WP 11_2013.indb - Wasser
Transcription
WP 11_2013.indb - Wasser
Nr. 11/2013 • • • • • • LEO LYONS (TEN YEARS AFTER) Boogie im Barrelhouse: LiƩle Brother Montgomery, Sunnyland Slim, Roosevelt Sykes, Champion Jack Dupree Brian Houston - Tim Lothar - Eric Sardinas Album des Monats: Calum Ingram Pianoblues + Neue Musik aus Kanada + Weihnachtsalben Texte von Jürgen Landt, Arthur Kahane, Kurt Tucholsky Bücher von Dirk Uwe Hansen, Paul BeaƩy, Ben Lewis, George MarƟn Editorial 2 © wasser-prawda Editorial Editorial G roße Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Groß immerhin für unser kleines Online-Magazin: Im März werden wir gemeinsam mit dem freiraum-verlag, mit dem wir bei unserem pdf-Magazin zusammenarbeiten, erstmals bei der Leipziger Buchmesse vertreten sein. Doch nicht nur am Stand des Verlages im Getümmel der Verlage wollen wir mit Euch ins Gespräch kommen. Wir wollen auch mit Euch gemeinsam feiern. Nachdem die Autoren des Verlages bei „Leipzig liest“ ihre neuen Werke vorgestellt haben, feiern wir die erste Wasser-Prawda-Party. Live auf der Bühne werden dabei Schneider, Schwarznau und Macht zu erleben sein mit ihrer Musik zwischen Blues, Folk und Americana im Acoustic-Stil. Und wer danach Lust zum Tanzen haben sollte, hat Gelegenheit zu klassischen Soul- und Funksounds, Blues und Rockabilly die Körper zu bewegen. Langsam wird es Zeit, an Weihnachtsgeschenke zu denken. Schon seit ein paar Jahren veröffentlicht unser Autor Karsten Spehr einige seine Fotografien als Kalender heraus. Damit hat man ein hervorragendes Erinnerungsstück an die besten Konzerte und Festivals des Jahres in der Hand. Und mit dem Kauf unterstützt man auch Spehrs Engagement für die Live-Kultur in seiner Heimatstadt Chemnitz, wo er nicht nur ein jährliches Bluesfestival sondern auch Konzerte zwischen Jazz und Bluesrock veranstaltet. 2013 hatte er beispielsweise Moreland & Arbuckle, Lance Lopez und auch The Dynamite Daze in die Stadt geholt. Und im November wird er für die Wasser-Prawda das Festival in Luzern besuchen und mit ein paar Interviews und jeder Menge Fotografien zurück kommen. Zum Jahresende wird es Zeit, auf die Musik zurückzublicken, die wir in diesem Jahr neu gehört haben. Ab 1. Dezember wird dann auf der Homepage der Wasser-Prawda wieder die Umfrage nach den besten Bluesalben des Jahres stattfinden. Noch bis Mitte November werden neue Platten in die Vorauswahl aufgenommen. Wer bei unseren Rezensionen noch wichtige Alben vermisst, sollte uns darauf so schnell wie möglich hinweisen, damit wir unsere Lücken noch rechtzeitig schließen können. Auch nach dem Tod von Alvin Lee kann man Ten Years After noch immer auf den Bühnen dieser Welt mit ihrem Bluesrock erleben. Mit Bassist Leo Lyons hat sich Mario Bollinger (Blue Note Blues Band) nicht nur über Woodstock sondern auch über das Leben eines unermüdlich tourenden Musikers unterhalten. Anlässlich der Wiederveröffentlichung des Livealbums „The Real Honeydripper“ haben wir hier nicht nur eine Biografie von Roosevelt Sykes sondern auch weiterer Pianisten des Barrelhouse versammelt. Zum zweiten Mal veröffentlichen wir in unserem Magazin einen Artikel des Philosophen und Journalisten Peter Kroh zur Situation der Sorben in Deutschland. Unbemerkt vom Rest der Bevölkerung kämpft diese nationale Minderheit in Brandenburg und Sachsen um ihr Überleben und um das Fortbestehen ihrer jahrhundertelangen Siedlungsgebiete, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Braunkohletagebau in der Lausitz immer weiter zusammengeschrumpft sind. © wasser-prawda 3 Editorial Impressum Editorial Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Impressum Computerservice Kaufeldt Greifs- Auf Tour wald. Das pdf-Magazin wird in Zu- Clubs sammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und erscheint in der Regel monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www. wasser-prawda.de verschickt. Wasser-Prawda Nr. 11/2013 Inhalt 3 4 6 7 Musik Zwölftaktige Schürzenjäger oder Die Banalisierung des Blues Letter from the United Kingdom Voll auf die Zwölf! Ten Years After – Wo geht’s lang, Leo Lyons? Redaktionsschluss: 12. No- Boogie im Barrelhouse Little Brother Montgomery (1906-1985) vember 2013 Sunnyland Slim (1906-1995) Redaktion: Roosevelt Sykes (1906-1983) Champion Jack Dupree (1909-1992) Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Pianoblues 2013 Redaktion: Bernd Kreikmann, Nico Brina - Flight 6024 Lüder Kriete, Erik Münnich, The Claudettes - Infernal Piano Plot ... HATCHED! Thomas Scheytt - Blues Colours Dave Watkins Mitarbeiter dieser Ausgabe: • • • • • • Mario Bollinger Gary Burnett Ole Schwabe Karsten Spehr Darren Weale Max Wienold Die nächste Ausgabe erscheint am 19.Dezember 2013. Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 [email protected] Anzeigenabteilung: [email protected] Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats. 4 Brian Houston - In der Dunkelheit scheint ein helles Licht Tim Lothar - Ein Mann und eine Gitarre 8 10 13 18 26 27 29 31 32 34 34 34 35 37 41 Album des Monats Calum Ingram - Making It Possible 44 Rezensionen A bis Z Billy Thompson - Friend Blind Boys of Alabama - I‘ll Find A Way Blues Point - Simply Blues Brian Houston - Mercy (Jesus Don‘t Forget My Name) Calibro 35 - Traditori Di Tutti Carl Verheyen - Mustang Run David Bromberg Band - Only Slightly Mad Forty4 - 44 Minutes Fran McGillivray Band - Some Luck Groove-A-Matics - Keep It Clean Hiss - Das Gesetz der Prärie Holland K. Smith - Cobalt HowellDevine - Jumps, Boogies & Wobbles JC Crossfire - When It Comes To The Blues Jonny Lang - Fight For My Soul Jump Blues Syndicate - Indtroducing The Jump Blues Syndicate Kara Grainger - Shiver & Sigh King Khan & The Shrines - Idle No More Kyle & Moore - The Whale & The Wa‘ah Lightnin‘ Malcolm - Rough Out There Mátyás Pribojszki Band - Treat 46 46 47 47 48 48 49 50 50 51 51 52 52 53 53 54 54 55 55 56 56 © wasser-prawda Editorial Niecie - Wanted Woman Paper Aeroplanes - Little Letters Paul Lamb & Chad Strentz - Goin‘ Down This Road Perrecy - Du bist das Opfer Roy Harper - Man & Myth Sean Chambers - The Rock House Sessions The California Honeydrops - Like You Mean It! Thomas Ford - Breaking Everything But Even Tommy Z - Sometimes Tony McLoughlin - The Contender Van Morrison - Moondance. Expanded Edition Wooden Horse - This Kind Of Trouble 57 57 58 58 59 59 60 61 61 62 62 63 Made in Kanada Dan McKinnon - As Sharp As Possible David Blair - I Hate Liking You Jadea Kelly - Clover Maria In The Shower - The Hidden Sayings of Melanie Dekker - Distant Star New Country Rehab - Ghost of your Charms Soulstack - Five Finger Discount 64 64 64 64 64 65 65 66 Weihnachtsplatten Bright Eyes - A Christmas Album Dieter Kropp - Eine schöne Bescherung 67 67 67 Feuilleton Lausitzer Bodenschätze und der Kueka-Stein „So muß man erzählen!“ 68 72 Bücher Dirk Uwe Hansen: Zwischen unge / sehnen Orten Ben Lewis - Das komische Manifest Paul Beatty: Slumberland George Martin (mit Jeremy Hornsby): Es begann in der Abbey Road 78 80 82 84 Sprachraum Arthur Kahane: Happy end Kurt Tucholsky: Die freie Marktwirtschaft Jürgen Landt: „So schlimm, der letzte Abend?“ 86 91 92 Roman Robert Kraft - Die Vestalinnen © wasser-prawda 94 5 Musik Auf Tour 09.12. Music Live Club, HH 12.12. Club am Donnerstag, B.B. & The Blues Shacks Bergedorf 17.11. Irish Pub, Göttingen 13.12. Kulturrampe, Krefeld 22.11. Räucherei, Kiel 14.12. VHS-Forum, Olpe 23.11. Brunsviga, Braunschweig 15.12. Weihnachtsmarkt, Det06.12. Jazzfreunde Wolfsburg mold 07.12. Bluesnote Bluesinitiative Rheine Francomusique 2013 14.12. Jazzfreunde Burgdorf 09.12. Berlin, Privatclub 19.12. Jazzclub, Hannover 10.12. Hamburg, Übel & Ge21.12. Trellers Chicken Shack, fährlich (Turmzimmer) Woltershausen 11.12. Düsseldorf, Forum Frei24.12. Mühle, Hildesheim es Theater * 29.12. Borkumer Bluesnight 12.12. Köln, Die Wohngemeinschaft** Blue Note Blues Acou13.12. Magdeburg, Moritzhof stic Band: Sa. 16.11.13 Omnibus, Würz- * Buridane + Support: Antoine burg Villoutreix Fr. 22.11.13 Gasthaus Hinter- ** Askehoug + Support: Antoholzer, Hohenthann ine Villoutreix Sa. 23.11.13 Alfonso’s, München Gavin Harrison & Osiric 14.11. Berlin, Crystal Blues Company 20.11. Nürnberg, Hirsch 22.11. Kulturwerk, Nienburg 21.11. CH-Aarburg, Moonwal07.12. Hot Jazz Club, Münster ker 21.12. Divarena, Delmenhorst 03.13. Aschaffenburg, Colos25./26.12. Blue Note, OsnabSaal rück 04.12. Köln, Underground Carl Verheyen Band 15.11. Ludwigshafen, dasHaus 21.11. Bruchsal, Rockfabrik 22.11. Euskirchen, Altes Casino 23.11. Minden, Jazz Club Minden Cologne Blues Club 21.11. Marias Ballroom, HHHarburg 23.11. Savoy, Bordesholm/Kiel 17.12. Mehlsack, Emmendingen 18.12. Chabah, Kandern 17.02. Waldhaus, Weil a.Rhein 08.03. Grend, Essen Dieter Kropp & Band 4.12. Forum, Kirchenlengern 6.12. Kniestedter Kirche, Salzgitter 7.12. Druckerei, Bad Oeynhausen 6 Hamburg Blues Band 19.11. OKV, Ebersbach 21.11. Spizz, Leipzig 23.11. Bluesnight, A-Admont 05.12. Bahnhof Langendreer, Bochum 06.12. Rosenhof, Osnabrück 07.12. Ulmenhofschule, Kellinghusen 14.12. Lehenbachhalle, Winterbach 20.12. HsD Gewerkschaftshaus, Erfurt 21.12. Music Hall, Worpswede 03.01. Café Hahn, Koblenz 04.01. Gasthof zum Bräu, Garching 05.01. Jazzhaus, Freiburg 10.01. Quasimodo, Berlin 11.01. Zur Linde, Affalter 16.01. Harmonie, Bonn 17.01. Rex, Bensheim 18.01. Speicher, Schwerin Henning Larsson 15.11. Essen, Unperfekthaus 16.11. Düsseldorf, Café Checkpoint Marius Tilly Band 15.11. Kamen, En Place 16.11. Rahden, Marktschänke 26.11. Ludwigsburg, Scala Backstage 27.11. Kofferfabrik Fürth 28.11. Interlaken (CH), Brasserie 17 29.11. Bühler (CH), Bluesclub Morblus 12.12. Altdorf, Jimmy‘s Café 13.12. Haiming, Gwölbekeller 14.12. A-Linz, Auerhahn New Country Rehab 15.11. Frankfurt/Oder, Transvocale Festival 20.11. Schneverdingen, La Habana Pokey LaFarge 26.11. Imperial Club, Berlin 27.11. Effenaar, Eindhoven 29.11. People‘s Place Amsterdam (2 Shows!) 30.11. Erasmus Paviljoen, Rotterdam 12.01. De Oosterpoort, Groningen The Holmes Brothers © wasser-prawda Musik 14.11.Bürgerhäuser Dreieich 15.11.Jazz Point Wangen im Allgäu 16.11. Forum Naila 17.11.St.Barbara Zwickau 19.11. Quasimodo Berlin 20.11. Jazz-Club Hannover 21.11. Jazz-Club Paderborn 22.11.Kulturhaus Alter Schlachthof Soest 23.11.Grüner Jäger Lingen 26.11. Kulturzentrum dasHaus Ludwigshafen 28.11. North Sea Jazz Club Amsterdam, Netherlands 29.11. Mezz Breda, Netherlands 30.11. N9 Villa Eeklo, Belgium TODD THIBAUD Duo 17.11.13 Hameln, Sumpfblume 18.11.13 Celle, Aimely 20.11.13 Offenburg, tba 21.11.13 Bad Gandersheim, Klosterhof 22.11.13 Cadenberge, Nacht der Lieder www.toddthibaud.com Will Wilde 16.11. Gewölbe Livebühne Eisching, Haiming 18.11. Further Hof, Düsseldorf 20.11. Downtown Blues Club, Hamburg 21.11. Rainer‘s Rockhouse, Algermissen Clubs Barnaby‘s Blues-Bar (Braunschweig) 15.11. Clem Clempson Band 16.11. Neal Black & Healers 23.11. Abi Wallenstein & Steve Baker © wasser-prawda 28.11. Guru Guru 29.11. Timo Gross 30.11. Modern Earl 06.12. The Kingfish Blues Band feat. Eddie Filipp 07.12. Reggie Worthy feat Ina Zeplin 21.12. Rocking Horse 27./28.12. Booze Band 22. Februar, 20 Uhr, Jan Hengsmith Laboratorium (Stuttgart) 16.11. Carmen Souza 22.11. Ezio 28.11. Electric Blues Duo 29.11. Lucky Peterson 05.12. Danny Bryant Bluesgarage Isernhagen 06.12. Tommy Schneller Band 16.11. Eric Sardinas & Big Mo- 14.12. Hawelka tor 19.12. Bastiao 17.11. Stoppok Solo 20.12. Black Cat Bone 21.11. Bonafide 21.12. Hiss 23.11. Royal Southern Brother- 30.12. Dannemann & Friends hood; Special Guest: Samantha Fish Late Night Blues 26.11. Captain Beefhearts Ma(Loev Hotel Binz/Rügen) gic Band 08.11. Henry‘s Blues Bash 29.11. Ray Wilson & Stiltskin 20.12. Boogie Special: Pertiet 30.11. The Lucky Peterson Maass - Muschalle Band feat. Tamara Peterson 6.12. Wolf Maahn & Band Meisenfrei 7.12. Blue Rose Christmas Par(Bremen Hankenstr.) ty 19.11. Kirsten Thien & Band 13.12. Roger Chapman & The 20.11. Neal Black & The Shortlist Healers 14.12. The Shanes 26.11. Golden State Lone Star 15.12. Eric Bibb & North Revue Country Far 27.11. Gentle Flavour 20.12. Panik Power Band 28.11. Danny Bryant 30.11. Soulfamily Cotton Club Hamburg 18.11. Jan Fischer & Gäste Music Hall Worpswede 25.11. Blue Silver 15.11.2013, Ray Wilson 30.11. Second Live Bluesband 16.11. Basta 16.12. Paul Botter & Jan 20.11.Sophie Hunger Mohr 22.11.Torfrock 23.12. Boogie Rocket 23.11.Torfrock 01.01. Jessy Martens & Jan Fi- 29.11.Quadro Nuevo scher Blues Support 30.11.Damals 10.01. Boogie House 14.12. ERIC BIBB & North Country Far Herzog Ernst 21.12. Hamburg Blues Band & (Celle) Friends 18.11. Josh Smith 26.11. Hamilton Loomis O‘Man River 27.11. Hamilton Loomis (Friedensstraße, Heringsdorf) 15.11. Peter Schmidt Kulturspeicher 22.11. The Blueswalkers (Bergstraße, Ueckermünde) 29.11. Angela Klee 23. November, 20 Uhr, Tempi passati 25. Januar 2014, 20 Uhr, Pete Gavin 7 Musik Kommentar Räucherei Kiel 22.11. B.B. & The Blues Shacks 07.02. Jessy Martens & Band 21.02. Clem Clempson Band Schwarzer Adler (47495 Rheinberg) 30.11. Danny Bryant & Band 14.12. Jessy Martens & Band 26.01. Bernard Allison & Band 15.02. Ben Poole & Band Yorkschlösschen (Yorkstr. 15, Berlin) 15.11. Bruno de Sanctis & Jakkle 16.11. Mi Solar 17.11. Kat Balouns Hot Tub Blues Trio 20.11. Niels von der Leyen Trio 22.11. Blues Power 23.11. The Savoy Satelites 27.11. Jan Hirte‘s Blue Ribbon 29.11. Lenard Streicher Band 01.12. Metropol Swing Trio 04.12. Henry Heggens Blues & Boogie Band 06.12. Acki Hoffmann & Friends 07.12. Those Guys 11.12. Blues Ruy & The Domino Snakes 13.12. Premier Swingtett 14.12. Lionel Haas Club Band 18.12. Felix Zoellner & The Dynacasters 20.12. Kat Baloun‘s Hot Tub Blues Quartet 21.12. Helena & The Twilighters 8 Zwölftaktige Schürzenjäger oder Die Banalisierung des Blues Von der Boulevardisierung der Medien wird gerne gesprochen. Hier die Qualitätsmedien mit ihrem professionellen Journalismus - da der Boulevard, der sich konsequent an der Sensationsgeilheit und dem Bedürfnis nach flacher Unterhaltung orientiert. „Hoffentlich erreicht die Boulevardisierung niemals den Blues“, meinte da kürzlich im Internet ein Bekannter. Doch ist er nicht längst angekommen in dieser Musik? Von Nathan Nörgel. A ls Rezensent hat man es nicht immer leicht. Gerade wenn man sich der Aufgabe verschrieben hat, einer absoluten Spartenmusik mit einer eng umgrenzten Fangemeinde zu medialer Öffentlichkeit zu verhelfen. Jede Woche erscheinen neue Alben und buhlen um einen kleinen Markt, eine Käuferschicht, die im Vergleich zum gesamten Popmarkt eigentlich zu vernachlässigen ist. Und wenn man sich durch den Berg an Neuerscheinungen durchgehört hat, stellt man sich oft die Frage: Was wird davon den Test der Zeit überstehen? Wo ist das Besondere, das herausragende Werk, dass man auch seinen Freunden empfehlen kann, die nicht eingefleischte Bluesjünger sind? Vieles bleibt da nicht übrig. Denn seien wir mal ehrlich: Wie überall ist ein Großteil dieser Musik bestenfalls interessant (sprich: mittelmäßig). Da beherrschen Musiker ihr Handwerk, haben die Skalen und Rhythmen, die Sprache und die Klischees gelernt. Doch macht sie das zu herausragenden Künstlern? Meist nicht. Denn das Handwerk reicht nicht aus. Der Blues ist eben mehr als nur ein Stil, er ist mehr als nur eine Ansammlung von Klischees. Wenn es „echter“ Blues ist, dann müssen da Künstler am Werke sein, die den Mut zur schonungslosen Ehrlichkeit haben, die ihre Verletzlichkeit ebenso wie ihre Stärke in ihre Musik packen, die ihre eigenen Geschichten erzählen und damit die „Gemeinde“ direkt ansprechen. Oft sind die Alben nur Wiederholungen der alten Geschichten. Bei Wettbewerben spricht man oft von der „No Mustang Sally“-Regel, wenn es um die Beurteilung der Qualität einer Band geht. Spricht hier jemand erkennbar eine eigene Sprache - oder holt er nur die sicheren Klassiker heraus, um Stimmung zu machen und Applaus zu ernten? Der „Mustang Sallies“ gibt es viele im Blues: Ob nun zum tausendsten Mal „Sweet Home Chicago“ oder „Rollin & Tumblin“ auf Platte gepresst wird oder der technisch versierte Junggitarrist so spielt, als wolle er Alvin Lees Solo vom Woodstock-Festival in seinem Song an Geschwindigkeit und Notendichte noch übertreffen. Oder es werden Effekte bis zum Exzess bemüht und überstrapaziert, die damals bei Jimi © wasser-prawda Musik Hendrix noch neu und unverbraucht waren. Und wenn eigene Songs geschrieben werden, dann drehen sie sich meist um Frauen und Kneipen. „Im Blues geht es eigentlich nur um Beziehungen,“ meint ein befreundeter Musiker in jedem Konzert. Und jedes Mal bin ich kurz davor, ihm in seine einstudierte Ansage reinzuquatschen: Nein! Blues ist mehr, Blues ist mehr als Kneipenmusik für einen netten Abend. Blues ist mehr als die ständige Wiederholung von Klischees in Text und Melodie. Wirklicher Blues muss mehr sein. Blues nach dem „Mustang Sally“-Schema ist nicht mehr als „Musikantenstadl“ für Gitarrenfreaks! Das ist volkstümliche Musik für Bikertreffs. Das ist Musik auf „Bild“-Niveau! Hier hat der Boulevard längst den Blues vereinnahmt. Man kann sich des Zuchspruchs sicher sein, mit seinem technisch brillianten Solo in der tausendsten Neuinterpretation einer Nummer von Robert Johnson oder von wem auch immer. Aber man macht da nichts anderes als die Schürzenjäger oder die Wildecker Herzbuben. Ein Großteil der Veröffentlichungen im Blues spielt sich mittlerweile auf diesem Niveau ab. Oft gewinnt man damit sogar Preise - denn je individueller, je unvorhersagbarer man mit seinen Songs ist, desto eher ruft man die auf die reine Leere bedachte Bluespolizei auf den Plan. Was störend ist wird ignoriert - oder sofort niedergemacht. Der tausendste Klon von Stevie Ray Vaughan ist immer noch einfacher zu mögen als der Freak, der einem ungewohnte Hörerlebnisse zumutet. Klar bekommen Alben wie die Veröffentlichungen von Anders Osborne großartige Kritiken (völlig zu Recht). Doch wenn man ehrlich sein will: Alben von dieser Qualität gibt es viel zu wenige im Laufe eines Jahres. Und wenn noch unbekannte Musiker mit derartigen Veröffentlichungen auf den Markt kommen, werden sie oft gar nicht erst wahrgenommen. Denn es ist ja so viel einfacher, die Seiten mit den bekannten Namen zu füllen., deren Alben man von den Plattenfirmen problemlos zugeschickt bekommt. Zur ernsthaften Recherche, was denn jenseits des Gängigen im weiten Feld des Blues so passiert, bleibt mir oftmals viel zu wenig Zeit und Kraft übrig. Und damit trage ich selbst auch zu der Boulevardisierung des Blues bei. Schöner Mist! © wasser-prawda 9 Musik Darren Weale’s Brief aus dem Vereinigten Königreich Welcome to the Letter from the United Kingdom Darren Weale Immer mehr Bluesinteressierte melden sich, um mit uns dem Blues in all seinen Spielarten einen Platz in der Medienwelt des Internet zu geben. Ab jetzt wird Darren Weale bei uns regelmäßig in seiner Kolumne „Briefe aus dem Vereinigten Königreich“ über Blues in Großbritannien aber auch über den britischen Blick auf Blues in Deutschland schreiben. Außerdem werden wir von dem Bluesfan, Blogger und Journalisten (u.a. Blues Matters, Blues In Britain) auch Interviews und Rezensionen veröffentlichen. Als Brite ist er ein Fan von Henrik Freischlader und wirft immer auch einen Blick auf den Blues hierzulande. Ich bin schon gespannt, ob das geplante Interview mit Blue Lou Marini über seine neue Band und auch über seine Zeit bei den Blues Brothers zu Stande kommen wird. Wer sich dafür interessiert, was Darren sonst noch schreibt, sollte einen Blick auf seinen Blog http://blogoftheblues.blogspot.co.uk/ werfen. Vor ein paar Jahren gab es eine berühmte britische RadioSerie unter dem Namen „Letter from America“, in der Alistair Cooke nachdenklich Vorgänge in Amerika reflektierte. Mit diesem Brief soll etwas ähliches erreicht werden. Hauptsächlich musikalische, speziell bluesbezogene Vorgänge sollen reflektiert und diese Gedanken mit deutschen Lesern geteilt werden. Von Darren Weale. D a dies der erste „Brief aus dem Vereinigten Königreich“ ist, dachte ich, das Thema solle als Kontrastprogramm Deutschland sein. Es ist eine Ehre, im Wasser-PrawdaMagazin veröffentlicht zu werden. Ihr müsst wissen, dass viele Menschen im Vereinigten Königreich, besonders Musiker, Deutschland und die Deutschen beneiden - obwohl wir normalerweise nicht darüber reden. Es ist allgemeine Meinung, dass Ihr eine besser organiserte Blues-Szene habt. Die Tatsache, dass Deutsche regelmäßig nachts ausgehen, reichlich Bier trinken und dann fröhlich ihren Weg nach Hause gehen, wird sehr bewundert. Doch es ist noch mehr. Ihr könnt die Autobahn auf und ab fahren und tatsächlich pünktlich zum Auftritt erscheinen. Zu den Gigs kommen mehr und auch mehr jüngere Menschen. Und außerdem genieße die Suche nach originaler Musik in Deutschland einen viel höheren Stellenwert. So sagt man zumindest. Ich frag mich, wie es dazu kommt? Es wäre wirklich gut, die Antwort darauf zu wissen. Ein Band-Manager hier sagte mir mals: „Wenn wir das Wort Blues auf das Poster für den Gig schreiben, verlieren wir die Hälfte der Zuhörer.“ Da ist es kein Wunder, dass inzwischen so viele Bands zum Blues Rock, oder noch präziser, zum Rock-Rock-Rock-Blues gehören. Da gibt es etwa The Dave Jackson Band, die für einen British Blues Award nominiert wurde und weiterhin schweren, soulvollen Blues produziert, die mittlerweile als Doom Blues angekündigt werden. Schon interessant! Ein anderer Künstler, der Bassist und Bandleader Nick Cohen hat das Motto „Nick Cohen, Keeps On Goin“. Wenn du Musiker in diesem Land bist, dann brauchst du wirklich den Drive, um ständig in Bewegung zu bleiben. Eine Band, die hier über Nacht ziemlich groß geworden ist, ist The Temperance Movement. Ziemlich lange haben sie so weit ich weiß unbekannt im Underground gespielt. Doch inzwischen hört man sie häufig im Radio und sie bekommen eine Menge Aufmerksamkeit. They kept on goin‘. Ihr habt eines der berühmtesten, wenn nicht sogar das berühmteste unabhängige Blues Label Europas, Ruf Records. Ich traf Thomas Ruf letztens. Er half aus am Merchandising Stand von Samantha Fish und der Royal Southern Brotherhood. Und dass er das macht, sagt eine Menge über den Mann aus. Dann gibt es einen deutschen Gitarristen, wegen dem ich bei einem Konzert in einen Streit geriet. Er spielte, müsst Ihr wissen, 10 © wasser-prawda Musik Ian McHug (DJ und Musiker), Samantha Fish und Thomas Ruf im Club „Under The Bridge“ in London. einige lange Songs während seines Auftritts im Beaverwood Club Links in London. Ein Song war 18 Minuten lang. Könnt Ihr schon raAlistair Cooke - www.bbc.co.uk/ ten, wer es war? Der Streit, den ich hatte, war mit dem Türsteher, programmes/b00f6hbp der meinte, mit solchen langen Liedern könne der Gitarrist wohl niemanden für sich gewinnen. Meine antwort war, dass Leute ge- Billy Walton - www.billywaltonnau das spielen sollten, was in ihnen ist, und wenn es achtzehn band.com Minuten dauern sollte, auch gut! Inzwischen ging das Lied weiter Dave Jackson - http://davejacksonund ich fieberte immer der nächten Wendung entgegen. Ich hab band.wix.com/djblues mich schon bei Stücken gelangweilt, die nur drei Minuten dauer- Nick Cohen - http://www.reverbten, aber nicht bei dieser wesentlich längeren Nummer. (Für das nation.com/nickcohen The Temperance Movement Protokoll: Der Gitarrist war Henrik Freischlader.) Deutschland war wie auch das Vereinigte Königreich, Gast- www.thetemperancemovement. geber für amerikanische Musiker, die oft unbeachtet oder gar com aktiv diskriminiert wurden in ihrer Heimat. Es empfängt noch Ruf Records - www.rufrecords.de/ immer großartige amerikanische Blues-Talente, wie man auf den Henrik Freishchlader - http://henTerminseiten vieler amerikanischer Bands sehen kann. Bald etwa rik-freischlader.de/ wird die Billy Walton Band kommen. Wahrscheinlich werden sie, Willie Nile - www.willienile.com wenn der Artikel veröffentlicht wird, ihre Auftritte im Novem- The Sharpees - http://thesharpees. ber schon hinter sich haben. Ihr solltet mal hören, wie begeistert com/bio einer der Musiker der Band über die Tatsache spricht, dass sie Marcus Bonfanti - www.marcusim Berliner Quasimodo auftreten können. Andere Tourneen, die bonfanti.com demnächst noch kommen werden, sind die von Willie Nile (USA) Henning Wehn - www.henningoder The Sharpees (UK). Deutschland macht definitiv was richtig wehn.de Albany Down - www.albanydown. mit seiner Musik. com © wasser-prawda 11 Musik Natürlich könnte ich auch Fußball erwähnen, will es aber lieber nicht. Jahrzehntelang war Deutschland einer der international ganz Großen. Dann gab es kurz einen Knick, aber nun ist es wieder da. Und diesmal dominiert Eure Liga ähnlich wie Eure Nationalmannschaft. In einer unserer besseren Radio-Shows geht es um Sport. Sie heißt „Fighting Talk“ und läuft auf BBC Radio 5 Live. Der Comedian Henning Wehn, der „Deutsche Comedy Botschafter“ ist brilliant in der Show. Er schreibt über seine Rolle als Henning The Comedy Ambassador auf seiner Homepage: „Das ist nicht der einfachste aller Jobs, weil die Deutschen angeblich keinen Sinn für Humor haben. Henning findet das nicht lustig.“ Ich frag mich, ob er Live-Musik und Blues mag? Vielleicht lade ich ihn mal in eine der denkwürdigeren Veranstaltungsorte ein, die von der Royal Albert Hall in London bis zum Boom Boom Club, einem Bluesclub in Guisborough oder Little Rabbit Barn in Essex reichen, der neben etwas Blues auch eine Menge Americana bietet. Ich könnte noch so viel mehr aufzählen. Und ich werde das auch machen in künftigen Briefen. Darin werdet Ihr auch mehr von unseren bemerkenswertesten Musikern wie der großartigen Stimme von Marcus Bonfanti oder von Albany Down, einem weiteren Künstler, auf den man achten sollte, hören. Be prosperous and enjoy your live music and all that is German! The Royal Albert Hall, London. 12 © wasser-prawda Musik Voll auf die Zwölf! Eric Sardinas im Downtown Blues Club Es gibt wenige locations, die sich nahezu ausschließlich dem Blues bzw. Bluesrock verschrieben haben, der Downtown Bluesclub in Hamburg gehört auf jeden Fall dazu. Wenn man mal auf das Programm dieser Tage schaut, findet man relativ bekannte Namen: Walter Trout etwa, Bernard Allison (Luthers Sohn) oder eben Eric Sardinas, der am 6. November den Klub zum Brennen brachte. Von Billy the Kid. Eric Sardinas wurde durch sein Engagement im Vorprogramm von Steve Vai einem größeren Publikum bekannt. Was einen ProgHelden dazu bringt, einen stilistisch deutlich eingeschränkteren Künstler wie Sardinas ins Vorprogramm zu holen, wurde mir erst nicht ganz klar. Wobei eine optische Ähnlichkeit besteht, wer Sardinas sieht, denkt unweigerlich an Vais´Rolle als Gitarrist des Teufels im Kinofilm „Crossroads“. Und sich einen heißen Shouter als Support zu holen, kann nie verkehrt sein. Sardinas selbst ist dem breiteren Publikum eher unbekannt geblieben, allerdings hatte er einen Song in dem Kinofilm „Daddy ohne Plan“ mit dem Ex-Wrestler The Rock, eine alte Elvis-Nummer „Burning Love“, die auf Sardinas CD von 2008 enthalten ist. Dies war eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen meine Töchter im Tewnie-Alter einen Künstler hörten, der sich in meinem CD-Regal befindet, das ist doch schon mal was. Also, Mittwoch Abend im Downtown Bluesclub, ein Teil des Landhauses im Stadtpark, in dem z.B. Kuno seine Interviews mit Musikern für die Sendung „Kuno“ führt, die auch im GreifswaldTV läuft. Der Klub ist für einen Mittwoch gut gefüllt, ca 150 Leute, meist die Blues-Generation, die ich so ab 45 Jahren und über 90 Kilogramm Körpergewicht ansetzen würde, viele graue Zöpfe, wenige Frauen, Bier ist das vorherrschende Getränk. Die Ansage kommt 10 Minuten nach 20.00 Uhr, dann kommt Sardinas mit seiner Band Big Motor. Schon die optische Erscheinung ist eine klare Ansage: ein schwarzer Schlangenlederanzug, lange schwarze Haare, ein Hut mit einem Alligatorschädel dran. Vor dem Gig hatte ich kurz einen Blick auf seinen Amp geworfen, ein alter JVM 800 Marshall ohne Mastervolume, d.h. ein Amp, bei dem Verzerrung erst ab einer Lautstärke erreicht wird, bei der Herzrhythmusstörungen einsetzen. Mit Sorge denke ich daran, dass meine Ohrstöpsel im Auto liegengeblieben sind. Aber diese Sorge erweist sich als unbegründet. Sardinas beginnt mit ein paar Slideriffs und geht sofort in Kontakt zum Publikum, die ersten Minuten spielt er allein und singt ohne Mikro! Dann donnert die Band in einen schnellen Shuffle und der Wahnsinn geht los. Sardinas Stil kann man mit wenigen Worten beschreiben: voll auf die Zwölf, keine Gefangenen. Es sind an diesem Abend fast ausschließlich 3-Akkord Blues-Shuffle-Stücke, alles Up-Tempo Nummern, was bei diesem Publikum an diesem Abend aber gut funktioniert. Eric spielt als einziger Künstler, den ich kenne, akustische Dobros über einen Röhren-Amp, die damit auf brachiale Lautstärke gebracht werden. Dobros sind eine spezielle Sorte © wasser-prawda 13 Musik 14 © wasser-prawda Musik Akustikgitarre mit einem Resonator aus Metall, der ursprünglich dazu gedacht war, die Lautstärke dieser Gitarren in der prä-Verstärker-Ära zu erhöhen. Der banjoähnliche Klang wird vor allem von Slide-Gitarristen geschätzt, die diese Instrumente aber eben akustisch spielen. Akustik-Gitarren an einem Röhren-Amp entwickeln normalerweise nicht beherrschbare Feedbacks, was ja der Grund für die Entwicklung der normalen E-Gitarre war. Wie Sardinas dieses Problem bei seiner Spielweise löst, weiß ich nicht, evtl. stopft er seine Dobros mit alten Socken aus? Jedenfalls, bei ihm funktioniert das super! Song auf Song kracht ins Publikum, das er auch ständig anspricht „Are you feelin´goooood????!!!!