WP 11_2013.indb - Wasser

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WP 11_2013.indb - Wasser
Nr. 11/2013
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LEO LYONS (TEN YEARS AFTER)
Boogie im Barrelhouse: LiƩle Brother Montgomery, Sunnyland Slim, Roosevelt Sykes, Champion Jack Dupree
Brian Houston - Tim Lothar - Eric Sardinas
Album des Monats: Calum Ingram
Pianoblues + Neue Musik aus Kanada + Weihnachtsalben
Texte von Jürgen Landt, Arthur Kahane, Kurt Tucholsky
Bücher von Dirk Uwe Hansen, Paul BeaƩy, Ben Lewis,
George MarƟn
Editorial
2
© wasser-prawda
Editorial
Editorial
G
roße Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Groß
immerhin für unser kleines Online-Magazin: Im
März werden wir gemeinsam mit dem freiraum-verlag, mit dem wir bei unserem pdf-Magazin zusammenarbeiten, erstmals bei der Leipziger Buchmesse vertreten sein.
Doch nicht nur am Stand des Verlages im Getümmel der Verlage
wollen wir mit Euch ins Gespräch kommen. Wir wollen auch
mit Euch gemeinsam feiern. Nachdem die Autoren des Verlages
bei „Leipzig liest“ ihre neuen Werke vorgestellt haben, feiern wir
die erste Wasser-Prawda-Party. Live auf der Bühne werden dabei Schneider, Schwarznau und Macht zu erleben sein mit ihrer
Musik zwischen Blues, Folk und Americana im Acoustic-Stil.
Und wer danach Lust zum Tanzen haben sollte, hat Gelegenheit
zu klassischen Soul- und Funksounds, Blues und Rockabilly die
Körper zu bewegen.
Langsam wird es Zeit, an Weihnachtsgeschenke zu denken.
Schon seit ein paar Jahren veröffentlicht unser Autor Karsten
Spehr einige seine Fotografien als Kalender heraus. Damit hat
man ein hervorragendes Erinnerungsstück an die besten Konzerte und Festivals des Jahres in der Hand. Und mit dem Kauf
unterstützt man auch Spehrs Engagement für die Live-Kultur
in seiner Heimatstadt Chemnitz, wo er nicht nur ein jährliches
Bluesfestival sondern auch Konzerte zwischen Jazz und Bluesrock
veranstaltet. 2013 hatte er beispielsweise Moreland & Arbuckle,
Lance Lopez und auch The Dynamite Daze in die Stadt geholt.
Und im November wird er für die Wasser-Prawda das Festival in
Luzern besuchen und mit ein paar Interviews und jeder Menge
Fotografien zurück kommen.
Zum Jahresende wird es Zeit, auf die Musik zurückzublicken,
die wir in diesem Jahr neu gehört haben. Ab 1. Dezember wird
dann auf der Homepage der Wasser-Prawda wieder die Umfrage
nach den besten Bluesalben des Jahres stattfinden. Noch bis Mitte
November werden neue Platten in die Vorauswahl aufgenommen.
Wer bei unseren Rezensionen noch wichtige Alben vermisst, sollte uns darauf so schnell wie möglich hinweisen, damit wir unsere
Lücken noch rechtzeitig schließen können.
Auch nach dem Tod von Alvin Lee kann man Ten Years After
noch immer auf den Bühnen dieser Welt mit ihrem Bluesrock
erleben. Mit Bassist Leo Lyons hat sich Mario Bollinger (Blue
Note Blues Band) nicht nur über Woodstock sondern auch über
das Leben eines unermüdlich tourenden Musikers unterhalten.
Anlässlich der Wiederveröffentlichung des Livealbums „The
Real Honeydripper“ haben wir hier nicht nur eine Biografie von
Roosevelt Sykes sondern auch weiterer Pianisten des Barrelhouse
versammelt.
Zum zweiten Mal veröffentlichen wir in unserem Magazin
einen Artikel des Philosophen und Journalisten Peter Kroh zur
Situation der Sorben in Deutschland. Unbemerkt vom Rest der
Bevölkerung kämpft diese nationale Minderheit in Brandenburg
und Sachsen um ihr Überleben und um das Fortbestehen ihrer
jahrhundertelangen Siedlungsgebiete, die seit Anfang des 20.
Jahrhunderts durch den Braunkohletagebau in der Lausitz immer
weiter zusammengeschrumpft sind.
© wasser-prawda
3
Editorial
Impressum
Editorial
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des
Impressum
Computerservice Kaufeldt Greifs- Auf Tour
wald. Das pdf-Magazin wird in Zu- Clubs
sammenarbeit mit dem freiraumverlag Greifswald veröffentlicht und
erscheint in der Regel monatlich. Es
wird kostenlos an die registrierten
Leser des Online-Magazins www.
wasser-prawda.de verschickt.
Wasser-Prawda Nr. 11/2013
Inhalt
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4
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Musik
Zwölftaktige Schürzenjäger oder Die Banalisierung des Blues
Letter from the United Kingdom
Voll auf die Zwölf!
Ten Years After – Wo geht’s lang, Leo Lyons?
Redaktionsschluss: 12. No- Boogie im Barrelhouse
Little Brother Montgomery (1906-1985)
vember 2013
Sunnyland Slim (1906-1995)
Redaktion:
Roosevelt Sykes (1906-1983)
Champion Jack Dupree (1909-1992)
Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Pianoblues 2013
Redaktion: Bernd Kreikmann,
Nico Brina - Flight 6024
Lüder Kriete, Erik Münnich,
The Claudettes - Infernal Piano Plot ... HATCHED!
Thomas Scheytt - Blues Colours
Dave Watkins
Mitarbeiter dieser Ausgabe:
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Mario Bollinger
Gary Burnett
Ole Schwabe
Karsten Spehr
Darren Weale
Max Wienold
Die nächste Ausgabe erscheint am
19.Dezember 2013.
Adresse:
Redaktion Wasser-Prawda
c/o wirkstatt
Gützkower Str. 83
17489 Greifswald
Tel.: 03834/535664
[email protected]
Anzeigenabteilung:
[email protected]
Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und
die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda
zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des
Erscheinungs-Monats.
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Brian Houston - In der Dunkelheit scheint ein helles Licht
Tim Lothar - Ein Mann und eine Gitarre
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Album des Monats
Calum Ingram - Making It Possible
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Rezensionen A bis Z
Billy Thompson - Friend
Blind Boys of Alabama - I‘ll Find A Way
Blues Point - Simply Blues
Brian Houston - Mercy (Jesus Don‘t Forget My Name)
Calibro 35 - Traditori Di Tutti
Carl Verheyen - Mustang Run
David Bromberg Band - Only Slightly Mad
Forty4 - 44 Minutes
Fran McGillivray Band - Some Luck
Groove-A-Matics - Keep It Clean
Hiss - Das Gesetz der Prärie
Holland K. Smith - Cobalt
HowellDevine - Jumps, Boogies & Wobbles
JC Crossfire - When It Comes To The Blues
Jonny Lang - Fight For My Soul
Jump Blues Syndicate - Indtroducing The Jump Blues
Syndicate
Kara Grainger - Shiver & Sigh
King Khan & The Shrines - Idle No More
Kyle & Moore - The Whale & The Wa‘ah
Lightnin‘ Malcolm - Rough Out There
Mátyás Pribojszki Band - Treat
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© wasser-prawda
Editorial
Niecie - Wanted Woman
Paper Aeroplanes - Little Letters
Paul Lamb & Chad Strentz - Goin‘ Down This Road
Perrecy - Du bist das Opfer
Roy Harper - Man & Myth
Sean Chambers - The Rock House Sessions
The California Honeydrops - Like You Mean It!
Thomas Ford - Breaking Everything But Even
Tommy Z - Sometimes
Tony McLoughlin - The Contender
Van Morrison - Moondance. Expanded Edition
Wooden Horse - This Kind Of Trouble
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Made in Kanada
Dan McKinnon - As Sharp As Possible
David Blair - I Hate Liking You
Jadea Kelly - Clover
Maria In The Shower - The Hidden Sayings of
Melanie Dekker - Distant Star
New Country Rehab - Ghost of your Charms
Soulstack - Five Finger Discount
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64
64
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65
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Weihnachtsplatten
Bright Eyes - A Christmas Album
Dieter Kropp - Eine schöne Bescherung
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67
67
Feuilleton
Lausitzer Bodenschätze und der Kueka-Stein
„So muß man erzählen!“
68
72
Bücher
Dirk Uwe Hansen: Zwischen unge / sehnen Orten
Ben Lewis - Das komische Manifest
Paul Beatty: Slumberland
George Martin (mit Jeremy Hornsby): Es begann in der
Abbey Road
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80
82
84
Sprachraum
Arthur Kahane: Happy end
Kurt Tucholsky: Die freie Marktwirtschaft
Jürgen Landt: „So schlimm, der letzte Abend?“
86
91
92
Roman
Robert Kraft - Die Vestalinnen
© wasser-prawda
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5
Musik
Auf Tour
09.12. Music Live Club, HH
12.12. Club am Donnerstag,
B.B. & The Blues Shacks Bergedorf
17.11. Irish Pub, Göttingen
13.12. Kulturrampe, Krefeld
22.11. Räucherei, Kiel
14.12. VHS-Forum, Olpe
23.11. Brunsviga, Braunschweig 15.12. Weihnachtsmarkt, Det06.12. Jazzfreunde Wolfsburg
mold
07.12. Bluesnote Bluesinitiative
Rheine
Francomusique 2013
14.12. Jazzfreunde Burgdorf
09.12. Berlin, Privatclub
19.12. Jazzclub, Hannover
10.12. Hamburg, Übel & Ge21.12. Trellers Chicken Shack, fährlich (Turmzimmer)
Woltershausen
11.12. Düsseldorf, Forum Frei24.12. Mühle, Hildesheim
es Theater *
29.12. Borkumer Bluesnight
12.12. Köln, Die Wohngemeinschaft**
Blue Note Blues Acou13.12. Magdeburg, Moritzhof
stic Band:
