mir
immer wieder durch den Sinn wie eine Melodie, die man nicht los wird:
›Und geht es draußen noch so toll / unchristlich oder christlich /
ist doch
die Welt, die schöne Welt / so gänzlich unverwüstlich‹.«52
Ein paar Herbstblumen, die er aus seinem Zellenfenster sehen
konnte, ein halbstündiger Spaziergang im Gefängnishof, ein schöner
Lindenbaum – kleine Herrlichkeiten genügten, um sich der transzendenten Herrlichkeit bewusst zu werden. Er erinnerte sich an die Geschichte von einem Mann, »der bei dem Angsttraum, es könnte einmal
eine Bombe alles zerstören«, dachte: »Es wäre schade um die Schmetterlinge!«53 Am Ende, so Bonhoeffer, »faßt sich, jedenfalls für mich, die
›Welt‹ doch zusammen in ein paar Menschen, die man sehen und mit
denen man zusammensein möchte.«54
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Am 13. Januar, weniger als drei Monate vor seiner Festnahme, hatten Dietrich und Maria sich verlobt, das Ereignis aber aus Rücksicht
auf die Trauer, die im Hause von Wedemeyer nach dem Tod von Vater
und Sohn herrschte, jedoch nur im engeren Kreis der Familie bekannt
gemacht. Nach Bonhoeffers Festnahme war die Neuigkeit dann aber
doch bekannt geworden.55 Ihre kurze Romanze ist eine tragische Geschichte, oft erzählt und fast immer ausgeschmückt, wie zum Beispiel
in einem Film, der in einer Szene zeigt, wie Bonhoeffer und Wedemeyer sich heimlich durch den Stacheldrahtzaun des Konzentrationslagers
Flossenbürg hindurch küssen.
Bonhoeffer gefiel nicht, wie er in seinen Briefen an Wedemeyer auftrat – wie »ein Ausbund von Tugend, Musterhaftigkeit und
Christlichkeit«56, wie ein Märtyrer –, doch er konnte nichts daran
ändern. Er klang oft wie ein Vater, der seiner Tochter mahnende Briefe schreibt. Er stichelte auch, so z.B. wenn er ihre Vorliebe für Rilke aufs Korn nahm. Doch er verschonte sie mit seinen Ängsten, die
er weiterhin ohne zu zögern Bethge offenlegte. Eberhard blieb sein
»wagender und vertrauender Geist«, sein Freund, während Maria
seine Frau werden sollte. Und darin lag der Konflikt. Dessen wurde
er sich immer stärker bewusst. Seine einzigartige Freundschaft mit
Bethge, die er jetzt mehr als je zuvor idealisierte, stellte den freudigen
und befreienden Gegenpart zur Ehe dar, die, wenn immer er darüber
nachgedacht hatte, gleichbedeutend war mit Pflicht, Verpflichtung,
Notwendigkeit und Gesetz: eine Verbindung, die die Erbsünde hervorgebracht hatte.
Am 28. August 1944 schrieb er ein Gedicht zu Bethges fünfunddreißigstem Geburtstag. Die Verschwörung der Offiziere war gescheitert
und Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Friedrich Olbricht, Werner
von Haeften und Albrecht Mertz von Quirnheim waren einen Monat
zuvor gemeinsam exekutiert worden. Das Gedicht hieß schlicht und
einfach »Der Freund«.
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Charles Marsh
Dietrich Bonhoeffer
Der verklärte Fremde. Eine Biografie
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 592 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
30 s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-579-07148-0
Gütersloher Verlagshaus
Erscheinungstermin: März 2015
Die neue Bonhoeffer-Biografie
Dietrich Bonhoeffer, das ist der große, anständige Theologe im Wider- stand gegen Hitler, einer
der Heiligen des 20. Jahrhunderts! 70 Jahre nach seinem Tod scheint seine Geschichte erzählt,
sein Leben begriffen zu sein. Aber: Stimmt das auch? Charles Marsh blickt hinter die Verklärung
Bonhoeffers und bringt in seiner kritischen Biografie dessen Fremdheit neu zur Geltung. Ein
intimes und überraschendes Porträt von einem verletzlichen und witzigen, erfolgsverwöhnten
und zweifelnden, entschlossenen und doch immer wieder zaudernden Mann auf dem Weg zu
sich selbst. Fesselnd und unterhaltsam erzählt.

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