“. Und das Publikum geht mit und fühlt sich gut. Seine Dobro ist offen gespielt mit Kapodaster, also wahrscheinlich in D, mit Kapo spielt er dann in E. Nahezu alle Songs sind in der gleichen Tonart, damit das nicht langweilig wird, muß man gute Bgleitmusiker und einen reichlichen Vorrat an unterschiedlich klingenden Licks haben, was gerade mit einem Slide schwierig ist. Seine Begleitmusiker sind gut, der Bassist, der aussieht wie Dusty Hill von ZZ-Top, spielt einen soliden aber abwechslungsreichen Bass, der mit Effekten oft verfremdet wird und teilweise psychodelisch klingt, auch ein längerer Solospot für Bass und Drums wird eingelegt. Die Songs sind meist Eigene, teilweise werden auch Klassiker geboten wie der Muddy-Waters- Song „I can´t be satisfied“, aber die meistens Songs sind von Sardinas. Das Konzert geht nach zwei Stunden zu Ende, die extrem kurzweilig waren! Es mag subtilere Musiker geben, aber ich bezweifle, dass es viele Bluesmusiker gibt, die eine derart energiereiche und dynamische Show bieten. Großartig! Zum Schluß noch etwas, was ich noch nie erlebt habe: Sardinas kommt nach kurzer Pause in den Klub zurück, signiert CDs und Platten und plaudert lange mit seinen Fans. So fahre ich nach Hause mit dem Gefühl, ein wirklich gutes Konzert gesehen zu haben und mit einer signierten Vinyl-Scheibe von Sardinas. © wasser-prawda 15 Musik 16 © wasser-prawda Musik © wasser-prawda 17 Musik Interview und Live-Bericht Ten Years After – Wo geht’s lang, Leo Lyons? Als ich Leo Lyons das erste Mal mit 100 70 Split (HSS) in Freising gesehen habe, war er der Supporting Act von Johnny Winter. Nach dem Konzert fand ich ihn in der Halle bei seinem Merchandise Stand und ich konnte ganz ungehindert mit ihm ein paar Sätze wechseln. Die Vereinbarung, dann zum Auftritt von Ten Years After am 16. Oktober ein Interview zu machen, ging sehr einfach und schnell vor sich. Nachdem ich beim Venue Joe Gooch noch schnell Hey and Hello gesagt habe und Chick Churchill noch zu helfen versuchte, seine Limonade zu öffnen, kam dann Leo Lyons dazu. Kurz stellte er mir noch den jungen Schlagzeuger seiner Opener Band DeWolff vor, aber davon später mehr bei der Konzertkritik. Hier also „recorded live“, ein Gespräch mit dem Bassisten Leo Lyons. Interview und Text: Mario Bollinger. Fotos: Christophe Rascle. Leo, Du hast gerade das Oktoberfest verpasst. Was kennst Du von München? LL: Ich kenne BMW, weil ich einen solchen Wagen fahre und einige Festivals, weil ich dort schon gespielt habe. Leider kenne ich nicht so viel von München, aber gestern waren wir in Innsbruck, das hat mir sehr gut gefallen. Wenn das Hotel direkt in der Stadt ist, dann nutze ich die Gelegenheit, mal 10 Minuten um das Hotel herum zu spazieren, aber dazu muss mal halt auch früh ausstehen. WP: Woher kommt Ihr und wo geht es hin? 18 © wasser-prawda Musik LL: Ich spiele mit Joe Gooch neben TYA auch bei 100 70 Split und das nimmt mich ziemlich in Anspruch. Mit TYA waren wir jetzt 5 Wochen auf USA Tour, dazu kommen jetzt 4 Wochen Europa und dann geht es 4 Tage später wieder mit 100 70 Split weiter. Da ist man doch schon ganz schön unterwegs. Das Spielen ist toll aber das Reisen strengt an. Das Ganze ist eine Herausforderung WP: Was war die größte Herausforderung, nachdem Alvin Lee die Band verlassen hat? LL: Die Band war zu dem Zeitpunkt nicht sehr aktiv. Wir hatten alle genug von Ten Years After. Ich habe dann einige Band produziert, heiratete zu dieser Zeit, wir bekamen Kinder und ich spielte in verschiedenen Band. Es gab später ab und zu noch Konzerte mit Alvin, aber das hatte keinen dauerhaften Bestand. Ich vermisste damals die Tourneen nicht. Irgendwie erschien das Ganze nicht attraktiv genug. Ich wollte eigentlich lieber nur spielen aber nicht unbedingt auf Tournee gehen. WP: Du spielst in 2 Bands zusammen mit Joe Gooch, nämlich TYA und HSS. Wo ist für Dich der große Unterschied zwischen beiden Band und woher kommt der Name 100 70 Split? LL: Mit HSS spielen wir keine TYA Stücke, wir spielen wesentlich härter und haben mit HSS ein Power Trio gegründet. 100 70 Split bezieht sich auf eine Straßenvergabelung bei mir in Nashville, wo sich die links der Highway 100 und rechts der Highway 70 teilt. WP: Ist es sehr komplex, auf Tournee von TYA auf HSS oder umgekehrt zu wechseln? LL: Nein, das ist eigentlich ganz einfach. Es sind komplett andere Dinge und mit TYA habe ich doch ein ganzes Leben gespielt. WP: Erzählst Du uns etwas über Dein Bass Equipment? Aber gerne! Mit TYA spiele ich einen Leo Lyons Woodstock SIgnature Bass. Ich habe sehr viele Bässe, aber den spiele ich am meisten. Als Verstärker benutze ich einen 900 Shuttle von GenzBenz mit zwei Mark Bass 4*10Zoll Boxen und ein Avalon DI. Wenn ich mit HSS spiele, benutze ich einen Genz-Benz 1200 Shuttle mit 2 Pre Amps und ein Mesa Boogie 6*10Zoll Cabinet. WP: Experimentierst Du noch am Sound und mit dem Equipment? LL: Ja und immer wieder. Als Musiker ist man immer auf der Suche nach dem perfekten Sound. WP: Hast Du noch den originalen Woodstock Bass? LL: Aber natürlich, nur nehme ich ihn einfach nicht mehr mit auf Tour. Es ist zu wertvoll, als dass ich ihn bei Reisen einer Airline anvertrauen würde. Deshalb war ich ganz froh, als mich eine Firma ansprach, einen Replica Bass für mich zu machen. WP: Wie reist Du mit Deinem Equipment? LL: Normalerweise reisen wir und leihen wir uns das Equipment. Meinen kleinen Shuttle 9 GenzBenz Verstärker kann ich praktisch in einem Koffer transportieren und die Boxen leihe ich dann aus. Mit TYA haben wir für die Deutschland Tour unser Equipment hier gebunkert, für die drei Konzerte in Spanien haben wir unsere Ausrüstung dann wieder ausgeliehen und meinen Verstärker hatte ich wieder im Gepäck. Mit HSS sind wir derzeit noch © wasser-prawda Mario Bollinger & Leo Lyons 19 Musik auf UK konzentriert und dort sind wir mit LKWs und Bussen und unserem Equipment unterwegs. In USA leihen wir normalerweise unser Equipment aus. Wir spezifizieren, was wir brauchen und dann bekommen wir das gestellt. WP: Spricht Du Deutsch? LL in fließendem Deutsch: Ich habe deutsch in der Schule gelernt. Es ist nicht mehr sehr gut, aber mit 18 Jahren habe ich in Deutschland gearbeitet, und 1962 sprach fast niemand Englisch. Also musste ich die deutsche Sprache lernen. Wenn ich heute versuche, hier deutsch zu reden, antwortet jeder auf Englisch. WP: Die letzten TYA Veröffentlichungen waren „Evolution“ in 2008 und „The world won’t stop“ von HSS in 2010. Wann gibt es was Neues? LL: HSS hat neue Dinge aufgenommen, 90% der CD ist fertig aber wir kommen nicht dazu , es zu veröffentlichen, was für Februar 2014 geplant ist. Wenn man mit 2 Band unterwegs ist, ist nicht so einfach. Wir haben viel Videomaterial und würden auch gerne mehr DVDs veröffentlichen. Wir planen mit HSS in New York eine Show aufzuzeichnen, aber das ist alles noch in Planung. Eine wahre Herausforderung. WP: Wie lange macht Ihr einen Soundcheck? LL: Dafür brauchen wir nicht mehr lange. Vielleicht mit zwei Songs die Monitore einstellen. Das ist die Hauptsache beim Soundcheck. WP: Viele Musiker wie Alvin Lee und Gary Moore sind gestorben. Ebenso Bluesgiganten aus den USA wie Pinetop Perkins und J.J.Cale. Was hältst Du davon, junge Musiker zu coachen? LL: Ja, viele Musiker sind leider gestorben. Ich möchte das etwas zurückstellen und anders betrachten: Es gibt heute so herrliche Medien wie YouTube, wo man anschauen, was und wie Künstler spielen und daraus lernen kann. Als ich jung war, gab es nur Schall- 20 © wasser-prawda Musik platten, wo wir uns die Songs raus hörten, ohne aber zu wissen wie sie technisch gespielt wurden. Junge Musiker brauchen heute keinen persönlichen Musiklehrer mehr, da es genug Videomaterial zum Lernen gibt. Was sie aber selbst in Schulen nicht lernen ist aber das Feeling beim Spielen. Ich selbst rede gelegentlich mit Musikschulen und bin immer bereit zu einem Fachgespräch. Ich verbringe am Tag mindestens 1-2 Stunden damit, Technikfragen von Musikern zu beantworten, aber ich habe einfach nicht die Zeit, mich intensiver darum zu kümmern. WP: Planst Du wieder als Producer wie bei UFO tätig zu sein? LL: Wenn ich Zeit dazu hätte! Angesichts der vielen verstorbenen Musiker merke ich mehr denn je, wie schnell die Zeit verrinnt. Wir haben dieses Jahr Aufnahmen gemacht, sind mit TYA in USA gewesen, tourten zwei Mal mit HSS und es kommt noch eine dritte Tour dazu. Das Thema ist Zeit. Ich bin in den letzten Jahre immer wieder gefragt worden: „Leo, kannst Du diese Band nächsten März produzieren“ und ich antwortete: „Ich weiß nicht, ob ich dann verfügbar bin“. Ich versuche jetzt die Sachen besser zu strukturieren. Wenn Du einen Touragenten hast, würde er Dich am liebsten 365 Tage im Jahr buchen. So gerne ich das tun würde, möchte ich doch mehr freie Zeitperioden für mich haben, wo ich meine Dinge tun kann. Ich glaube, dass die Herrschaften das jetzt verstehen, dass ich nicht 365 Tage zur Verfügung stehe. Wenn wir also jetzt planen, nächsten Jahr im Mai eine CD zu veröffentlichen, dann kann ich klar „ja“ sagen und muss nicht auf Tournee gehen. Allerdings steht das Tournee spielen bei mir nach wie vor an erster Stelle und Produzieren kommt an zweiter Stelle. Ich bin Toningenieur und bis wir wieder mit TYA auf Tour gingen, war ich damit sehr beschäftigt. © wasser-prawda 21 Musik WP: Du bist 1943 geboren und jetzt 70 Jahre alt. Andere Menschen sitzen in Deinem Alter bereits im Schaukelstuhl und erfreuen sich an den Enkelkindern und Du stehst immer noch auf der Bühne. Joe Gooch ist halb so alt wie Du. Wie schaff st Du es, so aktiv zu bleiben? LL: Ja, Joe könnte mein Sohn sein. Bis zum meinem Bruch des Fußes war ich körperlich sehr aktiv. Aber jetzt fange ich wieder an, ein bisschen zu trainieren. Ich denke aber nicht, dass man bis zum Exzess trainieren muss. Es genügt, vernünftig zu leben und zu lernen, sich zu entspannen. Ich schlafe jetzt viel. Wenn ich auf Tour im Auto bin, schalte ich ab und schlafe. Wir machen 70-150 Auftritte mit TYA, dazu kommen noch 60 Reisetage. Das ist sehr aufwendig. Wenn Du auf Deinen Kalender schaust und eine interessante Stadt sieht, dann reist Du gerne einen Tag früher an oder eine Tag später ab. Dann bist Du zwei Tage zu Hause und schon geht es weiter. Wenn wir diese Tour beendet haben, geht es am 27. Oktober nach Hause und am 1. November weiter. Das ist ziemlich intensiv. WP: Wann schraubst Du das Tempo zurück? LL: Ja, das muss ich wohl. Mit TYA werden wir wohl etwas langsamer machen und dafür HSS weiter aufbauen. Auf HSS liegt momentan mehr Priorität. Das ist die Herausforderung des Neuen. WP: Wie weit weg oder wie nah ist Woodstock für Dich? LL: Woodstock ist immer noch wie gestern, da ich immer noch tagtäglich danach gefragt werde. Das Konzert war weder am Anfang noch am Ende meiner Karriere, aber viele Musiker haben damals nicht geahnt, was mit Woodstock geschaffen wurde. Erst nach der Veröffentlichung des Film wurde die Tragweite bekannt. Für mich war es damals einfach ein Gig, es war gut für TYA und die Zeit war phantastisch und dafür bin ich dankbar. Aber ich lebe jetzt und genieße die jetzige Zeit. Ich arbeite an neuen Projekten und für mich macht es genau so viel Spaß vor hunderten Fans zu spielen als wie damals vor hunderttausenden Fans zu spielen. Viele junge Menschen kommen auf mich zu und sind an dieser Woodstockzeit interessiert. In Deutschland sind die Fans etwas älter aber in Frankreich sind die Fan sehr jung aber sie sind immer daran interessiert. Damals gab es noch eine Mauer und sie lieben die Kleidung und ich gebe Ihnen einen Eindruck von damals, wo Musik noch handgemacht war. WP: Kennst Du den 3. August als internationalen Tag des Blues, der dieses Jahr das erste Mal gefeiert wurde? LL: Nein, leider nicht. WP: Viele Musiker beschweren sich über die geringen Margen aus den Verkäufen über Napster und iTunes . Wie siehst Du die MP3und Downloadmentalität als Musiker, der von der Musik lebt? LL: Ich verstehe die viele junge Menschen, welche diese Internetmedien benutzen. Es sind Plattformen, auf welchen sich junge Musiker einfach bemerkbar machen können. Ich selbst nutze die Möglichkeiten, unterwegs MP3 zu hören. Junge Menschen sind es gewohnt, aber als Toningenieur ist es ein Horror, wenn letztendlich die CD auf einem iPhone über einen Ohrstöpsel abgespielt wird. Als Werkzeug akzeptiere ich die Technologie und Musik wurde immer schon gerippt selbst wenn es früher die Compactcassetten waren. Das Einzige, was ich verwerfe ist, wenn jemand meine Musik kopiert und verkauft. Auch teile ich nicht die Meinung dass Musik frei und umsonst sein muss. Ich stelle dann die Frage, wer die Band und die Aufnahmen bezahlt. Würden die Leute auch auf ihr Gehalt verzichten wenn die Musik frei und umsonst ist. 22 © wasser-prawda Musik Musiker müssen Geld verdienen und wenn die freie Musik Mode macht, gibt es bald keine aufgezeichnete Musik mehr. Die Erlöse aus dem online Verkauf von Musik liegen weit hinter der Kommastelle, sind also nicht signifikant. Ich höre gelegentlich Spotify und wenn mir der Musiker oder seine Musik gefällt, dann kaufe ich auch die Aufnahme. Internetplattfomen sind eine Werbeplattform für junge Band ebenso wie YouTube. Wenn die Plattenfirmen hier eingreifen, könnte es hart werden. Die Einnahmen eines Musikers teilen sich auf in Liveauftritte, CD Verkauf und Download. Die Liveauftritte sind die wesentliche Einnahmequelle der Musiker. Selbst die alten Bands sind wieder auf Tour und das nicht nur die Bands der 60er und 70er sondern auch die Band der 80er und 90er Jahre. Auch Merchandise ist wichtig. Die Tourkosten und Lizenzgebühren sind gestiegen. Die Clubs müssen schließen. Wir beteiligen uns daher oft an den Lizenzkosten der Clubs. Alle Einnahmequellen sind wichtig. Merchandise ist wichtig und es bringt uns in Kontakt mit den Fans, wenn wir unser Produkte verkaufen. Für mich sind die Downloadeinnahmen marginal aber, aber Topacts könnten doch hier ein anderes Verhältnis dazu haben. Ich würde junge Bands wirklich motivieren, auf Tour zu gehen, um zu spielen, spielen, spielen. Nach dem Interview mit Leo Lyons folgte das Konzert der Ten Years After in der großen Halle des Backstage in München. Das Publikum der fast gefüllten Backstagehalle war durchgängig mit älteren Fans besetzt. Zwischendurch konnte man auch Familienväter mit ihrem Nachwuchs ausmachen. Als Opener stand DeWolff auf der Bühne. Die 3 blutjungen Musiker auf den Niederlanden kamen mit den Brüdern Pablo (guitar) und Luca van de Poel (drums) und dem Keyboarder Ron Piso auf die Bühne. DeWolff überraschte mich erst mal, weil sie ohne Bassisten auftreten. Aber schnell wurde klar, dass die linke Hand der Organisten Ron Piso das komplett ausglich. Die Band bestach durch einen authentischen Stil der englischen Bluesrockband der 70er Jahre. Bei verschlossenen Augen hätte man auch Deep Purple oder die Altmeister Ten Years After selbst auf der Bühne vermuten können, wobei ich bei DeWolff nur selbstgeschriebenes Material gehört habe. Auch optisch fühlte man sich in diese Zeit zurückversetzt: Eine alter Hammondorgel im Gelsenkirchner Barock, ein Slingerland Drumset und eine Gibson Firebird sind die Insignien dieser Zeit. Wie mir Paco aber hinter erzählte, ist die Firebird neueren Datums aus diesem Jahrtausend. Nach eine überzeugenden Darstellung räumten die Jungs die Bühne, um den Altherren des englischen Bluesrock Platz zu machen. Dann kamen die alten Herren auf die Bühne: Chick Churchill an der Orgel, Ric Lee an einem riesigen Drumset, Leo Lyons mit seinem Signature Bass und der Youngster der Truppe Joe Gooch an der Fender Stratocaster. Nach ein paar neueren Nummern schwenkte Ten Years After komplett auf die „Recorded Live“ © wasser-prawda 23 Musik DeWolff (oben), Joe Gooch (links) Rechte Seite: Ric Lee Schiene ein. Auch wenn Joe Gooch in die riesigen Fußstapfen von Alvin Lee gestiegen ist, meistert er das mit Bravour. Jedes Solo hat zwangsweise einen kleine Alvin Lee Touch und dennoch ist eine Joe Goochs Handschrift immer mit dabei. Nicht umsonst spielen Leo Lyons und Joe Gooch in dem Power Trio 100 70 Split, um genau diese Pfade zu verlassen und den eigenen Stil zu pflegen. Nach Nummern wie „Big black 45“ folgen die bekannten Songs wie „50000 Miles beneath my brain“ und dem Ric Lee Song „Hobbit“ mit einem gigantischen Drum Solo. Nach dem Solo kam Ric erst mal zum Mikrophon, um die Band vorzustellen und sich selbst eine Verschnaufpause zu gönnen. Alle original Ten Years After Mitglieder sind jeweils knapp 70 Jahre als und es verlangt Respekt, wenn Musiker wie die Ten Year After auf die Bühne gehen und eine körperlich anstrengende 2 Stunden Show abliefern. Dann folgten Nummern wie „Love you like a man“. Leo selbst kündigte dann „I’d love to change the world” an, um ihn Alvin Lee zu widmen. Hier hatte Joe Gooch die Fleissaufgabe, die Alvin Lee Solos durchblitzen zu lassen. Bei „Good morning little schoolgirl“ liess Leo Lyons seine Finger in atemberaubender Geschwindigkeit über die Basssaiten zum Solo laufen. Aber genau so kennt man ihn. Die Nummer, mit der TYA auf Woodstock 24 © wasser-prawda Musik der Karren förmlich aus dem Dreck zog war damals „I’m Going home“. Joe Gooch brillierte hier an der Gitarre und stand Alvin Lee nicht viel nach. Joe überzeugt durch perfekte Geschwindigkeit. Mit der Zugabe von „Choo choo mama“ war das Programm und der Abend perfekt gelaufen. Nach ein paar Minuten Verschnaufpause standen alle vier Musiker am Merchandise Stand und beantworteten Fragen und signierten Schallplatten und Poster. DeWolff waren ebenso am Stand und freuten sich, neben den Altmeistern zu agieren. Wie Leo beim Interview bereits sagte, sind wieder viele Heritage Bands unterwegs und die beweisen selbst mit nahezu 70 Jahre alten Musikern, dass sie die Musik von der Pieke auf gelernt haben und diese Lebensleistung weiterhin begeisternd ins Publikum transportieren können. © wasser-prawda 25 Musik Pianoblues B B In den New Yorker Cafés sorgten Pianisten wie Meade Lux Lewis oder Albert Ammons für eine wahre Boogie Woogie Hysterie: pianistische Höchstleistungen auf der Basis von Blues. Und Musiker wie Leroy Carr brachten mit ihren lyrischen Songs auf Klavier und Gitarre den Blues in die Radios der Hausfrauen. Klavierspieler wie Little Brother Montgomery, Memphis Slim oder Champion Jack Dupree kamen eher aus anrüchigeren Etablissements. In den Barrelhouses, improvisierten Kneipen etwa in Holzfällerlagern wurde ein anderer Blues am Klavier gepflegt. Vier Biografien von Raimund Nitzsche. W o der Schnaps gleich vom Fass in die Gläser und in die Kehlen fließt, da kommt es nicht auf Fingerfertigkeit und kompositorische Rafinesse an. Wer hier als Musiker Erfolg haben will, muss die richtige Unterhaltung für ausgelassene Wochenendvergnügungen bieten. Ein solider Boogie-Rhythmus ist natürlich wichtig. Aber auch die Texte sind hier keine melancholischen Weltbetrachtungen sondern Songs über Alkohol und Frauen. Und das nicht versteckt und verschämt in Metaphern sondern oft direkt und roh. Oder aber so grell verfremdet, dass jeder sofort verstand. 26 © wasser-prawda Musik Wie das Erbe des Deltas auf dem Piano klingen kann, das zeigt eine Aufnahme von 1924. Der damals erst 14jährige Hersal Thomas zählte trotz seiner Jugend zu den besten Pianisten in Chicago, er spielte mit Bluessängerinnen zusammen und selbst mit Louis Armstrong. Sein Stück „The Fives“ ist nicht mehr wirklich Ragtime – und noch nicht Boogie (auch wenn Thomas für viele Pianisten einer der „Erfinder“ des Boogie war). Doch es bringt den rockenden Beat der Stadt zusammen mit den Tanzmelodien und dem Anklang des Deltas. Damit ist Thomas auch eines der Vorbilder des Barrelhous-Pianos. LiƩle Brother Montgomery (1906-1985) E r war einer der vielseitigsten Bluespianisten überhaupt. Little Brother Montgomery spielte schon in den 20er und 30er Jahren mit Skip James und anderen. Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte er zu den wichtigsten Pianisten in Chicago. Als er am 6. September 1985 in Chicago starb, konnte er auf mehr als 50 Jahre als Bluespianist zurückblicken. Er spielte Blues, Jazz und Boogie Woogie – sowohl auf ungezählten Partys, in Clubs oder selbst in der Carnegie Hall (das war 1948 gemeinsam mit der Jazz Band von Kid Ory). Little Brother Montgomery war einer der vielseitigsten Bluespianisten überhaupt. Er spielte Boogie, Blues aber auch reinen New Orleans-Jazz. Der Legende nach soll er schon kurz nach seiner Geburt angefangen haben, sich einfache Blues-Pattern mit drei Fingern auf dem Klavier beizubringen. Und so wurde er schon als Kind mit dem Bluesernamen „Little Brother“ gerufen. Die Grundlagen des Klavierspiels hatte er sich beim Beobachten der Spieler angeeignet, die in seines Vaters Kneipe seiner Gegend auftraten. Spä- © wasser-prawda 27 Musik ter kopierte und adaptierte er die Blues der älteren Musiker und machte sie sich zu eigen, auch das Umformen von populären Hits der Zeit in den Piano-Blues. Auch der Rest seiner Familie war musikalisch: sein Vater spielte Klarinette, die Mutter Akkordeon und Orgel. Und auch seine neun Geschwister spielten alle mehr oder weniger gut Klavier. Mit 11 Jahren machte er sich als reisender Pianist selbstständig, kam nach New Orleans und später nach Chicago. Seinem erstem Job bekam er in einer Kneipe in Holton, Louisiana, wo man ihm acht Dollar die Woche (plus Kost und Logis) zahlte. Innerhalb eines Jahres hatte er seine Gagen mehr als verdoppelt. Mit den deutlich älteren Pianisten Long Tall Friday and Dehlco Robert entwickelte er eine neue Form des Blues-Piano, die sie „The Fourty Fours“ nannten. Dabei spielten beide Hände in unterschiedlichem Zeitmaß. Das Ergebnis, so Montgomery später war „the hardes barrelhous blues of any blues in history“. Bis zur großen Flut des Mississippi spielte er in Louisiana, später zog er durch Mississippi und Arkansas bis er schließlich 1923 nach New Orleans kam. Dort war mittlerweile der Jazz in hoher Blüte und die Stadt war voller hervorragender Klavierspieler, die um die Wette spielten. Dann zog er mit eigenen und fremden Bands aber auch im Duo mit solchen Gitarristen wie Skip James oder dem Pianisten Sunnyland Slim durch die Kneipen der Region. Schließlich wurde er 1928 von den Clarence Desdune‘s Dixieland Revelers angeheuert, einer Tanzband. Das war für ihn eine gewaltige Herausforderung, denn die Band spielte komplett nach Noten. Und das hatte er bislang noch nicht gemacht. Doch mit Hilfe anderer Bandmitglieder konnte er schon bald so tun, als würde er die Pianostimmen wirklich vom Blatt spielen. Mit den Revelers zog er 28 © wasser-prawda Musik nach Chicago, wo er sich auch als Solist einen Namen machte bei House Rent Parties in der Nachbarschaft seiner Wohnung. Hier spielte er nicht mehr Jazz sondern nur noch Blues und Boogie. 1930 begann seine Plattenkarriere. Doch bald danach zog er zurück in den Süden und ließ sich in Jackson, Mississippi nieder. Schon 1935 war er aber wieder in den Plattenstudios zu finden. Für Bluebird, das damals führende Label, nahm er 32 Titel auf. 1942 zog er zurück nach Chicago, wo er weiter Platten aufnahm – aber vor allem die nächsten 40 Jahre in den Kneipen, Clubs und Hotel-Lounges auftrat (wenn er nicht gerade auf Tour oder als Begleiter anderer Musiker im Studio war). So spielte er etwa mit Sippie Wallace, mit Otis Rush oder Magic Sam. In Europa wurde er vor allem als Teilnehmer der American Folk Blues Festival bekannt. 1967 heiratete er Janet Floberg und gründete sein eigenes Label FM, benannt nach dem glücklichen Paar. In den nächsten Jahren nahm er dann viel in seinem Wohnzimmer auf. 1982 entstanden seine letzten Aufnahmen. Insgesamt hat er rund 30 Alben veröffentlicht. In seiner Musik verbanden sich der Boogie aber ebenso der lyrische Blues von Carr (man muss ja immer auf die Frauen Rücksicht nehmen!) mit Jazzanklängen, mit Ragtime, mit Unterhaltungsmusik, eigentlich mit allem, was gerade gefragt war. Aber selbst so bekannte Nummern wie der „Cow Cow Blues“ von Cow Cow Davenport klingen in seiner Version wesentlich härter und brutaler als bei seinem Schöpfer. Sunnyland Slim (1906-1995) G eboren wurde Sunnyland Slim als Albert Luandrew in einem Nest in der Nähe von Vance, Mississippi, am 5. September 1905. Seinen ersten Musikunterricht erhielt er nicht am Klavier sondern am Harmonium. Und schon bald spielte er in sämltichen Kneipen und Kinos des Deltas bis er sich Ende der 20er Jahre in Memphis niederließ. An der Beale Street traf er unter anderem mit Little Brother Montgomery und Ma Rainey zusammen. Dort legte er sich auch seinen Künstlernamen zu, benannt nach einem seiner Hits. „Sunnyland Train“ ist ein Stück über einen Zug von St. Louis nach Memphis, der so schnell fuhr, dass viele Menschen durch ihn zu Tode kamen, die die Gleise an der falschen Stelle überqueren wollten. 1939 schließlich zog er nach Chicago, wo er schnell ein gefragter Begleiter diverser Musiker wurde. So spielte er eine ganze Weile mit John Lee „Sonny Boy“ Williamson zusammen. Schließlich landete er bei Chess Records (als sie noch Aristocrat hießen) und sorgte damit für den Beginn der Karriere von Muddy Waters. Denn es war eine Session Slims, bei der Waters im Jahre 1947 erstmals im Studio aufgenommen wurde. Aristocrat war nur eines der vielen Labels, für die Sunnyland in den 40er und 50er Jahren spielte: Hytone, Opera, Chance, Mercury, Vee-Jay, Cobra. Und gleichzeitig war er auch auf zahllosen Sessions anderer Musiker mit seinem prägenden Bluespiano vertreten. 1960 erschien schließlich mit „Slims Shout“ (Bluesville Records) eines seiner besten Alben überhaupt herauskam. Begleitet wurde er darauf unter anderem von King Curtis am Tenorsaxophon. © wasser-prawda 29 Musik Oben: Sunnyland Slim - Unten: Roosevelt Sykes. 30 © wasser-prawda Musik Auch wenn sich der Stil des Blues etwa durch die Invasion der jungen Briten veränderte, blieb Slim sich und dem Chicago-Blues der 50er Jahre treu. Das kann man auch auf Alben wie „Be Careful How You Vote“ (Earwig) hören, das Aufnahmen vereint, die er ursprünglich auf seinem eigenen Label Airway Records veröffentlicht hatte. Hier wird er unter anderem von den Gitarristen Lurrie Bell und Eddie Taylor oder dem Organisten Eddie Lusk begleitet. Auch wenn er in den späteren Jahren immer mal wieder durch Krankheit am Musizieren gehindert wurde, blieb Sunnyland Slim doch bis kurz vor seinem Tod einer der entscheidenden Pianisten in der Chicagoer Szene. Am 17. März 1995 starb er schließlich an Nierenversagen, die er sich auf Grund von Komplikationen eines Sturzes bei Glatteis zugezogen hatte. Da war er auf dem Heimweg von einem Auftritt gewesen. Roosevelt Sykes (1906-1983) E r zählte zu den ersten Bluespianisten, die Platten veröffentlichten. Schon seine erste Aufnahme im Jahre 1929, der „Forty Four Blues“ wurde zum Standard. Bis zu seinem Tode war Roosevelt Sykes mit seinem Spiel zwischen Boogie, Barrelhouse und Ragtime in aller Welt erfolgreich. Eine Konzertaufnahme aus dem Jahre 1979 ist jetzt erstmals auf CD wiederveröffentlicht worden. Man nannte ihn den „Honeydripper“ wegen der Art, wie er mit Frauen sprach. Doch wenn Roosevelt Sykes am Klavier saß, dann war da von Süßholzraspelei nichts zu spüren. Hier spielte einer, der sein Handwerk in den billigen Kneipen in der Region von St. Louis und Arkansas erlernt hatte. Und da kam es auf Tanzbarkeit und den typisch anzüglichen Humor der Barrelhouses an. Geboren wurde Rossevelt Sykes am 31. Januar 1906 in Elmar (Arkansas). Als Kind lernte er in der Kirche das Orgelspiel. Und das bot ihm schon als Teenager die Möglichkeit, als Klavierspieler Geld zu verdienen. Als die Familie Anfang der 20er Jahre nach St. Louis zog, hatte er schon bald den Ruf als einer der besten Pianisten der Stadt. 1929 schickte ihn ein Talentsucher für Aufnahmen nach New York. Und schon sein „Forty Four Blues“ war so erfolgreich, dass er nicht nur für OKeh sondern auch als Dobby Bragg, Willie Kelly oder Easy Papa Johnson für andere Label Platten produzierte. 1935 ging Sykes zu Decca Records, was seine Popularität noch weiter steigerte. Von St. Louis zog er weiter nach Chicago, wo er mit seiner Band The Honeydrippers auch für Bluebird im Studio stand. Inzwischen war er so beliebt. dass er einer der wenigen Bluesmusiker war, die auch während der Schellakrationierung im Zweiten Weltkrieg regelmäßig neue Songs veröffentlichen konnte. Als nach dem Krieg in Chicago der Blues immer lauter und elektrischer wurde, hat sich Sykes nach New Orleans verzogen. Dort war seine akustische Musik noch lange ebenso gefragt wie beispielsweise auf den europäischen Bühnen. Nicht nur mit dem American Folkblues Festival sondern auch unabhängig davon war der Pianist einer der eifrigsten Bluesbotschafter hierzulande. Verpackt in hämmernden Boogie sang Sykes Blues, die zu den unterhaltsamsten überhaupt gehörten. Er verpackte eindeutige se- © wasser-prawda 31 Musik xuelle Anspielungen in Texte wie „Dirty Mother To You“. Und er hat absolut zeitlose Klassiker wie „Night Time Is The Right Time“ verfasst. Mit wieviel Humor und Energie Sykes live auch in späten Lebensjahren noch das Haus gerockt hat, zeigt jetzt eine Wiederveröffentlichung einer 1977 entstandenen Live-Aufnahme. Auf „The Real Honeydripper“ bieten quasi einen Überblick über die lange Karriere des Pianisten. Von Cow Cow Davenports „Cow Cow Blues“ aus dem Jahre 1928 oder dem Bluesklassiker „St. James Infirmary“ bis hin zu seiner ganz eigenen Interpretation von Ray Charles „What‘d I Say“, vom Sound aus New Orleans bis hin zu den Swingclubs aus Harlem reichen die Anspielungen. Und Sykes bringt - auch das gehörte bei im immer zum Programm jede Menge humorvoller Lieder unter. Bei „I‘m A Nut“ nimmt er sich selbst absolut auf die Schippe. Und „Don‘t Talk Me To Death“ möchte man selbst immer mal wieder ausrufen. Und dann gibt es noch alte Jazz-Klassiker wie „Please Don‘t Talk About Me“ und Evergreens wie „Honeysuckle Rose“. Bei den Aufnahmen im Blind Pig in Ann Arbor (Michigan) waren einige Besucher übrigens ganz schön schwatzhaft. Die gröbsten Störer wurden bei der Wiederveröffentlichung entfernt. Und außerdem wurden mit „St. James Infirmary“ und „Don‘t Talk Me To Death“ zwei ursprünglich nicht auf LP gepresste Stücke des Konzertes mit aufgenommen. Damit ist „The Real Honeydripper“ ein Paradestück eines der wichtigsten Bluespianisten des 20. Jahrhunderts. Und es ist eine äußerst unterhaltsame Unterrichtsstunde für die verschiedensten Spielweisen zwischen klassischem Barrelhouse, Boogie Woogie, Jazz und Stride-Piano. (Blind Pig) Champion Jack Dupree (1909-1992) A uch der 1909 in New Orleans geborene Champion Jack Dupree gehört in diese Kategorie der Kneipenpianisten. Seine Eltern kamen durch einen vermutlich vom Ku Klux Klan gelegten Brand um, als er noch ein Baby war. Und so wuchs er im „Colored Waifs‘ Home for Boys“ in New Orleans auf, wo auch Louis Armstrong eine Weile erzogen worden war. Dort lernte er das Klavierspielen. Später, nachdem er sich noch Tipps von Barrelhouse-Pianisten wie Willie Hall geholt hatte, verdiente er sein Geld in den Bordellen und Bars im French Quarter von New Orleans. Um 1930 verließ Dupree den Süden, schaff te es aber nicht, in der Bluesszene von Chicago oder Detroit Fuß zu fassen. Und so wurde er Profiboxer und brachte es auf mehr als 100 Kämpfe und errang den Leichtgewichttitel in Indiana. 