Sa. 16.11.13 Omnibus, Würz- * Buridane + Support: Antoine
burg
Villoutreix
Fr. 22.11.13 Gasthaus Hinter- ** Askehoug + Support: Antoholzer, Hohenthann
ine Villoutreix
Sa. 23.11.13 Alfonso’s, München
Gavin Harrison & Osiric
14.11. Berlin, Crystal
Blues Company
20.11. Nürnberg, Hirsch
22.11. Kulturwerk, Nienburg
21.11. CH-Aarburg, Moonwal07.12. Hot Jazz Club, Münster ker
21.12. Divarena, Delmenhorst 03.13. Aschaffenburg, Colos25./26.12. Blue Note, OsnabSaal
rück
04.12. Köln, Underground
Carl Verheyen Band
15.11. Ludwigshafen, dasHaus
21.11. Bruchsal, Rockfabrik
22.11. Euskirchen, Altes Casino
23.11. Minden, Jazz Club Minden
Cologne Blues Club
21.11. Marias Ballroom, HHHarburg
23.11. Savoy, Bordesholm/Kiel
17.12. Mehlsack, Emmendingen
18.12. Chabah, Kandern
17.02. Waldhaus, Weil a.Rhein
08.03. Grend, Essen
Dieter Kropp & Band
4.12. Forum, Kirchenlengern
6.12. Kniestedter Kirche, Salzgitter
7.12. Druckerei, Bad Oeynhausen
6
Hamburg Blues Band
19.11. OKV, Ebersbach
21.11. Spizz, Leipzig
23.11. Bluesnight, A-Admont
05.12. Bahnhof Langendreer,
Bochum
06.12. Rosenhof, Osnabrück
07.12. Ulmenhofschule, Kellinghusen
14.12. Lehenbachhalle, Winterbach
20.12. HsD Gewerkschaftshaus, Erfurt
21.12. Music Hall, Worpswede
03.01. Café Hahn, Koblenz
04.01. Gasthof zum Bräu, Garching
05.01. Jazzhaus, Freiburg
10.01. Quasimodo, Berlin
11.01. Zur Linde, Affalter
16.01. Harmonie, Bonn
17.01. Rex, Bensheim
18.01. Speicher, Schwerin
Henning Larsson
15.11. Essen, Unperfekthaus
16.11. Düsseldorf, Café Checkpoint
Marius Tilly Band
15.11. Kamen, En Place
16.11. Rahden, Marktschänke
26.11. Ludwigsburg, Scala
Backstage
27.11. Kofferfabrik Fürth
28.11. Interlaken (CH), Brasserie 17
29.11. Bühler (CH), Bluesclub
Morblus
12.12. Altdorf, Jimmy‘s Café
13.12. Haiming, Gwölbekeller
14.12. A-Linz, Auerhahn
New Country Rehab
15.11. Frankfurt/Oder, Transvocale Festival
20.11. Schneverdingen, La Habana
Pokey LaFarge
26.11. Imperial Club, Berlin
27.11. Effenaar, Eindhoven
29.11. People‘s Place Amsterdam (2 Shows!)
30.11. Erasmus Paviljoen, Rotterdam
12.01. De Oosterpoort, Groningen
The Holmes Brothers
© wasser-prawda
Musik
14.11.Bürgerhäuser Dreieich
15.11.Jazz Point Wangen im
Allgäu
16.11. Forum Naila
17.11.St.Barbara Zwickau
19.11. Quasimodo Berlin
20.11. Jazz-Club Hannover
21.11. Jazz-Club Paderborn
22.11.Kulturhaus
Alter
Schlachthof Soest
23.11.Grüner Jäger Lingen
26.11. Kulturzentrum dasHaus
Ludwigshafen
28.11. North Sea Jazz Club
Amsterdam, Netherlands
29.11. Mezz Breda, Netherlands
30.11. N9 Villa Eeklo, Belgium
TODD THIBAUD Duo
17.11.13 Hameln, Sumpfblume
18.11.13 Celle, Aimely
20.11.13 Offenburg, tba
21.11.13 Bad Gandersheim,
Klosterhof
22.11.13 Cadenberge, Nacht
der Lieder
www.toddthibaud.com
Will Wilde
16.11. Gewölbe Livebühne Eisching, Haiming
18.11. Further Hof, Düsseldorf
20.11. Downtown Blues Club,
Hamburg
21.11. Rainer‘s Rockhouse, Algermissen
Clubs
Barnaby‘s Blues-Bar
(Braunschweig)
15.11. Clem Clempson Band
16.11. Neal Black & Healers
23.11. Abi Wallenstein & Steve
Baker
© wasser-prawda
28.11. Guru Guru
29.11. Timo Gross
30.11. Modern Earl
06.12. The Kingfish Blues
Band feat. Eddie Filipp
07.12. Reggie Worthy feat Ina
Zeplin
21.12. Rocking Horse
27./28.12. Booze Band
22. Februar, 20 Uhr, Jan
Hengsmith
Laboratorium
(Stuttgart)
16.11. Carmen Souza
22.11. Ezio
28.11. Electric Blues Duo
29.11. Lucky Peterson
05.12. Danny Bryant
Bluesgarage Isernhagen 06.12. Tommy Schneller Band
16.11. Eric Sardinas & Big Mo- 14.12. Hawelka
tor
19.12. Bastiao
17.11. Stoppok Solo
20.12. Black Cat Bone
21.11. Bonafide
21.12. Hiss
23.11. Royal Southern Brother- 30.12. Dannemann & Friends
hood; Special Guest: Samantha
Fish
Late Night Blues
26.11. Captain Beefhearts Ma(Loev Hotel Binz/Rügen)
gic Band
08.11. Henry‘s Blues Bash
29.11. Ray Wilson & Stiltskin 20.12. Boogie Special: Pertiet 30.11. The Lucky Peterson Maass - Muschalle
Band feat. Tamara Peterson
6.12. Wolf Maahn & Band
Meisenfrei
7.12. Blue Rose Christmas Par(Bremen Hankenstr.)
ty
19.11. Kirsten Thien & Band
13.12. Roger Chapman & The 20.11. Neal Black & The
Shortlist
Healers
14.12. The Shanes
26.11. Golden State Lone Star
15.12. Eric Bibb & North Revue
Country Far
27.11. Gentle Flavour
20.12. Panik Power Band
28.11. Danny Bryant
30.11. Soulfamily
Cotton Club Hamburg
18.11. Jan Fischer & Gäste
Music Hall Worpswede
25.11. Blue Silver
15.11.2013, Ray Wilson
30.11. Second Live Bluesband
16.11. Basta
16.12. Paul Botter & Jan
20.11.Sophie Hunger
Mohr
22.11.Torfrock
23.12. Boogie Rocket
23.11.Torfrock
01.01. Jessy Martens & Jan Fi- 29.11.Quadro Nuevo
scher Blues Support
30.11.Damals
10.01. Boogie House
14.12. ERIC BIBB & North
Country Far
Herzog Ernst
21.12. Hamburg Blues Band &
(Celle)
Friends
18.11. Josh Smith
26.11. Hamilton Loomis
O‘Man River
27.11. Hamilton Loomis
(Friedensstraße, Heringsdorf)
15.11. Peter Schmidt
Kulturspeicher
22.11. The Blueswalkers
(Bergstraße, Ueckermünde)
29.11. Angela Klee
23. November, 20 Uhr, Tempi
passati
25. Januar 2014, 20 Uhr, Pete
Gavin
7
Musik
Kommentar
Räucherei Kiel
22.11. B.B. & The Blues
Shacks
07.02. Jessy Martens & Band
21.02. Clem Clempson Band
Schwarzer Adler
(47495 Rheinberg)
30.11. Danny Bryant & Band
14.12. Jessy Martens & Band
26.01. Bernard Allison &
Band
15.02. Ben Poole & Band
Yorkschlösschen
(Yorkstr. 15, Berlin)
15.11. Bruno de Sanctis &
Jakkle
16.11. Mi Solar
17.11. Kat Balouns Hot Tub
Blues Trio
20.11. Niels von der Leyen
Trio
22.11. Blues Power
23.11. The Savoy Satelites
27.11. Jan Hirte‘s Blue Ribbon
29.11. Lenard Streicher Band
01.12. Metropol Swing Trio
04.12. Henry Heggens Blues
& Boogie Band
06.12. Acki Hoffmann &
Friends
07.12. Those Guys
11.12. Blues Ruy & The Domino Snakes
13.12. Premier Swingtett
14.12. Lionel Haas Club
Band
18.12. Felix Zoellner & The
Dynacasters
20.12. Kat Baloun‘s Hot Tub
Blues Quartet
21.12. Helena & The Twilighters
8
Zwölftaktige Schürzenjäger oder Die Banalisierung des Blues
Von der Boulevardisierung der Medien wird gerne gesprochen. Hier die Qualitätsmedien mit ihrem professionellen
Journalismus - da der Boulevard, der sich konsequent an
der Sensationsgeilheit und dem Bedürfnis nach flacher Unterhaltung orientiert. „Hoffentlich erreicht die Boulevardisierung niemals den Blues“, meinte da kürzlich im Internet
ein Bekannter. Doch ist er nicht längst angekommen in dieser Musik? Von Nathan Nörgel.
A
ls Rezensent hat man es nicht immer leicht. Gerade wenn
man sich der Aufgabe verschrieben hat, einer absoluten
Spartenmusik mit einer eng umgrenzten Fangemeinde
zu medialer Öffentlichkeit zu verhelfen. Jede Woche erscheinen neue Alben und buhlen um einen kleinen Markt, eine Käuferschicht, die im Vergleich zum gesamten Popmarkt eigentlich zu vernachlässigen ist. Und wenn man sich durch den
Berg an Neuerscheinungen durchgehört hat, stellt man sich oft
die Frage: Was wird davon den Test der Zeit überstehen? Wo ist
das Besondere, das herausragende Werk, dass man auch seinen
Freunden empfehlen kann, die nicht eingefleischte Bluesjünger
sind? Vieles bleibt da nicht übrig. Denn seien wir mal ehrlich:
Wie überall ist ein Großteil dieser Musik bestenfalls interessant
(sprich: mittelmäßig). Da beherrschen Musiker ihr Handwerk,
haben die Skalen und Rhythmen, die Sprache und die Klischees
gelernt. Doch macht sie das zu herausragenden Künstlern? Meist
nicht. Denn das Handwerk reicht nicht aus. Der Blues ist eben
mehr als nur ein Stil, er ist mehr als nur eine Ansammlung von
Klischees. Wenn es „echter“ Blues ist, dann müssen da Künstler
am Werke sein, die den Mut zur schonungslosen Ehrlichkeit haben, die ihre Verletzlichkeit ebenso wie ihre Stärke in ihre Musik packen, die ihre eigenen Geschichten erzählen und damit die
„Gemeinde“ direkt ansprechen.
Oft sind die Alben nur Wiederholungen der alten Geschichten. Bei Wettbewerben spricht man oft von der „No Mustang
Sally“-Regel, wenn es um die Beurteilung der Qualität einer Band
geht. Spricht hier jemand erkennbar eine eigene Sprache - oder
holt er nur die sicheren Klassiker heraus, um Stimmung zu machen und Applaus zu ernten? Der „Mustang Sallies“ gibt es viele
im Blues: Ob nun zum tausendsten Mal „Sweet Home Chicago“ oder „Rollin & Tumblin“ auf Platte gepresst wird oder der
technisch versierte Junggitarrist so spielt, als wolle er Alvin Lees
Solo vom Woodstock-Festival in seinem Song an Geschwindigkeit und Notendichte noch übertreffen. Oder es werden Effekte
bis zum Exzess bemüht und überstrapaziert, die damals bei Jimi
© wasser-prawda
Musik
Hendrix noch neu und unverbraucht waren. Und wenn eigene
Songs geschrieben werden, dann drehen sie sich meist um Frauen
und Kneipen. „Im Blues geht es eigentlich nur um Beziehungen,“
meint ein befreundeter Musiker in jedem Konzert. Und jedes Mal
bin ich kurz davor, ihm in seine einstudierte Ansage reinzuquatschen: Nein! Blues ist mehr, Blues ist mehr als Kneipenmusik für
einen netten Abend. Blues ist mehr als die ständige Wiederholung
von Klischees in Text und Melodie. Wirklicher Blues muss mehr
sein. Blues nach dem „Mustang Sally“-Schema ist nicht mehr
als „Musikantenstadl“ für Gitarrenfreaks! Das ist volkstümliche
Musik für Bikertreffs. Das ist Musik auf „Bild“-Niveau! Hier hat
der Boulevard längst den Blues vereinnahmt.
Man kann sich des Zuchspruchs sicher sein, mit seinem technisch brillianten Solo in der tausendsten Neuinterpretation einer
Nummer von Robert Johnson oder von wem auch immer. Aber
man macht da nichts anderes als die Schürzenjäger oder die Wildecker Herzbuben. Ein Großteil der Veröffentlichungen im Blues
spielt sich mittlerweile auf diesem Niveau ab.
Oft gewinnt man damit sogar Preise - denn je individueller, je
unvorhersagbarer man mit seinen Songs ist, desto eher ruft man
die auf die reine Leere bedachte Bluespolizei auf den Plan. Was
störend ist wird ignoriert - oder sofort niedergemacht. Der tausendste Klon von Stevie Ray Vaughan ist immer noch einfacher
zu mögen als der Freak, der einem ungewohnte Hörerlebnisse zumutet.
Klar bekommen Alben wie die Veröffentlichungen von Anders
Osborne großartige Kritiken (völlig zu Recht). Doch wenn man
ehrlich sein will: Alben von dieser Qualität gibt es viel zu wenige im Laufe eines Jahres. Und wenn noch unbekannte Musiker mit derartigen Veröffentlichungen auf den Markt kommen,
werden sie oft gar nicht erst wahrgenommen. Denn es ist ja so
viel einfacher, die Seiten mit den bekannten Namen zu füllen.,
deren Alben man von den Plattenfirmen problemlos zugeschickt
bekommt. Zur ernsthaften Recherche, was denn jenseits des Gängigen im weiten Feld des Blues so passiert, bleibt mir oftmals viel
zu wenig Zeit und Kraft übrig. Und damit trage ich selbst auch zu
der Boulevardisierung des Blues bei. Schöner Mist!