1940 begann seine musikalische Karriere endlich wieder an Tempo zu zu nehmen, als er vom Chicagoer Bluespapst Leser Melrose ins Studio geholt wurde. Doch auch diesmal dauerte es nicht lange – 1942 wurde er zur Navy eingezogen und musste als Koch im pazifischen Kriegsgebiet arbeiten. Hierbei geriet er in japanische Kriegsgefangenschaft, überlebte zwei Jahre in einem Gefangenenlager. Nach dem Krieg ließ er sich in New York nieder, wo er für verschiedene Plattenfirmen Aufnahmen machte und in den Zwischenzeiten als Koch sein Geld verdiente. Trotz kleinerer Hitparadenerfolge kam er mit dem alltäglichen Rassismus in den USA nicht zurecht und zog nach dem Vorbild von Memphis Slim 1959 nach 32 © wasser-prawda Musik Champion Jack Dupree bei einem Konzert in Hamburg in den 70er Jahren. Paris und später nach Zürich. Auch in Dänemark und schließlich in Hannover lebte er einige Jahre. In Europa wurde er endlich als bedeutender Bluespianist gewürdigt und konnte für mehr als ein Duzend verschiedene Firmen Platten mit seinem rauhen Blues einspielen und schaff te es, von seiner Musik zu leben. 1970 tauchte er sogar im legendären Beat-Club des NDR auf. Selbst in der DDR war er mehrfach zu Gast und wurde gefeiert. Als Kneipenpianist erzählte er eigene Geschichten in seinen Liedern, Erinnerungen etwa an die Zeit mit Louis Armstrong im Waisenhaus oder an die große Bluessängerin Victoria Spivey – er nahm aber immer auch die Titel anderer angesagter Musiker in sein Programm auf. Etwa von John Lee Hooker, von CCR oder anderen Rockmusikern. Hier wurde deutlich, dass aus jedem Song ein ordentlicher Kneipenblues werden konnte. Neben klassischem Solopiano oder Aufnahmen mit Klavier und Schlagzeug nahm er auch gemeinsam mit kompletten Bluesbands auf. Erst 1990 kehrte er für Konzerte und Plattenaufnahmen nach New Orleans und Chicago zurück. Mit ihm starb 1992 einer der letzten Pianisten der Barrelhouses. © wasser-prawda 33 Musik Pianoblues 2013 Die Frauen und Männer am Klavier spielen heute im Blues eine Nebenrolle. Bemerkenswerte Alben sind da neben zahllosen Gitarristen und Harpspielern eher die Ausnahme. Aus den letzten Jahren sind neben Marcia Ball vor allem das Album von Chuck Leavell und die „Masterpieces“ von Henning Pertiet in Erinnerung geblieben. Drei unterschiedliche neue Scheiben sind in den letzten Wochen hier angekommen. Und überraschenderweise stammen gleich zwei von ihnen von Stormy Monday. Records. Von Raimund Nitzsche. Nico Brina - Flight 6024 Als schnellster Boogiespieler hat es der Schweizer 1996 ins Guinnes Buch der Recorde geschaff t. Jetzt ist der Pianist Nico Brina beim deutschen Label Blue Monday gelandet und hat mit „Flight 6024“ ein Album voller Pianoblues und Boogie Woogie veröffentlicht. Dass Musiker Loblieder auf ihre Plattenfirmen auf ihre Alben packen, ist nicht wirklich neu, wenn auch relativ selten geworden in Zeiten mangelnden Einflusses der Label auf die Karrieren der Künstler. Neu im Club ist jetzt das deutsche Label Stormy Monday Records, denen Nico Brina jetzt einen „StoMo Boogie“gewidmet hat. Und es ist auch hochverdient, hat doch dieses kleine Label für die europäische Blues- und Boogieszene in den letzten Jahren immer mehr als Heimstatt traditionellerer aber auch rockiger Bluesklänge herausgebildet. „Flight 6024“ ist zum Glück kein reines Boogiealbum, sondern eine gelungene Mischung aus Boogies, klassischem Rhythm & Blues, Pianoblues, aus Klassikern und eigenen Kompositionen geworden. Und da passt der Opener von Doc Pomus „A Mess of Blues“ hervorragend als Motto. Brina kann dabei nicht nur als Pianist sondern auch als Sänger absolut überzeugen. Vom Boogie bekommt man hier genug zu hören. Doch auch auch purer Rock & Roll erklingt („Mean Woman Blues“) oder auch lyrischer Blues in der Nachfolge von Leroy Carr und seinen Jüngern. Begleitet wird Brina von Schlagzeuger Tobias Schramm und Gitarrist Pete Borel. Nicht nur im Titelsong wird klar, dass das keine einfachen Begleitmusiker sind, sondern Solisten, die gleichberechtigt musikalische Ideen entwickeln und in den Song einbringen können. So kommentiert Borels Gitarre in „Confessin The Blues“ den Gesang, das Schlagzeug legt in „Beginning To Realize“ einen Groove, dem man sich nicht entziehen kann und der zunächst so gar nicht zum traditionellen Bluespiano zu passen scheint. Doch in der Mixtur wird klar, dass man Nino Brina unbedingt in den nächsten Jahren im Blick behalten muss. Und zwar nicht als Kuriosität aus dem Buch der Rekorde sondern als einen der wirklich wichtigen Pianisten und Interpreten im traditionellen Pianoblues. (Stormy Monday) The ClaudeƩes - Infernal Piano Plot ... HATCHED! Was die Black Keys für den Bluesrock sind, das machen The Claudettees für den Pianoblues: Heftig rockend, rotzig frech und mit der Energie des Punk wird hier ein Kneipenblues zelebriert, 34 © wasser-prawda Musik der den normalen Boogiepianisten wie einen gelackten Schönling aussehen lässt. Pianist Johnny Iguana und Schlagzeuger Michael Caskey haben Jahre lang in Bands etwa von Junior Wells, Buddy Guy oder Koko Taylor gespielt. Als The Claudettes haben sie dann als Hausband in diversen Bars ihr Geld verdient. Und dort muss ihnen die Idee zu ihrer aufregend überdrehten Musik gekommen sein: Barrelhouse-Blues vermixt mit Jazz, etwas Tango und Pop werden mit überdrehter Wildheit gespielt, als würde man Filmmusik zu überdrehten Comix von Tex Avery oder seinen Nachfahren produzieren. Hier treffen Ray Charles und Boogie Woogie, New Orleans und klassischer Rhythm & Blues aufeinander und werden als atemloser Klavieraufstand auf den Hörer losgelassen. Wenn Pianoblues wie bei den Claudettes dargeboten wird, dann sollte man sich um die Zukunft nicht allzuviele Sorgen machen müssen. Zumindest wenn das Album möglichst viele Hörer bekommt. Verdient hat es das auf jeden Fall. (Yellow Dog Records) Thomas ScheyƩ - Blues Colours Aus Freiburg stammt der Pianist Thomas Scheytt. „Blue Colours“ ist sein drittes Soloalbum und beinhaltet 13 Stücke aus der ganzen Bandbreite des Blues auf den 88 Tasten. Es sind kleine Geschichten, die Scheytt meist allein am Klavier erzählt. Oft sind es seine eigenen, andere stammen von(Hoagy Carmichael oder Hans-Jürgen Bock. Und wenn er erzählt, dann verwendet er sämtliche Möglichkeiten des Pianoblues: klassisch, Boogie Woogie oder auch vom Ragtime beeinflusste Spüielweisen. Und Scheytt verlässt sich ganz auf sein variables und emotionales Spiel: Oft sind es die melancholischen Momente, die er schildert. Ab und zu bricht aber auch die Reiselust, die pure Lebensfreude oder auch tiefe Romantik durch. Und selbst bekannte Nummern wie „Georgia On My Mind“ oder dem Gospel „Put Your Hand In The Hand“ werden ganz ohne Text und weitere Instrumente zu Neuentdeckungen. Wo viele Boogiepianisten der Versuchung unterliegen, mit möglichst vielen Noten die Hörer zu blenden, beherrscht er die Kunst, auch mit den fortgelassenen Tönen spannend zu erzählen. Nur zwei Stücke haben eine Schlagzeugbegleitung (gespielt von Hiram Mutschler), bei „Hansjakobstrasse 110 spielen Enzo Randazzo (washboard) und Bassist Ingo Rau mit. Insgesamt ist „Blues Colours“ ein überzeugendes und in seiner Unaufgeregtheit großartiges Album nicht nur für Bluesfans. (Stormy Monday) © wasser-prawda 35 Musik 36 © wasser-prawda Musik Interview Brian Houston - In der Dunkelheit scheint ein helles Licht Der briƟsche Radiomacher Bob Harris sagte, der irische Künstler Brian Houston sei „really, really special.“ Dem sƟmmen wir zu. Hier ist eine kurze Rezension seines neuen Gospel-Blues-Albums und ein Interview mit Brian. Von Gary BurneƩ (Down At The Crossroads). Übersetzung: Raimund Nitzsche. F ür viele Leser des Blogs Down At The Crossroads war es wahrscheinlich eine Überraschung, dass „Shelter“ von Brian Houston auf der Liste der Besten Blues Alben 2012 auftauchte. Doch wir waren der Meinung, dass dieses Album des noch nicht so bekannten irischen Sängers stark genug war, um neben den Veröffentlichungen weitbekannter Rock- und Bluesmusiker bestehen zu können. Und jetzt kommt als Nachfolger dazu „Mercy“, ein weiteres brilliantes Gospel-Blues-Album. „Shelter“ hatte für Houston einen Wechsel hin zu einem rockigeren und bluesigeren Stil eingeleited. Und auf seinem neuen Album, hat er das wirklich auf den Punkt gebracht, hat er etwas geschaffen, was in der langen Geschichte des Gospel-Blues herausragt. Die Musik ist grandios, sie wird getrieben Gitarren-Riffs, die teils eingängig, teils kantig sind. Der Blues steht im Vordergrund, doch immer wird eine ordentliche Portion Gospel hinzugefügt. Die Lyrics stehen fest in der Tradition der Spirituals und des Blues, es gibt Verweise auf Ägypten, das Gelobte Land, Josua, betende Mütter, fliehende Teufel, sterbende Väter und einen zutiefst verängstigten Geist. Ja, sogar einen Song namens „Gospel Train“ haben wir hier, der sich gut macht neben all den zahllosen gospel trains, die durch die Americana-BluesTradition donnern. Wenn es einen herausragenden Song auf dem Album geben sollte, und ehrlich gesagt ist das eine harte Wahl, dann ist er es. Everybody get on the gospel train Gather in the weak and the poor and the lame There’s a first class ticket held in your hand Get ready for the promised land Das ist moderner Blues vom Feinsten, deutlich verankert in der Tradition des Blues, doch er lässt ihn frisch und bedeutsam klingen. Und wie bei jedem guten Blues gibt es bei ihm etwas optimistisches und fröhliches. Das beständige Gefühl der Hoffnung zieht sich hindurch: In the darkness came a shining light Into the darkness a new hope came in sight… His name was Jesus © wasser-prawda 37 Musik Gary Burnett erwischte Brian in North Carolina, wo er inzwischen wohnt. Glückwunsch zum neuen Album, Brian. Wie waren die Reaktionen auf die neuen Songs? Brian: Ich bin tatsächlich ziemlich erstaunt über die Reaktion, vor allem live. Wenn Du ein Lied schreibst und aufnimmst, dann hat es eine gewisse Erregung und Vitalität, die man im Laufe der Monate beim Zusammenstellen des Albums, dem Schneiden und Mixen allmählich vergisst. Doch wenn Du sie dann live spielst, dann bekommen sie all diese Energie mit einem großen Sturm zurück. Es ist eine echte Ermutigung und Belohnung, wenn man sieht, wie die Menschen auf sie ragieren. Das ist, als würde die ursprüngliche Erregung, die man beim Schreiben gefühlt hat, wiederhergestellt! 38 © wasser-prawda Musik „Shelter“, das letztjährige Album war das bluesigste und rockigste, was Du bislang gemacht hattest. Aber diesmal bist Du mit „Mercy“ kopfüber in den Blues eingetaucht, oder? Und Du damit wirklich ins Schwarze getroffen. Was hat Dich dazu gebracht, in Deiner Musik diese Richtung einzuschlagen? Nun, ich denke, „Gospel Road“ war der Schritt, den ich in Richtung eines neuen Stils gegangen bin. Das war das erste Mal, wo ich ein Album mit wirklich authentisch verwurzelter Musik machen wollte. Die Musik kam alle von der reinen Quelle und nicht aus zufällig aufgeschnappten Einflüssen, die normalerweise mein Schreiben beeinflussten. Ich war sehr unbefriedigt mit Alben, die ich bislang gemacht hatte, weil einige von ihnen für mich wie homogenisiert klangen. Aus irgendeindem Grund waren die Black Keys für mich das missing link. Sie kombinierten ein Gefühl des Garage-Rock mit traditionellem Blues und moderner Produktion, das ich sowohl interesant als auch unterhaltsam fand. Das wurde für mich der Eingang in den Kaninchenbau und ich fing an, nach den Wurzeln ihrer Musik zu graben und entdeckte Leute wie Junior Kimbrough und R.L. Burnside. Und ich hörte außerdem harten Gospel und Muddy Waters oder Howlin‘ Wolf. Ich wurde in gewisser Weise besessen von diesen Quellen und hörte sie nonstop. Es scheint kein Ende zu geben bei dieser Entdeckung von Künstlern, und jedes Mal wenn ich mich zum Schreiben hinsetze, kommt das heraus. Das ist einfach der Ort, an dem ich heutzutage meine Inspiration finde. Es gibt eine Menge großartiger Gitarrenarbeit auf dem Album vermutlich stammt vieles davon von Dir. Ist das etwas, auf das Du Dich in letzter Zeit konzentriert hast? Ich hab alles gespielt und gesungen auf dem Album bis auf das Schlagzeug. In gewisser Weise hab ich mein Gitarrenspiel wiederentdeckt. Als ich 19 war, zeigte mir ein Typ, wie man „Message In A Bottle“ spielt. Ich fragte ihn, wie er das gelernt hat. Und er meinte, er habe es für sich selbst herausgefunden. Als er mir das erzählte, dachte ich: Ok, diese Fähigkeit habe ich nicht. So entschied ich mich bewusst, kein Gitarrist sondern ein Songwriter zu sein und habe darauf meinen Fokus gelegt. Aus wirtschaftlichen Gründen haben wir vor kurzem begonnen, mehr Konzerte als Trio zu spielen, und das war für mich der Beginn. Denn dies stellt viel höhere Ansprüche an Deine Fähigkeiten und Du kannst nicht so einfach mit Bluffen davonkommen. So hab ich begonnen, viel mehr zu üben und eine Menge Zeit und Geld in meine Fähigkeiten auf der Gitarre zu investieren. Für mich fühlte es sich natürlich an, diesen Teil der Musik zu machen und mich nicht zu fürchten, dass die Lieder länger werden, Solos haben und so weiter. Es gibt eine lange Linie des Gospelblues, die zurück geht bis in die frühen Tage mit Blind Willie Johnson über Leute wie Fred McDowell und Rev. Gary Davis und die sich fortsetzt bis etwa zu „Brother Jona and the Whale“ von Kelly Joe Phelps im letzten Jahr. Stellst Du Dich bewusst in diese Tradition? © wasser-prawda 39 Musik Ich glaub, ich habe mehr auf weiße Gottesdienst-Musik und weißen Blues reagiert. Ich vermisse in dieser Musik die Kanten und sehe die Tendenz, alles zu glätten und zu polieren und es damit sicher zu machen. Deshalb waren die Black Keys für mich ein Verbindungsglied. Sie zeigten mir, dass weiße Menschen den Geist und die Leidenschaft des Blues umarmen können und auch wenn sie die 12-Takte-Formel vermeiden doch authentisch klingen können. Da gibt es einen Künstler namens Rev Charlie Jackson, den mir Mike Farris in Nashville nahegebracht hat. Und seine Musik klingt, als käme sie aus den 40er Jahren und ist doch neu. Ich fand sogar einen Clip von ihm bei der Late Late Show in Dublin, was mich überraschte, denn ich dachte, er sei altertümlich und tot und begraben. So klang jedenfalls seine Musik für mich. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nocht den Mut, so weit zu gehen. Aber ich liebe sie noch immer! Du hast sogar einen „Gospel Train“ Song auf dem Album, was wirklich in eine Americana/Gospel/Blues-Tradition hineinpasst: die Anspielungen auf Ägypten, das Gelobte Land und so weiter sind ein fester Bestandteil der schwarzen Spirituals und der Bluestradition. Es gibt von diesem Typ so viele Songs, die über die Jahre geschriebe oder nachgespielt wurden - und doch bist Du hier und hast einen neuen, der absolut fantastisch klingt. Wie schaff st Du es als Songwriter, ein Werk zu schaffen, das einserseits absolut traditionell andererseits aber so frisch ist? Wow, das ist sehr freundlich von Dir. Danke! Dieses Lied ist eines von den Geschenken, die Dir einfach in den Schoß fallen. Manchmal hat man einen Geistesblitz und gleichzeitig Zeit und Raum, ihn sofort aufzuschreiben. Und die Verweise auf Ägypten sind, wenn ich drüber nachdenke, Verweise auf uns, die wir Irland verlassen und in die Staaten ziehen. Ja, Du bist ja letztens umgezogen und lebst jetzt in den Vereinigten Staaten. Was ist die Ursache dafür - und was für eine Wirkung wird das Deiner Meinung nach auf Deine Musik haben? Irland ist in mancherlei Hinsicht zu meinem Ägypten geworden. Die Lage ist sehr hart geworden und es ist äußerst schwierig, als Musiker seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch viele andere Türen haben sich dort geschlossen. Finanziell, geistlich und auch in Bezug auf unsere Beziehung mussten wir einen Neuanfang machen oder zumindest aus unseren Verhaltensweisen und Spuren ausbrechen. Selbst wenn es nicht funktionieren sollte, haben wir es wenigstens probiert Ich bin mir nicht sicher, was das mit der Musik anstellen wird. Manchmal verlassen Iren ihre Heimat und werden noch irischer in ihren Äußerungen. Das wäre zum Schreien, wenn ich am Ende Diddly-Dee-Musik schreiben würde. (lol) Narth Carolina ist eng verbunden mit Bluegrass, der könnte also eine Rolle spielen, aber auch viele der Hard Gospel Gruppen kamen von hier, wer weiß? Am besten sollte man also diesen Ort im Auge behalten! 40 © wasser-prawda Musik Tim Lothar Ein Mann und eine Gitarre Tim Lothar im Detmolder Kaiserkeller, 25.10.2013. Von Greyhound George. Mit Live-Fotos von Jürgen Achten (www.blueslover) aus Eutin und Hamburg. Ein Mann und eine Gitarre. Mehr war nicht nötig, um dem Detmolder Publikum einen hochkarätigen und unterhaltsamen Bluesabend zu bescheren. Der Däne Tim Lothar beherrscht die Kunst der alten Bluesmen, nur mit einer akustischen Gitarre einen Raum auszufüllen, wie kaum ein anderer in Europa. Folgerichtig war er, ganz in der alten Tradition, mit dem Zug zum Konzert angereist... Wenn der Mann mit seiner Gibson-Gitarre, die mindestens so alt ist, wie er selbst, die Bühne betritt, zu spielen beginnt, mit dunkler, rauer Stimme singt und dabei mit dem Fuß den Takt auf seinem Gitarrenkoffer schlägt, fühlt man © wasser-prawda 41 Musik sich sofort per Zeitmaschine in ein „Juke Joint“ im Missippi-Delta irgendwann zu Beginn der 30er Jahre versetzt. Aber halt! Hier singt einer von seinem eigenen Leben im 21. Jahrhundert! Die Songs von Tim Lothars aktueller CD „Stories“ sind alle von ihm selbst geschrieben und erzählen ganz persönliche Geschichten. Da sich nun das Leben eines dänischen Bluesgitarristen gar nicht so sehr von dem unterscheidet, was wir alle jeden Tag so erleben, konnte sich eigentlich jeder im Publikum mit den Songs identifizieren. Tim Lothar singt von seinem Vater, von endlosen Bahnfahrten, betrunkenen Frauen im Lokal oder der der Bankenkrise, seinen Umzugskartons mit überflüssigem Zeug und der verflossenen Liebe. Kennen wir! Musikalisch erinnern die Songs von Tim Lothar an seine großen Vorbilder aus dem Mississippi Delta wie Robert Johnson, Charlie Patton und Fred McDowell, manchmal meint man auch, etwas Tom Waits herauszuhören, besonders, wenn Titel im Walzerrhythmus gespielt werden. Besonders in der zweiten Hälfte des Konzert gab Tim Lothar dann auch einige alte Delta-Nummern von Charlie Patton, Furry Lewis und Fred McDowell zum Besten und besonders da zeigte sich seine Meisterschaft, diese rhythmisch sehr komplexen Arrangements, die heute kaum noch jemand beherrscht, nicht nur zu kopieren, sondern sie mit neuem Leben und eigenen Ideen zu füllen. Der aufmerksame Zuhörer merkte dabei, dass Tim Lothar, bevor 42 © wasser-prawda Musik er zur Gitarre wechselte, jahrelang als Schlagzeuger der dänischen Bluesband „Lightnin Moe“ unterwegs war. Der Mann hat den Groove in den Fingerspitzen! An keiner Stelle des Konzerts vermisste man eine Begleitband, denn in Lothars Gitarrenspiel war der treibende Rhythmus immer präsent, die Dynamik reichte von leisen Slide-Tönen bis zum donnernden Groove und so war es kein Wunder, dass gegen Ende des Konzerts neben der Bühne getanzt und gerockt wurde, obwohl der Ostwestfale als solcher nicht gerade als Stimmungskanone berüchtigt ist! So war der Blues ursprünglich mal gemeint und dieser Funke ist zum Publikum übergesprungen, so dass der Künstler erst nach mehren Zugaben von der Bühne entlassen wurde. Leider gibt es auf dieser Seite des Atlantiks nicht allzu viele meisterhafte Bluesmusiker dieses Schlages. Es gehört viel dazu, die Musik zu SEIN und nicht nur etwas zu spielen. Tim Lothar IST seine Musik. Daher freue ich mich schon, wenn er das nächste Mal in der Gegend ist! © wasser-prawda 43 Platte Des Monats Calum Ingram - Making It Possible Er spielt das Cello eher wie eine Gitarre. Und in den Liedern des scho schen Songwriters Calum Ingram treffen moderne Kammermusik auf Folk, kel sche Klännge und etwas Blues. „Making It Possible“ ist das Debüt dieses außergewöhnlichen Musikers. 44 © wasser-prawda Platte Des Monats A uf dem Sampler aus dem imaginären „Jock‘s Jook Joint“ wirkte Calum Ingram noch wie ein Fremdkörper oder zumindest noch wie ein Exot. Musik wie diese erwartet man normalerweise nicht auf einem Bluessampler. Oder nur auf solchen von Leuten, die gerne mal die Bluespolizei verschrecken wollen. Wer nur bei den Standardriffs und -rhythmen, dargeboten in den bekannten zwölf Takten sagt: Ja, das ist Blues - nun der ist hier eindeutig beim falschen Album gelandet. Denn schon vom instrumentalen Anfang an muss man die Bluesklänge auf „Making It Possible“ sehr aufmerksam suchen. Klar: wer seine Musikgeschichte kennt, kann bei Liedern wie „Don‘t Mean To Harm“ nicht nur im Saxophon sondern auch im rasenden Riff die Verbindung zu den freifließenden Exkursionen im Blues etwa bei Cream erkennen. Aber eigentlich höre ich hier mehr Liebeserklärungen an Songwriter wie Tom Waits, Tim oder Jeff Buckley und auch den späteren Scott Walker, an an Jazzkomponisten wir Carla Bley und auch an die Soloalben von Jack Bruce. Klar, es wird irgendwann im Text „Every Day I‘ve Got The Blues“ zitiert. Das ist aber ein Blues der dritten oder gar fünften Generation: Dieser Blues ist gefiltert durch den britischen Rhythm & Blues der 60er ebenso wie durch den Artrock und Fusionjazz der 70er oder auch die moderne klassische Musik des 21. Jahrhunderts. Calum Ingram ist nicht der typische Bluesmusiker. Man hört seine Erfahrungen als Theaterkomponist, man spürt seine Erfahrungen als klassische Musiker. Hier ist nicht mehr der direkte spontane Kontakt zwischen Bluesman und Zuhörern möglich, sondern es braucht den intellektuell gebildeten Genießer. Das ist Musik, die es sich und dem Hörer niemals einfach macht, die man sich auch als Hörer „erarbeiten“ muss. Und das lohnt sich: Songs wie „Going Home“ oder das schon erwähnte „Don‘t Mean No Harm“ sind Kino für die Ohren in Arthaus-Qualität und Breitwand. „Making It Possible“ ist endlich mal wieder ein Album, das sich voller Energie und Können abseits der eingetretenen Bluespfade bewegt. Und ich kann jetzt verstehen, warum meine britischen Freunde mir immer wieder geraten haben, mich mit diesem Cellisten ernsthaft zu beschäftigen. Calum Ingram ist eine echte Entdeckung als Musiker, Komponist und auch als Sänger. Von seiner Meisterschaft auf dem Cello muss man bei dem klassisch studierten Musiker ja nicht erst reden. (Wood‘n Heart Records) Nathan Nörgel © wasser-prawda 45 Platten Billy Thompson - Friend Man miete sich eine alte Getreidemühle wegen des guten Sounds, lade sich jede Menge Freunde ein und musiziere möglichst live. Herausgekommen ist bei Billy Thompsons neuem Album „Friend“ ein fast perfekter Showcase für einen begnadeten Gitarristen. Auf die Wortschöpfung muss man erst mal kommen: Ich bin ein Unglücksritter! Damit geht Billy Thompsons „Friend“ los: eine heftig groovende Bluesnummer mit einem Text, der sich mit seiner Einzigartigkeit sofort festsetzt. Höhepunkte gibt es auf dem Album noch ein paar mehr: Da ist etwa der New Orleans-Funk von „Many Faces“, den man sich auch gut auf einem Album von Dr. John hätte vorstellen können. Oder die rasante Fankhymne an Jimi Hendrix „Ain‘t But One“. Billy Thompsons Gitarre kann rasante Läufe oder explosive Slide-Attacken reiten. Und mit Gast-Musikern etwa von Little Feat oder den Neville Brothers ist immer das passende musikalische Fundament dafür vorhanden. Leider hat „Friend“ für mich auch ein paar deutlich schwächere Songs. Die Ballade „Half A Man“ oder „Got To Be Did“ reizen mich zum sofortigen Weiterzappen. Und warum jemand noch eine neue Coverversion von „Ain‘t No Sunshine“ machen muss, weiß ich nicht. Auch die Fassung von Billy Thompson hat eigentlich nichts über die bislang bekannten Fassungen Herausragendes zu bieten. Doch davon abgesehen ist das ein Album, das vor allem Fans des zeitgenössischen Gitarrenblues überzeugen kann. (Soul Stew Records) Raimund Nitzsche Blind Boys of Alabama - I‘ll Find A Way Die Altstars des Gospel treffen auf ihrem neuen Album auf Vertreter der alternativen Folkszene. Produziert von Justin Vernon (Bon Iver) treffen überzeugende Gospelnummern auf Folksongs, bei denen die Blind Boys wie Gäste im Hintergrund zu verschwinden drohen. Ähnlich wie etwa die Chieftains haben die Blind Boys of Alabama in den letzten Jahren immer wieder mit Künstlern aus den verschiedensten Musikstilen zusammengearbeitet. Dabei kamen teilweise umwerfend gute Alben heraus wie „Down In New Orleans“ (2008). Und manchmal funktionierte die Mixtur weniger wie bei ihrem Country-Album „Take The High Road“. Manche Musik passt einfach nicht wirklich zu dem direkt ans Herz greifenden Gospelstil dieser Gruppe. Und so ist auch „I‘ll Find A Way“ eine zwiespältige Angelegenheit. Auf der einen Seite sind großartige Stücke wie „I Shall Not Be Moved“, „Take Your Bureden To The Lord And Leave It There“ oder auch die DylanNummer „Every Grain of Sand“, die die Band gemeinsam mit Justin Vernon interpretieren. Hier sind sie gnaz in ihrem Element. Doch wenn Shara Worden, Sam Amidon oder Sasey Dienel als Gäste am Mikrofon stehen, dann ändert sich die ganze Musik. Dann ist von Glaubensgewissheit, von Evangelium und Predigt nicht mehr viel zu spüren. Und für lamentierende altenative Folksongs sind die Blind Boys of Alabama einfach nicht geeignet. Da könnte man sie gleich zwingen, Heavy Metal zu singen oder auch bayrische Volksmusik. Das Experiment ist gründlich in die Hose gegangen. Aber zum Glück ist davon nur etwa die Hälfte des Albums betroffen. Die anderen Lieder schaffen es immer noch, mir Gänsehaut zu verursachen und die Sehnsucht nach einem guten 46 © wasser-prawda Platten Gottesdienst in mir zu wecken. Und das ist mehr, als ausreichend. Höchstens die Holmes Brothers schaffen das außer ihnen noch bei jedem Album. Raimund Nitzsche Blues Point - Simply Blues Wenn man kurz vor der polnischen Grenze wohnt und dann doch erst aus den USA auf das Album einer polnischen Bluesband hingewiesen werden muss, dann macht das deutlich, wie dicht die Grenzen in Sachen des musikalischen Austauscht heute noch sind. Und das ist schade, wenn man sich das Album „Simply Blues“ des 2010 gegründeten Trios Blues Point anhört. Wlodek Sobczak gehört schon seit den 70er Jahren zur polnischen Bluesszene. Damals gehörte er zur Full Light Blues Band. Mit Blues Point kann sich der Sänger und Gitarrist (auf Simply Blues spielt er außerdem noch Bass, Schlagzeug und Keyboard) auch als Komponist und Texter verwirklichen. Und die Songs sind nicht einfach nur Blues, wie es der Albumtitel suggeriert. Blues Point spielen eine meist akustische Melange aus Blues, Folk, Jazz, Funk und Rhythm & Blues. Neben den prägnanten Gitarren von Sobczak und Mirek Borkowski (Full Light Blues Band, Country Family) ist es vor allem das Saxophon von Arek Osenkowski (Funktet, Magda Piskorczyk), was den Sound prägt zu etwas Besonderen im europäischen Blues der Gegenwart macht. Songs wie „Whiles Like Diamonds“ oder die großartige Coverversion von Philipp Fankhausers „Lonely In This Town“ sind die richtigen Songs für Nächte irgendwo in leeren Straßen einer Großstadt: Kein Country-Blues, keine ländliche Idylle sondern Cityblues des 21. Jahrhunderts ist das. Musikalisch ist das spannend und überraschend. Was ab und zu ein wenig stört, ist der Gesang, dem man anhört, dass die Musiker in dieser Sprache weniger zu Hause sind als im Polnischen. Oder aber man hört darin eine exotische Komponente einer gewiss nicht alltäglichen Bluesmusik. Raimund Nitzsche Brian Houston - Mercy (Jesus Don‘t Forget My Name) Für die Kneipe zu fromm, für die Kirche zu rockig: Brian Houston ist sich nicht sicher, wo seine neuen Lieder eigentlich ihren Platz haben sollen. Doch abgesehen davon ist „Mercy“ vor allem eines: Ein großartiges Album mit rockendem Gospelblues. Erlöster müssten sie aussehen, meinte Nietsche mal über die Christen. Statt der ständigen Freudlosigkeit und aufgesetzten Bescheidenheit, müsste der Glaube laut, fröhlich, ja tanzend nach Außen dringen, damit man ihnen glauben könne. Bei Brian Houston rockt der Glaube heftig im Rhythmus des Blues: Voller Anspielungen auf biblische Themen aber mit