© wasser-prawda
9
Musik
Darren Weale’s Brief aus dem Vereinigten
Königreich
Welcome to the Letter from the
United Kingdom
Darren Weale
Immer mehr Bluesinteressierte melden sich, um mit
uns dem Blues in all seinen
Spielarten einen Platz in der
Medienwelt des Internet zu
geben. Ab jetzt wird Darren
Weale bei uns regelmäßig in
seiner Kolumne „Briefe aus
dem Vereinigten Königreich“
über Blues in Großbritannien
aber auch über den britischen
Blick auf Blues in Deutschland schreiben. Außerdem
werden wir von dem Bluesfan, Blogger und Journalisten
(u.a. Blues Matters, Blues In
Britain) auch Interviews und
Rezensionen veröffentlichen.
Als Brite ist er ein Fan von
Henrik Freischlader und wirft
immer auch einen Blick auf
den Blues hierzulande.
Ich bin schon gespannt, ob
das geplante Interview mit
Blue Lou Marini über seine
neue Band und auch über seine Zeit bei den Blues Brothers
zu Stande kommen wird.
Wer sich dafür interessiert, was Darren sonst noch
schreibt, sollte einen Blick auf
seinen Blog http://blogoftheblues.blogspot.co.uk/ werfen.
Vor ein paar Jahren gab es eine berühmte britische RadioSerie unter dem Namen „Letter from America“, in der
Alistair Cooke nachdenklich Vorgänge in Amerika reflektierte. Mit diesem Brief soll etwas ähliches erreicht werden.
Hauptsächlich musikalische, speziell bluesbezogene Vorgänge sollen reflektiert und diese Gedanken mit deutschen Lesern geteilt werden. Von Darren Weale.
D
a dies der erste „Brief aus dem Vereinigten Königreich“
ist, dachte ich, das Thema solle als Kontrastprogramm
Deutschland sein. Es ist eine Ehre, im Wasser-PrawdaMagazin veröffentlicht zu werden. Ihr müsst wissen,
dass viele Menschen im Vereinigten Königreich, besonders Musiker, Deutschland und die Deutschen beneiden - obwohl wir normalerweise nicht darüber reden. Es ist allgemeine Meinung, dass
Ihr eine besser organiserte Blues-Szene habt. Die Tatsache, dass
Deutsche regelmäßig nachts ausgehen, reichlich Bier trinken und
dann fröhlich ihren Weg nach Hause gehen, wird sehr bewundert. Doch es ist noch mehr. Ihr könnt die Autobahn auf und
ab fahren und tatsächlich pünktlich zum Auftritt erscheinen. Zu
den Gigs kommen mehr und auch mehr jüngere Menschen. Und
außerdem genieße die Suche nach originaler Musik in Deutschland einen viel höheren Stellenwert. So sagt man zumindest. Ich
frag mich, wie es dazu kommt? Es wäre wirklich gut, die Antwort
darauf zu wissen. Ein Band-Manager hier sagte mir mals: „Wenn
wir das Wort Blues auf das Poster für den Gig schreiben, verlieren
wir die Hälfte der Zuhörer.“ Da ist es kein Wunder, dass inzwischen so viele Bands zum Blues Rock, oder noch präziser, zum
Rock-Rock-Rock-Blues gehören. Da gibt es etwa The Dave Jackson Band, die für einen British Blues Award nominiert wurde und
weiterhin schweren, soulvollen Blues produziert, die mittlerweile
als Doom Blues angekündigt werden. Schon interessant! Ein anderer Künstler, der Bassist und Bandleader Nick Cohen hat das
Motto „Nick Cohen, Keeps On Goin“. Wenn du Musiker in diesem Land bist, dann brauchst du wirklich den Drive, um ständig
in Bewegung zu bleiben. Eine Band, die hier über Nacht ziemlich
groß geworden ist, ist The Temperance Movement. Ziemlich lange haben sie so weit ich weiß unbekannt im Underground gespielt. Doch inzwischen hört man sie häufig im Radio und sie
bekommen eine Menge Aufmerksamkeit. They kept on goin‘.
Ihr habt eines der berühmtesten, wenn nicht sogar das berühmteste unabhängige Blues Label Europas, Ruf Records. Ich traf
Thomas Ruf letztens. Er half aus am Merchandising Stand von
Samantha Fish und der Royal Southern Brotherhood. Und dass
er das macht, sagt eine Menge über den Mann aus.
Dann gibt es einen deutschen Gitarristen, wegen dem ich bei
einem Konzert in einen Streit geriet. Er spielte, müsst Ihr wissen,
10
© wasser-prawda
Musik
Ian McHug (DJ und Musiker), Samantha Fish und Thomas Ruf im Club „Under The Bridge“ in
London.
einige lange Songs während seines Auftritts im Beaverwood Club
Links
in London. Ein Song war 18 Minuten lang. Könnt Ihr schon raAlistair
Cooke
- www.bbc.co.uk/
ten, wer es war? Der Streit, den ich hatte, war mit dem Türsteher,
programmes/b00f6hbp
der meinte, mit solchen langen Liedern könne der Gitarrist wohl
niemanden für sich gewinnen. Meine antwort war, dass Leute ge- Billy Walton - www.billywaltonnau das spielen sollten, was in ihnen ist, und wenn es achtzehn band.com
Minuten dauern sollte, auch gut! Inzwischen ging das Lied weiter Dave Jackson - http://davejacksonund ich fieberte immer der nächten Wendung entgegen. Ich hab band.wix.com/djblues
mich schon bei Stücken gelangweilt, die nur drei Minuten dauer- Nick Cohen - http://www.reverbten, aber nicht bei dieser wesentlich längeren Nummer. (Für das nation.com/nickcohen
The Temperance Movement Protokoll: Der Gitarrist war Henrik Freischlader.)
Deutschland war wie auch das Vereinigte Königreich, Gast- www.thetemperancemovement.
geber für amerikanische Musiker, die oft unbeachtet oder gar com
aktiv diskriminiert wurden in ihrer Heimat. Es empfängt noch Ruf Records - www.rufrecords.de/
immer großartige amerikanische Blues-Talente, wie man auf den Henrik Freishchlader - http://henTerminseiten vieler amerikanischer Bands sehen kann. Bald etwa rik-freischlader.de/
wird die Billy Walton Band kommen. Wahrscheinlich werden sie, Willie Nile - www.willienile.com
wenn der Artikel veröffentlicht wird, ihre Auftritte im Novem- The Sharpees - http://thesharpees.
ber schon hinter sich haben. Ihr solltet mal hören, wie begeistert com/bio
einer der Musiker der Band über die Tatsache spricht, dass sie Marcus Bonfanti - www.marcusim Berliner Quasimodo auftreten können. Andere Tourneen, die bonfanti.com
demnächst noch kommen werden, sind die von Willie Nile (USA) Henning Wehn - www.henningoder The Sharpees (UK). Deutschland macht definitiv was richtig wehn.de
Albany Down - www.albanydown.
mit seiner Musik.
com
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Musik
Natürlich könnte ich auch Fußball erwähnen, will es aber lieber nicht. Jahrzehntelang war Deutschland einer der international ganz Großen. Dann gab es kurz einen Knick, aber nun ist es
wieder da. Und diesmal dominiert Eure Liga ähnlich wie Eure
Nationalmannschaft. In einer unserer besseren Radio-Shows geht
es um Sport. Sie heißt „Fighting Talk“ und läuft auf BBC Radio
5 Live. Der Comedian Henning Wehn, der „Deutsche Comedy
Botschafter“ ist brilliant in der Show. Er schreibt über seine Rolle als Henning The Comedy Ambassador auf seiner Homepage:
„Das ist nicht der einfachste aller Jobs, weil die Deutschen angeblich keinen Sinn für Humor haben. Henning findet das nicht
lustig.“ Ich frag mich, ob er Live-Musik und Blues mag? Vielleicht
lade ich ihn mal in eine der denkwürdigeren Veranstaltungsorte ein, die von der Royal Albert Hall in London bis zum Boom
Boom Club, einem Bluesclub in Guisborough oder Little Rabbit
Barn in Essex reichen, der neben etwas Blues auch eine Menge
Americana bietet. Ich könnte noch so viel mehr aufzählen. Und
ich werde das auch machen in künftigen Briefen. Darin werdet
Ihr auch mehr von unseren bemerkenswertesten Musikern wie
der großartigen Stimme von Marcus Bonfanti oder von Albany
Down, einem weiteren Künstler, auf den man achten sollte, hören.
Be prosperous and enjoy your live
music and all that is German!
The Royal Albert Hall, London.
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Musik
Voll auf die Zwölf!
Eric Sardinas im Downtown Blues Club
Es gibt wenige locations, die sich nahezu ausschließlich dem
Blues bzw. Bluesrock verschrieben haben, der Downtown
Bluesclub in Hamburg gehört auf jeden Fall dazu. Wenn
man mal auf das Programm dieser Tage schaut, findet man
relativ bekannte Namen: Walter Trout etwa, Bernard Allison (Luthers Sohn) oder eben Eric Sardinas, der am 6. November den Klub zum Brennen brachte. Von Billy the Kid.
Eric Sardinas wurde durch sein Engagement im Vorprogramm
von Steve Vai einem größeren Publikum bekannt. Was einen ProgHelden dazu bringt, einen stilistisch deutlich eingeschränkteren
Künstler wie Sardinas ins Vorprogramm zu holen, wurde mir erst
nicht ganz klar. Wobei eine optische Ähnlichkeit besteht, wer
Sardinas sieht, denkt unweigerlich an Vais´Rolle als Gitarrist des
Teufels im Kinofilm „Crossroads“. Und sich einen heißen Shouter als Support zu holen, kann nie verkehrt sein. Sardinas selbst
ist dem breiteren Publikum eher unbekannt geblieben, allerdings
hatte er einen Song in dem Kinofilm „Daddy ohne Plan“ mit dem
Ex-Wrestler The Rock, eine alte Elvis-Nummer „Burning Love“,
die auf Sardinas CD von 2008 enthalten ist. Dies war eine der
wenigen Gelegenheiten, zu denen meine Töchter im Tewnie-Alter
einen Künstler hörten, der sich in meinem CD-Regal befindet,
das ist doch schon mal was.
Also, Mittwoch Abend im Downtown Bluesclub, ein Teil des
Landhauses im Stadtpark, in dem z.B. Kuno seine Interviews mit
Musikern für die Sendung „Kuno“ führt, die auch im GreifswaldTV läuft. Der Klub ist für einen Mittwoch gut gefüllt, ca 150
Leute, meist die Blues-Generation, die ich so ab 45 Jahren und
über 90 Kilogramm Körpergewicht ansetzen würde, viele graue
Zöpfe, wenige Frauen, Bier ist das vorherrschende Getränk. Die
Ansage kommt 10 Minuten nach 20.00 Uhr, dann kommt Sardinas mit seiner Band Big Motor.
Schon die optische Erscheinung ist eine klare Ansage: ein
schwarzer Schlangenlederanzug, lange schwarze Haare, ein Hut
mit einem Alligatorschädel dran.
Vor dem Gig hatte ich kurz einen Blick auf seinen Amp geworfen, ein alter JVM 800 Marshall ohne Mastervolume, d.h.
ein Amp, bei dem Verzerrung erst ab einer Lautstärke erreicht
wird, bei der Herzrhythmusstörungen einsetzen. Mit Sorge denke
ich daran, dass meine Ohrstöpsel im Auto liegengeblieben sind.
Aber diese Sorge erweist sich als unbegründet. Sardinas beginnt
mit ein paar Slideriffs und geht sofort in Kontakt zum Publikum,
die ersten Minuten spielt er allein und singt ohne Mikro! Dann
donnert die Band in einen schnellen Shuffle und der Wahnsinn
geht los.
Sardinas Stil kann man mit wenigen Worten beschreiben: voll
auf die Zwölf, keine Gefangenen. Es sind an diesem Abend fast
ausschließlich 3-Akkord Blues-Shuffle-Stücke, alles Up-Tempo
Nummern, was bei diesem Publikum an diesem Abend aber gut
funktioniert. Eric spielt als einziger Künstler, den ich kenne, akustische Dobros über einen Röhren-Amp, die damit auf brachiale Lautstärke gebracht werden. Dobros sind eine spezielle Sorte
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Musik
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Musik
Akustikgitarre mit einem Resonator aus Metall, der ursprünglich
dazu gedacht war, die Lautstärke dieser Gitarren in der prä-Verstärker-Ära zu erhöhen. Der banjoähnliche Klang wird vor allem
von Slide-Gitarristen geschätzt, die diese Instrumente aber eben
akustisch spielen. Akustik-Gitarren an einem Röhren-Amp entwickeln normalerweise nicht beherrschbare Feedbacks, was ja der
Grund für die Entwicklung der normalen E-Gitarre war.
Wie Sardinas dieses Problem bei seiner Spielweise löst, weiß ich
nicht, evtl. stopft er seine Dobros mit alten Socken aus? Jedenfalls,
bei ihm funktioniert das super! Song auf Song kracht ins Publikum, das er auch ständig anspricht „Are you feelin´goooood????!!!!“.
Und das Publikum geht mit und fühlt sich gut.
Seine Dobro ist offen gespielt mit Kapodaster, also wahrscheinlich in D, mit Kapo spielt er dann in E. Nahezu alle Songs sind
in der gleichen Tonart, damit das nicht langweilig wird, muß
man gute Bgleitmusiker und einen reichlichen Vorrat an unterschiedlich klingenden Licks haben, was gerade mit einem Slide
schwierig ist. Seine Begleitmusiker sind gut, der Bassist, der aussieht wie Dusty Hill von ZZ-Top, spielt einen soliden aber abwechslungsreichen Bass, der mit Effekten oft verfremdet wird und
teilweise psychodelisch klingt, auch ein längerer Solospot für Bass
und Drums wird eingelegt. Die Songs sind meist Eigene, teilweise
werden auch Klassiker geboten wie der Muddy-Waters- Song „I
can´t be satisfied“, aber die meistens Songs sind von Sardinas.
Das Konzert geht nach zwei Stunden zu Ende, die extrem kurzweilig waren! Es mag subtilere Musiker geben, aber ich bezweifle,
dass es viele Bluesmusiker gibt, die eine derart energiereiche und
dynamische Show bieten. Großartig!
Zum Schluß noch etwas, was ich noch nie erlebt habe: Sardinas
kommt nach kurzer Pause in den Klub zurück, signiert CDs und
Platten und plaudert lange mit seinen Fans. So fahre ich nach
Hause mit dem Gefühl, ein wirklich gutes Konzert gesehen zu
haben und mit einer signierten Vinyl-Scheibe von Sardinas.
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Musik
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Interview und Live-Bericht
Ten Years After – Wo geht’s
lang, Leo Lyons?
Als ich Leo Lyons das erste Mal mit 100 70 Split (HSS) in
Freising gesehen habe, war er der Supporting Act von Johnny Winter. Nach dem Konzert fand ich ihn in der Halle bei
seinem Merchandise Stand und ich konnte ganz ungehindert mit ihm ein paar Sätze wechseln. Die Vereinbarung,
dann zum Auftritt von Ten Years After am 16. Oktober
ein Interview zu machen, ging sehr einfach und schnell vor
sich. Nachdem ich beim Venue Joe Gooch noch schnell Hey
and Hello gesagt habe und Chick Churchill noch zu helfen
versuchte, seine Limonade zu öffnen, kam dann Leo Lyons
dazu. Kurz stellte er mir noch den jungen Schlagzeuger seiner Opener Band DeWolff vor, aber davon später mehr bei
der Konzertkritik. Hier also „recorded live“, ein Gespräch
mit dem Bassisten Leo Lyons. Interview und Text: Mario
Bollinger. Fotos: Christophe Rascle.
Leo, Du hast gerade das Oktoberfest verpasst. Was kennst Du von
München?
LL: Ich kenne BMW, weil ich einen solchen Wagen fahre und
einige Festivals, weil ich dort schon gespielt habe. Leider kenne
ich nicht so viel von München, aber gestern waren wir in Innsbruck, das hat mir sehr gut gefallen. Wenn das Hotel direkt in
der Stadt ist, dann nutze ich die Gelegenheit, mal 10 Minuten
um das Hotel herum zu spazieren, aber dazu muss mal halt auch
früh ausstehen.
WP: Woher kommt Ihr und wo geht es hin?
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Musik
LL: Ich spiele mit Joe Gooch neben TYA auch bei 100 70 Split
und das nimmt mich ziemlich in Anspruch. Mit TYA waren wir
jetzt 5 Wochen auf USA Tour, dazu kommen jetzt 4 Wochen
Europa und dann geht es 4 Tage später wieder mit 100 70 Split
weiter. Da ist man doch schon ganz schön unterwegs. Das Spielen
ist toll aber das Reisen strengt an. Das Ganze ist eine Herausforderung
WP: Was war die größte Herausforderung, nachdem Alvin Lee die
Band verlassen hat?
LL: Die Band war zu dem Zeitpunkt nicht sehr aktiv. Wir hatten alle genug von Ten Years After. Ich habe dann einige Band
produziert, heiratete zu dieser Zeit, wir bekamen Kinder und
ich spielte in verschiedenen Band. Es gab später ab und zu noch
Konzerte mit Alvin, aber das hatte keinen dauerhaften Bestand.
Ich vermisste damals die Tourneen nicht. Irgendwie erschien das
Ganze nicht attraktiv genug. Ich wollte eigentlich lieber nur spielen aber nicht unbedingt auf Tournee gehen.
WP: Du spielst in 2 Bands zusammen mit Joe Gooch, nämlich
TYA und HSS. Wo ist für Dich der große Unterschied zwischen beiden Band und woher kommt der Name 100 70 Split?
LL: Mit HSS spielen wir keine TYA Stücke, wir spielen wesentlich härter und haben mit HSS ein Power Trio gegründet. 100 70
Split bezieht sich auf eine Straßenvergabelung bei mir in Nashville, wo sich die links der Highway 100 und rechts der Highway
70 teilt.
WP: Ist es sehr komplex, auf Tournee von TYA auf HSS oder umgekehrt zu wechseln?
LL: Nein, das ist eigentlich ganz einfach. Es sind komplett andere Dinge und mit TYA habe ich doch ein ganzes Leben gespielt.
WP: Erzählst Du uns etwas über Dein Bass Equipment?
Aber gerne! Mit TYA spiele ich einen Leo Lyons Woodstock
SIgnature Bass. Ich habe sehr viele Bässe, aber den spiele ich am
meisten. Als Verstärker benutze ich einen 900 Shuttle von GenzBenz mit zwei Mark Bass 4*10Zoll Boxen und ein Avalon DI.
Wenn ich mit HSS spiele, benutze ich einen Genz-Benz 1200
Shuttle mit 2 Pre Amps und ein Mesa Boogie 6*10Zoll Cabinet.
WP: Experimentierst Du noch am Sound und mit dem Equipment?
LL: Ja und immer wieder. Als Musiker ist man
immer auf der Suche nach dem perfekten Sound.
WP: Hast Du noch den originalen Woodstock Bass?
LL: Aber natürlich, nur nehme ich ihn einfach
nicht mehr mit auf Tour. Es ist zu wertvoll, als dass
ich ihn bei Reisen einer Airline anvertrauen würde. Deshalb war ich ganz froh, als mich eine Firma
ansprach, einen Replica Bass für mich zu machen.
WP: Wie reist Du mit Deinem Equipment?
LL: Normalerweise reisen wir und leihen wir uns
das Equipment. Meinen kleinen Shuttle 9 GenzBenz Verstärker kann ich praktisch in einem Koffer
transportieren und die Boxen leihe ich dann aus.
Mit TYA haben wir für die Deutschland Tour unser Equipment hier gebunkert, für die drei Konzerte in Spanien haben wir unsere Ausrüstung dann
wieder ausgeliehen und meinen Verstärker hatte ich
wieder im Gepäck. Mit HSS sind wir derzeit noch
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Mario Bollinger & Leo Lyons
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auf UK konzentriert und dort sind wir mit LKWs und Bussen und
unserem Equipment unterwegs. In USA leihen wir normalerweise unser Equipment aus. Wir spezifizieren, was wir brauchen und
dann bekommen wir das gestellt.
WP: Spricht Du Deutsch?
LL in fließendem Deutsch: Ich habe deutsch in der Schule gelernt.
Es ist nicht mehr sehr gut, aber mit 18 Jahren habe ich in Deutschland gearbeitet, und 1962 sprach fast niemand Englisch. Also musste ich die deutsche Sprache lernen. Wenn ich heute versuche, hier
deutsch zu reden, antwortet jeder auf Englisch.
WP: Die letzten TYA Veröffentlichungen waren „Evolution“ in
2008 und „The world won’t stop“ von HSS in 2010. Wann gibt es
was Neues?
LL: HSS hat neue Dinge aufgenommen, 90% der CD ist fertig
aber wir kommen nicht dazu , es zu veröffentlichen, was für Februar 2014 geplant ist. Wenn man mit 2 Band unterwegs ist, ist nicht
so einfach. Wir haben viel Videomaterial und würden auch gerne
mehr DVDs veröffentlichen. Wir planen mit HSS in New York
eine Show aufzuzeichnen, aber das ist alles noch in Planung. Eine
wahre Herausforderung.
WP: Wie lange macht Ihr einen Soundcheck?
LL: Dafür brauchen wir nicht mehr lange. Vielleicht mit zwei
Songs die Monitore einstellen. Das ist die Hauptsache beim Soundcheck.
WP: Viele Musiker wie Alvin Lee und Gary Moore sind gestorben.
Ebenso Bluesgiganten aus den USA wie Pinetop Perkins und J.J.Cale.
Was hältst Du davon, junge Musiker zu coachen?
LL: Ja, viele Musiker sind leider gestorben. Ich möchte das etwas
zurückstellen und anders betrachten: Es gibt heute so herrliche Medien wie YouTube, wo man anschauen, was und wie Künstler spielen und daraus lernen kann. Als ich jung war, gab es nur Schall-
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Musik
platten, wo wir uns die Songs raus hörten, ohne aber zu wissen
wie sie technisch gespielt wurden. Junge Musiker brauchen heute
keinen persönlichen Musiklehrer mehr, da es genug Videomaterial zum Lernen gibt. Was sie aber selbst in Schulen nicht lernen
ist aber das Feeling beim Spielen. Ich selbst rede gelegentlich mit
Musikschulen und bin immer bereit zu einem Fachgespräch. Ich
verbringe am Tag mindestens 1-2 Stunden damit, Technikfragen
von Musikern zu beantworten, aber ich habe einfach nicht die
Zeit, mich intensiver darum zu kümmern.
WP: Planst Du wieder als Producer wie bei UFO tätig zu sein?
LL: Wenn ich Zeit dazu hätte! Angesichts der vielen verstorbenen Musiker merke ich mehr denn je, wie schnell die Zeit verrinnt. Wir haben dieses Jahr Aufnahmen gemacht, sind mit TYA
in USA gewesen, tourten zwei Mal mit HSS und es kommt noch
eine dritte Tour dazu. Das Thema ist Zeit. Ich bin in den letzten
Jahre immer wieder gefragt worden: „Leo, kannst Du diese Band
nächsten März produzieren“ und ich antwortete: „Ich weiß nicht,
ob ich dann verfügbar bin“. Ich versuche jetzt die Sachen besser zu strukturieren. Wenn Du einen Touragenten hast, würde er
Dich am liebsten 365 Tage im Jahr buchen. So gerne ich das tun
würde, möchte ich doch mehr freie Zeitperioden für mich haben,
wo ich meine Dinge tun kann. Ich glaube, dass die Herrschaften
das jetzt verstehen, dass ich nicht 365 Tage zur Verfügung stehe.
Wenn wir also jetzt planen, nächsten Jahr im Mai eine CD zu
veröffentlichen, dann kann ich klar „ja“ sagen und muss nicht auf
Tournee gehen. Allerdings steht das Tournee spielen bei mir nach
wie vor an erster Stelle und Produzieren kommt an zweiter Stelle.
Ich bin Toningenieur und bis wir wieder mit TYA auf Tour gingen, war ich damit sehr beschäftigt.