der Gewalt der Stones zu Zeiten von Exile on Main Street singt er vom Auszug aus Ägypten, von der Liebe, die die beste Waffe ist oder von der betenden Mutter. Man spürt in der Wucht der Riffs, dass für den irischen Songwriter und Gitarristen der Weg zum Blues über die Black Keys und die Hills im Norden Mississippis hin zu Muddy Waters, Howlin‘ Wolf und noch weiter zurück in die Vergangenheit ge- © wasser-prawda 47 Platten führt hat. Und man spürt in der Simplizität der Texte die Wucht der frühen Spirituals und Gospel. Skeptisch veranlagten Menschen wird dieses direkte Singen vom Glauben vielleicht banal oder kindisch vorkommen. Doch ist genau das auch die Kraft, die Blues und Gospel von Anbeginn an eigen war: Aus einem vollen Herzen geht es direkt zum Herzen des Publikums. Und hier natürlich auch in die Beine. Dass die Musik für die meisten Gottesdienste zu rockig und rauh ist, ist eindeutig ein Pluspunkt. „Mercy“ ist eins der besten Gospel- und Gospelbluesalben nicht nur des Jahres 2013. Raimund Nitzsche Calibro 35 - Traditori Di Tuƫ Funky, bildreich und zwischen Retro und Indie oszillierend: Mit ihrem aktuellen Album „Traditori Di Tutti“ haben Calibro 35 Musik veröffentlicht, für die die passenden Krimis vor 30 Jahren hätten verfilmt werden müssen. „Crime Funk“ nennen Calibro 35 ihren Stil. Und damit ist ziemlich klar, was einen bei ihrer Musik erwartet: Meist instrumentale Nummern, die im Kopf sofort Assoziationen zu Krimis der 60er und 70er Jahre hervorrufen. Musik, die in schummrigen Bars schöne Frauen zu lasziven Tänzen begleitet. Musik, zu denen man sich wilde Verfolgungsjagden längst der sonnigen Küsten des Mittelmeeres vorstellen kann. Musik, die Funk, Psychedelic und Garagen Beat vereint zu einer wilden und abenteuerlichen Mixtur. Wo Bands wie die Juanitos mittlerweile ihre „Greatest Hits“ recyceln, ist hier von Müdigkeit oder Stagnation nichts zu spüren. Man wird bei Songs wie „Mescaline 6“, „The Butcher‘s Bride“ oder „You Filthy Bastards“ eingesogen in eine unendliche Partystimmung, die einen dazu bringen könnte, nicht nur James Bond wieder aus dem DVD-Regal zu holen sondern vor allem auch Parodien wie „Austin Powers“. Und natürlich wünscht man sich eine entsprechende Kellerbar mit den schönen Tänzerinnen für die nächste Geburtstagsparty. Und dazu den passenden Barkeeper, der die klassischen Coctails mit und ohne Schirmchen serviert. (Record Kicks) Nathan Nörgel Carl Verheyen - Mustang Run Carl Verheyen zählt man zu den 100 besten Gitarristen aller Zeiten (Rolling Stone). Quer durch die Stilarten von Blues bis hin zu Fusion im Stile von John McLaughlins Mahavishnu Orchestra mändern die größtenteils instrumentalen Nummern auf seinem zwölften Album „Mustang Run“. Normalerweise bin ich ja nicht der Typ, der bei Instrumentalalben jenseits des Blues spontan in Extase verfällt. Im Lauf der Jahre ging mir dann doch die Geduld abhanden, mich weitgefassten Kompoisitionsbögen und überlangen Soloeskapaden mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu widmen. Und so blieb „Mustang Run“ bei mir auch ziemlich lange auf dem Rezensionsstapel liegen, wurden immer wieder andere Neuerscheinungen vorgezogen, weil sie halt näher am Blues sind. Dabei ist „Mustang Run“ keinesfalls langweiliges Gegniedel ohne Pepp. Verheyens Gitarre steht zu jeder Zeit im Zentrum mit ihren klaren, swingenden und singenden Linien. Verheyen hat hier jede Menge bluesiger Hinweise in meist ziemlich sonnige Westcoast- 48 © wasser-prawda Platten Musik verpackt. Und die werden immer wieder durch besondere Klangakzente und unerwartete Gastmusiker (wie etwa den großartigen Jazz-Violinisten Jerry Goodman oder Bill Evans am Saxophon) aufgelockert. Aber auch in der puren Quartettbesetzung (mit Hammond-Teppichen von ganz verschiedenen Gastmusikern) entwickelt sich schon von Anfang an eine Spannung jenseits akademischer Jazz-Attitüden oder schaumgebremster Fahrstuhlmusik. Nathan Nörgel David Bromberg Band - Only Slightly Mad Nur ein wenig verrückt? Überhaupt nicht verrückt ist die Mixtur, die David Bromberg auf seinem neuen Album angerichtet hat. Denn ob er nun Folk, Blues, Gospel oder Bluegrass interpretiert all das kommt auf dem von Larry Campbell produzierten Album zu einer stimmigen Einheit. Hatte Bromberg bei „Use Me“ noch seinen großen Freundeskreis eingeladen, um ihm jeweils einen Song zu schreiben und/oder zu produzieren, so hat er diesmal wirklich wieder ein Bandalbum vorgelegt. Doch was die Musik betrifft, ist das Ergebnis ähnlich. Bromberg, der in den 60ern vom Folk kam, hat inzwischen mit allen von Dylan über Grateful Dead, bis zu George Harrsion musiziert. Und er fühlt sich überall dort zu Hause, wo es um handgemachte Musik geht, die aus vollem Herzen interpretiert werden muss. Und das kann Gospel genauso sein wie Blues, Bluegrass oder Country. Eigentlich hatte er ja ein richtige Blues-Album im Chicago-Stil machen wollen. Doch Campbell meinte, er solle wieder das machen, was seine Scheiben in den 70er Jahren so einzigartig gemacht hatten. Und das war diese umwerfende Vielfalt. Seine Band hat im Übrigen Musiker für alle Stile: da spielen FilleSpieler Nate Grower ebenso mit wie eine komplette Hornsection und ein halber Chor im Background. Und so kann Bromberg in „Drivin Wheel“ zum Soulprediger werden, in „Nobodys Fault But Mine“ einen Bluesheuler vom Feinsten abliefern und im Medley „The Strongest Man Alive/Maydelle‘s Reel/Jenny‘s Chikkens“ irish Folk mit Bluegrass kreuzen. Verrückt? Kein bisschen. Einfach großartig! (Appleseed/in-akustik) Raimund Nitzsche Edgar & Marie - Langer Weg Eigentlich war die Sache für mich klar: Das ist kein Album für mich! Der Sound: klar macht das von Stuart Epps, der mit Led Zeppelin, Clapton oder George Harrision ebenso gearbeitet hat wie mit Elton John oder Oasis, einen absolut stimmigen Eindruck. Hier gibt es nix zu meckern. Das ist Popmusik, dem man meist die Liebe zum Folkpop der 60er und 70er Jahre anhört. Robert Plant konnte sich sogar dafür begeistern. Und das will was heißen. Doch die deutschen Texte der Lieder sind für mich nicht wirklich überzeugend. Ist das Schlager? Wenn ja, dann ziemlich guter keine Frage! Aber das ist einfach nicht meine Welt. Bis dann mit „Damals in Weißwasser“ der Song kommt, der für alles andere entschädigt: Hier wird Musikgeschichte in der ostdeutschen Provinz erzählt mit einer Ehrlichkeit und einer Prägnanz, die selten in der deutsprachigen Popmusik ist. Da geht es nicht um vorgetäuschte Coolness, da wird nicht mit Ironie © wasser-prawda 49 Platten das Gesicht gewahrt. Das ist ein Song, den man einfach in der Sammlung haben muss. Und nicht nur, weil dem Pfeffi hier ein musikalisches Denkmal gesetzt wird. (Cactus Rock Records) Nathan Nörgel Forty4 - 44 Minutes Sie spielen Blues, sie spielen Funk, sie spielen auch Rhythm & Blues. Doch die aus dem Nordwesten Englands stammende Band Forty4 kann man eigentlich in keines der Genre einsortieren. Sie haben sich daher für die eigene Schublade „Rhythm & Groove“ entschieden und mit 44 Minutes ein Debüt veröffentlicht, das selbst bei Paul Jones auf Interesse stieß und die Truppe damit ins Abendprogramm bei BBC 2 brachte. „Pack It Up“ - besser kann man ein Debüt kaum beginnen. Was die fünf Herren (Neil Partington - g, voc; Bill Price - bg; Paul Starkey - g; Glen Lewis - keyb; Nick Lauro - dr) hier für Freddie Kings Klassiker zusammengebraut haben, geht sofort in die Beine und den Bauch. Als Zutaten kann man etwas New Orleans Funk, ein wenig Jazz und natürlich jede Menge Blues ausmachen. Heftig, deftig und ziemlich einmalig kommt das daher. Und auch der Rest der Scheibe bis hin zum Schluss, einer sechs minütigen Fassung von Muddy Waters‘ Song „Fourty-Four“, ist mit seinen deftigen Grooves weit entfernt vom alltäglichen Bluesrock britischer oder amerikanischer Prägung. Auch die von Glen Lewis‘ immer mal wieder gespielte Hammond-Orgel gibt der Band einen sofort wiedererkennbaren eigenen Sound. Für ein Debütalbum ist „44 Minutes“ schon mehr als gut gelungen. Hier merkt man, dass eine Band im Studio war, die schon seit Jahren ihren eigenen Sound auf zahllosen Bühnen geformt haben. Prima! Raimund Nitzsche Fran McGillivray Band - Some Luck Sängerin Fran McGillivray und Gitarrist Mike Burke spielen schon seit den frühen 70er Jahren zusammen. Zunächst waren sie als Duo unterwegs, in den 90er Jahren gründeten sie die Bluesband So Long Angel. „Some Luck“ ist eines der leichtfüßigsten und elegantesten Bluesalben, das mir seit langem aus Großbritannien in den Player gekommen ist. Zwischen Piedmont-Picking, clean gespielten Slide-Klängen und jazzigen Läufen: Mike Burkes Stärke liegt ganz klar in der Reduktion auf das Wesentliche eines Songs. Und ob es nun eine nette Partynummer wie der Opener „Big Front Seat“ oder „Candle Burning“ ist: nicht eine Note ist zuviel. Und auch Fran McGillivray hat es als Sängerin nicht nötig, irgendwo eine Power vorzutäuschen, die diese größtenteils selbst verfassten Songs einfach nicht brauchen. Der Blues der Beiden ist immer wieder nahe auch am britischen Folk oder dem Folkrevival in den USA in den frühen 60er Jahren. Insofern ist „Some Luck“ schon fast ein Anachronismus im Jahre 2013: Zu leicht, zu positiv, zu perlend für das normale Radio, zu leise für die Fans der elektrischen Klänge. Und doch wunderschön anzuhören. Nathan Nörgel 50 © wasser-prawda Platten Groove-A-MaƟcs - Keep It Clean Sie kommen aus Newcastle. Doch sie hören sich an wie die Fabulous Thunderbirds in den 70ern. Keep It Clean ist swingender Rhythm & Blues nicht nur für Fans der Blues Brothers. Proletarische Bluessongs sind selten geworden. Aber wenn sie so daherkommen wie „Working Class Man“ von Groove-A-Matics, denn könnte man sich dran gewöhnen: „Came to this world with nothing and I leave the same way; I worked hard all my life trying to live from day to day“. Die Nummer kommt mit einem fast minimalistischen Rhythmus daher und wird nur ab und zu mit einer rauhen Bluesharp ergänzt. Nichts lenkt hier von der Botschaft ab. Klar diese Band kann auch ganz anders. Der Opener von „Keep It Clean“ etwa erinnert frappierend an den Groove der Bluesbrothers. Aber natürlich ist „Way of the World“ nicht von Jake und Elwood sondern ist ein Eigengewächs der Band. Aber wie sich hier der swingende Groove mit Saxophon und Harp vereint, führt schon irgendwie zu einem angenehmen Deja vue. Mit „Mr Green“ setzen Gitarrist Johnny Whitehall und Sänger/ Harpspieler/Saxophonist Mick Cantwell und der Rest der Band dem großen Peter Green ein würdiges Denkmal. Und so geht es weiter auf dem Album: Das ist eine Rundreise durch einen großen Teil der Bluesgeschichte. Doch nicht in der ewigen Neuauflage der Klassiker sondern in Songs der obersten Güteklasse. „Keep It Clean“ ist nur manchmal clean. Oft sind die Songs dank Cantwells Harp extrem dreckig. Aber gerade das macht einen der vielen Reize dieses Albums aus. Unbedingt anhören! Raimund Nitzsche Hiss - Das Gesetz der Prärie Zwischen Taiga und Prärie, Mexiko und dem Orient spielt das aktuelle Album von Hiss. Walzer, Polka und Blues erklingen mal ausgelassen, mal melancholisch. Mal erinnern die Songs von „Das Gesetz der Prärie“ mehr an Element of Crime, mal mehr an Hubert von Goisern. Klar, beim Akkordeon denken die meisten Hörer erst mal an Shanties oder das Mutantenstadl. Doch wer bei Walzer oder Polka nur an Samstagabendverdummung und Krachlederhosen denkt, hat in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich aufmerksam zugehört. Hiss zum Beispiel könnte man mit Liedern wie „Eier Wurst, Tanzmusik“ oder „Die schönste aller Plagen“ gerne mal im Stadl spielen - da hätte man als Verächter volkstümlicher So0e einen Grund, mal kurz vorbei zu schauen. Denn hier wird Volksmusik gespielt, die textlich weit entfernt von Schürzenjägern, Herzbuben oder ähnlichen Kapellen ist. Oder wenn sie auf die Klischeetube drücken, dann ist die ironische Übersteigerung nicht zu überhören. Und außerdem kommt hier die Polka auch gerne in der TexMex-Version. Und bei „Voodoocoo“ ist der Blues im Louisianastil nicht zu überhören. Aber vor allem sind das die komischen bis melancholischen Texte, die „Das Gesetz der Prärie“ zur echten Empfehlung machen: Schon lange nicht mehr hab ich in deutscher Sprache so gelungene Lieder gehört, die nicht einfach bloß die Popschemata nachplappern sondern wirklich lyrische Weltbeschreibungen sind. Raimund Nitzsche © wasser-prawda 51 Platten Holland K. Smith - Cobalt Texasblues, der nicht an SRV sondern an die großartigen Gitarristen zwischen T-Bone Walker und Anson Funderburgh erinnert, findet sich auf dem aktuellen Album des Songwriters und Gitarristen Holland K. Smith. „Cobalt“ ist so altmodisch und eingängig und gleichzeitig so großartig wie sie auch die Musik von James Hunter, Philipp Fankhauser oder ähnlichen Künstlern ist. Das ist mal wieder eines der Alben, die man am Besten in stillen Abendstunden hört, wo man den Lärm und die Hektik des Alltags aussperren will: Wer Rock braucht, greift besser zu einer anderen Scheibe. Smith hat - produzeirt von Anson Funderburgh - ein Album voller melancholischer Songs eingespielt in denen von der Liquidierung von Beziehungen, von vorgespielter männlicher Stärke angesichts von Verlusten, der Sehnsucht nach einem Zauberstab oder von Geheimnissen und alltäglichen Notlügen die Rede ist. Seine Gitarre singt, duettiert mit rauchigen Saxophonen und macht klar, was Texasblues im Ursprung eigentlich war: eine Musik, die ganz nah dran ist am Jazz und Swing. Manche Rezensenten hören in seinen Lininen gar Anklänge an Django Reinhardt, oder Wes Montgomery. Dafür muss man allerdings wirklich genau hinhören. Oder man wartet bis zum letzten Stück, der wunderschönen Akustiknummer „Olhos Verdes“. Obwohl man hier eher Mexiko hören kann und ein wenig Surfsound als Django und Swing. Aber wie auch das ganze Album gilt: Es ist ein riesiges Vergnügen für Genießer. (Eller Soul) Nathan Nörgel HowellDevine - Jumps, Boogies & Wobbles Bei dieser Band klingt alles ein ganzes Stück älter als bei den heute verbreiteten Bluesgruppen: HowellDevine spielen den Blues oftmals wie in den 30er/40er Jahren. Und das war für das traditionelle Label Aarhoolie Grund genug, nach mehr als 25 Jahren endlich mal wieder ein neu produziertes Album auf den Markt zu bringen. Erster Gedanke: Wieso schon wieder „Rollin‘ And Tumblin“ und noch dazu als Opener eines Debütalbums? Der erste Blick auf die Trackliste des Debüts von HowellDevine machte nicht wirklich neugierig. Doch das ändert sich sofort, wenn man diese Scheibe auflegt: Wo heutzutage die Klassiker der Mississippi Blues oft nur noch Schablonen für belanglose Bluesrockorgien sind, bekommt man hier den Sound der Zeit vor und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu hören. Gitarrist/Harpspieler Joshua Howell und Schlagzeuger Pete Devine haben sich unabhängig voneinander auf die klassischen Spielweisen von Blues und Jazz spezialisiert. Howell etwa hat nicht nur den Slidestil von Fred McDowell und Bukka White oder den Blues des North Mississippi von RL Burnside studiert sondern auch die Ragtimes der amerikanischen Ostküste. Und mit seinem minimalistischen Schlagzeugspiel hat Devine schon für diverse Jazz- oder Jugbands in Kalifornien die Grundlage gelegt. Die Gruppe wird komplettiert von Bassist Joe Kyle Jr., der seine Sporen während des Swing Revivals in den 90ers Jahren in San Francisco erwarb. Zu dritt (und auf dem Album „Jumps, Boogies & Wobbles“ auch manchmal noch mit einem Saxophon verstärkt) spielen sie derartig 52 © wasser-prawda Platten traditionell, dass es heutzutage schon wieder aventgardistisch sein könnte. Das ist Blues, der deftig und tanzbar daherkommt. Alle drei sind ausgezeichnete Instrumentalisten. Doch stehen nicht ausgefeilte Solos im Vordergrund sondern ein Gruppensound, der ab und zu auch in Kollektivimprovisationen ausbricht. Und da ist es egal, ob Songs wie das erwähnte Rollin & Tumblin oder Sonny Boy Williamsons „Help Me“ oder (eigene?) Nummern wie Harmonica Wobble #2 gespielt werden. Diese Stücke sind ganz zu ihren eigenen geworden und sind derartig lebendig, dass man verstehen kann, wie das Trio 2013 bis ins Finale der International Blues Challenge vorstoßen konnte. So hat man den Blues eben viel zu lange nicht mehr gehört. Und schön, dass Aarhoolie damit endlich wieder angefangen hat, neue Alben zu veröffentlichen. Raimund Nitzsche JC Crossfire - When It Comes To The Blues Was tun die in Ft. Lauderdale (Florida) eigentlich ins Trinkwasser, dass von dort immer wieder bemerkenswerte Bluesmusiker kommen? Auch Gitarrist/Sänger JC Crossfire stammt aus dieser musikalischen Stadt und hat sich für „When It Comes To The Blues“ mit einer Band großartig eingespielter Musiker umgeben. Traurig? Kein bißchen! „When It Comes To The Blues“ ist echte Gute-Laune-Musik. Manche würden auch sagen „Party-Blues“. Da hilft auch die erdige Bluesharp von Niles Blaize nichts - Songs wie „Deliza“ oder „Grand Ole Girl“ sind keine Kinder der Traurigkeit. Crossfire ist ein flexibler Gitarrist und ein Sänger mit jeder Menge Soul in den Stimmbändern. Lieder wie das von Harp und Piano vorangetriebene „One More Time“ zielen direkt auf die Tanzfläche. Doch Crossfire kann auch anders: „American Way“ ist eine Abrechnung mit den fernsehgeilen Politikern, denen es letztlich egal ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung nahe der Pleite lebt. Der „american way“ ist zum großen Witz verkommen. Heftig und selten im Blues heutzutage! Nathan Nörgel Jonny Lang - Fight For My Soul Mit 13 war er gepriesenes Blueswunderkind. Mit 18 sang er im Weißen Haus für Bill Clinton. Musikalisch entwickelte er sich über die Jahre vom Bluesrock hin zu Soul, Funk und Rhythm & Blues weiter. Und dann war (nach 2006) erstmal Studiopause angesagt, bis er jetzt bei Provogue sein neues Album „Fight For My Soul“ herauskam. Anfangs war Provogue ja ein Label für die härteren Bluesrockscheiben. Doch mittlerweile gibt es hier auch häufiger soulige Klänge zu hören. Und Jonny Lang hat genau hier die Heimstatt für seine Weiterentwicklung vom Bluesrocker hin zu Soul, Rhythm & Blues und Pop gefunden. Produziert von Tommy Sims, der auch diverse Instrumente spielte, entstand ein Album, das mal nach dancefloortauglichem Rhythm & Blues der Marke Prince mal nach Motown oder auch nach Gospel klingt. Schon der Opener „Blew Up (The House)“ klingt trotz seines heftigen Bluesriffs oft mehr nach Rockmusik von Bowie in den 80er Jahren als nach Bluesrock. Der Song geht absolut in Ordnung, er rockt nach vorne. Lang singt sich die Seele aus dem Leib und seine Gitarre sorgt für die notwendige dreckige Erdung im Blues, © wasser-prawda 53 Platten während der Backgroundchor schon mal vorsichtig andeutet, worauf man sich auf dem Album noch gefasst machen kann. Die nächste Nummer „Breakin In“ ist dann absoluter 80s Funk - macht Lang jetzt einen auf Michael Jackson? Das sollte er wirklich nicht tun, denn dafür hat er nicht die richtige Stimme - die braucht mehr Blues und Rock als Hochglanz-Pop, um ihre Stärken ausspielen zu können. Und wenn dann wie bei „We Are The Same“ dann auch noch elektronische Verfremdung auf die Stimme gepackt wird und der Pop völlig ohne Scham auf die aktuellen Dancefloors zielt, ist die Schwierigkeit klar, die ich mit diesem Album habe: Es fehlt einfach eine wirkliche Linie drin. Was will Jonny Lang eigentlich sein? Ist er noch ein Bluesman mit Gitarre? Oder will er wirklich zum Popstar in den Hitparaden werden? Wenn er das so macht, wie auf diesem Album, werde ich ihm nicht folgen. Diese Songs überzeugen mich nicht. Und sie passen meiner Meinung nach weder zu seiner Stimme, noch zu seiner Gitarre. Experiment klar misslungen - bis auf den guten Opener. (Provogue/Mascot) Raimund Nitzsche Jump Blues Syndicate - Indtroducing The Jump Blues Syndicate Konsequent retro: Das Jump Blues Syndicate widmet sich (wie der Name verheißt) dem swingenden Jump Blues. Auf dem als freier Download vertriebenem Album finden sich Klassiker des Rhythm & Blues in absolut tanzbarer Umsetzung. Eine Sängerin (Queen Maja), ein Sänger, ein Piano und ein röhrendes Saxophon, dazu eine teils rockende, teils locker swingende Rhythmusgruppe und wenn nötig noch eine Bluesharp - das pass schon mal alles prima zusammen. Und mit Songs wie „Bloodshot Eyes“, „Java“ oder „That Mellow Saxophone“ haben die sechs Musiker aus Düsseldorf eine feine Visitenkarte abgeliefert, die ihnen die nötigen Gigs bei Swingtanzveranstaltungen oder Treffen von Rock & Rollern besorgen sollte. Was mir fehlt - und worauf ich jetzt warte: eigene Songs, die mit der gleichen Energie und dem gleichen Humor daherkommen. Nathan Nörgel Kara Grainger - Shiver & Sigh Zwischen Folk, Blues und Pop bewegt sich „Shiver & Sigh“ mit dem die australische sängerin und Gitarristin bei Electo Groove debütiert. Neben eigenen Stüscken intertpretiert sie darauf so unterschiedliche Songwriter wie Robert Johnson und Mike Zito. Welches Bluesalbum hat heutzutage noch die Chance, im Radio zu laufen? Wahrscheinlich am ehesten noch eines wie dieses: Hier passiert alles wie gebremst: Die Melancholie ebenso wie die Wut, der Funk ebenso wie der Blues. „Shiver & Sigh“ perlt mit seinen elf Songs voller Eleganz dahin und tut niemals weh. Kara Grainger ist eine wirklich gute Gitarristin und Sängerin. Doch wenn man sich „Shiver & Sigh“ am Stück anhört, dann ist das alles viel zu entspannt und bringt zuweilen auch zu wenig Abwechslung. Zurückhaltung ist zwar eine Tugend. Doch manchmal hätte ich mir bei diesem Album ein wenig weniger davon gewünscht. Für mich ist das zu sehr auf Radiofreundlichkeit getrimmt und zu wenig Blues. Hier blutet das Herz nicht, hier sind selbst die Kratzer 54 © wasser-prawda Platten nach Ende des Songs verschwunden und hinterlassen keine Narben. Ein Album für die Zahnarztfrau ihres Vertrauens also, passend zu deren Scheiben von Norah Jones und Katie Melua. Nathan Nörgel King Khan & The Shrines - Idle No More Irgendwann war der aus Kanada stammende und Berlin ansässige Arish Khan vom Garagensoul mehr zum Indie-Rock und Punk gewechselt. Doch mit „Idle No More“ präsentiert er sich wieder als rockender Soulguru im Sound der 60er Jahre. Während sich Bands und Solisten der Retro-Soul-Szene wie JC Brooks 2013 immer mehr an den Sound der 80er Jahre angenähert haben, ist King Khan auf „Idle No More“ den gegenteiligen Weg gegangen: Lieder wie „Thorn In Her Pride“, „Luckiest Man“ oder der Opener „Born To Die“ kommen daher mit der Enegie und Unschuld wie die Stones zu Zeiten von Brian Jones. Doch der Sound des rockenden Rhythm & Blues wird mit Bombast-Pop a la Phil Spector und einer wildgewordenen Hornsection zu einem unwiderstehlich groovenden Gebräu veredelt, das so völlig einzigartig ist. Man kann es kaum glauben, das Khan in den letzten Jahren nicht nur viele Enge Freunde verloren sondern sich auch selbst fast in Drogen und psychischen Krankheiten abhanden gekommen wäre. Das ist optimistische Musik, die sofort ihre Funken auf die Hörer überspringen lässt. Und es ist Musik, die ganz im Sinne des Urpunk politisch ist: Idle No More ist eine kanadische Bürgerrechtsbewegung, die sich für die Rechte der Ureinwohner einsetzt. Wer seinen Soul mit jeder Menge Punk und Power mag: Das Album kann man nicht sitzend anhören! Raimund Nitzsche Kyle & Moore - The Whale & The Wa‘ah Von britischen Heavy Metal hin zum Blues? Diesen Weg hat Sänger Nicky Moore in den letzten Jahren gewählt. Und zusätzlich zu seiner Band Nicky Moore‘s Blues Corporation hat er jetzt mit dem Gitarristen Danny Kyle ein akustisches Duo gegründet. Und dessen Album „The Whale & The Wa‘ah“ ist ein heftiger Tritt gegen allzuviel Gemütlichkeit und behaglicher Pflege des Folk-Erbes. Früher sang Nicky Moore bei Bands wie Momoth oder Samson (wo er Nachfolger von Bruce Dickinson wurde, der damals grad zu Iron Maiden gehen wollte). Und passend zum Metal ist eigentlich auch seine Stimme: Kraftvoller alleine als ein halber Männerchor, theatralisch wie Meat Loaf und gleichzeitig auch verletztlich wie ein junger Folkbarde. Und er kann zwischen all den Extremen notfalls in einem Song hin und her wechseln. Wenn das Album mit dem „Fruitpickers Blues“ losgeht, dann wird das schnell deutlich: Hier geht es um deftige Geschichten, keine behäbige Lagerfeuer-Mucke. Hier geht es nicht um brave Früchtchen sondern um dreckigen Sex, um Rache, Blut und Flucht vor den durchdrehenden Eltern. Man glaubt kaum, dass die Bands wirklich eine Chance auf den Himmel hat, selbst wenn sie „Take Me Up (To Heaven) singen. Headbangermäßig wird „Hang Your Heads“ gefordert und dem einmaligen Gefühl hinterhergejagt, dass man nachlässigerweise viel zu schnell bei Seite geschoben hatte. Schwachpunkt des Albums ist ausgerechnet die Coverversion von „Dark End Of The Street“: diese Soulnummer braucht dann wesentlich mehr Power in der Begleitung als die feine und immer präzise Gitarre von Kyle. Das wird auch bei „Who‘s The Fool“ klar. © wasser-prawda 55 Platten Doch danach kommt gleich der absolute Höhepunkt des Albums: Der Titelsong ist eine fast sieben Minuten lange Tour durch die Wogen des Meeres. Theatralisch wie Manowar sind Kyle & Moore hier fast als Tenacious D des Blues zu bezeichnen. Atemberaubend und auch ohne große Band bombastisch wie Spinal Tap, Raimund Nitzsche Lightnin‘ Malcolm - Rough Out There Eine, maximal zwei Gitarren und ein Schlagzeug: Mehr braucht Lightnin Malcolm auf seinem zweiten Soloalbum nicht, um den harten und fast brutalen Blues aus dem Norden Mississippis zu zelebrieren. Nachdem 2011 „Renegade“ beim deutschen Label Ruf Records veröffentlicht wurde, hat er „Rough Out There“ jetzt komplett in Eigenverantwortung herausgebracht. Das Konzept ist so ähnlich wie bei der von Fans und Kritikern bejubelten 2-Man Wrecking Crew, die Malcolm vor Jahren mti Cedric Burnside gegründet hatte: Es braucht nur gute Songs und jede Menge Energie, um überzeugenden Blues spielen zu können. Bei Rough Out There fand er Unterstützung bei zwei Schlagzeugern, „Stud“ (alias Cals White, früher bei T-Model Ford) und Cam Jones. Nur bei vier Liedern spielt Luther Dickinson (North Mississippi Allstars) mit seiner Slidegitarre mit. Ansonsten: keine Ablenkung von den Songs über die heftige Realität eines Musikers. Lightnin Malcolm singt über notwendige Realitätschecks, über Chefs, über fehlendes Geld und die Arbeit ebenso wie über das Gefühl, dass das Leben ein einziges Wrack ist bei all dem Chaos, das noch dazu von den Frauen verursacht werden kann. Die Musik ist ähnlich hart wie die Texte: keine falsche Romantik, kein Zuckerguss: treibende und hypnotische Rhythmen und Riffs, wie sie typisch sind für den Norden Mississippis. Und so enwickelt „Rough Out There“ einen Sog und eine Dringlichkeit, wie sie im Blues viel zu selten geworden ist. Absolut empfehlenswert! Nathan Nörgel Mátyás Pribojszki Band - Treat Rick Estrin, Steve Baker und auch Jean-Jaques Milteau werden auf der Homepage des ungarischen Harpspielers Mátyás Pribojszki zitiert mit Lobeshymnen zitiert. Und wenn man sich das neue Album seiner Band „Treat“ anhört, dann versteht man auch warum: Ob traditionellen Blues zwischen Zydeco und Chicago oder modernere Sounds - mit einer atemberaubenden Virtuosität spielt Pribojszki alles. Und seine Band is kickin‘ ass! Es ist eine Schande, dass man den Blues gerade aus den osteuropäischen Ländern hierzulande kaum noch hört. Wenn es um Blues aus Ungarn etwa geht, dann fallen mir akutell zunächst nur Mississippi Big Beat und der Boogie Pianist Balasz Daniel sofort ein. Ab sofort werde ich Mátyás Pribojszki zu der kleinen Liste hinzufügen. Denn was er mit seiner Band auf „Treat“ abgeliefert hat, verdient eine uneingeschränkte Empfehlung. Dass Pribojszki als einer der besten Harpspieler seiner Heimat gilt, kann man in ziemlich jedem der zwölf Stücke hören. Und wenn Estrin, Milteau und Baker als Laudatoren genannt werden, dann wird auch die stilistische Vielfalt deutlich, die er in sein Spiel legen kann. Schon der losfetzende Opener „Zydecola boogie“ macht sofort gute Laune - das ist Harmonika-Boogie vom Feinsten. Wer sich jetzt 56 © wasser-prawda Platten aber innerlich auf eine ganz traditionelle Bluesscheibe eingerichtet haben soll, wird seine Überraschung erleben. Schon die Single „Real Good Man“ geht eher in Richtung Soulblues. Und auch der Titelsong ist mit seinem verhalten-treibenden Groove eindeutig im 21. Jahrhundert. Aus „Three Kisses of Love“ von den Bee Gees wird hier ein ganz traditioneller Pianoblues mit einer eher jazzigen Harp. „Gonna Take You Home“ ist so funky, dass es einen zum Schwitzen bringt. Und die Gitarre von Ferenc Szász ist trocken wie nur möglich. Doch dann kommen eben auch weitere klassische Boogienummern wie „Farmer John“ (D. Harris/D,Terry) oder der „Goobie Boogie“, bei denen Erik Kovacz sich auf dem Klavier ebenso austoben kann wie bei dem feienn Chicagoblues von „My Little Angle“. oder auch bei dem swingenden „She Put A Spell On Me“ (J. Milton). Und damit wird klar: Die Band ist nicht einfach nur ein Begleitinstrument des Chefs sondern in ihrer rhythmischen Vielseitigkeit und den instrumentalen Fertigkeiten der einzelnen Musiker schon eine Entdeckung für sich. Neben „Raw Blues“ von Will Wilde ist „Treat“ für mich eines der bemerkenswertesten Harpalben 2013. Nicht mehr und kein bisschen weniger. Raimund Nitzsche Niecie - Wanted Woman „Wanted Woman“ setzt da fort, wo „Beyond The Surface“ aufgehört hat: Niecie ist eine bissige, humorvolle und niemals langweilige Blueslady. Ihr Soulblues klingt zeitlos und reflektiert gleichzeitig ihre Biografie als Musikerin in Detroit, Chicago und den Casinos von Las Vegas. Nein, es sind nicht nur Janiver Magness oder Shemekia Copland, die heute das Erbe von Koko Taylor