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Musik
WP: Du bist 1943 geboren und jetzt 70 Jahre alt. Andere Menschen
sitzen in Deinem Alter bereits im Schaukelstuhl und erfreuen sich
an den Enkelkindern und Du stehst immer noch auf der Bühne. Joe
Gooch ist halb so alt wie Du. Wie schaff st Du es, so aktiv zu bleiben?
LL: Ja, Joe könnte mein Sohn sein. Bis zum meinem Bruch des
Fußes war ich körperlich sehr aktiv. Aber jetzt fange ich wieder
an, ein bisschen zu trainieren. Ich denke aber nicht, dass man bis
zum Exzess trainieren muss. Es genügt, vernünftig zu leben und
zu lernen, sich zu entspannen. Ich schlafe jetzt viel. Wenn ich auf
Tour im Auto bin, schalte ich ab und schlafe. Wir machen 70-150
Auftritte mit TYA, dazu kommen noch 60 Reisetage. Das ist sehr
aufwendig. Wenn Du auf Deinen Kalender schaust und eine interessante Stadt sieht, dann reist Du gerne einen Tag früher an oder
eine Tag später ab. Dann bist Du zwei Tage zu Hause und schon
geht es weiter. Wenn wir diese Tour beendet haben, geht es am 27.
Oktober nach Hause und am 1. November weiter. Das ist ziemlich
intensiv.
WP: Wann schraubst Du das Tempo zurück?
LL: Ja, das muss ich wohl. Mit TYA werden wir wohl etwas langsamer machen und dafür HSS weiter aufbauen. Auf HSS liegt momentan mehr Priorität. Das ist die Herausforderung des Neuen.
WP: Wie weit weg oder wie nah ist Woodstock für Dich?
LL: Woodstock ist immer noch wie gestern, da ich immer noch
tagtäglich danach gefragt werde. Das Konzert war weder am Anfang noch am Ende meiner Karriere, aber viele Musiker haben
damals nicht geahnt, was mit Woodstock geschaffen wurde. Erst
nach der Veröffentlichung des Film wurde die Tragweite bekannt.
Für mich war es damals einfach ein Gig, es war gut für TYA und
die Zeit war phantastisch und dafür bin ich dankbar. Aber ich lebe
jetzt und genieße die jetzige Zeit. Ich arbeite an neuen Projekten
und für mich macht es genau so viel Spaß vor hunderten Fans
zu spielen als wie damals vor hunderttausenden Fans zu spielen.
Viele junge Menschen kommen auf mich zu und sind an dieser
Woodstockzeit interessiert. In Deutschland sind die Fans etwas älter aber in Frankreich sind die Fan sehr jung aber sie sind immer
daran interessiert. Damals gab es noch eine Mauer und sie lieben
die Kleidung und ich gebe Ihnen einen Eindruck von damals, wo
Musik noch handgemacht war.
WP: Kennst Du den 3. August als internationalen Tag des Blues,
der dieses Jahr das erste Mal gefeiert wurde?
LL: Nein, leider nicht.
WP: Viele Musiker beschweren sich über die geringen Margen aus
den Verkäufen über Napster und iTunes . Wie siehst Du die MP3und Downloadmentalität als Musiker, der von der Musik lebt?
LL: Ich verstehe die viele junge Menschen, welche diese Internetmedien benutzen. Es sind Plattformen, auf welchen sich junge
Musiker einfach bemerkbar machen können. Ich selbst nutze die
Möglichkeiten, unterwegs MP3 zu hören. Junge Menschen sind es
gewohnt, aber als Toningenieur ist es ein Horror, wenn letztendlich
die CD auf einem iPhone über einen Ohrstöpsel abgespielt wird.
Als Werkzeug akzeptiere ich die Technologie und Musik wurde
immer schon gerippt selbst wenn es früher die Compactcassetten
waren. Das Einzige, was ich verwerfe ist, wenn jemand meine Musik kopiert und verkauft. Auch teile ich nicht die Meinung dass
Musik frei und umsonst sein muss. Ich stelle dann die Frage, wer
die Band und die Aufnahmen bezahlt. Würden die Leute auch
auf ihr Gehalt verzichten wenn die Musik frei und umsonst ist.
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Musik
Musiker müssen Geld verdienen und wenn die freie Musik Mode
macht, gibt es bald keine aufgezeichnete Musik mehr. Die Erlöse
aus dem online Verkauf von Musik liegen weit hinter der Kommastelle, sind also nicht signifikant. Ich höre gelegentlich Spotify
und wenn mir der Musiker oder seine Musik gefällt, dann kaufe
ich auch die Aufnahme. Internetplattfomen sind eine Werbeplattform für junge Band ebenso wie YouTube. Wenn die Plattenfirmen hier eingreifen, könnte es hart werden.
Die Einnahmen eines Musikers teilen sich auf in Liveauftritte,
CD Verkauf und Download. Die Liveauftritte sind die wesentliche Einnahmequelle der Musiker. Selbst die alten Bands sind
wieder auf Tour und das nicht nur die Bands der 60er und 70er
sondern auch die Band der 80er und 90er Jahre. Auch Merchandise ist wichtig. Die Tourkosten und Lizenzgebühren sind gestiegen. Die Clubs müssen schließen. Wir beteiligen uns daher oft
an den Lizenzkosten der Clubs. Alle Einnahmequellen sind wichtig. Merchandise ist wichtig und es bringt uns in Kontakt mit
den Fans, wenn wir unser Produkte verkaufen. Für mich sind die
Downloadeinnahmen marginal aber, aber Topacts könnten doch
hier ein anderes Verhältnis dazu haben. Ich würde junge Bands
wirklich motivieren, auf Tour zu gehen, um zu spielen, spielen,
spielen.
Nach dem Interview mit Leo Lyons folgte das Konzert
der Ten Years After in der großen Halle des Backstage in
München. Das Publikum der fast gefüllten Backstagehalle
war durchgängig mit älteren Fans besetzt. Zwischendurch
konnte man auch Familienväter mit ihrem Nachwuchs
ausmachen.
Als Opener stand DeWolff auf der Bühne. Die 3 blutjungen
Musiker auf den Niederlanden kamen mit den Brüdern Pablo
(guitar) und Luca van de Poel (drums) und dem Keyboarder Ron
Piso auf die Bühne. DeWolff überraschte mich erst mal, weil sie
ohne Bassisten auftreten. Aber schnell wurde klar, dass die linke
Hand der Organisten Ron Piso das komplett ausglich. Die Band
bestach durch einen authentischen Stil der englischen Bluesrockband der 70er Jahre. Bei verschlossenen Augen hätte man auch
Deep Purple oder die Altmeister Ten Years After selbst auf der
Bühne vermuten können, wobei ich bei DeWolff nur selbstgeschriebenes Material gehört habe. Auch optisch fühlte man sich
in diese Zeit zurückversetzt: Eine alter Hammondorgel im Gelsenkirchner Barock, ein Slingerland Drumset und eine Gibson
Firebird sind die Insignien dieser Zeit. Wie mir Paco aber hinter
erzählte, ist die Firebird neueren Datums aus diesem Jahrtausend. Nach eine überzeugenden Darstellung räumten die Jungs
die Bühne, um den Altherren des englischen Bluesrock Platz zu
machen.
Dann kamen die alten Herren auf die Bühne: Chick Churchill
an der Orgel, Ric Lee an einem riesigen Drumset, Leo Lyons mit
seinem Signature Bass und der Youngster der Truppe Joe Gooch
an der Fender Stratocaster. Nach ein paar neueren Nummern
schwenkte Ten Years After komplett auf die „Recorded Live“
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Musik
DeWolff (oben), Joe Gooch (links)
Rechte Seite: Ric Lee
Schiene ein. Auch wenn Joe Gooch in die riesigen Fußstapfen von
Alvin Lee gestiegen ist, meistert er das mit Bravour. Jedes Solo hat
zwangsweise einen kleine Alvin Lee Touch und dennoch ist eine
Joe Goochs Handschrift immer mit dabei. Nicht umsonst spielen
Leo Lyons und Joe Gooch in dem Power Trio 100 70 Split, um
genau diese Pfade zu verlassen und den eigenen Stil zu pflegen.
Nach Nummern wie „Big black 45“ folgen die bekannten
Songs wie „50000 Miles beneath my brain“ und dem Ric Lee
Song „Hobbit“ mit einem gigantischen Drum Solo. Nach dem
Solo kam Ric erst mal zum Mikrophon, um die Band vorzustellen und sich selbst eine Verschnaufpause zu gönnen. Alle original
Ten Years After Mitglieder sind jeweils knapp 70 Jahre als und es
verlangt Respekt, wenn Musiker wie die Ten Year After auf die
Bühne gehen und eine körperlich anstrengende 2 Stunden Show
abliefern.
Dann folgten Nummern wie „Love you like a man“. Leo selbst
kündigte dann „I’d love to change the world” an, um ihn Alvin
Lee zu widmen. Hier hatte Joe Gooch die Fleissaufgabe, die Alvin Lee Solos durchblitzen zu lassen. Bei „Good morning little
schoolgirl“ liess Leo Lyons seine Finger in atemberaubender Geschwindigkeit über die Basssaiten zum Solo laufen. Aber genau
so kennt man ihn. Die Nummer, mit der TYA auf Woodstock
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der Karren förmlich aus dem Dreck zog war damals „I’m Going
home“. Joe Gooch brillierte hier an der Gitarre und stand Alvin Lee nicht viel nach. Joe überzeugt durch perfekte Geschwindigkeit. Mit der Zugabe von „Choo choo mama“ war das Programm und der Abend perfekt gelaufen. Nach ein paar Minuten Verschnaufpause standen alle vier Musiker am Merchandise
Stand und beantworteten Fragen und signierten Schallplatten
und Poster. DeWolff waren ebenso am Stand und freuten sich,
neben den Altmeistern zu agieren. Wie Leo beim Interview bereits sagte, sind wieder viele Heritage Bands unterwegs und die
beweisen selbst mit nahezu 70 Jahre alten Musikern, dass sie
die Musik von der Pieke auf gelernt haben und diese Lebensleistung weiterhin begeisternd ins Publikum transportieren können.
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Musik
Pianoblues
B
B
In den New Yorker Cafés sorgten Pianisten wie Meade Lux
Lewis oder Albert Ammons für eine wahre Boogie Woogie
Hysterie: pianistische Höchstleistungen auf der Basis von
Blues. Und Musiker wie Leroy Carr brachten mit ihren
lyrischen Songs auf Klavier und Gitarre den Blues in die
Radios der Hausfrauen. Klavierspieler wie Little Brother
Montgomery, Memphis Slim oder Champion Jack Dupree
kamen eher aus anrüchigeren Etablissements. In den Barrelhouses, improvisierten Kneipen etwa in Holzfällerlagern
wurde ein anderer Blues am Klavier gepflegt. Vier Biografien von Raimund Nitzsche.
W
o der Schnaps gleich vom Fass in die Gläser und in
die Kehlen fließt, da kommt es nicht auf Fingerfertigkeit und kompositorische Rafinesse an. Wer hier
als Musiker Erfolg haben will, muss die richtige
Unterhaltung für ausgelassene Wochenendvergnügungen bieten.
Ein solider Boogie-Rhythmus ist natürlich wichtig. Aber auch die
Texte sind hier keine melancholischen Weltbetrachtungen sondern Songs über Alkohol und Frauen. Und das nicht versteckt
und verschämt in Metaphern sondern oft direkt und roh. Oder
aber so grell verfremdet, dass jeder sofort verstand.
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Musik
Wie das Erbe des Deltas auf dem Piano klingen kann, das zeigt
eine Aufnahme von 1924. Der damals erst 14jährige Hersal Thomas zählte trotz seiner Jugend zu den besten Pianisten in Chicago, er spielte mit Bluessängerinnen zusammen und selbst mit
Louis Armstrong. Sein Stück „The Fives“ ist nicht mehr wirklich
Ragtime – und noch nicht Boogie (auch wenn Thomas für viele
Pianisten einer der „Erfinder“ des Boogie war). Doch es bringt
den rockenden Beat der Stadt zusammen mit den Tanzmelodien
und dem Anklang des Deltas. Damit ist Thomas auch eines der
Vorbilder des Barrelhous-Pianos.