fortführen. Gerade in den letzten Jahren sind Sängerinnen bekannt geworden, die zwar noch nicht den internationalen Ruhm wie diese haben, die aber selbstbewusst und musikalisch packend ihren Platz beanspruchen. Und das sind nicht nur „Neulinge“ wie Shelley Lynn Hardinge sondern auch langgediente Künstlerinnen wie Shaun Murphy oder eben Niecie, die auf „Wanted Woman“ wieder Bluesgeschichten voller Power und Selbstbewusstsein erzählt. Nein, sie nicht das „Typical Chick“, dass sich ohne Aufwand verführen lasst von Blendern des männlichen Geschlechts. Sie regt sich auf, sie kampft und bettelt nicht um ein wenig Glück. Und gleichzeitig kann sie so mädchenhaft daherkommen, dass man glatt vergisst, wie lange diese Frau schon ihren Blues singt in den Clubs dieser Welt. Produziert wurde Wanted Woman von Musikerkollege Johnny Neel (Allman Brothers). Und der hat eine Band zusammengeholt, die genau den nötigen Biss von Gitarren und Bläsern vermittelt wie die groovende Atmosphäre der Hammondorgel. Herausgekommen ist ein Album, das einfach Spaß macht. (cdbaby) Nathan Nörgel Paper Aeroplanes - LiƩle LeƩers Es geht los mit Explosionen. „When The Windows Shook“ mag zwar als ziemlich schwereloser Indie-Folk-Rock daherkommen. Doch die Geschichte von diversen Explosionen in Ölraffinerieem in oder nahe bei Milford Haven in Wales spricht eine andere, melancholische Sprache. Und die zieht sich auch durch die ande- © wasser-prawda 57 Platten ren Songs von „Little Letters“ von Paper Aeroplanes alias Sarah Howells und Richard Llewellyn. Es sind vor allem die kleinen persönlichen Geschichten, die hier nachdrücklich ins Herz gehen. Etwa „Multiple Love“, diese Ballade über das Warten auf die einzig wahre Liebe, auf den Menschen, der einen vervollständigt und wirklich zum Leben in dieser Welt befähigt. Dieses Warten aufzugeben, fällt heutzutage leichter als der so scheinbar naive Glaube an die Große Liebe, auf die es zu warten lohnen würde. Paper Aeroplanes wollen einen daran erinnern, wie man selbst früher so romantisch war. Und mit „At the Altar“ kommt quasi dann auch noch die richtige Fortsetzung. „Palm of Your Hand“ könnte man bei der Hochzeit dann auch als passende Tanzmusik spielen - hier ist Wales schon fast CountryLand. „Little Letters“ sind musikalische Briefe voll schöner Melodien und kleiner Geschichten mit mehr Tiefgang, als man beim ersten Hören vermuten würde. (Navigator Records) Raimund Nitzsche Paul Lamb & Chad Strentz - Goin‘ Down This Road Unwiderstehlicher akustischer Blues. Diese drei Worte fassen das Album zusammen. Warum ist es unwiderstehlich? Weil Harmonikaspieler Paul Lamb und Gitarrist Chad Strentz zusammenpassen wie Eier und Schinken. Ihr Zusammenspiel auf „Goin‘ Down This Road“ bringt den Sound der frühesten Bluesmusik zum Leben vor der Ära der schreienden Gitarre. Das Album beginnt und endet mit einen Stücken. „The Underdog“ summt und funkelt ganz im Gegensatz zu seinem Inhalt, dass das Glück niemals gefunden werden kann. „Nothing But The Truth“ hat einen treibenden Beat, der an Sonny Boy Williamson II erinnert. Dazwischen gibt es bearbeitungen von Klassikern von Künstlern wie Big Bill Broonzy und Roosevelt Sykes. Es sind schnelle Songs, langsame Songs, humorvolle Songs und Lieder mit einem deutlichen Gospel-Feeling (wie „Pass Me Not“). Lamb und Strentz machen sie mit gesanglichen Ausbrüchen und instrumentalen Improvisationen zu ihren eigenen. Es ist schwer, einen Track als besondere Empfehlung herauszugreifen aus diesem tollen Hörerlebnis. Aber hör Dir unbedingt das Cover von Solomon Burkes‘s „Don‘t You Feel Like Cryin“ an. Das ist eine Straße, die es lohnt, hinabzugehen. (blueRoots) Darren Weale Perrecy - Du bist das Opfer Wer das Opfer ist, macht das Cover schon klar: Morrissey und The Smith. Ihre Hits werden von Perrecy nicht nur auf Ukelele gespielt sondern auch gnadenlos ins Deutsche übersetzt. Im Quatsch Comedy Club gab es vor Jahren mal die Rubrik „Lieder die die Welt nicht braucht“. Dort wurde die Magie von Ohrwürmen oft schon damit herzlich zerstört, indem man die Texte Wort für Wort ins Deutsche brachte. Das Ergebnis: Schnelle Lacher, aufmerksamerer Musikkonsum und neue Lieblingslieder. Zum Glück gehöre ich nicht zu den Menschen, die ihre Teenagerjahre in Begleitung der Songs von The Smith verbracht haben. Erst viel später lernte ich sie kennen und beschäftigte mich auf Anregung von Freunden auch mit dem Solowerk von Morrissey. Und ich verliebte mich in diese melancholischen Lieder auch ganz ohne Teenagerangst. Nein - es war mir klar: Das sind Lieder, die 58 © wasser-prawda Platten musikalisch und lyrisch weit über dem Durchschnittspop und -rock stehen. Und jetzt das: „Das ist ein Licht das niemals erlischt“ - Mit Ukelele und Rumpelversen zerlegt da ein Musiker eines der schönsten Lieder aller Zeiten. Gleich zwei CDs hat das Label Timezone dem bayrischen Musiker Perrecy eingeräumt, um sämtliche Hits der Smiths und aus dem Solowerk von Morrissey auf Deutsch umzudeuten: Da wird die Panik auf die Straßen bayrischer Städte verlagert. Die Melancholie des Rocksounds von The Smiths wird mit Ukelelen, Bass, Schlagzeug und ab und zu ein paar Tasteninstrumenten nachgebaut. Manchmal kann ich mir das Lächeln nicht verkneifen. Manchmal bin ich kurz davor, voller Wut die Platte aus dem Fenster zu werfen. Zwischen Amüsement und der Fomulierung einer Blasphemieanklage wechselt meine Stimmung hin und her. Manchmal sag ich: genau so sollte man das übersetzen. Manchmal könnte ich vor Wut in den Tisch beißen. Also genau: natürlich hat Perrecy ein paar packende Versionen gemacht. Und natürlich werde ich nicht der Einzige sein, der zwischen Faszination und Wut schwankt. Was aber der Kritiker in mir ernsthaft anmerken muss: Man kann die zwei CDs nicht am Stück durchhören. Dann wird man übersättigt und letzlich gelangweilt. Eine wohldosierte Anwendung allerdings kann man nur empfehlen. (Timezone) Raimund Nitzsche Roy Harper - Man & Myth Led Zeppelin hat ihn in einem Lied verewigt. Und selbst wer noch nie Songs des Songwriters Roy Harper gehört hat, kennt wahrscheinlich seine Stimme aus „Have A Cigar“ von Pink Floyd. Nach 13 Jahren hat der Folksänger wieder ein Album unter eigenem Namen veröffentlicht und das ist so unzeitgemäß wie faszinierend. „Willkommen in den 70ern!“, fühlt man sich versucht auszurufen. Aber nein: Die 70er mögen zwar ähnlich geklungen haben: voller Harmonien, der Himmel teils wolkig, teils voller Geigen hängend. Doch diese musikalische Welt hier ist absolut einzigartig. Willkommen in den Mythen von Roy Harper, zu den Predigten eines aus der Zeit gefallenen Troubadours, der sich früher schon mal als bärtiger Jesus, der übers Wasser geht hat auf Plattencovern verewigen lassen. Heute ist er 72 Jahre alt, doch seine Stimme kann vom Wispern bis hin zum knurrend-wütenden Forte alles. Und seine Songs, die manchmal an die mäandernden Unendlichkeiten von Bob Dylan und dann wieder an den zynisch-humorvollen Blick der Kinks erinnern nehmen schon mal gar keine Rücksicht auf die Generation Zapp: Zwei Lieder sind länger als sieben Minuten und sind schon unterträglich für den normalen Ritalin-Konsumenten. Und „Heaven Is Here“ ist mit 15 Minuten schon fast an der Maximallänge einer evangelischen Predigt angelangt. Doch wie singt Harper so zutreffend: Zeit ist auch nur ne temporäre Angelegenheit. In diese Lieder zwischen Lamento und gebremsten Furor kann man sich getrost fallen lassen. Raimund Nitzsche Sean Chambers - The Rock House Sessions Erstmals als Solist mit jeder Menge Gastmusikern hat Sean Chambers sein neues Album „The Rock House Sessions“ einge- © wasser-prawda 59 Platten spielt. Der klassische Sound des Bluesgitarristen wird dabei oftmals in Richtung Jamrock, Southern und auch in soulige Gefilde ausgedehnt. Klar, den Texas-Blues hat der ehemalige Bandleader von Hubert Sumlin noch immer drauf: Wenn das Album mit „World On Fire“ losgeht, dann passiert genau das. Der Saitenhexer setzt den Titel unter große Hitze. Und der Text ist ein Gebet, was um mehr feurige Liebe in dieser Welt bittet. Auch „Your Love Is My Disease“ kommt ganz klassisch bluesrockig daher, während das von Bob Seeger bekannte „Come To Popa“ mit vollem Bläsersatz in Richtung Soulrock abhebt. Bei „Healing Ground“ kann man dafür dann Anklänge an die frühen Faces und Alvin Lee‘s „Choo Choo Mama“ ist ganz im Geiste von Ten Years After - und das äußerst mitreißend. „Live From The Long Island Blues Warehouse“ kam 2011 bei uns unter die Top 3 der besten Live-Alben. Ob die „Rock House Sessions“ ähnliches im Studiobereich schaffen können, bleibt abzuwarten. Die musikalische Qualität und vor allem auch die mitreißende Spielfreude von Chambers und seinen Kollegen ist auf jeden Fall hervorragend. Nathan Nörgel The California Honeydrops - Like You Mean It! Mit ihrem dritten Studioalbum haben The California Honeydrops ihr Soundspektrum von Blues, Jazz. Swing und Jugband in Richtung Soul erweitert. „Like You Mean It!“, veröffentlicht schon im Frühjahr 2013 kam hier rechtzeitig im Spätherbst an, um die Herbstdepressionen zu bekämpfen. Vielleicht sollte man doch einfach nach Kalifornien auswandern - schon allein die dortige Musikszene hat genügend Sonne abbekommen, um sofort die Gedanken an den nassen Spätherbst vor dem Fenster zu vertreiben. Zumindest wenn es sich um eine solch ausgewiesene Party-Band wie die Honeydrops handelt. Mit einer Leichtigkeit servieren sie auf ih „Like You Mean It“ eine jazzige Soulmusik, die mit exzellenten Solos, vertrackten Harmoniegesängen und einem unwiderstehlichen Groove so nicht so schnell wo anders finden kann. Waren die ersten beiden Alben der Band um Sänger/Trompeter/Songschreiber Lech Wierzynski noch stark von der Herkunft aus der Straßenmusik geprägt mit ihrer unbändigen Spielfreude, die über sämtliche Ecken und Kanten hinwegsehen lässt, so ist bei „Like You Mean It“ durchaus eine Professionalisierung eingetreten. Das ist ein von vorn bis hinten großartig produziertes Album geworden, Und es hat das Zeug, ein Lieblingsalbum nicht nur für die dunkle Jahreszeit sondern auch für sommerliche Grillabende oder die hoffentlich bald wieder beginnenden Soulparties zu werden. Da kann man die beinharten Funkfans sicherlich ganz schön aus dem Konzept bringen, wenn urplörzlich wie in Carolina Peach jazzige Ragtimerhythmen oder auch der Streetjazz aus New Orleans erklingt. Raimund Nitzsche The Liberators - Power Struggle Afrobeat ist zuallererst politische Musik. Das rufen einem die Titel von „Power Struggle“, dem zweiten Album der australischen Band The Liberators unmissverständlich in Erinnerung. Doch wer sagt, dass man die Revolution nicht tanzend gewinnen kann? 60 © wasser-prawda Platten Der Funk Nigerias in den 70er Jahren spielt bei der Band aus Sidney natürlich die Hauptrolle. Doch die zehnköpfige Truppe bedient sich bei ihrer Instrumentalmusik auch beim Jazz der Brass Bands aus New Orleans, sie zitieren Latinrhythmen, Soul und natürlich auch den klassischen Funk aus den USA. Und wenn wie im an den arabischen Frühling gemahnenden Opener „Cairo Uprising“ auch arabische Melodielinien benötigt werden, was spricht dagegen? Und sie tun das mit einer Energie und Präzision, die atemberaubend ist. Man will zunächst gar nicht glauben, dass „Power Struggle“ live und ohne Overdubs im Studio direkt aufs Band gebannt wurde. Hier wird deutlich, wie gut die Band durch ihre zahlreichen Live-Shows ist: The Liberators sind im weitesten Feld der Weltmusik eine der Gruppen, denen man unbedingt mal auf einem Festival begegnen sollte. Wenn Weltmusik gleichzeitig so großartig, tanzbar und ebenso politisch engagiert ist, dann sollte man aufhören, den Begriff abwertend zu verwenden. The Liberators zeigen, wie man voller Respekt die verschiedensten Stile verschmelzen kann ohne beliebig zu sein. (Record Kicks) Nathan Nörgel Thomas Ford - Breaking Everything But Even In Großbritannien zählt man Thomas Ford zu den kommenden Stars in dern Bluesszene. Auch auf seinem akutellen Album „Breaking Everything But Even“ hört man einerseits seine Liebe zum Deltablues der Vorkriegszeit und gleichzeitig einen Sognwriter, der sich nicht nur im Wiederholen von veralteten Klischees verliert. Als er seine erste Resonator-Gitarre hatte, wollte er gleich so klingen wie Son House. Und auch für Mississippi Fred McDowell hat Ford offensichtlich ne Menge übrig. Selbst einem klassischen Beerdigungsmarsch a la New Orleans kann er sich nicht verkneifen (Peace Inside Blues). Doch niemals kommt „Breaking Everything But Even“ so bewusst auf konsequenten Retro-Sound getrimmt vor wie etwa bei Pokey LaFarge oder C.W. Stoneking. Wenn es ihm richtig erscheint, wird der Gesang auch mit Effekten versehen. Und auch die Stromlosigkeit ist auf dem Album kein Dogma: Schon der Opener „You Ain‘t What You Used To Be“ verdankt Elmore James mehr als Robert Johnson. Und der Klassiker „Bottle Up And Go“ lebt beim vor allem aus dem Kontrast zwischen Hammondorgel, Ragtime-Gitarre und der dreckigen Harp. Sowohl als Gitarrist als auch mit der Bluesharp ist Ford hervorragend. Man kann sich gut Solokonzerte mit den Songs des Albums vorstellen. Doch eigentlich machen sie noch mehr Spaß, wenn sie wie hier von einer druckvollen Band angetrieben werden: So ist Blues sowohl traditionell als auch mitreißend und unterhaltsam. Raimund Nitzsche Tommy Z - SomeƟmes Rockig wie Stevie Ray Vaughan, groovend wie Howlin Wolf, deftig und unpoliert, wie man es von Bluesrock erwarten sollte: Tommy Z veröffentlichte mit „Sometimes“ zwar erst sein zweites Album. Doch dem hört man die jahrzehntelange Erfahrung als Gitarrist hinter so ziemlich jedem Musiker zwischen Pinetop Perkins und Ian Gillan an. © wasser-prawda 61 Platten Mit dem Opener hat er sofort meine Aufmerksamkeit: Wie ein Schlag in den Magen knallt „Roger That“ los. Ein Instrumental, was derartig an Stevie Ray Vaughans beste Zeiten erinnert, dass sich einem die Haare auf den Armen sofort aufrichten. Doch dieser trocken auf Höchstgeschwindigkeit daherrockende Song bildet nur das einze Extrem des äußerst vielseitigen Musikers. Wenn er Willie Dixons‘ „300 Pounds of Joy“ einer Schlankheitskur unterzieht, dann betriff t das nur den Text. Musikalisch groovt die Nummer dahin (samt Bläsern) wie zu den besten Zeiten des Chicago-Blues. Und Johnny „Guitar“ Watsons „Gängster of Love“ wird vom Funk entkleidet zum bösartig dahinstampfenden Blues. „Sometimes“ hat natürlich nicht nur Cover sondern besteht vor allem auch aus eigenen Stücken des Gitarristen/Songwriters. Und auch die passen ohne Rest hinein: Funky, rockend und schweißtreibend. Und das dürfte vor allem die Fans virtuoser Bluesrockgitarren begeistern. Nathan Nörgel Tony McLoughlin - The Contender Er kommt eigentlich aus Irland. Doch sein aktuelles Album „The Contendert“ entstand in Nashville. Zu Gast waren dabei neben Studiomusikern von dort auch die Gitarristen Thomm Jutz, Timo Gross und Mick McCarney. Deutsche Fans von Rootsrock und Americana haben die Songs von Tony McLoughlin wahrscheinlich schon länger im Ohr, sind seine ersten Alben doch hierzulande von Glitterhouse veröffentlicht worden. Seit einigen Jahren allerdings ist er für seine Aufnahmen immer wieder nach Nashville gezogen. „The Contende“ ist ein Album geworden, was mit seinen rockigen und oftmals melancholischen Songs die ganze Palette von Americana bedient: Melancholisch rockend entsteht vor dem inneren Auge das Bild langer staubiger Highways, kleiner Ortschaften am Rande des Vergessenwerdens. Und McLoughlins Geschichten erzählen die dazu passenden Geschichten, während die Gitarren Erinnerungen an Neil Young ebenso wachrufen wie an den früheren Dylan oder an Tom Petty. Manchmal wie bei „Moonshadows“ kommen gar Erinnerungen an die späteren Dire Straits in den Sinn. Doch nirgendwo klingt das wie wahllos zusammengesuchtes Referenzmaterial. Das sind Lieder, die meist unaufdringlich sofort ins Ohr und ins Herz gehen. Das sind Songs, bei denen einem das Büro plötzlich viel zu klein vorkommt und man hinaus will auf die Straße und los bis zum Horizont: Für mich ist „The Contender“ eine echte Entdeckung. Für Freunde erdiger Rootsrock-Klänge ist es eine echte Empfehlung. Nathan Nörgel Van Morrison - Moondance. Expanded EdiƟon „Astral Weeks“ zählt zu den besten Alben der Popgeschichte überhaupt. „Moondance“, Van Morrisons Nachfolgewerk, ist in gewisser Weise das Gegenstück zu diesem Monolithen. Jetzt ist das 1970 veröffentlichte Album sowohl als Expandet Edition (mit einer Bonus-CD) als auch in verschwenderischer Deluxe-Fassung mit drei Bonus-CDs und als BluRay.Abmischung im 5.1 Surround. Beethoven hatte zu seiner sechsten Sinfonie (Pastorale) Höranweisungen geschrieben, um die ländliche Atmosphäre der Komposi- 62 © wasser-prawda Platten tion zu erläutern. Ähnliches könnte man auch zu „Moondance“ schreiben, dieser Feier des ländlichen Lebens. Zeitlose Schönheit in einer Mixtur aus Blues, Soul - Lieder wie „Caravan“, der großartige Titelsong oder „Into The Mystic - entfalten einen Zauber und sind gleichzeitig so zugänglich, wie es wenige der frühen Solowerke Van Morrisons sind. Insgesamt ist „Moondance“ eines der Alben, bei dem man sich nicht vorstellen kann, wie man sie in den so beliebten erweiterten Fassungen neu präsentieren will. Doch gerade die „Expanded Edition“ macht eines klar: Dieses Album entstand nicht am Reißbrett oder besser dem Schreibtisch eines Komponisiten sondern entwickelte sich aus beseelten Jams der beteiligten Musiker. Auf der Bonusscheibe kann man neben „Nobody Knows You, When You‘re Down And Out“ und dem bislang unveröffentlichten „I Shall Sing“ Ergebnisse dieser Sessions, die die allmähliche Annäherung an die Magie der Songs nachvollziehbar machen. Nur für Hardcorfans interessant sein dürfte allerdings die komplette Deluxe-Variante, die diese Jams in chronologischer Abfolge vollständig auflisten. „Moondance“ ist eines der großartigsten Alben der Geschichte der Popmusik, der Inbegriff von Van Morrisons eigener Variante des Blue Eyed/Celtic-Soul. Und wer dieses Meisterwerk noch nicht kennt, der sollte jetzt unbedingt zugreifen. (Warner) Raimund Nitzsche Wooden Horse - This Kind Of Trouble „This Kind Of Trouble“ von Wooden Horse ist eine (zumeist) helle und freundliche Sammlung von Songs. Das Album beginnt mit „A Big Deal“, das ein paar der Beat- und Gesangskombinationen des großartigen Albums „Delta Time“ von Hans Theesink und Terry Evans hat. Und das ist wahrscheinlich auch der beste Vergleich aus der jüngeren Vergangenheit, den man für dieses Album insgesamt finden kann. „You Ain‘t Letting Me Down“ ist wesentlich schneller und eilt mit lebhaftem Klavier und Saitenklängen dahin und erinnert an einige der weniger aggressiven Nummern von Jerry Lee Lewis. „Get It Right“ ist langsamer und nachdenklich, während bei „All Along“ Sänger Jamie Knight überraschenderweise wie Crooner Bing Crosby klingt. Auch wenn das ein Name ist, der eher nicht für Blues, Folk oder Country steht, die die man auf diesem Album zu hören bekommt, konnte Crosby definitiv singen, so dass dieser Einwand irrelevant ist. „Crazy Mama“ perlt voll positiver Stimmung dahin und solltest Du das minderschwere Verbrechen in Erwägung ziehen, nur eine Nummer des Albums anzuhören, dann ist das das Lied. Wenn Du die gehobene Stimmung beibehalten möchtest, dann solltest Du nicht direkt den nächsten Song „The Walking Rain“ anschließen. Das ist ein tolles Lied, aber so traurig, gleichzeitig wunderschön und zum Heulen. Insgesamt haben wir also Lieder, um die Stimmung anzuheben, oder sie zu drücken. Du solltest also die Songauswahl des Albums sorgfältig treffen. Aber gut sind die Lieder alle. (www.woodenhorsemusic.co.uk) Darren Weale © wasser-prawda 63 Platten Made in Kanada Von Nathan Nörgel Dan McKinnon - As Sharp As Possible Scharfe Riffs, deftige Rhythmen - das Debüt des kanadischen Bluesrockers Dan McKinnon ist kräftige Kost für alle Fans des Genres. Das muss man laut hören! Mal wieder macht sich ein neuer Gitarrenheld auf, die Bluesrockwelt zu erobern. Und man hört dem Kanadier an, dass er in den letzten Jahren in Großstädten wie Los Angeles, New York und Chicago gespielt hat. Songs wie der Opener „Ain‘t Looking Back“ erinnern manche an Bands wie Foghat. Doch man kann auch die Einflüsse von Gitarristen wie Buddy Guy, Freddie King und ab und zu sogar jazzige Wendungen und etwas Pop vernehmen. Was mir noch fehlt sind eine wirklich deutlicher erkennbare persönliche Sprache und Songs, die sich wirklich im Ohr festsetzen. Hier hat McKinnon noch jede Menge Entwicklungsmöglichkeiten für die nächsten Jahre. Doch für Fans des Bluesrock kann man nur sagen: Anlage aufdrehen und abrocken. David Blair - I Hate Liking You Akustischen Pop spielt David Blair aus Vancouver. Die fünf Songs auf seiner aktuellen EP „I Hate Liking You“ sind radiofreundlich und doch teilweise von einem teils verschmitzten Humor durchzogen.Lieder wie der Titelsong haben durchaus Hitpotential. Als Songwriter braucht er aber vielleicht noch ein paar Jahre, um auch größere und ernstere Geschichten zu erzählen. Jadea Kelly - Clover Mit Folk und in einer Metalband hat die kanadische Sängerin Jadea Kelley bislang ihre Sporen verdient. Auf ihrem aktuellen Soloalbum „Clover“ erzählt sie Geschichten vom Leben einer fahrenden Musikerin ebenso wie von ihrer Arbeit auf der Farm. Manchmal fühlt man sich bei dieser Stimme an Portishead erinnert. Und auch die Orgelsounds, die Streicher und die Bässe aus dem Synthesizer sind nicht das, was man auf einem „normalen“ Album einer aus dem Folk kommenden Songwriterin erwarten würde. Stücke wie „Powell River“ schwingen sich langsam zu umwerfenden Hymnen auf, entwickeln eine Strahlkraft, die dann irgendwann wieder in verhallten Räumen verklingt. Und wenn „Lone Wolf“ beginnt, glaubt man erst mal wieder, die völlig überflüssigen Reminiszenzen an den Elektropop der 80er zu hören, bevor man feststellt, dass trotz des elektronischen Grundsounds dieses Lied mehr mit Folkmelodieen der jungen Rebecca Pidgeon zu tun hat als mit dem gegenwärtigen 80s Revival. „Glover“ überzeugt mit einem absolut einzigartigen Sound, einer großartigen analogen Produktion und mit Songs, die völlig frei von falscher Romantik sind: Jadea Kelly hat lang genug als Musikerin und auf der Farm gearbeitet, um hier keine falschen Trugbilder aufzubauen. Doch sich lässt sich auch nicht das Träumen verbieten. Und ihre Melancholie ist niemals ohne Hoffnung. (True North/Alive) Maria In The Shower - The Hidden Sayings of Der Bandname ist schon mal eingängig. Auch wenn man nach dem Hören des Albums „The Hidden Sayings of Maria In The Shower“ die Frage stellen kann, was er denn bedeuten soll. Aber 64 © wasser-prawda Platten das kann man getrost auch lassen. Das führt genausowenig zu einem zwingenden Ergebnis wie der Versuch, diese Musik in eine Schublade zu packen. Das Quartett aus Vancouver (ohne eine Maria) bezeichnet sich als Folk Cabaret. Und das ist wahrscheinlich ebenso zutreffend wie der Versuch, die Band als moderne Form einer Vaudeville-Show zu betrachten. Auf dem (bereits 2011 erschienenen) Debüt geht es von Gypsy-Musik über OldtimeJazz, klassichem Folk bis hin zu heftigem Rock & Roll. All das wird mit heftigen Kontrasten inszeniert, was in der Verankerung der Truppe in der Theaterszene seine Ursache haben dürfte. Und entsprechend geht es bei den Liedern auch nicht um eine historisch korrekte oder eine persönlich akkurat stimmige Musik sondern um die Darbietung einer Show, die beides verbindet. Und da wird dann gefordert, keine Mauer rund um den Friedhof zu errichten (weil doch keiner versuchen würde, reinzukommen). Jesus bekommt ein Ständchen zum Valentinstag. Und immer wieder ganz traditionelle Folksongs wie „Star of Bannack“ und düstere Cabaret-Musik wie „Tomorrow‘s Song“. Abwechslungsreich, unterhaltsam und unwahrscheinlich mitreißend! Melanie Dekker - Distant Star Die Songwriterin Melanie Dekker hat mit konstanten Tourneen hierzulande sich zumindest in Insiderkreisen eine eingeschworene Fangemeinde erspielt. Auch ihr aktuelles Album „Distant Star Ist wiedeer eine Sammlung von lyrischem Folkpop mit ein wenig Countryflair und viel Liebe zu den Idealen der Hippiezeit. Für jemanden, der Lieder wie „Worry Gets You Nowhere“ oder „The Price You Pay“ schreibt, darf man getrost den Namen Liedermacher verwenden. Obwohl natürlich die Bezeichnung Singer/Songwriter viel gängiger ist und auch weniger klischeebeladen ist. Auf jeden Fall hat Melanie Dekker für „Distant Star“ wieder kleine, unspektakuläre Alltagsgeschichten und persönliche Betrachtungen in Musik gefasst. Und diese Lieder sind mit ihrer Wärme und Ehrlichkeit die richtige Therapie gegen die beginnenden Winterdepressionen. Diese Songwriterin trägt ihr Herz auf der Zunge und in ihren Fingespitzen. Und die Produktion von Allan Rodger, der auch diverse Instrumente gespielt und beim Schreiben der Lieder beteiligt war, kommt mit dem Einsatz einzelner zusätzliche Instrumente wie einem Banjo oder der prägenden Klarinette bei „Black Swan“ aus. New Country Rehab - Ghost of your Charms Rehabilitation hat diese Band ganz sicher nicht nötig. Oder haben sich die Musiker, die 2011 mit der Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Debüts als eine der besten Americana/Folk-Rock-Bands in der Szene bekannt wurden, vorher einer solchen unterzogen? Ihr zweites Album jedenfalls ist ein Musterbeispiel dafür, wie man heute Country spielen sollte, wenn man nicht aus traditionsverliebten Landkommunen sondern aus der Großstadt stammt. Über die Vergleiche zu Mumfords and Sons können NCR wahrscheinlich nur lachen. Ich jedenfalls hab mich drüber köstlich amüsiert. Denn was die Truppe macht, ist wesentlich traditioneller (auf der einen Seite), gar zum Squaredance animierend (wie schon im ganz langsam losgehenden Opener „Empty Room Blues“). Andererseits schreiben die Musiker Songs, die von der Güte her eher mit REM verglichen ewrden sollten. „Luxury Motel“ beispielsweise © wasser-prawda 65 Platten ist für sich allein schon den Kauf dieses Albums wert. Doch auch „Rollin“ oder das wundervolle Schlusslied „Too Many Parties and Too Many Pals“ sind Folk-Rock vom allerfeinsten. Überall ist ein tiefer Respekt vor den traditionellen Spielweisen von Folk und Country spür- und hörbar. Doch eine echte oder vorgespielte Altertümlichkeit wird man bei New Country Rehab nicht finden. Und auch keine aufgesetzten Rock-Attitüden. Soulstack - Five Finger Discount „Big Red“, das Debüt der kanadischen Band „Soulstack“ gehörte für mich 2012 zu den hörenswertesten Neuentdeckungen. Entsprechend gespannt war ich dann auch auf das Nachfolgewerk. „Five Finger Discount“ ist wieder eine Sammlung überzeugender Songs zwischen Bluesrock, Soul und Americana geworden. Da ist er wieder unterwegs, der rote Traktor, der schon auf dem Debüt zu sehen war. doch diesmal ist er eher in der Stadt unterwegs, ist die Musik von Soulstack weniger ländlicher Blues als städtischer Soulrock, der manche Kollegen gar zu Vergleichen mit dem Jamrock von Grateful Dead herausforderte. So weit muss man gar nicht ausholen. Denn die Musik der Kanadier hat auch heutzutage einige Verwandte: den Funkblues a la Louisiana hört man auch bei der TTB, andere mehr gradausgespielte Rocker sind CCR verwandt. Und wenn dann Slidegitarren erscheinen, dann sind Bonnie Raitt und Ry Cooder bestimmt nicht weit. Manche Harmoniegesänger erinnern dann gar an die Holmes Brothers. Doch wie schon „Big Red“ ist auch „Five Finger Discount“ wieder ein eindeutiges Bandprodukt: Jon Knight und seine Kollegen sind als Musiker und Songwriter absolut überzeugend und mitreißend. Ihre Lieder entziehen sich der Kategorisierung, die immer die Hilfskrücke des Rezensenten ist. Sie ziehen einen unwillkürlich hinein in ihre Welt zwischen Liebesschmerz und Sehnsucht, zwischen Party und Alltag. Und sie schaffen es, die professionelle Maske des Hörers nicht nur anzukratzen sondern herunter zu reißen, dass er sich mal wieder ganz auch auf sein Gefühl verlassen muss. Bei „Five Finger Discounts“ ist nichts billig. Das ist ein zutiefst anrührendes und faszinierendes Album. Für mich ein Kandidat für die Liste der Platten 2013. 66 © wasser-prawda Platten Weihnachtsplatten Auch dieses Jahr wie jedes Jahr kommt für den Nörgler die schwerste Herausforderung: Das Hören von Weihnachtsalben. Bislang sind es erst zwei, die hier in der Redaktion eingetrudelt sind. Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Die Frage ist die Gleiche, die ich mir auch schon im letzten Jahr gestellt habe: Schafft 2013 ein Album, langfristig in Erinnerung zu bleiben? Zuletzt hatte das bei mir Boy Dylan geschafft.Von Nathan Nörgel. Bright Eyes - A Christmas Album Schon 2002 erschien das von den Bright Eyes eingespielte Weihnachtsalbum, damals zunächst online. Jetzt wird die Sammlung der von Conor Oberst arrangierten traditionellen Weihnachtslieder erneut herausgegeben. Man hat diese Scheibe schon mal als das schwermütigste Weihnachtsalbum bezeichnet. Lieder wie „Away In A Manger“ oder „Silent Night“ sind hier weniger besinnlich als tieftraurig. „The Little Drummer Boy“ ist gar so düster, dass man sich aus Verzweiflung gern die Kugel geben möchte. Zum Glück gibt es mit „God Rest Ye Merry Gentlemen“ wenigstens eine Aufmunterung zwischendurch. Wer über die Feiertage ein wenig mehr Ruhe als gewöhnlich braucht, wird hier die passende Begleitung finden. Doch wer wirklich Weihnachten als eines der fröhlichsten aller denkbaren Feste feiern möchte, sollte hier die Finger von Lassen. Dieter Kropp - Eine schöne Bescherung Es swingt, es klingelt, die Lieder sind zum größten Teil bekannt: Bluesharp-Virtuose Dieter Kropp hat sich für sein Weihnachtsalbum nicht nur die amerikanischen Klassiker sondern auch deutsche Lieder wie „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ oder „Morgen Kinder wird‘s was geben“ rausgesucht. Weihnachtsplatten von Elvis oder auch von Götz Alsmann haben Kropp begeistert. Und auch die Chöre mit deutschen Liedern. So verwundert es nicht, dass „Eine schöne Bescherung“ dann auch gleich mit echten Kirchenglocken losgeht, die „Süßer die Glokken nie klingen“ einleitend. Bei „Jingle Bells“ (Ein kleiner weißer Schneemann) präsentiert sich Kropp wie eine Kreuzung aus Alsmann und Ted Herold im swingenden Rock & Roll. Und auch „Winter Wonderland“ klingt fast so wie eine der deitscjem Aufnahmen, die amerikansiche Stars in den 50er und 60er Jahren zu machen gezwungen wurden. Aber das macht in seiner Nostalgie schon wieder Spaß. Und bei „Schöne Bescherung“ ist dann sogar ein munterer Weihnachtsblues zu entdecken. Da passt auch die deutsche Fassung von Mary Christmas Baby von Charles Brown hervorragend. Insgesamt ist das eine gelungene Bescherung: nicht zu kitschig, nicht nur besinnlich und mit jeder Menge Charme werden hier bekannte Lieder und paar neue Nummern präsentiert, die nach nem ausgiebiegigen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt „Last Christmas“ aus den Gehörgängen vertreiben können. Und außerdem: ein absolut familientaugliches Album! © wasser-prawda 67 Feuilleton 20.1.90 Bez. Cottbus: Demonstration- Mehr als 2.000 Betroffene Bürger demonstrierten in Klitten gegen die Zerstörung ihrer Gemeinde durch vorrückende Tagebaue ab 1993. Auf ihrer 5. Umweltdemo forderten die Sorben den Erhalt der Lausitz und ihres traditionellen Siedlungsraumes. (Foto: Rainer Weisflog/Bundesarchiv 183-1990-0120-035) Lausitzer Bodenschätze und der Kueka-Stein Von Peter Kroh. Mitte des Jahres 2012 berichteten einige Zeitungen, 1998 sei aus dem Nationalpark Canaima in Venezuela ein 30 Tonnen schwerer Fels, der sogenannte Kueka-Stein, entwendet und nach Berlin verbracht worden. Seit damals, so liest man, protestieren dagegen ca. 30.000 Angehörige des dort beheimateten Volkes der Pemón. Der Diebstahl war ihnen keineswegs gleichgültig; sie besaßen damals nur nicht die Mittel, sich wirkungsvoll zu widersetzen und fanden bei der damaligen Regierung kaum Unterstützung. Tatsächlich sehen die Pemón die Entwendung des Steins als Misshandlung und Zerstörung von etwas, was ihnen heilig ist. Für sie ist es zudem eine Wiederkehr kolonialistischen Verhaltens, wenn sich die Mächtigen, in diesem Fall Deutsche, die Reichtümer anderer Völker aneignen, ohne sich um deren Traditionen und Rechte zu kümmern. Konkrete rechtliche Regelungen besagen, im Nationalpark Canaima darf nichts von seinem Standort entfernt werden. Ein entsprechendes Schreiben der zuständigen Senatskommission ging vor dem Abtransport an die deutsche Botschaft. Nach der Auffassung des venezolanischen Instituts für kulturelles Erbe (IPC), das sich um die Rückführung des Steins bemüht, ist 68 © wasser-prawda Feuilleton die Entwendung eine respektlose Missachtung der Rechte und der Kultur der Pemón. Mit den Stimmen aller Parteien hat die Nationalversammlung Venezuelas darum 2012 die Forderung nach einer Rückgabe des Kueka-Steins unterstützt. In Kundgebungen vor der deutschen Botschaft wird diese Forderung immer wieder bekräftigt. Die neue Verfassung Venezuelas anerkennt und schützt autochthone Ethnien, ihre Kultur, ihre Territorien und ihre Sprache. Das hat deren Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigene Identität gestärkt. Deshalb fühlen sie sich auch heute ermutigt, für ihre Rechte, ihre Kultur, ihre Traditionen und Mythen einzutreten. Einstweilen liegt der Kueka-Stein geschliffen und leider auch beschmiert als Kulturdenkmal im Berliner Tiergarten. Der deutsche Professor Dr. Bruno Illius vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin stellte bei einer Gesprächsrunde in der Botschaft Venezuelas am 3.7.2012 mit deutsch-kolonialer Überheblichkeit fest, ein Stein könne nichts Heiliges sein, das Ganze sei nichts weiter als ein Propaganda-Akt der Regierung Venezuelas. Der Präsident des IPC, Raúl Grioni, erklärte dagegen auf einer Pressekonferenz Mitte Juni 2012 in Berlin: „Es geht bei der ganzen Geschichte um die Rechte aller Bürger der Bolivarischen Republik Venezuela und vor allem um die Rechte der Minderheiten.“ Das Volk der Pemón kämpft weiter um seinen Stein, unterstützt von anderen autochthonen Ethnien. Entfernte Verwandte in Nordamerika haben inzwischen ihr Eigentumsrecht an den Bodenschätzen ihrer Heimat erstritten. Was hat das mit den Lausitzer Bodenschätzen zu tun? Wenig und Viel! In unseren Zeitungen findet man keine Meldung, es sei etwas aus der Lausitz weggeschafft worden, was den Sorben/Wenden gehöre. Die Lausitz, eine Region, deren Charakter vor allem das einzigartige Biotop des Spreewalds sowie weite Heide-, Seen- und Berglandschaften und mehrere Naturparks prägen, ist seit mehr als einem Jahrtausend Heimat der heute noch etwa 60.000 Sorben. Gerade deshalb ist die Zerstörung der Lausitzer Landschaft durch den Braunkohleabbau vielen Sorben (und erfreulicherweise auch manchen Deutschen) durchaus nicht gleichgültig. Der sporadisch laut werdende Protest ist allerdings derzeit noch nicht wirkungsvoll genug, wird von den Verantwortlichen oft bagatellisiert und von der Bundesregierung kaum beachtet. Das derzeitige Stopp-Zeichen für die Vernichtung der Dörfer Atterwasch (Wótšowaš), Grabko (Grabk), Kerkwitz (Kerkojce) und die Information des brandenburgischen Braunkohlenausschusses, im Jahre 2013 die Planungen erneut für zwei Monate öffentlich auszulegen, könnte ein hoffnungsvoller Hinweis darauf sein, dass die Deutschen Abstand von der kolonialistischen Beseitigung von Lebensräumen der Sorben/Wenden nehmen und der Geringschätzung ihrer Traditionen und Rechte ein Ende setzen. Für mehr Gerechtigkeit sind Rechtvorschriften zum Umgang mit der Lausitzer Natur notwendig, welche die kulturellen und sozialen Interessen der Sorben, der autochthonen Bevölkerung der Lausitz berücksichtigen. Noch zu selten setzen sich die politischen Parteien im Bund entschieden dafür ein. Zwar wurden im Mai 2012 im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des Bundestages diesbezügliche Anträge erörtert, aber jede Oppositionspartei stellte ihre eigenen. Der Antrag der SPD (Drucksache 17/9560) zielte auf mehr Transparenz bei bergrechtlichen Verfahren und stärkere Einbeziehung des Umweltschutzes. Der Antrag der LINKEN (Drucksache 17/9034) © wasser-prawda Peter Kroh: Die Lausitzer Slawen. Ein Rückblick in die Zukunft [Regionale Literaturen Europas, Band 2. Herausgegeben von Jürgen Buchmann.] Erscheinungsdatum: 10.03.2014 Softcover, ca. 120 Seiten Preis: 12,95 EUR (D) ISBN: 978-3-943672-29-9 Wer sind die Sorben? Ein kleines slawisches Volk, das seit über einem Jahrtausend in der Lausitz lebt – länger als die Deutschen. Ein friedfertiges Volk, das niemals Kriege geführt, doch eine blühende Literatur, bedeutende Beiträge zur Wissenschaft und eine farbenreiche, bezaubernde Folklore hervorgebracht hat. Ein unbeugsames Volk, das seine melodischen Sprachen und Mundarten sowie seine Kultur trotz vielhundertjähriger Verfolgungen und Verbote durch die Deutschen wie durch ein Wunder bewahrte. Seit Jahren diskutieren vor allem Sorben, aber auch Deutsche in der Lausitz – leider zu oft nur in kleinen Zirkeln, selten in der breiten Öffentlichkeit – über die zahlreichen Bedrängnisse und Bedrohungen, denen das kleine Volk ausgesetzt ist. Es geht dabei u. a. um die Abbaggerung sorbischer Heimat durch große Energiekonzerne, um die Finanzierung des kulturellen Lebens über die von Deutschen dominierte Stiftung für das sorbische Volk, um ungenügende Möglichkeiten, die eigenen Belange selbst zu bestimmen, um Verunreinigung des Spreewaldes, um die Zerstörung sorbischer Schilder und Wegkreuze. Zu diesen und anderen Problemen hat Peter Kroh – Enkel und Biograph des wohl größten politischen Denkers 69 Feuilleton der Sorben, Jan Skala (18891945) – im Nowy Casnik, der letzten noch lebenden Zeitschrift in wendischer Sprache, eine Serie exemplarischer Artikel publiziert, die nun gesammelt und in wendischer, deutscher und obersorbischer Fassung vorliegen. Die klarsichtigen Analysen, die ein Jahrhundert deutscher Sorben-Politik Revue passieren lassen, um daraus konkrete politische und juristische Forderungen für ein künftiges Zusammenleben von Deutschen und Sorben herzuleiten, sind von Bedeutung nicht nur für die Belange des um sein Überdauern bangenden slawischen Volks in der Lausitz. Denn im Kampf um den Erhalt ihrer Sprache und Kultur stehen die Sorben nicht allein; vom Nordkap bis zu den Pyrenäen und zum Golf von Biskaya leben Minderheiten, die gefährdet sind wie sie. Angesichts der Woge der Globalisierung kommt diesen kleinen Völkern und ihren Geschikken exemplarische Bedeutung zu. 70 bezweckte die angemessene Berücksichtigung der Interessen der Umwelt und der vom Abbau von Bodenschätzen betroffenen Menschen; die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen brachte einen Gesetzentwurf ein (Drucksache 17/9390), in dem eine einheitliche Förderabgabe von 10 % angestrebt wird. In einem gesonderten Antrag (Drucksache 17/813399) forderte sie zudem die öffentliche Interessenabwägung zwischen den potenziell positiven Wirkungen des Bergbaus für die Gesellschaft und seinen negativen Folgen für die betroffenen Menschen. Das alles ist wichtig und richtig, aber nicht ausreichend für eine tatsächliche Änderung bestehender Zustände. Denn trotz aller Übereinstimmung in Inhalt und Ziel gab und gibt es kein gemeinsames Handeln. Insofern sind es Anträge zum Fenster hinaus. Man tut so, als ob. Aber nichts wird zugunsten des sorbischen Volkes verändert. Eine solche Umgestaltung kann auch nicht den Ländern Sachsen und Brandenburg überlassen werden. Eine gerechte und dauerhafte Lösung im Interesse des sorbischen Volkes kann nur auf der Ebene des Bundesrechts wirksam durchgesetzt werden. Dazu ist zunächst – wie in dieser Zeitung schon an gleicher Stelle ausgeführt – eine Ergänzung des Grundgesetzes erforderlich, in der nationale Minderheiten, ihre Kultur, ihre Traditionen, ihre Sprache anerkannt, geschützt und gefördert werden. Die derzeitige unzureichende Erfassung dieser Rechte lähmt auch das Selbstbewusstsein der Sorben und den Stolz auf ihre Besonderheit, beschleunigt ihre Assimilation und Germanisierung. In gleichem Maße schwindet ihre Bereitschaft, sich der Nichtachtung ihrer Kultur und der Zerstörung ihrer Heimat zu widersetzen. Mitunter hört man, wer die Bodenschätze der Lausitz in Zusammenhang mit dem sorbischen Volk und seiner Heimat bringe, der wolle doch nur einen billigen Propaganda-Coup landen. Das jedoch ist falsch. Die gesetzliche Grundlage ermöglicht durchaus andere Regelungen als die derzeit praktizierten. Das seit dem 1.1.1982 gültige Bundesberggesetz beruht auf dem fast 1.000 Jahre alten Grundsatz der Bergfreiheit. Dieses Prinzip besagt, alle im Gesetz aufgeführten bergfreien Bodenschätze (Metalle, Erdöl, Erdgas, Kohle, Salze etc.) sind dem Grundeigentum entzogen. Dem Grundeigentümer stehen nur die grundeigenen Bodenschätze (z. B. Sand, Kies, Ton etc.) zu. Er hat Anspruch auf Entschädigung, wenn er z. B. sein Land für den Bau von Bergwerksanlagen abtreten soll. Die bergfreien Bodenschätze hingegen sind zunächst herrenlos, sozusagen Gemeingut des Volkes. Eigentum daran kann durch ein vom Staat kontrolliertes Verfahren erworben werden, das auch den Kreis derer bestimmt, die am Gewinn aus dem Abbau der Bodenschätze in Form von Steuern und Abgaben beteiligt werden sollen. Geologische Untersuchungen haben in der Gegend zwischen Grodk (Spremberg), Syjk (Graustein) und Slepo (Schleife) in etwa 1.000 Metern Tiefe größere Mengen von Kupfererz mit einem Anteil von etwa 20 % Gold, Silber, Zink, Blei, Platin und anderen, noch kostbareren Elementen (den sogenannten seltenen Erden) festgestellt. Die Ergiebigkeit allein an Gold soll etwa 15 Tonnen und an Kupfer etwa 1,5 Millionen Tonnen betragen. Ab 2017 soll gefördert werden. Wird es eine sorbische Persönlichkeit oder autorisierte Vertretung des sorbischen Volks geben, die – ähnlich wie der Präsident des IPC, Raúl Grioni – sagt: „Es geht bei der Nutzung dieser Schätze auch (oder vor allem) um die Rechte unseres Volkes“? Werden © wasser-prawda Feuilleton selbstbewusste Sorben, unterstützt von vernünftigen Deutschen aller demokratischen politischen Parteien, ihr Recht auf die Schätze ihrer Heimat einfordern, so wie man in Venezuela für den Kueka-Stein auf Zur Debatte um den die Straße geht? Kueka-Stein Die Zukunft ist offen. Sie wird beeinflusst durch vernünftig begrünBei aller Sympathie für die dete Zuversicht, daraus gewonnenen neuen Erfahrungen und der so Rechte nationaler Minderheigestärkten Hoffnung auf Gerechtigkeit. ten, sollte man hier auch die Gegenseite der Debatte darstellen. Der Kueka-Stein im Berliner Tiergarten ist Teil des Global Stone genannten Kunstprojektes von Wolfgang Kraker von Schwarzenfeld. Er will im Berliner Tiergarten Monolithen von allen Kontinenten versammeln und ihnen jeweils einen Schwesterstein im Herkunftsland gegenüberstellen. Der jetzt „Kueka“-Stein genannte Monolith wurde mit allen offiziellen Papieren und nach Konsultation mit den Indios, die in dem Nationalpark wohnen, exportiert. Das haben mittlerweile auch die venezolanischen Behörden anerkannt, die zunächst offensiv die Rückgabe des Steins gefordert haben. Auch ist der Stein, soviel muss man mittlerweile auch annehmen, keinesfalls für alle Angehörige der Pemón ein Heiligtum. Youtube-Filme, die mit spanischen und deutschen Untertiteln versehen wurden, erzählen eine Legende, die in keiner Beziehung zu dem Stein selbst steht. Und die Behauptung, der Stein sei von einem derartigen Tabu betroffen, dass er weder berührt noch angeschaut werden dürfe, sind auch kaum zu belegen. Schwarzenfeld, der sein Kunstwerk in Berlin größtenteils aus eigenen Mitteln errichtet, hat mittlerweile einer Rückführung des Steins zugestimmt, wenn die Regierung von Venezuela die Transportkosten übernimmt. Raimund Nitzsche © wasser-prawda 71 Feuilleton „So muß man erzählen!“ Ole Schwabe unterwegs zu Uwe Saeger Über den Autor Ole Schwabe studiert kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim. Journalistische Erfahrungen hat er zuvor unter anderem beim Studentenmagazin „Moritz“ in Greifswald gesammelt. Sein hier abgedruckter Text bildet die Grundlage für ein RadioFeature, das Ende November beim Webradio litradio.net erscheinen wird. Für diesen Sender hatte er auch schon ein Feature über den Erzähler Jürgen Landt produziert. 72 Achtundzwanzig Jahre jung war Uwe Saeger, als er 1976 mit dem schmalen Erzählband „Grüner Fisch mit gelben Augen“ im Rostocker Hinstorf Verlag debütierte. Sieben Texte, in denen sich neben autobiographischen Bildern des Ueckermuenders vor allem ein Motiv wiederfindet: Das Wasser und was es mit den Menschen macht. Und so liegt es nahe, sich dem bis heute außergewöhnlichen Schreiber Saeger auf Peenestrom und Haff zu nähren. „ Die Hitze war kaum erträglich, und der Du welkenden Grases und fauligen Wassers trieb in ihr.“ Als das letzte Lüftchen plötzlich weg ist, fühle ich den Sommer. Hinter Lassan fließt der Peenestrom in zwei zähen Kurven und bereits zu Beginn verfluche ich meinen Aktionismus, die Aufnahmen zu einem Radiofeature über Uwe Saeger mit einer Paddeltour zu kombinieren. Die von mir im Vorfeld ausgelobten frischen Küsse der Muse hinsichtlich Interviewfragen schmelzen unter der Sonne in völliger Flaute zusammen. Ich denke tatsächlich an gar nichts. Die fünf Meter Kajak und ich schleppen uns bis zur Zecheriner Brücke auf halber Strecke zwischen Wolgast und Ueckermuende. „Jetzt rechts die Peene hoch bis Anklam“, fabuliere ich und kippe hastig das Radler, „dort hat sich der Nöhr aus dem ‚Kakerlak‘Roman von Saeger mit seiner Karre von der Brücke gestürzt.“ © wasser-prawda Feuilleton Die Gedanken, wie ich diesen regionalen Bezug später textlich verwurste unterliegt dem Sonnenstich und ich mümmel leidend Graubrot mit veganem Olivenaufstrich. Stunden später knarzt der Kiel des roten Kajaks endlich leise durch den groben Sand der Campingplatzbadestelle, es dämmert schon und ich danke den langen Wellen des Haffs und meiner Angst. Beide traten mir in den Hintern und verhindern einen Abbruch. Der Platzwart sitzt bei Pflaumenschnaps und Filterzigaretten vor seinem Blockhüttchen, verkauft mir Duschmarken, Bier und Übernachtungen. Ich dieser Reihenfolge kämpfe ich mich durch den Abend bis mich der Schlafsack verschluckt. „ Über dem Ufer war der Himmel blaß, nur über das Haff hin spannte sich e lauer Glast. Selten zuckte eine Handvoll Wind über das Wasser, es san kräuselnd. Kaum Leben. Ein s ller Tag.“ Als erstes ist da Bella. Ich stehe vor dem hölzernen Gartentor und suche die Klingel, doch Bella ist schon herran, noch bevor ihr Herrchen die Hand zum Gruß erhoben hat. Ungestüme Pfoten trapsen auf meiner Brust und kaum können wir uns den Weg zum Haus bahnen, so eifrig flitzt die heimliche Hausherrin um unsere Beinen. Die Anstalten sie zu verscheuchen, gehen völlig unter und Uwe Saeger, breitschultrig, sonnengebräunt mit akkuratem grauen Schnurrbart, hebt entschuldigend die Hände, er könne nunmal niemanden erziehen. Obwohl angekündigt, haftet meinem Besuch doch etwas Unerwartetes an, „Das du noch kommst hät ich nicht gedacht. Dachte du wärst abgesoffen mit deinem Boot.“ Die Freude ist echt, das Du von Anfang an natürlich und während ich in der Küche in Ruhe ankomme, Kaffee und ausgesperrter Bella sei Dank, ruft er seine Frau an. Das ich doch gekommen sei. Bellin ist ein überschaubares Ortsteilchen von Ueckermuende, direkt am Haff gelegen und der Ort, an dem Saeger aufwuchs, zu schreiben begann sobald er es konnte und bis heute lebt und arbeitet. In seinem Elternhaus mit alter Scheune, Gemüsebeeten und einem massiven Steg im dichten Schilfgürtel. Viele Winter drückte der harte Frost dicke Eisschollen gegen die Bohlen und Bretter und in jedem Frühling danach, erzählt Saeger gleichmütig, schufte er hier aufs Neue, natürlich alleine. Körperliche Arbeit war, noch vor der großen Flucht Schreiben, prägend in der Kindheit. Der Großvater war Fischer, ebenso der Vater. Und Uwe Saeger war ein Sohn, der genau wusste, was er nicht werden wollte. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn, die unterbewussten wie auch ganz offensichtlichen Spannungslinien und Hassmomente ziehen sich in literarisierter Form duch weite Teile von Saegers Werk. Beinahe zart treten sie in den Geschichten um den Fischerjungen Nob, im eingangs erwähnten Grüner Fisch mit gelben Augen zu Tage. „ Er setzte sich neben Nob auf die Ruderbank , und sie aßen ihre Brote, die wie immer dick mit fe em, schwach geräuchertem Speck belegt waren und die Nob nicht mochte, die er aber essen © wasser-prawda 73 Feuilleton mußte, weil der Vater nicht duldete, daß Nob etwas nicht aß, was er selber essen musst. [...] Und Nob dachte wieder, wie müde er war und wie lange schon und daß er etwas tun möchte dagegen oder auch gegen den Vater, aber als er in dessen Gesicht sah, das im Zug der Zigare e erhellt wurde, fern und gespens sch, lehnte er sich gegen ihn und schloß die Augen.“ Alle vier Geschichten erzählen von den kleinen, harten Kämpfen eines entbehrungsreichen Alltags. Vom sich beweisen wollen des Jungen, der zum Rumpf des abgeschossenen Flugzeugs taucht, an dem sich das Netz verhakt hat, vom Eingeschlossensein im Eis und den Momenten der Zartheit, wenn der Vater vom Krieg und den weinenden Mädchen im Bordell erzählt, von dem Moment in dem er begriff, das sie es „nur fürs Brot“ tat. In Borkos Lied ist Nob der einzige, der um den halb verwest in einer Strohmiete gefundenen Landstreicher Borko weint und Iris, die kleine Schwester, versteht nicht warum den Bruder die Strophen des Liedes nicht trösten. „Mein Grab bleibt leer ich weiß niemals kann ich sterben niemals weiter gehn kein Stein trägt meinen Namen kein Wurm frisst mein Gebein ich werde immer Sehnsucht säen und sehnend sein.“ Und auch, wenn die Handelnden in allen Erzählungen Einsame sind, so sind sie nicht ‚physisch‘ allein. Dies wird deutlich, besieht man sich die Darstellung der Natur, insbesondere die des Wassers in der frühen Prosa. Der Literaturwissenschaftler Dr. Wolfgang Gabler schrieb in seinem 1990 erschienenen Essay Erzählen auf Leben und Tod, welche Saegers Prosawerk der 80er Jahre zum Gegenstand hat, „daß das Wasser nicht einfach Kulisse für die Akonen der literarischen Figuren bleibt. Es wird geradezu selbst zur literarischen Figur, denn es erscheint als ein mit eigenem Willen ausgestattetes Subjekt [...] - ein Ort der Gefahr.“ Auch heute noch fährt Saeger raus aufs Haff, rudert Kilometer um Kilometer, braucht, so sagt er, die Schinderei. Wenn er schreibt, dann meistens nachts, mit Kaffetasse und Kugelschreiber auf kleinkariertem Papier. Der Schreibtisch ist nur eine kleine Fläche innerhalb des vollen Bücherregals, daneben ein einfaches Bett. Schreiben, sagt Uwe Saeger, völlig unpathetisch, war das Mittel die Kindheit zu überleben, später ermöglichte es die Flucht aus dem verhaßten Dasein als Lehrer für Geographie und Körpererziehung in die Freiberuflichkeit. Es ernährte die Familie und brachte 1987 den Bachmann-Preis für den Text Aus einem Herbst jagdbaren Wildes, sechs Jahre später dann den Adolf-GrimmePreis für das Drehbuch Landschaft mit Dornen und im Jahre 1996 schließlich den Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpom- 74 © wasser-prawda Feuilleton mern. Vor allem aber brachte es dem Autor Linderung, schuf ein Dasein als Schreiber. Ein Schreiber, der mit Intensität erzählt und der, wie er nach dem Gewinn des Bachmann-Preises 1987 ins ORF-Mikrofon sprach, oftmal anders leben möchte, ohne ‚die Schreibe‘, die keinen Feierabend kennt, im Mittelpunkt des Lebens steht und eigentlich keine erklärenden Wort mehr benötigt, wie folgendes Zitat aus dem Jahre 1991 unterstreicht: „Was zu Papier kommt spricht entweder für sich oder nicht. Der Autor ist dahinter immer nur der klägliche Rest, den man besser nicht anrührt.“ Fragt man Wegbegleiter_innen nach persönlichen Lieblingstexten im umfangreichen Werk aus Hörspielen, Drehbüchern, Theaterstücken und Prosa, so fällt häufiger der Name Plonck, eine Novelle aus dem Debütband. Eine Geschichte über einen jungen Mann, der aus Liebe zu Marisa, seinen Onkel und zugleich Mörder ihres Vaters, erschlägt. Und es ist die Geschichte von Berger, der mit Plonk zur Schule ging, der in bewunderte/liebte und sich neun Jahre später, beim Familienurlaub am Haff, an ihn erinnert. „Doch, man muß alles erzählen, alles ohne Vorbehalt erzählen und erzählen, bis man nackt ist, und die Haut muß man sich vom Leib erzählen, so muß man erzählen, so mußt du erzählen, erzähl mir so, du, erzähle doch...“ Diese Forderung von Berger kann bis heute als Grundcharakteristik von Saegers literarischen Arbeiten dienen. Wolfgang Gabler kommt in seinem bereits erwähnten Essay zu dem Schluss, Saegers frühe Prosa sei geprägt von einem ‚radikalen Erzählen‘, © wasser-prawda 75 Feuilleton „ das auf den Leser nur wenig Rücksicht nehmen kann. Das Vermögen, sich die Haut vom Leibe zu erzählen, hat nur der, der ohne zu erzählen nicht leben kann.[...] Deshalb ist seine Prosa eine Erzählung von Leben und Tod und ein Erzählen auf Leben und Tod.“ Im persönlichen Gespräch fügt Wolfgang Gabler dann noch hinzu, dass sich Saegers Drang zu einem ‚radikalen Erzählen‘ in den letzten Jahren noch verstärkt habe, hin zu einer sehr dichten Kunstsprache, die sich bewusst absetzen möchte von den Mühen alltäglicher Ebenen. Kein Realismus, keine leichte Kost, nichts für einen Feierabend. Im Frühjahr 2014 erscheint der neue Roman Faust Junior und seine Essenz ist stark und einfach: So muß er erzählen, der Uwe Saeger. Der Abend im Innenhof des Klabautermanns, vielleicht einer der letzten tatsächlichen Dorfkneipen, war angenehm gewesen. Hausgemachten Brathering mit Bratkartoffeln, dazu Pils und später hatten wir geraucht und weiter getrunken. Es war noch nicht ganz dunkel als wir uns trennten. In der Diskussion, wer die Zeche bezahlen darf, kam ich mit meiner „journalistischen Unabhängigkeit“ nicht weit, ein bestimmtes „Schluss jetzt!“ ließ mich verstummen. Ob ich der Enkel oder der Sohn sei, hatte Erika gefragt, als sie die erste Runde Bier auf den 76 © wasser-prawda Feuilleton Plastiktisch stellte. Saeger verneinte, doch wer ich war und was ich tat, mochte er ihr nicht sagen, vielleicht später einmal, in einer ruhigeren Minute. Auf dem Campingplatz lädt mich die Familie aus Chemnitz zu Grillwurst und Schnaps ein. Schließlich liege ich wieder im Schlafsack, die Nacht ist hell und laut, Grillen zirpen und ein leiser Wind bläht die Zeltwand. Gegen halb vier fliehe ich vor telefonierenden Menschen im Nachbarszelt aufs Wasser. Hinten über Usedom wird irgendwann die Sonne aufgehen, das haff ist eine rosa-violette Scheibe und wie schon die ganze Nacht singen die Vögel. Der letzte Rest Graubrot mit Olivenaufstrich verschwindet in meinem Mund, und ich beginne zu paddeln, vorbei an Reusen und Graureihern, die in Ufernähe auf Steinen stehen. Hinter der Peendemündung bei Zecherin frischt der Wind auf und inmitten des Stroms schiebt Rückendwind das Kajak durch kleine Wellen, wenn sie das Heck angeheben musst du paddeln was du kannst, dann tragen sie dich und du hörst nur noch den Schiebwind und im fernen Schilfgürtel Borkos Lied. Einige Kilometer weiter bei Lassan werde ich übermütig, kreuze den inzwischen schaumgekrönten Strom hinüber zur Landspitze Möwenort, wo das Achterwasser beginnt. Bei jeder Paddelstütze zwischen den kurzen, kabbeligen Wellen über Back- und Steuerbord verfluche ich meinen Leichtsinn, denke an Nob und die gemütlich rollenden Wellen des Haffs. Die letzten zwei Kilometer vor Wolgast plätschere ich dahin, mit schmerzendem Rumpf und müden Armen, mit Kopfschmerzen und den paar Minuten Schlaf der letzten Nacht. In der Bahn dann die Melancholie und die Gewissheit, die Aufnahmen erstmal liegen zu lassen, erstmal muss sich alles setzen. „Eine Erzählung“, heißt es in „Der andere Hafen“, „weißt du, das ist so ein Ding, richƟg besehen, kann das kaum einer so erzählen, wie es eigentlich gewesen ist, aber, ach schweig, ich fang einfach an!“ © wasser-prawda 77 Bücher Dirk Uwe Hansen zwischen unge/ sehnen Orten Edition silbende Kunst Verlag Jenny Feuerstein 2013 44 Seiten ISBN: 978-3944981000 78 Dirk Uwe Hansen: Zwischen unge / sehnen Orten Das kleine Heftchen erregt gerade durch dieses sehr handliche Format Interesse. Erschienen bei silbende_kunst, ist es nach Sirenen der zweite lyrische Band eigener Verse, den Hansen veröffentlicht. Siebenundzwanzig Gedichte, die in Zwei Teilen präsentiert werden, enthält das Buch. Der erste Teil, mit dem Buchtitel überschrieben, besteht aus freien Versen und Strophen. Die folgenden Strophen sind dagegen gleichmäßig in ihren Versmaßen. Mit zwei schönen Vergleichen, die vielleicht lieber Bilder sein wollen, beginnt Hansen. Die folgenden Gedichte enthalten viele stimmige Spiele mit mehrdeutigen Perspektiven, die den Leser schließlich zwischen die Objekte führt. Manchmal fühlt man sich hier zwischen den Versen verlassen, dann wieder an die (unge-) oder (er-) sehnen Orte, geführt, wie auf Spaziergängen durch unbekannte Wälder, den Weg sich leiten, und doch die Richtung nie aus den Augen lassend. Hansen lotet mit seinen Gedichten tatsächlich Räume aus. Der Autor bewegt sich aus dem Zwischen von vielen Klammern, deren erläuternde, hinzusetzende Funktion hier in (beinahe) elliptischer Art gebraucht wird, über mythische Figuren und Naturbetrachtungen, zu lokal kolorierten Titeln norddeutscher Orte. Die beinahe pflichtgemäßen Enjambements über einzelne Wörter, schon im Titel zu sehen, (sic!) lassen nur ein Vorwärts als (gedankliche) Bewegung zu. Manchmal zwischen zwei schlafen, dem der Buchtitel entlehnt ist, führt dies wohl am besten thematisch wie bildlich aus. Das lesende Auge wird jedoch bald (zu) häufig abgeschüttelt vom Auf und Ab der ungewöhnlichen Satzstrukturen, die „...lassen bei jedem / ersten Sehen die Augen / sich weiten...“ (Astern). © wasser-prawda Bücher Beim zweiten Sehen passiert dies dann mit einem verständnisvolleren Ausdruck. Ich habe jemanden sagen hören, was Wissenschaftler sich nicht wirklich zu sagen trauten, aber unbedingt wollen, würden sie in die Fußnoten schreiben. Bei Hansen scheinen Klammern die Fußnoten ersetzt zu haben. Mich hat er damit überzeugt. (vielleicht zu bemerken) Max Wienold Möwe Ist allein das blaue Un endliche über ihr auf das hinunter ich blicke zu mir hinauf und sie (einzige Form einer) Möwe geflügelter Punkt und ist sonst Rundes nicht: flach auf der ich stehe die Erde die letzte Gerade vor dem Sturz (ins Meer) stürzt stürzt sie nach aufwärts (und ab) allein der Scha en am Boden hat ein Woher und Wohin und ist schnell Manchmal zwischen zwei schlafen schlafen Gänse im Flug schlafen im Flug zwischen schwarzer Erde grau vor dem weißen Stern weisen zwei zwei Linien auf einen (so weist das Echo auf unge hörten Schrei) einen Punkt (zurück) ist ein Raum zwischen unge sehnen Orten gibt es mich doch. © wasser-prawda 79 Bücher Ben Lewis - Das komische Manifest Kommunismus und Satire von 1917 bis 1989 Aus dem Englischen von Anne Emmert. Karl Blessing Verlag 2010. 