LiƩle Brother Montgomery (1906-1985)
E
r war einer der vielseitigsten Bluespianisten überhaupt.
Little Brother Montgomery spielte schon in den 20er und
30er Jahren mit Skip James und anderen. Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte er zu den wichtigsten Pianisten in Chicago.
Als er am 6. September 1985 in Chicago starb, konnte er auf
mehr als 50 Jahre als Bluespianist zurückblicken. Er spielte Blues,
Jazz und Boogie Woogie – sowohl auf ungezählten Partys, in
Clubs oder selbst in der Carnegie Hall (das war 1948 gemeinsam
mit der Jazz Band von Kid Ory). Little Brother Montgomery war
einer der vielseitigsten Bluespianisten überhaupt. Er spielte Boogie, Blues aber auch reinen New Orleans-Jazz.
Der Legende nach soll er schon kurz nach seiner Geburt angefangen haben, sich einfache Blues-Pattern mit drei Fingern auf
dem Klavier beizubringen. Und so wurde er schon als Kind mit
dem Bluesernamen „Little Brother“ gerufen. Die Grundlagen des
Klavierspiels hatte er sich beim Beobachten der Spieler angeeignet, die in seines Vaters Kneipe seiner Gegend auftraten. Spä-
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Musik
ter kopierte und adaptierte er die Blues der älteren Musiker und
machte sie sich zu eigen, auch das Umformen von populären Hits
der Zeit in den Piano-Blues. Auch der Rest seiner Familie war musikalisch: sein Vater spielte Klarinette, die Mutter Akkordeon und
Orgel. Und auch seine neun Geschwister spielten alle mehr oder
weniger gut Klavier.
Mit 11 Jahren machte er sich als reisender Pianist selbstständig,
kam nach New Orleans und später nach Chicago. Seinem erstem
Job bekam er in einer Kneipe in Holton, Louisiana, wo man ihm
acht Dollar die Woche (plus Kost und Logis) zahlte. Innerhalb eines Jahres hatte er seine Gagen mehr als verdoppelt. Mit den deutlich älteren Pianisten Long Tall Friday and Dehlco Robert entwickelte er eine neue Form des Blues-Piano, die sie „The Fourty
Fours“ nannten. Dabei spielten beide Hände in unterschiedlichem
Zeitmaß. Das Ergebnis, so Montgomery später war „the hardes
barrelhous blues of any blues in history“.
Bis zur großen Flut des Mississippi spielte er in Louisiana, später
zog er durch Mississippi und Arkansas bis er schließlich 1923 nach
New Orleans kam. Dort war mittlerweile der Jazz in hoher Blüte
und die Stadt war voller hervorragender Klavierspieler, die um die
Wette spielten. Dann zog er mit eigenen und fremden Bands aber
auch im Duo mit solchen Gitarristen wie Skip James oder dem
Pianisten Sunnyland Slim durch die Kneipen der Region. Schließlich wurde er 1928 von den Clarence Desdune‘s Dixieland Revelers
angeheuert, einer Tanzband. Das war für ihn eine gewaltige Herausforderung, denn die Band spielte komplett nach Noten. Und
das hatte er bislang noch nicht gemacht. Doch mit Hilfe anderer
Bandmitglieder konnte er schon bald so tun, als würde er die Pianostimmen wirklich vom Blatt spielen. Mit den Revelers zog er
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nach Chicago, wo er sich auch als Solist einen Namen machte bei
House Rent Parties in der Nachbarschaft seiner Wohnung. Hier
spielte er nicht mehr Jazz sondern nur noch Blues und Boogie.
1930 begann seine Plattenkarriere. Doch bald danach zog er
zurück in den Süden und ließ sich in Jackson, Mississippi nieder.
Schon 1935 war er aber wieder in den Plattenstudios zu finden.
Für Bluebird, das damals führende Label, nahm er 32 Titel auf.
1942 zog er zurück nach Chicago, wo er weiter Platten aufnahm
– aber vor allem die nächsten 40 Jahre in den Kneipen, Clubs
und Hotel-Lounges auftrat (wenn er nicht gerade auf Tour oder
als Begleiter anderer Musiker im Studio war). So spielte er etwa
mit Sippie Wallace, mit Otis Rush oder Magic Sam. In Europa
wurde er vor allem als Teilnehmer der American Folk Blues Festival bekannt.
1967 heiratete er Janet Floberg und gründete sein eigenes Label
FM, benannt nach dem glücklichen Paar. In den nächsten Jahren
nahm er dann viel in seinem Wohnzimmer auf. 1982 entstanden
seine letzten Aufnahmen. Insgesamt hat er rund 30 Alben veröffentlicht.
In seiner Musik verbanden sich der Boogie aber ebenso der lyrische Blues von Carr (man muss ja immer auf die Frauen Rücksicht nehmen!) mit Jazzanklängen, mit Ragtime, mit Unterhaltungsmusik, eigentlich mit allem, was gerade gefragt war. Aber
selbst so bekannte Nummern wie der „Cow Cow Blues“ von Cow
Cow Davenport klingen in seiner Version wesentlich härter und
brutaler als bei seinem Schöpfer.
Sunnyland Slim (1906-1995)
G
eboren wurde Sunnyland Slim als Albert Luandrew in
einem Nest in der Nähe von Vance, Mississippi, am 5.
September 1905. Seinen ersten Musikunterricht erhielt er
nicht am Klavier sondern am Harmonium. Und schon bald spielte er in sämltichen Kneipen und Kinos des Deltas bis er sich Ende
der 20er Jahre in Memphis niederließ. An der Beale Street traf er
unter anderem mit Little Brother Montgomery und Ma Rainey
zusammen. Dort legte er sich auch seinen Künstlernamen zu, benannt nach einem seiner Hits. „Sunnyland Train“ ist ein Stück
über einen Zug von St. Louis nach Memphis, der so schnell fuhr,
dass viele Menschen durch ihn zu Tode kamen, die die Gleise an
der falschen Stelle überqueren wollten.
1939 schließlich zog er nach Chicago, wo er schnell ein gefragter Begleiter diverser Musiker wurde. So spielte er eine ganze Weile mit John Lee „Sonny Boy“ Williamson zusammen. Schließlich
landete er bei Chess Records (als sie noch Aristocrat hießen) und
sorgte damit für den Beginn der Karriere von Muddy Waters.
Denn es war eine Session Slims, bei der Waters im Jahre 1947
erstmals im Studio aufgenommen wurde. Aristocrat war nur eines der vielen Labels, für die Sunnyland in den 40er und 50er
Jahren spielte: Hytone, Opera, Chance, Mercury, Vee-Jay, Cobra.
Und gleichzeitig war er auch auf zahllosen Sessions anderer Musiker mit seinem prägenden Bluespiano vertreten. 1960 erschien
schließlich mit „Slims Shout“ (Bluesville Records) eines seiner besten Alben überhaupt herauskam. Begleitet wurde er darauf unter
anderem von King Curtis am Tenorsaxophon.
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Musik
Oben: Sunnyland Slim - Unten: Roosevelt Sykes.
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Musik
Auch wenn sich der Stil des Blues etwa durch die Invasion der
jungen Briten veränderte, blieb Slim sich und dem Chicago-Blues
der 50er Jahre treu. Das kann man auch auf Alben wie „Be Careful How You Vote“ (Earwig) hören, das Aufnahmen vereint, die
er ursprünglich auf seinem eigenen Label Airway Records veröffentlicht hatte. Hier wird er unter anderem von den Gitarristen
Lurrie Bell und Eddie Taylor oder dem Organisten Eddie Lusk
begleitet.
Auch wenn er in den späteren Jahren immer mal wieder durch
Krankheit am Musizieren gehindert wurde, blieb Sunnyland Slim
doch bis kurz vor seinem Tod einer der entscheidenden Pianisten
in der Chicagoer Szene. Am 17. März 1995 starb er schließlich an
Nierenversagen, die er sich auf Grund von Komplikationen eines
Sturzes bei Glatteis zugezogen hatte. Da war er auf dem Heimweg
von einem Auftritt gewesen.
Roosevelt Sykes (1906-1983)
E
r zählte zu den ersten Bluespianisten, die Platten veröffentlichten. Schon seine erste Aufnahme im Jahre 1929, der
„Forty Four Blues“ wurde zum Standard. Bis zu seinem
Tode war Roosevelt Sykes mit seinem Spiel zwischen Boogie, Barrelhouse und Ragtime in aller Welt erfolgreich. Eine Konzertaufnahme aus dem Jahre 1979 ist jetzt erstmals auf CD wiederveröffentlicht worden.
Man nannte ihn den „Honeydripper“ wegen der Art, wie er mit
Frauen sprach. Doch wenn Roosevelt Sykes am Klavier saß, dann
war da von Süßholzraspelei nichts zu spüren. Hier spielte einer,
der sein Handwerk in den billigen Kneipen in der Region von St.
Louis und Arkansas erlernt hatte. Und da kam es auf Tanzbarkeit
und den typisch anzüglichen Humor der Barrelhouses an.
Geboren wurde Rossevelt Sykes am 31. Januar 1906 in Elmar
(Arkansas). Als Kind lernte er in der Kirche das Orgelspiel. Und
das bot ihm schon als Teenager die Möglichkeit, als Klavierspieler
Geld zu verdienen. Als die Familie Anfang der 20er Jahre nach
St. Louis zog, hatte er schon bald den Ruf als einer der besten
Pianisten der Stadt. 1929 schickte ihn ein Talentsucher für Aufnahmen nach New York. Und schon sein „Forty Four Blues“ war
so erfolgreich, dass er nicht nur für OKeh sondern auch als Dobby Bragg, Willie Kelly oder Easy Papa Johnson für andere Label
Platten produzierte. 1935 ging Sykes zu Decca Records, was seine Popularität noch weiter steigerte. Von St. Louis zog er weiter
nach Chicago, wo er mit seiner Band The Honeydrippers auch für
Bluebird im Studio stand. Inzwischen war er so beliebt. dass er
einer der wenigen Bluesmusiker war, die auch während der Schellakrationierung im Zweiten Weltkrieg regelmäßig neue Songs
veröffentlichen konnte.
Als nach dem Krieg in Chicago der Blues immer lauter und
elektrischer wurde, hat sich Sykes nach New Orleans verzogen.
Dort war seine akustische Musik noch lange ebenso gefragt wie
beispielsweise auf den europäischen Bühnen. Nicht nur mit dem
American Folkblues Festival sondern auch unabhängig davon war
der Pianist einer der eifrigsten Bluesbotschafter hierzulande.
Verpackt in hämmernden Boogie sang Sykes Blues, die zu den
unterhaltsamsten überhaupt gehörten. Er verpackte eindeutige se-
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Musik
xuelle Anspielungen in Texte wie „Dirty Mother To You“. Und er
hat absolut zeitlose Klassiker wie „Night Time Is The Right Time“
verfasst.
Mit wieviel Humor und Energie Sykes live auch in späten Lebensjahren noch das Haus gerockt hat, zeigt jetzt eine Wiederveröffentlichung einer 1977 entstandenen Live-Aufnahme. Auf „The
Real Honeydripper“ bieten quasi einen Überblick über die lange
Karriere des Pianisten. Von Cow Cow Davenports „Cow Cow
Blues“ aus dem Jahre 1928 oder dem Bluesklassiker „St. James
Infirmary“ bis hin zu seiner ganz eigenen Interpretation von Ray
Charles „What‘d I Say“, vom Sound aus New Orleans bis hin zu
den Swingclubs aus Harlem reichen die Anspielungen. Und Sykes
bringt - auch das gehörte bei im immer zum Programm jede Menge humorvoller Lieder unter. Bei „I‘m A Nut“ nimmt er sich selbst
absolut auf die Schippe. Und „Don‘t Talk Me To Death“ möchte
man selbst immer mal wieder ausrufen. Und dann gibt es noch alte
Jazz-Klassiker wie „Please Don‘t Talk About Me“ und Evergreens
wie „Honeysuckle Rose“.
Bei den Aufnahmen im Blind Pig in Ann Arbor (Michigan) waren einige Besucher übrigens ganz schön schwatzhaft. Die gröbsten
Störer wurden bei der Wiederveröffentlichung entfernt. Und außerdem wurden mit „St. James Infirmary“ und „Don‘t Talk Me To
Death“ zwei ursprünglich nicht auf LP gepresste Stücke des Konzertes mit aufgenommen. Damit ist „The Real Honeydripper“ ein
Paradestück eines der wichtigsten Bluespianisten des 20. Jahrhunderts. Und es ist eine äußerst unterhaltsame Unterrichtsstunde für
die verschiedensten Spielweisen zwischen klassischem Barrelhouse,
Boogie Woogie, Jazz und Stride-Piano. (Blind Pig)
Champion Jack Dupree (1909-1992)
A
uch der 1909 in New Orleans geborene Champion Jack Dupree gehört in diese Kategorie der Kneipenpianisten. Seine
Eltern kamen durch einen vermutlich vom Ku Klux Klan
gelegten Brand um, als er noch ein Baby war. Und so wuchs er
im „Colored Waifs‘ Home for Boys“ in New Orleans auf, wo auch
Louis Armstrong eine Weile erzogen worden war. Dort lernte er
das Klavierspielen. Später, nachdem er sich noch Tipps von Barrelhouse-Pianisten wie Willie Hall geholt hatte, verdiente er sein Geld
in den Bordellen und Bars im French Quarter von New Orleans.
Um 1930 verließ Dupree den Süden, schaff te es aber nicht, in der
Bluesszene von Chicago oder Detroit Fuß zu fassen. Und so wurde
er Profiboxer und brachte es auf mehr als 100 Kämpfe und errang
den Leichtgewichttitel in Indiana.
1940 begann seine musikalische Karriere endlich wieder an Tempo zu zu nehmen, als er vom Chicagoer Bluespapst Leser Melrose
ins Studio geholt wurde. Doch auch diesmal dauerte es nicht lange – 1942 wurde er zur Navy eingezogen und musste als Koch im
pazifischen Kriegsgebiet arbeiten. Hierbei geriet er in japanische
Kriegsgefangenschaft, überlebte zwei Jahre in einem Gefangenenlager.
Nach dem Krieg ließ er sich in New York nieder, wo er für verschiedene Plattenfirmen Aufnahmen machte und in den Zwischenzeiten als Koch sein Geld verdiente. Trotz kleinerer Hitparadenerfolge kam er mit dem alltäglichen Rassismus in den USA nicht
zurecht und zog nach dem Vorbild von Memphis Slim 1959 nach
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Musik
Champion Jack Dupree bei einem Konzert in Hamburg in den 70er Jahren.
Paris und später nach Zürich. Auch in Dänemark und schließlich
in Hannover lebte er einige Jahre. In Europa wurde er endlich
als bedeutender Bluespianist gewürdigt und konnte für mehr als
ein Duzend verschiedene Firmen Platten mit seinem rauhen Blues
einspielen und schaff te es, von seiner Musik zu leben. 1970 tauchte er sogar im legendären Beat-Club des NDR auf. Selbst in der
DDR war er mehrfach zu Gast und wurde gefeiert.
Als Kneipenpianist erzählte er eigene Geschichten in seinen Liedern, Erinnerungen etwa an die Zeit mit Louis Armstrong im
Waisenhaus oder an die große Bluessängerin Victoria Spivey –
er nahm aber immer auch die Titel anderer angesagter Musiker
in sein Programm auf. Etwa von John Lee Hooker, von CCR
oder anderen Rockmusikern. Hier wurde deutlich, dass aus jedem
Song ein ordentlicher Kneipenblues werden konnte. Neben klassischem Solopiano oder Aufnahmen mit Klavier und Schlagzeug
nahm er auch gemeinsam mit kompletten Bluesbands auf. Erst
1990 kehrte er für Konzerte und Plattenaufnahmen nach New
Orleans und Chicago zurück. Mit ihm starb 1992 einer der letzten Pianisten der Barrelhouses.
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Musik
Pianoblues 2013
Die Frauen und Männer am Klavier spielen heute im
Blues eine Nebenrolle. Bemerkenswerte Alben sind da neben zahllosen Gitarristen und Harpspielern eher die Ausnahme. Aus den letzten Jahren sind neben Marcia Ball vor
allem das Album von Chuck Leavell und die „Masterpieces“ von Henning Pertiet in Erinnerung geblieben. Drei
unterschiedliche neue Scheiben sind in den letzten Wochen
hier angekommen. Und überraschenderweise stammen
gleich zwei von ihnen von Stormy Monday. Records. Von
Raimund Nitzsche.
Nico Brina - Flight 6024
Als schnellster Boogiespieler hat es der Schweizer 1996 ins Guinnes Buch der Recorde geschaff t. Jetzt ist der Pianist Nico Brina
beim deutschen Label Blue Monday gelandet und hat mit „Flight
6024“ ein Album voller Pianoblues und Boogie Woogie veröffentlicht.
Dass Musiker Loblieder auf ihre Plattenfirmen auf ihre Alben
packen, ist nicht wirklich neu, wenn auch relativ selten geworden
in Zeiten mangelnden Einflusses der Label auf die Karrieren der
Künstler. Neu im Club ist jetzt das deutsche Label Stormy Monday
Records, denen Nico Brina jetzt einen „StoMo Boogie“gewidmet
hat. Und es ist auch hochverdient, hat doch dieses kleine Label
für die europäische Blues- und Boogieszene in den letzten Jahren immer mehr als Heimstatt traditionellerer aber auch rockiger
Bluesklänge herausgebildet.
„Flight 6024“ ist zum Glück kein reines Boogiealbum, sondern
eine gelungene Mischung aus Boogies, klassischem Rhythm &
Blues, Pianoblues, aus Klassikern und eigenen Kompositionen geworden. Und da passt der Opener von Doc Pomus „A Mess of
Blues“ hervorragend als Motto. Brina kann dabei nicht nur als
Pianist sondern auch als Sänger absolut überzeugen. Vom Boogie
bekommt man hier genug zu hören. Doch auch auch purer Rock
& Roll erklingt („Mean Woman Blues“) oder auch lyrischer Blues
in der Nachfolge von Leroy Carr und seinen Jüngern. Begleitet
wird Brina von Schlagzeuger Tobias Schramm und Gitarrist Pete
Borel. Nicht nur im Titelsong wird klar, dass das keine einfachen
Begleitmusiker sind, sondern Solisten, die gleichberechtigt musikalische Ideen entwickeln und in den Song einbringen können.
So kommentiert Borels Gitarre in „Confessin The Blues“ den Gesang, das Schlagzeug legt in „Beginning To Realize“ einen Groove, dem man sich nicht entziehen kann und der zunächst so gar
nicht zum traditionellen Bluespiano zu passen scheint. Doch in
der Mixtur wird klar, dass man Nino Brina unbedingt in den
nächsten Jahren im Blick behalten muss. Und zwar nicht als Kuriosität aus dem Buch der Rekorde sondern als einen der wirklich
wichtigen Pianisten und Interpreten im traditionellen Pianoblues.
(Stormy Monday)
The ClaudeƩes - Infernal Piano Plot ... HATCHED!
Was die Black Keys für den Bluesrock sind, das machen The
Claudettees für den Pianoblues: Heftig rockend, rotzig frech und
mit der Energie des Punk wird hier ein Kneipenblues zelebriert,
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Musik
der den normalen Boogiepianisten wie einen gelackten Schönling
aussehen lässt.
Pianist Johnny Iguana und Schlagzeuger Michael Caskey haben
Jahre lang in Bands etwa von Junior Wells, Buddy Guy oder Koko Taylor gespielt. Als The Claudettes haben sie dann als Hausband in diversen Bars ihr Geld verdient. Und dort muss ihnen
die Idee zu ihrer aufregend überdrehten Musik gekommen sein:
Barrelhouse-Blues vermixt mit Jazz, etwas Tango und Pop werden mit überdrehter Wildheit gespielt, als würde man Filmmusik zu überdrehten Comix von Tex Avery oder seinen Nachfahren produzieren. Hier treffen Ray Charles und Boogie Woogie,
New Orleans und klassischer Rhythm & Blues aufeinander und
werden als atemloser Klavieraufstand auf den Hörer losgelassen.
Wenn Pianoblues wie bei den Claudettes dargeboten wird, dann
sollte man sich um die Zukunft nicht allzuviele Sorgen machen
müssen. Zumindest wenn das Album möglichst viele Hörer bekommt. Verdient hat es das auf jeden Fall. (Yellow Dog Records)
Thomas ScheyƩ - Blues Colours
Aus Freiburg stammt der Pianist Thomas Scheytt. „Blue Colours“
ist sein drittes Soloalbum und beinhaltet 13 Stücke aus der ganzen Bandbreite des Blues auf den 88 Tasten.
Es sind kleine Geschichten, die Scheytt meist allein am Klavier
erzählt. Oft sind es seine eigenen, andere stammen von(Hoagy
Carmichael oder Hans-Jürgen Bock. Und wenn er erzählt, dann
verwendet er sämtliche Möglichkeiten des Pianoblues: klassisch,
Boogie Woogie oder auch vom Ragtime beeinflusste Spüielweisen. Und Scheytt verlässt sich ganz auf sein variables und emotionales Spiel: Oft sind es die melancholischen Momente, die er
schildert. Ab und zu bricht aber auch die Reiselust, die pure Lebensfreude oder auch tiefe Romantik durch. Und selbst bekannte
Nummern wie „Georgia On My Mind“ oder dem Gospel „Put
Your Hand In The Hand“ werden ganz ohne Text und weitere
Instrumente zu Neuentdeckungen. Wo viele Boogiepianisten der
Versuchung unterliegen, mit möglichst vielen Noten die Hörer
zu blenden, beherrscht er die Kunst, auch mit den fortgelassenen
Tönen spannend zu erzählen.
Nur zwei Stücke haben eine Schlagzeugbegleitung (gespielt
von Hiram Mutschler), bei „Hansjakobstrasse 110 spielen Enzo
Randazzo (washboard) und Bassist Ingo Rau mit. Insgesamt ist
„Blues Colours“ ein überzeugendes und in seiner Unaufgeregtheit
großartiges Album nicht nur für Bluesfans. (Stormy Monday)
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Musik
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Musik
Interview
Brian Houston - In der
Dunkelheit scheint ein
helles Licht
Der briƟsche Radiomacher Bob Harris sagte, der irische Künstler Brian Houston sei „really, really special.“
Dem sƟmmen wir zu. Hier ist eine kurze Rezension
seines neuen Gospel-Blues-Albums und ein Interview
mit Brian. Von Gary BurneƩ (Down At The Crossroads).
Übersetzung: Raimund Nitzsche.
F
ür viele Leser des Blogs Down At The Crossroads war es
wahrscheinlich eine Überraschung, dass „Shelter“ von
Brian Houston auf der Liste der Besten Blues Alben 2012
auftauchte. Doch wir waren der Meinung, dass dieses Album des noch nicht so bekannten irischen Sängers stark genug
war, um neben den Veröffentlichungen weitbekannter Rock- und
Bluesmusiker bestehen zu können.
Und jetzt kommt als Nachfolger dazu „Mercy“, ein weiteres brilliantes Gospel-Blues-Album. „Shelter“ hatte für Houston einen
Wechsel hin zu einem rockigeren und bluesigeren Stil eingeleited.
Und auf seinem neuen Album, hat er das wirklich auf den Punkt
gebracht, hat er etwas geschaffen, was in der langen Geschichte
des Gospel-Blues herausragt. Die Musik ist grandios, sie wird getrieben Gitarren-Riffs, die teils eingängig, teils kantig sind. Der
Blues steht im Vordergrund, doch immer wird eine ordentliche
Portion Gospel hinzugefügt. Die Lyrics stehen fest in der Tradition der Spirituals und des Blues, es gibt Verweise auf Ägypten, das
Gelobte Land, Josua, betende Mütter, fliehende Teufel, sterbende
Väter und einen zutiefst verängstigten Geist. Ja, sogar einen Song
namens „Gospel Train“ haben wir hier, der sich gut macht neben
all den zahllosen gospel trains, die durch die Americana-BluesTradition donnern. Wenn es einen herausragenden Song auf dem
Album geben sollte, und ehrlich gesagt ist das eine harte Wahl,
dann ist er es.