464 Seiten ISBN: 978-3896673930 Es gibt verschiedene Meinungen über Witze in Auf der Suche nach dem verlorenen Witz den kommunistischen Staaten. Der britische Dokumentarfilmer und Journalist Ben Lewis spürt in seiner Reportage „Das komische Manifest“ der Geschichte der kommunistischen Witze ebenso nach wie er versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Bedeutung dieselben auf den Sturz der kommunistischen Systeme hatten. Seine teils persönliche teils wissenschaftliche Darstellung ist gleichzeitig eine Sammlung bekannter und unbekannter Witze aus diversen osteuropäischen Staaten. Von Raimund Nitzsche. I ch liebe gute Witze. Und wie die meisten in der DDR Geborenen vermisse ich besonders die politischen Witze. Scheinbar von einem Tag auf den anderen sind sie in der Wende verschwunden. Heute gibt es noch ab und zu treffsicheres politisches Kabaret. Doch eine Angela Merkel lässt letztlich jeden Witz an sich abgleiten wie auch jegliche Kritik an ihrem „Regierungshandeln“. Die Tatsache des Verschwindens des politischen Witzes steht auch am Anfang und Ende des „Komischen Manifests“ von Ben Lewis. Er stellt aber nicht nur die Frage, warum die Witze verschwanden sondern fragt vor allem auch, welche Funktion diese während 80 © wasser-prawda Bücher der kommunistischen Zeit hatten. Die Suche nach Argumenten für die in der Forschung vertretenen maximalistischen These (die Witze hatten einen entscheidenden Anteil am Sturz der Systeme in Osteuropa) und der minimalistischen These (Witze waren nur ein Ventil, dass der Bevölkerung half, Dampf abzulassen, hinderte sie aber gleichzeitig an echter politischer Aktivität zur Veränderung der Verhältnisse) führt ihn quer durch Europa. Er triff t sich mit Witzsammlern und -forschern ebenso wie mit den Leuten, die früher für die Verfolgung von Witzeerzählern verantwortlich waren. Er spricht mit „offiziellen“ Satirikern etwa vom „Eulenspiegel“. Altkommunisten erzählen ihm noch immer ihre von keinerlei Selbsterkenntnis getrübten Lebenserinnerungen. Und letztlich droht das Unternehmen fast zu scheitern: All die von der Witzforschung seit den 50er Jahren vertretenen Thesen scheinen ihm nicht einleuchtend. Und außerdem muss Lewis irgendwann feststellen, dass die Zahl der wirklichen „Kommunistenwitze“ wesentlich geringer ist, als vermutet: Ein großer Teil der Witze geht in ihrem Ursprung schon auf Vorbilder aus dem 18. und 19. Jahrhundert zurück. Gerettet wird die Untersuchung schließlich durch die Untersuchung eines Statistikers aus Rumänien. Der konnte in seiner regional sehr begrenzten Untersuchung nachweisen, wie sich die Inhalte und die Zahl der erzählten Witze im Laufe der politischen Entwicklung veränderten. Und diese wurden immer direkter, je näher die Revolution in Rumänien ankam. Die Geschichte der kommunistischen Systeme aus der Sicht der erzählten Witze zu erzählen, ist eine äußerst unterhaltsame Angelegenheit. Lewis lässt es sich nicht nehmen, immer die passenden Witze aus den jeweiligen Epochen einzufügen. Das geht so weit, dass er in einer grandiosen Montage aus Alltagswitzen Episoden einer imaginären sowjetischen Version der Comic-Serie der Simpsons vor dem Auge der Leser entstehen lässt. Hier ist jegliche Analyse zweitrangig für Denjenigen, der seine eigenen Erinnerungen an Versorgungsmängel, Spitzeltum und Bürokratismus hat. Einen Witz vermisste ich. Auch weiß ich nicht, in welcher Zeit er ursprünglich entstanden ist. Ich hörte ihn irgendwann in den 80er Jahren: Ein Polizist sieht, wie ein Pfarrer sein Notizbuch verliert. Neugierig schlägt er es auf. Auf der ersten Seite steht: Gott erhalte Erich Honecker. Erstaunt blättert er um. „Gott erhalte Erich Mielke“, steht auf dem nächsten Blatt. „Gott erhalte Willi Stoph“, steht auf Seite drei. Der Polizist kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. So etwas hätte er bei einem Pfarrer nicht erwartet. Erneut blättert er um. Auf der vierten Seite steht: „Gott erhalte Leonid Breschnjew.“ In Klammern steht dahinter: Schon erhalten.“ Nein, das „Komische Manifest“ ist keine komplette Witzsammlung. es ersetzt sicherlich nicht eine historische Untersuchung des politischen Widerstands in den Ländern des Ostblocks seit der Oktoberrevolution. Aber es ergänzt die schon verhandenen Arbeiten in einer Weise, die die oft überhöhten Perspektiven der Kommunisten und der Menschen, die sich gegen das System zur Wehr setzten. Und das macht es bei aller wissenschaftlichen Korrektheit unterhaltsamer als die meisten Geschichtsbücher. © wasser-prawda 81 Bücher Paul BeaƩy: Slumberland Aus dem Amerikanischen von Robin Detje Blumenbar, 2009 ISBN: 978-3936738605 Fischer Taschenbuch 2011 320 Seiten ISBN: 978-3596186136 € 9,99 Der Schwa und der perfekte Beat Auch nach dem Ende der Kassettenrekorder ist das Mixtape (unabhängig vom Medium) noch immer eine der persönlichsten Liebeserklärungen, die man jemandem machen kann. Übertreffen kann man das nur mit einem perfekten DJ-Set. Und genau das ist „Slumberland“, der 2009 erschienene Roman von Paul Beatty. H its, Hits und noch mehr Hits!, hallt mir der Ratschlag eines Freundes noch immer in den Ohren. Bei ihm lernte ich erstmals, was seiner Meinung nach ein DJ tun soll. Er verdient damit nicht schlecht. Aber er legt halt bei großen Parties auf, Abschleppveranstaltungen, Dorffesten oder ähnlichen Gelegenheiten. Dafür bin ich nicht geeignet. Mein Gehör streubt sich dagegen, die Schlagerplatten aufzulegen oder die totgespielten Pophits der 80er Jahre. Wenn ich auflege, dann will ich die Kontrolle haben, erfülle ich nur die Wünsche, die ich vor meinem Geschmack vertreten kann. Ansonsten erzähle ich meine Geschichte. Die Geschichte, die Paul Beatty erzählt, hat einen ähnlichen Protagonisten. DJ Darky, der der die perfekte Erinnerung an Klänge hat, denkt sich seinen Soundtrack, produziert sich die eigenen Songs aus Verkehrslärm, Bluesgitarren und anderswo auf- 82 © wasser-prawda Bücher geschnappten Geräuschen. Und er ist auf der Suche nach dem perfekten Beat, die über sämtliche kulturellen, politischen oder nationalen Grenzen hinweg die Verhältnisse und die Menschen zum Tanzen bringt. Als DJ sieht er sich gehandicapt nicht nur, weil er als Linskhander vor den Plattentellern sich gehemmt fühlt. Auch ist er der Meinung, dass man die Menschen eher durch die musikalischen Tripps erreicht, die man ihnen serviert als durch das Bedienen von den ewiggleichen Erwartungen. Das Verknüpfen scheinbar unvereinbarer Motive und Klänge, das Springen zwischen Stimmungen, Situationen und Klischees, das macht auch diesen Roman aus. Debatten über schwarzes Selbstverständnis, über alltäglichen Rassismus oder Xenophilie gehören hier ebenso dazu wie Alltagsbeobachtungen in Berlin vor und kurz nach der Wende, die Schilderungen der verschiedensten Musiken ebenso wie absurde Situationen. Wenn etwa DJ Darky plötzlich feststellt, dass er für eine Party von Ostberliner Neonazis gebucht wurde und sie mit Freejazz-Versionen des HorstWessel-Liedes zum ergriffenen Zuhören bringt. Oder sein Job als Jukebox-Sommelier, der für Kneipen die perfekte Füllung der Jukeboxen mit erwählter Musik vorschlägt, die nichr nur die Erwartungen der Besucher erfüllt sondern sie vor allem dazu bringt, sich neuen und ungewohnten Songs zu öffen. Oder das immer wieder zum Einsatz gebrachte von der Stasi verbreitete Pornotape eines Hühnerfickers, das als erstes Lebenszeichen des von Darky kultisch verehrten und seit Jahrzehnten verschollenenen Jazzmusikers Charles Stone, genannt „Der Schwa“, den Weg nach Berlin weist. Im Laufe des episodenhaft springenden Romans ist es vor allem diese Figur, die sich wie ein roter Faden, weniger wie ein wagnersches Leitmotiv sondern eher wie ein von Charles Mingus gespieltes Riff hindurchzieht. Er ist der Typ, der von allen als Obdachloser angesehen, überall versucht, die Mauer wieder zu errichten,. Er ist die fehlende Zutat, die den Beat von DJ Darky zum universellen Manifest machen könnte. Er ist aber auch die Verbindung zwischen der durch die Wende zerstörten verlogenen Ost-Idylle und der aufbrechenden neuen Frontlinien von Rassismus, Intoleranz und schrankenloser Genusssucht. Höhepunkt der Geschichte ist der Wiederaufbau der Berliner Mauer durch den Schwa als Klangkunstwerk, das von Ost wie von West sich verschieden anhört. Und es ist die Zugabe zu diesem Happening, die Zusammenführung des fast perfekten Beats mit dem Freejazz des Schwa, der zu einem orgiastischen Wegfall aller Klischees, Schranken und Schamgrenzen führt. Selten ist mir ein Roman begegnet, der so perfekt den Rhythmus der Musik aufnimmt und einen mitreißen kann durch komische, absurde oder melancholische Momente, ein Roman, der nicht durch die Stringenz seiner fortlaufend erzählten Geschichte sondern im Gegenteil durch das Verweben der verschiedensten Episoden, inneren oder äußeren Diskussionen oder Alltagsbeobachtungen mitreißt. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Ich meine, wissen sie denn nicht, dass es nach eintausendvierhundert Jahren aus ist mit der Scharade des Schwarzseins? Dass wir Schwarzen, die einstmals ewigen Hippen, die Typen, die so hier und jetzt waren wie die Zeitansage, ab heute genauso von gestern sind wie der Faustkeil, das Veloziped und der Strohhalm aus Papier? Der Neger ist jetzt offiziell Mensch. Alle sagen das, sogar die Briten. Paul Beatty. 83 Bücher George MarƟn (mit Jeremy Hornsby): Es begann in der Abbey Road Der geniale Produzent der Beatles erzählt Aus dem Englischen von Alan Tepper Hannibal Verlag 2013 ISBN: 978-3854454106 336 Seiten, 24,99 Euro All You Need Is Ears oder: Leben und Leiden eines Produzenten Schon 1979 hatte George Martin erstmals seine Autobiographie veröffentlicht. Ohne wesentliche Aktualisierungen wurde sie in den USA zuletzt 1994 neu gedruckt. Jetzt hat der Hannibal Verlag die Erinnerungen des Produzenten in deutscher Sprache herausgebracht. George Martin, der eigentlich erst den Beruf des Popmusikproduzenten in der heutigen Sicht definiert hat, wird natürlich immer zuerst mit den Beatles in Erinnerung gebracht. Aber seine Autobiographie - eigentlich mehr eine Sammlung von Erinnerungen, Anekdoten und Bermerkungen zum Produzieren und zur technischen Entwicklung - konzentriert sich zum Glück nicht nur auf diese zehn Jahre. Er zeichnet ein skizzenhaftes Bild von Großbritannien vom Ende des zweiten Weltkrieg bis hin zum Beginn des digitalen Zeitalters in der Musik. Als typisch britischer Gentleman sind seine Erinnerungen voll menschlichem Humor, einer Menge Sachkenntnis - und viel Liebe zum Beruf. Ob er die Arbeit mit schottischen Tanzmusikern und deren Liebe zum Whiskey schildert oder die Probleme bei der Produktion von Comedy-Alben mit Peter Sellers oder Peter Ustinov. 84 © wasser-prawda Bücher Aber natürlich sind es vor allem die Erinnerungen, wie er gemeinsam mit den Beatles den Weg der Popmusik für immer verändert hat, die das Buch besonders reizvoll machen. Auch wenn er sich immer gegen den Titel des fünften Beatle gewehrt hat - ohne seine Hinweise am Anfang der Bandkarriere - und ohne seine technischen Fertigkeiten bei den späteren Alben - ist das Phänomen dieser Band nicht zu verstehen. Und wie unterschiedlich er mit ihnen und anderen Bands nicht nur aus dem Umfeld von Brian Epstein (Garry & The Peacemakers, Cilla Black) herangehen musste, um erfolgreiche Platten zu produzieren, macht diese Kapitel noch spannender. Denn Zu oft vergisst man aus der heutigen Sicht die zahllosen anderen Bands, die nach dem Erfolg der Beatles plötzlich bei allen Labels Verträge erhielten und meist nur für kurze Zeit in den Hitparaden auftauchten. Wenn Martin über die Entwicklung der Aufnahmetechnik oder der Produktionsmethoden erzählt, dann wird das ansonsten leicht und unterhaltsam zu lesende Buch ein wenig trockener. Doch wird aus ihnen erst so richtig deutlich, welche Bedeutung auf Grund seiner Arbeit der Beruf des Plattenproduzenten heute gewonnen hat. Als er die Leitung des kleinen Labels Parlaphone übernommen hatte, da war der Beruf der Produzenten kaum wirklich definiert - und er war absolut mies bezahlt. Heute bestimmen Produzenten nicht nur mit, wie eine Band auf Platte rüberkommt. Sie verdienen ebenso aum Verkauf der Werke mit. Dass die EMI nicht bereit war, ihm seiner Arbeit gemäß zu bezahlen, führte bei Martin zum Entschluss, sich als Produzent selbstständig zu machen. Was man leider anmerken muss: Nicht nur dass auf Grund der späten Veröffentlichung auf Deutsch einige wichtige Daten aus dem Leben von Martin fehlen - richtig ärgerlich ist auch, dass das Kapitel zur Digitalisierung der Musikproduktion einfach komplett veraltet ist. Hier wäre eine Kürzung sinnvoll gewesen, wenn man schon vom Autor keine Aktualisierung bekommen kann. Allerdings hat er sich auch in den später geführten Interviews zu der Dokumentation „Produced By George Martin“ nicht zu diesem Thema geäußert. Bei anderen Themen allerdings sei dieser Film zur Ergänzung empfohlen. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Produced By George Martin Die BBC strahlte 2012 eine Dokumentation über das Leben und die Arbeit von George Martin aus. Neben seinem Sohn Giles, Paul McCartney und Ringo Starr unterhält sich Martin unter anderem auch mit Michael Palin (über die großartigen ComedyProduktionen, die er vor den Beatles unter anderem mit Peter Sellers und anderen Schauspielern der legendären GoonShow gemacht hat). Zum Bonusmaterial des inzwischen auf DVD und BluRay erhältlichen Streifens gehören auch Interviews mit Produzenten wie Rick Rubin und T Bone Burnett über die Veränderungen, die Martin in der Musik und dem Job des Produzenten angestoßen hat. Und da Martin nie die Zeit gefunden hat, seine Autobiographie zu überarbeiten ist „Produces By George Martin“ auch eine wichtige Ergänzung zu „Es begann in der Abbey Road“ für die Zeit nach deren Veröffentlichung. 85 Sprachraum Arthur Kahane: Happy end Auszug aus „Theater. Aus dem Tagebuch des Theatermannes“, Berlin 1930. D as happy end, der unter allen Umständen glückliche Ausgang, gilt als die unkünstlerische Konzession des Künstlers an den Philistergeschmack, an das philiströse Behagen, das sich nicht durch unbequeme Zuspitzungen stören lassen will, an die philiströse Angst vor der konsequenten Tragik. Der Philister zahlt nicht teures Geld für Theater und Kino, um beunruhigende Probleme zu Ende zu denken, er verlangt vom geistigen Genuß eine gesunde Förderung seiner Verdauung, mit diesem Anspruch sitzt er da, in der getrosten Zuversicht, daß in seiner zu seinem Glück kapitalistischen Welt, in dieser vorläufig besten aller denkbaren Welten, es nicht anders als gut enden kann, genau so zufriedenstellend, wie es in seinem Leben zugeht und auch weiterhin zugehen soll, und daß Probleme, Gegensätze, Verwirrungen, Verwicklungen, kurz, die komischen Sorgen der weniger gutgestellten geistigen Arbeiter unmöglich so ernst sein können, um sich nicht schließlich in einer alle Teile befriedigenden Weise gütlich beilegen zu lassen. Und der Künstler, um seine breite Wirkung und den materiellen Erfolg besorgt, bringt, in unverzeihlichem Kunstverrat, ihm das Opfer seiner Überzeugung, indem er die düsteren Wahrheiten des grausamen Lebens zum tröstlichen Abschluß noch schnell mit rosenfarbener Seligkeit verschminkt und alles in Frieden, Glück und Butter enden läßt. Gewiß, so tut der unkünstlerische Künstler und so denkt der unkünstlerische Philister. Aber in diesem Gedanken, der heute die Empörung und den Spott aller Intellektuellen, aller Eiferer für den unerbittlichen Ernst der Probleme in der Kunst weckt, bege- 86 © wasser-prawda Sprachraum gnet er sich, ohne es zu ahnen, mit dem tiefsten Sinn und Wesen der Kunst. Das happy end befriedigt nämlich nicht bloß die Bequemlichkeit der Philister, sondern eine metaphysische Sehnsucht der künstlerischsten unter den Künstlern, in einem gewissen Sinne sogar der tragischen Künstler. Um es zu beweisen, müßte ich bei Adam anfangen. Mit dem Augenblick, da das erste Menschenpaar sein Paradies verlor, setzte die Problematik des Menschen ein. Mit der Loslösung von seinem Schöpfer (wie ein Kunstwerk sich vom Künstler löst, um sein eigenes Leben zu leben), mit der Bewußtwerdung des eigenen Lebens im Gegensatz zu ihm, mit dem ersten Trieb zur Erkenntnis, die Auflehnung bedeutet, mit dem Bewußtwerden des Geschlechtsunterschieds, mit dem Erwachen der Scham aus dem Stande der Unschuld, mit der Unterscheidung von gut und böse: und schon entsteht die Verschiedenheit der Charaktere, Differenzierung, und schon tritt, mit all seiner Tragik und in allen seinen Formen, das Übel in die Welt; Neid, Haß, Kampf und Tod. Aber wer einmal im Paradies gelebt hat, kann es nie mehr ganz verlieren. Und so ist im Menschen dunkel auf dem Grunde seines Bewußtseins das Paradies geblieben: die dunkle Erinnerung an das Paradies, als Heimweh nach dem Paradies, als Sehnsucht nach dem Paradies. Die Sehnsucht, wieder eins zu werden mit seinem Schöpfer, eins zu werden mit der Welt, mit Erde und Himmel, Baum und Tier, die Sehnsucht nach dem paradiesischen Frieden und paradiesischer Versöhnung mit der Welt, nach Unschuld und Harmonie. Der Ausdruck dieser Sehnsucht, der dem Menschen gegeben ist, heißt Kunst. Kunst ist Heimweh des Menschen nach dem Paradies. Auch die tragische Kunst. Tragik ist nicht Kampf, sondern Überwindung des Kampfes durch den Tod, Tragik ist nicht Tod, sondern Verklärung des Todes, Versöhnung mit dem Tode durch Vollendung im Tode. Der Tod ist ein tragisches happy end. Denn der letzte Sinn auch der Tragik ist Harmonie mit dem Weltganzen, wie Harmonie der letzte Sinn aller Kunst ist. (Ich komme zu dieser Anschauung nicht vom Glauben an das Paradies her, sondern von meiner Anschauung der Kunst aus: weil ich alles in der Welt für ein Gleichnis, also für Kunst halte, weil ich die Welt für ein Gleichnis, also für ein [gelungenes] Kunstwerk halte, weil ich den Schöpfer für ein Gleichnis des schöpferischen Künstlers halte.) Ich sehe den Einwand kommen: wenn der Tod ein happy end ist, dann ist jedes Ende ein happy end; dann gibt es kein anderes als das happy end; dann ist auch der Tod in den Schau- und Trauerspielen des bürgerlichen Lebens, der Mord und der Selbstmord, ein happy end; und erst recht der todlose Ausgang, die Verzweiflung, der Verzicht, die Resignation, das Auseinandergehen, der Abschied, die Perspektive auf ein unglückliches Beieinanderbleiben, der in Permanenz erklärte Irrtum, die Unlösbarkeit des Problems, das Fragezeichen. Hier liegt der Irrtum. Nur der tragische Tod ist ein happy end. Der bürgerliche nicht. Der tragische Tod und der bürgerliche Tod sind nicht dasselbe. Sie sind zweierlei, bedeuten Verschiedenes. Der tragische Tod ist ein Gleichnis, der bürgerliche eine Realität. Der tragische Tod ist erfülltes Schicksal, der bürgerliche ein trauriger Akzidenzfall. Der tragische Tod ist das erreichte Ende des Heldenweges zu sich selbst, des Schicksalsweges über Kampf und Irrtum, ist das Ende von Kampf und Irrtum, ist Selbsterfüllung © wasser-prawda 87 Sprachraum im Höchstpunkte des Lebens, in dem Augenblicke, um dessentwillen der Held gelebt hat, über den es kein Hinaus mehr gibt, kein Höher, keine Steigerung, keine andere Möglichkeit als das Ende. Er ist Überwindung der Welt durch die Versöhnung des Ichs mit der Welt, durch Harmonie. Der bürgerliche Tod ist ein dem Leben nicht Gewachsensein, ist Unzulänglichkeit, ist Zerstörung, ist Zerfall mit der Welt. Der tragische Tod ist ein Sieg, der bürgerliche eine Niederlage. Der tragische Tod ist heroisch, der bürgerliche bürgerlich. Der tragische Tod ist Lebensbejahung, der bürgerliche Lebensverneinung. Der tragische Tod ist ein seelisch-metaphysisches Phänomen, der bürgerliche eine körperlich-pathologische Angelegenheit. Der tragische Tod ist künstlerische Form, der bürgerliche eine Anekdote. Dasselbe gilt erst recht von den andern Formen des unglücklichen Ausgangs. Im Grunde sind sie alle unkünstlerisch. Für den Künstler endet nichts auf der Welt unglücklich. Für den Künstler gibt es die Antithese Glück und Unglück nicht. Sie ist ihm unwesentlich, verschiedene Farbennuancen einer und derselben Substanz, deren Gesetz und Notwendigkeit ihm allein wesentlich ist. Wie kann einer, dem alles Notwendigkeit, Notwendigkeit alles ist, sich um die Begleiterscheinungen des Behagens oder Mißbehagens kümmern! Sein Behagen ist die Übereinstimmung der Notwendigkeiten miteinander, das Einswerden und Stimmen alles Gewordenen in sich und mit der Welt. Er hält es nicht aus in der Welt der unlösbaren Probleme. Kunst ist Lösung des scheinbar Unlösbaren, ist Erlösung vom Problem. In diesem Sinne ist alle Kunst Erlösungskunst. Ein Kunstwerk, das mit dem Fragezeichen endet, ist kein Kunstwerk. Nämlich: Fragen ist Wissenschaft: die Kunst ist Antwort. Nie wird die Menschheit zu fragen aufhören und jede gelöste Frage birgt bereits Stoff und Ansatz zur nächsten. Aber wie könnte die Menschheit leben, wenn sie von Frage zu Frage taumeln muß, ohne die Kunst der Antwort, ohne die Antwort der Kunst? Kann man sterben, mit einem Wust ungelöster Fragen um sich, in einem Labyrinth ohne Ausgang? Einmal muß jedes Rätsel seine Lösung finden, jedes Geheimnis seinen Sinn offenbaren, der Menschheit wie jedem Einzelnen. Jedem Einzelnen vielleicht erst in seinem Tode, die Menschheit aber ist unsterblich. Und auch der Tod des Einzelnen ist nur der Augenblick des Übergangs zu seiner geistigen Unsterblichkeit. Daß wir nicht den schweren Packen unserer ungelösten Geheimnisse mit in unsere geistige Unsterblichkeit herübernehmen, verlangt unsere tief in uns hineingepflanzte metaphysische Ordnungsliebe, auch sie ist eine Abart unseres Triebes nach Harmonie. Fragen heißt auf Antwort warten, im Aufstellen eines Gegensatzes, im Aufwerfen eines Widerspruchs steckt bereits der Wille zur Ausgleichung und Auflösung, in jeder Dissonanz der latente Wille, sich in einer harmonischen Konsonanz auflösen zu lassen. Das Wissen lehrt fragen, lehrt immer weiter fragen, aber das Wissen antwortet nicht, es ist sein Bestes, daß es fragen muß, daß es nichts weiß, und immer unsicher bleibt, die sichere Ahnung der Künstlerseele antwortet. Alle Unsicherheit wird durch die Wirklichkeit widerlegt, und Kunst ist Gestalt gewordene Wirklichkeit. Unser Suchen nach Gesetz und Sinn unseres Lebens wird durch die Form erfüllt und Form ist Kunst gewordenes Gesetz. Es widerspricht also dem eigentlichsten Wesen der Kunst, wenn am Schlusse das anklagende oder verzweifelte Warum? steht. Ein Kunstwerk, das mit einem Fragezeichen schließt, negiert sich selbst. Das Kunstwerk entläßt nicht unbefriedigt. Noch aus seiner tief88 © wasser-prawda Sprachraum sten Not, aus seiner melancholischsten Verzweiflung, aus seiner schmerzlichsten Gespaltenheit findet der Künstler den Weg zur Einheit, ja die bloße Tatsache, daß er künstlerisch schaff t, daß er seinen Schmerz gestaltet, die bloße Tatsache Kunst ist Wille zum Ausweg, ist Ahnung seiner Möglichkeit, ist Gewißheit, daß es ihn gibt. Was macht denn einen Menschen zum Künstler, zum Dichter, als daß er dieses als ihm aufgegeben in sich trägt: ich ahne die Lösungen, von denen die andern, die Wissenden, nicht wissen können? Die allergrößten, Shakespeare, Cervantes, Molière, Goethe, haben in den Jahren ihrer tiefsten Verdunkelungen, in den Jahren eines schmerzlichen Sichalternfühlens unter Menschenverachtung und Weltflucht in reifer Selbstgestaltung die erlösende Antwort gefunden, bis sie in harmonischen Prosperofrieden und westöstliche Seligkeit landen konnten; alle romantische Ironie und Zerrissenheit war nichts anderes als schamhafte Maske für die Sehnsucht nach verlorenen Paradiesen der Unschuld, für die Sehnsucht, wieder ganz und wieder ganz eins zu werden mit dem All; und selbst Balzac, Dostojewskij, Hamsun, die durch alle Höllen des Lebens und der pessimistischen Anschauung des Lebens durchgegangen sind, sagen letzten Endes ja zum Leben: denn wer, wie diese, selbst eine Welt aufbaut, der bejaht die Welt. In diesem Sinne ist es wahr, daß jedes künstlerische Ende gewissermaßen happy ist. Eine Sache zu Ende bringen, heißt bereits sie zu einem glücklichen Ende bringen. Im Leben mag es vorkommen, daß die Dinge wie das Hornberger Schießen auslaufen. Jede Verwicklung ruft neue Verwicklungen hervor, jede Beziehung führt zu neuen Beziehungen, ein Schicksal wird von andern abgelöst, setzt sich in andern Schicksalen fort, alles geht ineinander über, ohne Einschnitt, ohne Unterbrechung, auch der Tod ist keine, die Kette reißt nie ab, das Leben geht weiter, im© wasser-prawda 89 Sprachraum mer weiter. Das Leben ist amorph. Die Kunst aber gibt dem amorphen Leben erst seine Form, und damit Anfang und Schluß. Wer das Leben, ob das Leben der äußeren oder seiner inneren Welt, in ein Kunstwerk verwandelt, in dem entsteht mit dem Anfange schon das natürliche Bedürfnis, es bis zum Ende zu führen, Schluß zu machen, einen deutlichen Schlußpunkt zu setzen. Dieses Bedürfnis wächst aus dem künstlerischen Zwange zur Abrundung, aus der künstlerischen Freude an harmonischer Abrundung. Wie könnte er mit seinem Werke innerlich fertig werden, wie könnte er es bis zum äußerlichen Abschlusse bringen, wenn er alle die Fragen und Zweifel, die es weckt, zuerst in ihm geweckt hat, um sie dann in andern zu wecken, in der Schwebe ließe? Ein Werk beenden heißt es in Harmonie ausklingen lassen. Weil das Geheimnis der Form bereits den Willen zur Harmonie in sich schließt. Das tiefste Geheimnis der Form ist die Proportion, ist das harmonische Verhältnis aller Teile eines Kunstwerkes zueinander, und so bedeutet der goldene Schnitt vielleicht ebenso ein happy end wie die erfreuliche Tatsache, daß der Hans seine Grete kriegt. Es ist aber gar nicht so gleichgültig, ob der Hans seine Grete kriegt. Für den Hans nicht, weil ihm das Kriegen der Grete ein Lebensglück bedeutet; für die Grete nicht, weil ihr der Hans nun einmal nicht gleichgültig ist; für die Menschheit nicht, weil sie aus lauter Hänsen besteht und in Hansens Greteschicksal die einzige Garantie ihres Fortbestandes sieht; für den Philister nicht, denn in jedem Philister steckt ein Heiratsvermittler; und für den Künstler nicht, der in der Verlobung von Hans und Grete vielleicht die platonische Idee von der Wiedervereinigung des einst getrennten Zusammengehörigen feiert. Für den Künstler ist im Grunde jede Liebe eine glückliche Liebe und wird in jedem Hans, der seine Grete küßt, das verlorene Paradies noch einmal wiedergefunden. 90 © wasser-prawda Sprachraum Kurt Tucholsky: Die freie Marktwirtschaft Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen. Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen. Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen. Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen. Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein, wir wollen freie Wirtschaftler sein! Fort, die Gruppen – sei unser Panier! Na, ihr nicht. Aber wir. Ihr braucht keine Heime für eure Lungen, keine Renten und keine Versicherungen, Ihr solltet euch allesamt was schämen, von dem armen Staat noch Geld zu nehmen! Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn – wollt ihr wohl auseinandergehn! Keine Kartelle in unserm Revier! Ihr nicht. Aber wir. Wir bilden bis in die weiteste Ferne Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne. Wir stehen neben den Hochofenflammen in Interessengemeinschaften fest zusammen. Wir diktieren die Preise und die Verträge – kein Schutzgesetz sei uns im Wege. Gut organisiert sitzen wir hier... Ihr nicht. Aber wir. © wasser-prawda 91 Sprachraum Jürgen Landt: „So schlimm, der letzte Abend?“ Es war ein langes Wochenende. Der Tag der Deutschen Einheit, der 3. Oktober, fiel auf einen Freitag. Von 19 Patienten gingen 16 in den verlängerten Wochenendurlaub. Ich gehörte zu den dreien, die das Haus nicht verließen. Schon Samstagfrüh kam die erste Frau zurück und zeigte mir ihren Unterarm. Etwa 10 Zentimeter von ihrer Pulsader entfernt, waren vier kleine, frische Risse. „Das war ’ne Rasierklinge“, sagte sie und krempelte den Ärmel ihrer geblümten Bluse wieder runter. Die Risse sahen aus wie die kleinen Kratzer, die mir meine 11monatige Tochter in Abständen und unabsichtlich mit ihren stumpfen Fingernägeln verpasste. „So schlimm, der letzte Abend?“, fragte ich. „Und wie, mein Kerl hat ’ne Macke! Wichst die ganze Woche nur rum und wenn ich am Wochenende vorbeischau und ihn mir reinstecken will, dann geht er jedes Mal ums Haus und versucht, unsere 29 Goldfische zu zählen. Da kann man nur schnippeln!“ So nach und nach trudelten immer mehr vorzeitig ein. Der eine so zerledert, der andere anders zerhackt. Eine Frau mit rotblauen Striemen am Hals, ein Mann mit einem gesplitterten Brillenglas und einem verlorengegangenen Brillenbügel, eine andere hatte keine Umhängeriemen mehr an ihrer Handtasche und hielt sie krampfhaft unterm Arm, ein anderer kam mit dickgeheulten Augen und getrocknetem Blut am Ohr zurück. Und zum Kaffee am Sonntag gab es für jeden ein Stück Käsekuchen. Ich ging zu meinem Stück Käsekuchen und eine Patientin, so Ende vierzig, hatte fünf Menschen zu Besuch. Ein junger Bengel, eine Alte mit einem riesigen Buckel, eine Frau mit einem noch nicht ganz so großen Buckel und zwei Typen, die die Patientin anschauten, als könnten die beiden nur ihr Mann und ihr Schwager sein. Die beiden Kerle waren laut: „Menschenskind, Marita! Du musst hier was machen! Du musst was basteln! Häkeln, stricken, irgendwas musst du hier machen!“, sagte der Mann, der für mich aussah wie ihr Mann, mit aufgequollenem Gesicht und trotzdem groben Zügen, mit jähzornigen Augen und dummen Seitenblicken. Und der Mann, der für mich als nichts anderes als ihr Schwager übrigblieb, sagte: „Du musst was machen! Strick doch irgendwas! Oder Häkel! Oder bastel was!“ Ein angepasster Typ, der seine Unterwürfigkeit und sein nicht eigenständiges Denken, seine Widerspruchslosigkeit in seiner ganzen Haltung wie einen Pappkarton mit der Aufschrift „ICH SAGE DAS GLEICHE WIE DU! ICH SAGE DAS, WAS IHR VON MIR HÖREN WOLLT! UND WIRKLICH NIE WAS ANDERES!“ vor sich herschob. „Ich kann nicht, ich hab Angst“, sagte leise die Schwägerin zu ihrem Schwager, und noch viel leiser die Frau zu ihrem Mann. Doch ich hörte es, und dann hörte ich furchtbar laut: „Du hast sie doch nicht mehr alle! Vor was hast du denn Angst?! Gibt es hier irgendeinen, vor dem du Angst haben musst!!? Wart mal ab, zuhause stecken wir dich in den Schrank!“ Ich dachte, das gibt’s doch nicht, das ist doch nicht wahr! Sagte mir, was die Frau braucht, ist ’ne Psychiatrie mit Frauenhausanbindung, oder ein Frauenhaus mit separatem Tunnel zu einer 92 © wasser-prawda Sprachraum Psychiatrie, und für mich brauch ich in diesem Schuppen ’ne Besenkammer, in die mir einmal am Tag das Essen reingeschoben wird und aus der ich zweimal am Tag mit verbundenen Augen und Stöpseln in den Ohren zur Toilette abgeführt werde und wenn meine Prostata abgehobelt ist und wieder ’ne schicke Form hat, vielleicht bloß einmal. Das verquollene Gesicht ihres Mannes lag zwischen dem Käsekuchen und dem Licht im Aufenthaltsraum in einem violetten Schimmer und die Frau schluchzte: „Ich werde dem Arzt sagen, dass ich andere Tabletten haben will. Ich kriege die, die ich jetzt bekomme nicht runtergeschluckt.“ „Du glaubst doch nicht, dass der Klapperarzt das macht, was du willst! Wie lange bist du denn schon hier?“ „Vier Wochen.“ „Vier Wochen? Du spinnst doch total! Du warst doch immer mal wieder zwischendurch zuhause! Komm du mal nach Hause, da schluckst du alles, das sag ich dir!“ „Ich hab Fieber.“ „Ja klar, zuhause werden wir dir alle mal das Fieber messen!“ Der junge Bengel, die alte mit dem riesigen Buckel, die Frau mit dem noch nicht ganz so großen Buckel und der Schwager kicherten. Nur ihr Mann kicherte nicht. „Ja, zuhause messen wir dir Fieber. Dich machen wir gesund“, sagte das bucklige Individuum. Der junge Bengel nickte und grinste immer noch. Der Schwager kicherte erneut und nickte ebenfalls. Die Frau mit dem kleineren Buckel bewegte ebenfalls den Kopf hoch und runter und der Schädel des anderen Kerls war immer noch violett. Ich löffelte mir das letzte Eckchen von meinem Käsekuchen. Einen kleinen Augenblick war Stille. Dann bellte es in meine Richtung: „Und, Meister, was hast du für ’ne Krankheit?“ Ich hatte einen so schönen Freitagabend gehabt, eigentlich auch ein ganz ruhiges Wochenende, nur drei Pillen abholen müssen, ab und an mein vergangenes Verlorensein vor Spielautomaten gesehen, mein allgegenwärtiges Verlorensein, meine Verlorenheit der Zukunft, hin und wieder über meine suizidalen Schübe nachdenken müssen. Was für besinnliche Stunden. Und jetzt musste ich aufstehen, wusste nicht, ob der Kerl mit seiner violetten Fratze oder der Sack mit dem vor sich herschiebenden und beschrifteten Pappkarton die Frage gestellt hatte, schraubte den Deckel der Kaffeethermoskanne ab, sah heißen Dampf aufsteigen, griff mir das Ding und ging wie ein Kellner zur Besuchergruppe. „Meine Krankheit ist, ich hab ’nen Tick, ich muss fremden Menschen heiße Sachen an den Kopf kippen. Kann nichts dafür.“ Die Alte mit dem Buckel sprang wie ein junges Mädchen vom Käsekuchen weg. Die anderen blieben einfach sitzen. Ich kippte schnellteilend den schwarzen Kaffee über den Ehemannlampion und den Schwagerwirsing aus, stand da und sah mir an, wie zwei Köpfe dank fremder Hilfe dampften. Für mich war kein Kaffee mehr drin, obwohl eine Prince Denmark mit einem Tässchen Kaffee einfach besser geschmeckt hätte, drin blieb nur der Käsekuchen und die Verlegung auf die geschlossene Station eine Etage tiefer und mein Zittern, zum Glück im selben Haus. © wasser-prawda 93 Sprachraum R˘ˋˎ˛˝ K˛ˊˏ˝ - D˒ˎ Vˎ˜˝ˊ˕˒˗˗ˎ˗ Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1. . Die Werbung des Mörders. In den Anlagen, welche einen Teil des Hafenufers von NewYork zieren, wandelte ein Mann auf und ab, der sich durch den wiegenden Gang als Seemann kennzeichnete. Er schien nicht geneigt, jedem sein Antlitz zu zeigen, denn obgleich die anbrechende Nacht schon an sich alles nur undeutlich erkennen ließ, hatte er doch noch den Rockkragen möglichst hochgeschlagen und die Schiffermütze tief in die Stirn gezogen, sodaß nur Nase und Augen zu sehen waren. Er war einäugig, aber das unverletzte Auge schien die Fähigkeit zu besitzen, die schwärzeste Finsternis zu durchdringen. Das unter der Mütze hervorsehende, kurzgeschorene Haar war eisgrau, doch zeigten die Bewegungen des Mannes eine noch jugendliche Frische. Der Einsame zog seine Uhr. »Es ist bereits neun,« murmelte er durch die Zähne, »jetzt könnte er kommen. Es muß ein vornehmer Herr oder eine sehr geheimnisvolle Sache sein, daß sie der Meister nicht selbst in die Hand nimmt. Aha, da naht einer, das könnte er sein.« Er trat an den Betreffenden heran und fragte ihn nach der Zeit, indem er dabei sonderbar hüstelte. »Zehn Minuten nach neun,« antwortete dieser kurz und ging weiter. Der Seemann murmelte einen Fluch in den weißen Schnurrbart und wanderte wieder auf und ab. Abermals kam ein Herr die Straße entlang, in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt, den Filzhut tief in die Augen gedrückt. Der Wartende hüstelte wieder. »Bitte, wie ist die Zeit?« fragte er den Herrn. »Es ist Zeit, daß Ihr gehängt werdet!« entgegnete jener mit tiefer, ruhiger Stimme. »Teufel,« lachte der Seemann heiser, »Ihr seid noch gröber, als Bill, der Schiffskoch. Doch scheint Ihr der rechte Mann zu sein. Gebt die Losung!« »Seewolf.« Der Seemann zuckte zusammen. »Pst,« flüsterte er und blickte sich scheu nach allen Seiten um, »nicht so laut! Dieser Name hat einen schlechten Klang. Folgt mir jetzt in einiger Entfernung! Es ist nicht weit.« Er schritt schnell voraus, der andere folgte ihm. Nachdem sie den Weg durch einige dunkle Straßen und Gäßchen möglichst im Schatten zurückgelegt hatten, bog der Seemann in eine Sackgasse ein und hielt vor einem kleinen, unansehnlichen Gebäude, welches nicht bewohnt zu sein schien. Ein eigentümlicher Griff an dem Schloß, und die Thür war offen. »Schnell herein,« flüsterte der Führer und schloß dann die Hausthür wieder sorgfältig. Er zog aus der Tasche eine Blendlaterne, machte Licht und leuchtete dem Fremden die Treppe hinauf, dabei aber durch die 94 © wasser-prawda Sprachraum vorgehaltene Hand das an sich schon schwache Licht der Laterne dämpfend. In der zweiten Etage des Hauses traten sie in ein kleines Gemach, welches nichts weiter enthielt als einen Tisch. An der einen Wand befand sich ein offener Kamin, wie sie in Amerika sehr gebräuchlich sind. Der Einäugige setzte die Laterne so auf den Tisch, daß der Lichtschein nicht zum Fenster hinausfiel, und wendete sich dann zu dem Herrn im Mantel. Dieser hatte zwar jetzt den Kragen desselben heruntergeschlagen, dafür aber bereits auf der Treppe das Gesicht mit einer schwarzen Larve bedeckt, durch welche dieses vollständig verhüllt wurde. Nur die Augen funkelten wie die eines Raubtieres hervor. »Nun sprecht,« begann der Einäugige. »Was ist Euer Wunsch?« Der Schwarzmantel zog wortlos einen versiegelten Brief hervor und gab ihn dem anderen. »Kennt Ihr das Siegel?« fragte er dabei. Der Angeredete nahm den Brief und brachte ihn in den Lichtkreis der Laterne. Er bebte scheu zusammen, als er den Abdruck des Petschaftes erkannte. Derselbe zeigte einen Galgen mit der Umschrift: ›Tod dem Verräter.‹ »Lest den Brief, er ist für Euch!« Der Seemann las. Er zündete dann das Schreiben an, und erst, als das Siegel zerschmolzen war, ließ er das brennende Papier zu Boden fallen und dort zu Asche werden. »Entschuldigen Sie mein voriges Betragen,« begann er dann in demütigem Tone, »ich konnte nicht ahnen, daß Sie in so naher Beziehung zum Meister stehen. Fragen Sie! Ich werde Ihnen antworten.« »Kennt Ihr den Meister?« »Nein, niemand kennt ihn. Aber ich weiß, daß sein Arm überall ist, auf dem Meere, wie in den fernsten Ländern. Ich könnte seltsame Geschichten davon erzählen. So zum Beispiel hatte einmal ein Neuling, ein junges Bürschchen, unser Leben an Bord satt, es bekam Gewissensbisse. In Kapstadt lief es eines Nachts von Bord, um dem englischen Konsulat Enthüllungen zu machen; doch habe ich dies erst später erfahren. Thatsache aber ist, daß der Bursche nicht weit kam. Als ich des Morgens an Deck stieg, hing er aufgeknüpft an © wasser-prawda 95 Sprachraum der höchsten Raae, auf der Stirn das Zeichen des Meisters eingebrannt, die Glieder des Toten aber waren schon so steif, daß er sicher bereits stundenlang da oben gehangen hatte. Solcher Geschichten könnte ich noch manche erzählen.« »Wie kamt Ihr in den Dienst des Meisters?« Der Einäugige zögerte eine Weile mit der Antwort. »Vor etwa zehn Jahren,« begann er dann unsicher, »wurde ich wegen Sklavenhandels von Engländern in Sansibar festgenommen. Ich sah von einem Fenster aus, wie alle Leute meines Schiffes, einer nach dem anderen aufgehängt wurden, ich, der Kapitän, sollte als letzter darankommen. Aber in der Nacht vor meinem Todestag wurde ich in einer mir noch heute rätselhaften Weise aus dem Kerker befreit und für den Dienst des Meisters geworben. Derselbe nimmt nnr die tüchtigsten Leute an, und der Name des Seewolfs war damals weit und breit berüchtigt.« In dem Kamin knisterte es. Der Schwarzmantel lauschte aufmerksam und machte dem Seemanne ein Zeichen, mit der behandschuhten Rechten nach dem Ofen deutend. Der Einäugige schüttelte gleichgiltig den Kopf. »Fledermäuse!« sagte er. »Dieses Haus ist unbewohnt, verlassen, und wir sind absolut sicher.« »Ihr triebt neben dem Sklavenhandel Seeräuberei?« fragte der Maskierte, welchersich wieder beruhigt hatte, weiter. »Ja, bei Gelegenheit.« »Und was habt Ihr jetzt im Dienste des Meisters zu thun?« »Ich führe als spanischer Kapitän unter dem Namen Fonfera mein Schiff von Hafen zu Hafen, bin im Besitze aller nötigen Papiere und empfange an jedem Landungsplatze Weisungen vom Meister, wohin ich zu fahren habe. Ist es möglich, so nehmen wir eine Ladung mit, sonst befrachten wir einfach das Schiff mit Kisten voll Sand, welche in dem nächsten Hafen von ebenfalls Eingeweihten des Meisters vorschriftsmäßig abgeholt werden. Niemals kommen wir daher mit der Polizei in Berührung. In dem neuen Hafen bekomme ich wieder Befehle vom Meister. Entweder muß ich einen Verfolgten, der im Dienste des Bundes etwas Strafwürdiges begangen hat, in Sicherheit bringen oder muß manchmal ganze Banden nach anderen Ländern schaffen oder sonst etwas Aehnliches. Ab und zu gilt es auch,« schloß der Pirat mit unsicherer Stimme, »ein ganzes Schiff auf offener See verschwinden zu lassen.« »Ich weiß, Ihr erzählt mir nichts Neues. So kennt Ihr das Meer?« »O,« rief der Einäugige fast laut, die magere, aber sehnige und starkknochige Gestalt stolz emporreckend, »das Meer ist meine Heimat, es gehört mir. Auf ihm bin ich geboren, fünfundfünfzig Jahre habe ich auf ihm zugebracht, jedes Land, jede Bucht, jede hervorspringende Ecke der verschiedenen Küsten kenne ich wie mich selbst. Und das Meer kennt den Seewolf. Vierzehnmal schon verschlang es mein Schiff und meine Kameraden, aber mich spie es stets wieder aus. Ich bin sein Kind.« »Habt Ihr zuverlässige Leute an Bord?« fragte der Fremde weiter. »Herr, der ›Friedensengel‹ hat die bravsten und fixesten Matrosen, die jemals das Meer durchkreuzt haben, auf seinen Planken. Die Kerls fürchten Gott und den Teufel nicht. ›Friedensengel!‹ Hahaha! Ein vortrefflicher Name für das Schiff des Seewolfs.« Der Schwarzmantel schwieg eine geraume Zeit und blickte nachdenkend vor sich nieder. Dann heftete er den finsteren Blick fest auf den Seemann und sagte: 96 © wasser-prawda Sprachraum »Ihr tretet von jetzt ab in meine Dienste!« Der Seewolf machte eine linkische Verbeugung. »Hat Euch der Meister bis jetzt in Silber bezahlt, so bezahle ich Euch in Gold.« Der Einäugige schmunzelte und verbeugte sich wieder. »Herr, befehlt! Was soll ich thun? Soll ich die Erde in die Luft sprengen oder jedes mir begegnende Schiff in den Grund rennen?« »Kennt Ihr das weißgestrichene Vollschiff, das im nördlichsten Hafendock liegt?« Der Pirat lächelte geringschätzig. »Man erzählt sich Seltsames. Die Welt wird bald vollständig verrückt werden. Es ist die ›Vesta‹, sie ist heute getauft worden und geht morgen früh mit vierundzwanzig Unterröcken in See. Hahaha,« lachte er mit erstickter Stimme, »ich will nicht der Seewolf heißen, wenn ich mir nicht einmal das Schiff da draußen genauer betrachte und den Weibern einen Streich spiele.« »Kennt Ihr die Kapitänin?« »Dem Namen nach; sie soll Ellen Petersen heißen und die Verrückteste von allen sein.« Der Schwarzmantel zog eine Photographie hervor und hielt sie dem Piraten vor das Auge. »Blitz und Donner!« rief der Seemann überrascht. »Beim heiligen Klüverbaum, das ist ein Prachtmädel. Diese Augen sehen einem bis ins Herz.« Der Schwarzmantel bohrte seine Blicke fest in das Auge des Piraten und sagte leise, jedes Wort betonend, mit zischender Stimme: »An demselben Tage noch, an dem ich die Nachricht erhalte, daß Miß Ellen Petersen nicht mehr unter den Lebenden weilt, erhaltet Ihr eine Million Dollars bar ausgezahlt und seid von dem Dienste des Meisters entbunden, seid ein freier Mann. Hier habt Ihr die Beglaubigung vom Meister.« »Ah,« rief der Pirat freudig, nachdem er das ebenfalls versiegelt gewesene Schreiben gelesen und dann sorgfältig vernichtet hatte. »Das ist einmal ein Geschäft. Endlich eine Hoffnung, von diesem verfluchten Sklavendienste befreit zu werden und wieder auf eigene Faust arbeiten zu können. Doch was soll ich thun?« »Ihr werdet wie bisher in jedem Hafen Instruktionen vom Meister erhalten und jede notwendige Geldsumme empfangen. Doch die ›Vesta‹ ist ein schnellsegelndes Schiff, werdet Ihr ihm bei Gelegenheit folgen können?« Der Seemann lachte höhnisch auf. »Wohl ist es ein scharf gebautes Fahrzeug und wäre in meiner Hand das schnellste der Welt, doch auch der ›Friedensengel‹ ist nicht zu verachten, und schließlich sind diese Weiber doch gleich Kindern gegen mich und verstehen nichts von der Sache, wenn sie auch noch so viele nautische Kenntnisse besitzen. Was wissen diese Neulinge von den Geheimmitteln, um den Lauf eines Schiffes zu beschleunigen! Wie man das Vorderteil beschwert, wie man die Masten schwippend macht, und wie man den ungünstigsten Wind abfängt. In diesen Kniffen ist der Seewolf Meister. Nein, nein, das ist Spielerei für mich. Doch, wie ist es, wenn das eine oder das andere Mädchen mit darauf geht?« »Und wenn das ganze Schiff auf den Meeresgrund sinkt oder in die Luft fliegt,« antwortete der Gefragte finster, »es schadet nichts. Erfahre ich den Tod der Ellen Petersen aus sicherer Quelle, so bekommt Ihr die Million Dollars und seid frei. Auf dem © wasser-prawda 97 Sprachraum Wasser oder auf dem Lande, durch Kugel, Dolch oder Gift, sie muß sterben.« »Und sie wird durch meine eigene Hand fallen,« rief der Einäugige mit wilder Fröhlichkeit aus, »diese Gelegenheit, mich freizumachen, soll mir nicht entgehen! Wohin geht die ›Vesta‹ zuerst?« »Ich kann mit Bestimmtheit nur sagen, daß das erste Reiseziel das mittelländische Meer ist. Dort könnt Ihr sie leicht treffen.« «All right,« entgegnete der Pirat und ergriff die Laterne, denn der Schwarzmantel schritt schon nach der Thür. »Mein Schiff ist reisefertig, noch heute steche ich in See und lauere der ›Vesta‹ in der Straße von Gibraltar auf, um ihr zu folgen und eine Gelegenheit für meinen Zweck zu erspähen. Sie sollen mit dem Seewolf zufrieden sein.« Vorsichtig, wie sie gekommen waren, entfernten sich die beiden würdigen Männer aus dem Hause und gingen unten in verschiedenen Richtungen davon. – – – – Auf dem Dache des Hauses, in welchem eben diese nächtliche Unterredung stattgefunden hatte, saß ein Katzenpärchen und miaute verliebt. Plötzlich sprangen die Tiere scheu davon. Aus einem Schornsteine blickte ein Menschenkopf hervor, dem im nächsten Moment die ganze Gestalt folgte. Der Mann setzte sich auf den Rand der Esse und rieb sich schmunzelnd die Hände. »Es ist doch ausgezeichnet,« sagte er vergnügt zu sich selber, »wenn ein Detektiv als Schornsteinfeger gelernt hat. Also der Seewolf ist wieder aufgetaucht und treibt nach wie vor sein sauberes Handwerk! Vor dreißig Jahren schreckte mich meine Mutter mit seinem Namen, wenn ich nicht folgen wollte. ›Wenn du nicht artig bist,‹ rief sie immer, ›so sage ich es dem Seewolf, der nimmt dich dann mit.‹ Diesmal aber werde ich ihn mitnehmen. Der Bursche ist natürlich viel zu schlau, um ihn schon jetzt fassen zu können, denn wie er sagt, fährt er als ein schlichter Kapitän; außerdem bindet mich mein Versprechen, denn wird er jetzt dingfest gemacht, so sucht sich dieser saubere Gentleman einen anderen, der seine teuflischen Pläne ausführt.« Er überlegte eine Weile und fuhr dann in seinem Selbstgespräch fort: »Also hatte Lord Harrlington doch recht, als er diesen Herrn meiner Aufmerksamkeit empfahl. Wer hätte das geglaubt! Ein Glück war es, daß ich durch eine Unbedachtsamkeit des vermeintlichen Kapitäns Fonsera von dieser Unterredung hier im Hause erfuhr und, nichts Gutes ahnend, mich hier einfand. Mit Gold ist die Entdeckung gar nicht zu bezahlen. Nun gilt‘s bloß noch, den nächsten Hafenplatz der ›Vesta‹ auszukundschaften, und dann – auf Wiedersehen, Seewolf, mich wirst du nicht wieder von deiner bluttriefenden Spur los, bis ich dich, Raubtier des Meeres, eingefangen habe.« Der Schornsteinfeger sprang von der Esse herab und lief trotz der pechschwarzen Nacht so sicher wie eine Katze auf dem schmalen Firste des Daches entlang, bis er durch ein Fensterchen verschwand. 3. Die neue Vestalin. Während die heimliche Unterredung zwischen dem Piraten und dem maskierten Mann in jenem Häuschen stattfand, spielte sich in dem Prachtgebäude, welches dem ehemaligen Damenruderklub ›Ellen‹ als Versammlungsort diente, eine andere Scene ab. 98 © wasser-prawda Sprachraum © wasser-prawda 99 Sprachraum Alle vierundzwanzig Mitglieder, welche sich noch diese Nacht an Bord der ›Vesta‹ begeben wollten, um früh ihre Reise um die Erde anzutreten, waren anwesend. Die Kapitänin, Miß Ellen Petersen, hatte sich eben erhoben, um eine Ansprache zu halten. Miß Petersen war eine Waise. Nach dem Tode ihres Vaters, eines enorm reichen Pflanzers in Louisiana, hatte die Mutter noch einmal geheiratet, dann aber selbst bald das Zeitliche gesegnet. Mit ihrem Stiefvater, einem ehemaligen Abenteurer, der durch seine schöne Gestalt und seine bestechenden Manieren das Herz ihrer geliebten Mutter gefangen hatte, konnte sich Ellen nie befreunden. Ein unnennbares Gefühl stieß sie von dem ihr stets sehr liebenswürdig begegnenden Mann mit den stechenden, grauen Augen zurück und ließ sie schon in ihrem siebzehnten Jahre nach New-York ziehen. Das Mädchen hatte in seiner Kindheit eine zügellose Freiheit genossen, wie sie nur der Aufenthalt auf einer Plantage gewähren kann. Wurde sie nicht durch Unterricht an das Haus gefesselt, so konnte man sie während der Tagesstunden zwischen den Cowboys finden, jenen unübertrefflichen Rinder- und Pferdehirten der Prärie. Von diesen lernte sie, wie man das wildeste Roß zum Gehorsam zwingt, und wie man, während das Pferd über eine Hecke 100 © wasser-prawda Sprachraum setzt, eine in die Luft geworfene Orange mit der Revolverkugel zerschmettert. Als der verhaßte Stiefvater dem schon erwachsenen Mädchen einst Vorwürfe über dieses unweibliche Betragen gemacht hatte, war sie kurz entschlossen nach New-York gezogen, um ganz ihren Neigungen leben zu können. Hier war ihr nicht so oft die Gelegenheit geboten, Rosse zu tummeln und andere körperliche Uebungen vorzunehmen, dafür aber fand sie bald Geschmack am Wassersport und gab sich diesem mit vollem Eifer hin. Schon nach einem Jahre hatte sie viele gleichgesinnte, junge Mädchen, die reich und unabhängig gleich ihr waren, um sich versammelt und gründete mit diesen den ersten Damenruderklub der Welt, von dessen Siegen oft in den Zeitungen zu lesen war. Ihre neueste Idee war nun, mit diesen Freundinnen als Matrosen eine Reise um die Erde zu machen, um der staunenden Männerwelt zu zeigen, daß die Frauen, wenn sie wollen, jener in nichts nachstehen. Miß Ellen stand jetzt im zweiundzwanzigsten Jahre. Ihr prächtiger, schlanker und doch voller Wuchs bezauberte jeden Mann, auch wenn er nicht in das schöne Gesicht sah, welches einer Venus zu gehören schien. Reiches, blondes Haar umrahmte die weiße Stirn und flutete über den Nacken. Aber das Herrlichste an Ellen waren ihre tiefblauen Augen, deren Strahlen bis in das Herz zu dringen schienen. Zwar waren diese Strahlen noch kalt, aber es schien nur die Gelegenheit zu fehlen, um sie in sengende, leidenschaftliche Gluten zu verwandeln. »Meine Freundinnen,« begann sie mit einer wundervollen Altstimme, »es handelt sich also um die Aufnahme einer neuen Vestalin. Wir sind vierundzwanzig Mitglieder, und, wie wir berechnet haben, sind zur Bedienung der ›Vesta‹ unbedingt fünfzig Hände erforderlich. Eine geeignete Person haben wir bis jetzt noch nicht finden können. Nun stellte sich mir heute früh eine junge Dame mit dem dringenden Wunsche vor, uns auf der Reise begleiten zu dürfen. Empfohlen wurde sie mir von unserer Freundin Jessy Murray. Die Novize wartet im Nebenzimmer, und ehe wir zur Abstimmung schreiten, sollen Sie sie dem Aeußeren nach beurteilen. Ich bemerke gleich, daß Johanna Lind zwar in Amerika geboren ist, über von deutschen Eltern abstammt.« Während Miß Ellen die Hand nach der Klingel ausstreckte, um die Wartende zu rufen, entstand unter den Damen ein mißmutiges Gemurmel, weil eine Deutsche an Bord der ›Vesta‹ kommen sollte. Doch ehe die Vorsitzende ihr Vorhaben noch ausführen konnte, sprang Jessy Murray auf. »Halt!« rief das junge Mädchen mit blitzenden Augen. »Wenn Miß Petersen gegen Miß Lind ein Vorurteil erweckt hat, so will ich dies abschwächen. Johanna Lind ist in ganz Amerika nicht unter diesem, sondern unter ihrem englischen Namen, Jane Lind, bekannt.« Triumphierend wartete die Sprecherin den Eindruck ihrer Worte ab. »Ah,« riefen alle Damen fast gleichzeitig aus. »Jane Lind, die Heldin vom Oberonsee?« »Ja, sie ist es. Johanna Lind wagte im Winter letzten Jahres siebenmal ihr Leben, um ebensoviele Personen aus den hochgehenden Wogen des Oberonsees zu retten.« »Dann ist eine Abstimmung gar nicht nötig,« rief eine Dame. © wasser-prawda 101 Sprachraum »Nein, sie ist aufgenommen!« stimmten alle anderen bei. Die Gerufene trat ein. Wenn ihre Aufnahme noch nicht beschlossen gewesen wäre, so hätte doch schon ihre Erscheinung diese bewirkt. Unter all den schönen Mitgliedern des Klubs konnte sie Anspruch erheben auf den Titel der schönsten; dabei blickte das kluge, braune Auge so liebevoll und freundlich, daß es im Nu die Herzen aller Damen bezauberte. Niemand hatte dieser zarten, schmiegsamen Gestalt zugetraut, daß sie sich siebenmal den eisigen Fluten preisgegeben hatte, ohne nachteilige Folgen zu verspüren. Mit herzlichem Willkommen wurde sie als neue Vestalin begrüßt. Jessy Murray hatte bereits erzählt, daß dieselbe in jeder Weise würdig sei, an Bord der ›Vesta‹ zu leben, da sie auch auf den großen Seen oder vielmehr Binnenmeeren Nordamerikas, genügend Gelegenheit gehabt hätte, sich mit dem Wassersport vertraut zu machen. »Bevor wir jedoch,« nahm die Kapitänin wieder das Wort, »Sie definitiv als Vestalin aufnehmen können, ist es nötig, daß Sie unsere Gesetze kennen lernen. Glauben Sie diese nicht halten zu können, so steht Ihrem Rücktritt nichts im Wege. Die Regeln sind einfach, aber sehr streng, doch nicht streng für uns, die wir uns freiwillig Vestalinnen nennen. Sie kennen die Sage von der Vesta und deren Priesterinnen?« Johanna bejahte lächelnd. »Nun wohl! So wissen Sie auch, daß eine Vestalin, welche das Gelübde der Keuschheit brach, eingemauert wurde; ließ sie das heilige Feuer ausgehen, so wurde sie gegeißelt, desgleichen, wenn sie Ungehorsam zeigte. Dies gilt allerdings nicht für uns. Wer aber mir, der Kapitänin der ›Vesta‹, ungehorsam ist, wird an der Stelle, wo wir uns gerade befinden, sei es an der Küste, an einer Insel oder mitten auf dem Ocean, unwiderruflich vom Schiff ausgesetzt. Wer während dieser Reise das Gelübde der Keuschheit bricht, wird an den Mast gebunden, gegeißelt und im nächsten Hafen an das Land gesetzt. Dasselbe gilt für diejenige, welche etwas über unser Leben verrät, ein Reiseziel nennt oder überhaupt Mitteilungen über etwas macht, was unter uns besprochen wurde. Sind Sie damit einverstanden, Miß Jane Lind, so unterschreiben Sie dieses Formular, sodaß Sie sich später nicht über uns beschweren können.« Die Vestalin ergriff die Feder, überlegte einige Sekunden und unterschrieb dann mit fester Hand den Vertrag. 102 © wasser-prawda Sprachraum Bis jetzt hatte die Vorsitzende mit ernster Stimme gesprochen, nun aber fuhr sie in ihrer gewöhnlichen, heiteren Weise fort: »Der Zweck dieser Reise ist, der Welt den Beweis zu geben, daß wir Frauen den Männern in nichts nachstehen, daß wir ebensogut wie sie ein Schiff durch den Sturm leiten und jeder Gefahr Trotz bieten können, ohne mit den Wimpern zu zucken. Wer, wie ich, schon vielfach Seereisen gemacht hat, weiß, daß unbedingter Gehorsam auf einem Schiffe notwendig ist. Alle diese Bestimmungen sind nicht willkürlich von mir getroffen, sondern von allen beschlossen worden. In den einzelnen Hafenplätzen hört dieses Vorgesetztenverhältnis zu mir natürlich auf. Wir besehen uns die betreffende Stadt, unternehmen Ausflüge ins Innere des Landes, Jagdpartien u. s. w., für welche an Bord alle Vorbereitungen getroffen sind. Und nun seien Sie als Vestalin herzlich begrüßt.« Sie schüttelte, ebenso wie die anderen, Johanna Lind, der neu angemusterten Vestalin, herzlich die Hand. »Wie wird die Arbeit an Bord verteilt?« fragte diese. »Ich bin für immer zur Kapitänin gewählt worden,« erklärte Miß Ellen. »Zeigt sich aber eine der Damen mehr für diese Stellung geeignet, so werde ich sie ihr freiwillig abtreten. Bei Segelmanövern arbeiten alle nach verteilten Rollen in der Takelage. Die Funktionen der beiden Steuerleute gehen die Reihe um, ebenso die der Köchin, bis sich im Laufe der Zeit zeigt, wozu jede der einzelnen Damen besondere Neigung besitzt. Die Mannschaft ist, wie auf jedem Schiffe in zwei Gruppen geteilt, in die Backbord- und in die Steuerbordwache, welche sich aller vier Stunden ablösen. Die Verteilung der Wachen machen die Damen unter sich aus, damit Freundinnen möglichst zusammenkommen. Das Schiff ist neu, sodaß außer den nötigen Segelmanövern und der täglichen Reinigung sehr wenig Arbeit zu thun sein wird. Für Unterhaltung, Musik, Bücher u. s. w. ist auf der ›Vesta‹, wie Sie finden werden, aufs beste gesorgt, desgleichen für Bequemlichkeit. Die einzelnen Arbeiten, wie zum Beispiel Zeugwaschen, muß sich natürlich jede selbst besorgen, wie auf anderen Schiffen die Matrosen.« »Die ›Vesta‹ geht bereits morgen in See?« »Ja, morgen früh. Wir begeben uns noch diese Nacht an Bord. Lassen Sie Ihre Sachen gleich nach dem Schiffe bringen! Ordnen Sie noch alles Nötige an, und kommen Sie selbst an Bord.« »Kann ich schon jetzt erfahren, welchen Hafen die ›Vesta‹ zunächst anlaufen wird?« »Gewiß. Wir haben keine Heimlichkeiten unter uns. Wir kreuzen durch den atlantischen Ocean, möglichst langsam, um uns im Segelmanövrieren zu vervollkommnen, fahren ins mittelländische Meer und laufen zuerst Konstantinopel an. Von dort begeben wir uns nach Alexandrien, machen einen Abstecher nach Kairo, besuchen die Pyramiden u. s. w. und segeln dann wieder der Straße von Gibraltar zu, unterwegs noch einige sehenswerte Plätze mitnehmend. Welchen Weg wir dann einschlagen, wird später beschlossen.« Die jungen Mädchen plauderten und scherzten noch lange miteinander und malten sich die sie erwartenden Erlebnisse und Abenteuer mit den heitersten Farben aus. Hätten sie ahnen können, daß jetzt gerade der berüchtigtste Seeräuber und seine Matrosen, Hyänen in Menschengestalt, die Anker lichteten, um draußen auf dem Meere der ›Vesta‹ aufzulauern und sie samt ihrer Besatzung für immer verschwinden zu lassen! © wasser-prawda 103 Sprachraum Noch ehe sich die Damen an Bord ihres Schiffes begaben, entfernte sich Miß Jane Lind, weil sie ihre Koffer noch besorgen wollte, mit dem Versprechen, bald nachzukommen. Als sie auf der Straße stand, seufzte sie tief auf und schlug die Augen zum Himmel empor. »Gott, Du Allmächtiger,« stammelte sie, »gieb mir die Kraft, mein Vorhaben zu vollbringen! Schweres habe ich mir vorgenommen. Behüte Du mich, wie Du mich immer bis jetzt wunderbar beschirmt hast! Mut, Johanna, es muß sein, und es wird dir gelingen!« Eilends entfernte sie sich, bestieg eine Droschke und fuhr in ein anderes Stadtviertel. Vor einem Postgebäude hielt der Wagen. Johanna stieg aus, trat in den Schalterraum und spähte umher. Niemand außer ihr befand sich im Zimmer. Flüchtig warf sie ein paar Zeilen auf ein ausliegendes Depeschenformular und reichte dieses dem dienstthuendcn Beamten. Der Telegraphenapparat klapperte, und im nächsten Momente durchliefen das Kabel des atlantischen Oceans die Worte: »Lord Harrlington, London. Abreise morgen früh. Konstantinopel.« Die neue Vestalin hatte den ersten Verrat verübt; die Geißel wartete ihrer. 104 © wasser-prawda Sprachraum T G Purvis - Tall Ships In A Dock (1900-1910). © wasser-prawda 105 Prudenci Bertrana: Josafat oder Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde 86 Seiten 14,8 x 21,0 cm; ISBN: 978-3-943672-20-6 11,00 EUR (D) auch als E-Book erhältlich. Jürgen Buchmann: Lüneburger Trilogie. 96 Seiten; 14,8 x 21 cm; ISBN: 978-3-943672-09-1 10.00 EUR (D) Auch als E-Book erhältlich. Uwe Saeger: Ein Mensch von heute 92 Seiten; 14,8 x 21 cm ISBN: 978-3-943672-17-6 10,00 EUR (D) (Auch als E-Book erhältlich.) Angelika Janz: tEXt bILd. Ausgewählte Werke 1: Visuelle Arbeiten und Essays 120 Seiten; 14,8 x 21 cm; 11,95 EUR (D) ISBN: 978-3-943672-09-1 11,95 EUR (D)