Everybody get on the gospel train
Gather in the weak and the poor and the lame
There’s a first class ticket held in your hand
Get ready for the promised land
Das ist moderner Blues vom Feinsten, deutlich verankert in der
Tradition des Blues, doch er lässt ihn frisch und bedeutsam klingen. Und wie bei jedem guten Blues gibt es bei ihm etwas optimistisches und fröhliches. Das beständige Gefühl der Hoffnung
zieht sich hindurch:
In the darkness came a shining light
Into the darkness a new hope came in sight…
His name was Jesus
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Musik
Gary Burnett erwischte Brian
in North Carolina, wo er inzwischen wohnt.
Glückwunsch zum neuen Album, Brian. Wie waren die Reaktionen auf die neuen Songs?
Brian: Ich bin tatsächlich ziemlich erstaunt über die Reaktion,
vor allem live. Wenn Du ein Lied
schreibst und aufnimmst, dann
hat es eine gewisse Erregung und
Vitalität, die man im Laufe der
Monate beim Zusammenstellen
des Albums, dem Schneiden und
Mixen allmählich vergisst. Doch
wenn Du sie dann live spielst,
dann bekommen sie all diese
Energie mit einem großen Sturm
zurück. Es ist eine echte Ermutigung und Belohnung, wenn
man sieht, wie die Menschen auf
sie ragieren. Das ist, als würde
die ursprüngliche Erregung, die
man beim Schreiben gefühlt hat,
wiederhergestellt!
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Musik
„Shelter“, das letztjährige Album war das bluesigste und rockigste,
was Du bislang gemacht hattest. Aber diesmal bist Du mit „Mercy“
kopfüber in den Blues eingetaucht, oder? Und Du damit wirklich ins
Schwarze getroffen. Was hat Dich dazu gebracht, in Deiner Musik
diese Richtung einzuschlagen?
Nun, ich denke, „Gospel Road“ war der Schritt, den ich in Richtung eines neuen Stils gegangen bin. Das war das erste Mal, wo
ich ein Album mit wirklich authentisch verwurzelter Musik machen wollte. Die Musik kam alle von der reinen Quelle und nicht
aus zufällig aufgeschnappten Einflüssen, die normalerweise mein
Schreiben beeinflussten. Ich war sehr unbefriedigt mit Alben, die
ich bislang gemacht hatte, weil einige von ihnen für mich wie homogenisiert klangen. Aus irgendeindem Grund waren die Black
Keys für mich das missing link. Sie kombinierten ein Gefühl des
Garage-Rock mit traditionellem Blues und moderner Produktion,
das ich sowohl interesant als auch unterhaltsam fand. Das wurde
für mich der Eingang in den Kaninchenbau und ich fing an, nach
den Wurzeln ihrer Musik zu graben und entdeckte Leute wie Junior Kimbrough und R.L. Burnside. Und ich hörte außerdem
harten Gospel und Muddy Waters oder Howlin‘ Wolf. Ich wurde
in gewisser Weise besessen von diesen Quellen und hörte sie nonstop. Es scheint kein Ende zu geben bei dieser Entdeckung von
Künstlern, und jedes Mal wenn ich mich zum Schreiben hinsetze,
kommt das heraus. Das ist einfach der Ort, an dem ich heutzutage meine Inspiration finde.
Es gibt eine Menge großartiger Gitarrenarbeit auf dem Album vermutlich stammt vieles davon von Dir. Ist das etwas, auf das Du
Dich in letzter Zeit konzentriert hast?
Ich hab alles gespielt und gesungen auf dem Album bis auf das
Schlagzeug. In gewisser Weise hab ich mein Gitarrenspiel wiederentdeckt. Als ich 19 war, zeigte mir ein Typ, wie man „Message
In A Bottle“ spielt. Ich fragte ihn, wie er das gelernt hat. Und er
meinte, er habe es für sich selbst herausgefunden. Als er mir das
erzählte, dachte ich: Ok, diese Fähigkeit habe ich nicht. So entschied ich mich bewusst, kein Gitarrist sondern ein Songwriter
zu sein und habe darauf meinen Fokus gelegt. Aus wirtschaftlichen Gründen haben wir vor kurzem begonnen, mehr Konzerte
als Trio zu spielen, und das war für mich der Beginn. Denn dies
stellt viel höhere Ansprüche an Deine Fähigkeiten und Du kannst
nicht so einfach mit Bluffen davonkommen. So hab ich begonnen, viel mehr zu üben und eine Menge Zeit und Geld in meine
Fähigkeiten auf der Gitarre zu investieren. Für mich fühlte es sich
natürlich an, diesen Teil der Musik zu machen und mich nicht
zu fürchten, dass die Lieder länger werden, Solos haben und so
weiter.
Es gibt eine lange Linie des Gospelblues, die zurück geht bis in die
frühen Tage mit Blind Willie Johnson über Leute wie Fred McDowell und Rev. Gary Davis und die sich fortsetzt bis etwa zu „Brother
Jona and the Whale“ von Kelly Joe Phelps im letzten Jahr. Stellst Du
Dich bewusst in diese Tradition?
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Musik
Ich glaub, ich habe mehr auf weiße Gottesdienst-Musik und
weißen Blues reagiert. Ich vermisse in dieser Musik die Kanten
und sehe die Tendenz, alles zu glätten und zu polieren und es
damit sicher zu machen. Deshalb waren die Black Keys für mich
ein Verbindungsglied. Sie zeigten mir, dass weiße Menschen den
Geist und die Leidenschaft des Blues umarmen können und
auch wenn sie die 12-Takte-Formel vermeiden doch authentisch
klingen können. Da gibt es einen Künstler namens Rev Charlie
Jackson, den mir Mike Farris in Nashville nahegebracht hat. Und
seine Musik klingt, als käme sie aus den 40er Jahren und ist doch
neu. Ich fand sogar einen Clip von ihm bei der Late Late Show
in Dublin, was mich überraschte, denn ich dachte, er sei altertümlich und tot und begraben. So klang jedenfalls seine Musik
für mich. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nocht den Mut, so weit zu
gehen. Aber ich liebe sie noch immer!
Du hast sogar einen „Gospel Train“ Song auf dem Album, was
wirklich in eine Americana/Gospel/Blues-Tradition hineinpasst: die
Anspielungen auf Ägypten, das Gelobte Land und so weiter sind ein
fester Bestandteil der schwarzen Spirituals und der Bluestradition. Es
gibt von diesem Typ so viele Songs, die über die Jahre geschriebe oder
nachgespielt wurden - und doch bist Du hier und hast einen neuen,
der absolut fantastisch klingt. Wie schaff st Du es als Songwriter, ein
Werk zu schaffen, das einserseits absolut traditionell andererseits aber
so frisch ist?
Wow, das ist sehr freundlich von Dir. Danke! Dieses Lied ist
eines von den Geschenken, die Dir einfach in den Schoß fallen.
Manchmal hat man einen Geistesblitz und gleichzeitig Zeit und
Raum, ihn sofort aufzuschreiben. Und die Verweise auf Ägypten
sind, wenn ich drüber nachdenke, Verweise auf uns, die wir Irland verlassen und in die Staaten ziehen.
Ja, Du bist ja letztens umgezogen und lebst jetzt in den Vereinigten
Staaten. Was ist die Ursache dafür - und was für eine Wirkung wird
das Deiner Meinung nach auf Deine Musik haben?
Irland ist in mancherlei Hinsicht zu meinem Ägypten geworden. Die Lage ist sehr hart geworden und es ist äußerst schwierig,
als Musiker seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch viele andere Türen haben sich dort geschlossen. Finanziell, geistlich und
auch in Bezug auf unsere Beziehung mussten wir einen Neuanfang machen oder zumindest aus unseren Verhaltensweisen und
Spuren ausbrechen. Selbst wenn es nicht funktionieren sollte, haben wir es wenigstens probiert
Ich bin mir nicht sicher, was das mit der Musik anstellen wird.
Manchmal verlassen Iren ihre Heimat und werden noch irischer
in ihren Äußerungen. Das wäre zum Schreien, wenn ich am Ende
Diddly-Dee-Musik schreiben würde. (lol) Narth Carolina ist eng
verbunden mit Bluegrass, der könnte also eine Rolle spielen, aber
auch viele der Hard Gospel Gruppen kamen von hier, wer weiß?
Am besten sollte man also diesen Ort im Auge behalten!
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Musik
Tim Lothar
Ein Mann und
eine Gitarre
Tim Lothar im Detmolder Kaiserkeller, 25.10.2013. Von Greyhound
George. Mit Live-Fotos von Jürgen
Achten (www.blueslover) aus Eutin
und Hamburg.
Ein Mann und eine Gitarre. Mehr war
nicht nötig, um dem Detmolder Publikum einen hochkarätigen und unterhaltsamen Bluesabend zu bescheren. Der Däne
Tim Lothar beherrscht die Kunst der alten
Bluesmen, nur mit einer akustischen Gitarre einen Raum auszufüllen, wie kaum
ein anderer in Europa. Folgerichtig war er,
ganz in der alten Tradition, mit dem Zug
zum Konzert angereist...
Wenn der Mann mit seiner Gibson-Gitarre,
die mindestens so alt ist, wie er selbst, die Bühne betritt, zu spielen beginnt, mit dunkler, rauer
Stimme singt und dabei mit dem Fuß den Takt
auf seinem Gitarrenkoffer schlägt, fühlt man
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Musik
sich sofort per Zeitmaschine in ein „Juke Joint“ im Missippi-Delta
irgendwann zu Beginn der 30er Jahre versetzt. Aber halt! Hier singt
einer von seinem eigenen Leben im 21. Jahrhundert! Die Songs
von Tim Lothars aktueller CD „Stories“ sind alle von ihm selbst
geschrieben und erzählen ganz persönliche Geschichten. Da sich
nun das Leben eines dänischen Bluesgitarristen gar nicht so sehr
von dem unterscheidet, was wir alle jeden Tag so erleben, konnte sich eigentlich jeder im Publikum mit den Songs identifizieren.
Tim Lothar singt von seinem Vater, von endlosen Bahnfahrten,
betrunkenen Frauen im Lokal oder der der Bankenkrise, seinen
Umzugskartons mit überflüssigem Zeug und der verflossenen Liebe. Kennen wir!
Musikalisch erinnern die Songs von Tim Lothar an seine großen
Vorbilder aus dem Mississippi Delta wie Robert Johnson, Charlie
Patton und Fred McDowell, manchmal meint man auch, etwas
Tom Waits herauszuhören, besonders, wenn Titel im Walzerrhythmus gespielt werden.
Besonders in der zweiten Hälfte des Konzert gab Tim Lothar
dann auch einige alte Delta-Nummern von Charlie Patton, Furry
Lewis und Fred McDowell zum Besten und besonders da zeigte
sich seine Meisterschaft, diese rhythmisch sehr komplexen Arrangements, die heute kaum noch jemand beherrscht, nicht nur zu kopieren, sondern sie mit neuem Leben und eigenen Ideen zu füllen.
Der aufmerksame Zuhörer merkte dabei, dass Tim Lothar, bevor
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Musik
er zur Gitarre wechselte, jahrelang als Schlagzeuger der dänischen
Bluesband „Lightnin Moe“ unterwegs war. Der Mann hat den
Groove in den Fingerspitzen!
An keiner Stelle des Konzerts vermisste man eine Begleitband,
denn in Lothars Gitarrenspiel war der treibende Rhythmus immer präsent, die Dynamik reichte von leisen Slide-Tönen bis zum
donnernden Groove und so war es kein Wunder, dass gegen Ende
des Konzerts neben der Bühne getanzt und gerockt wurde, obwohl der Ostwestfale als solcher nicht gerade als Stimmungskanone berüchtigt ist! So war der Blues ursprünglich mal gemeint
und dieser Funke ist zum Publikum übergesprungen, so dass der
Künstler erst nach mehren Zugaben von der Bühne entlassen
wurde.
Leider gibt es auf dieser Seite des Atlantiks nicht allzu viele meisterhafte Bluesmusiker dieses Schlages. Es gehört viel dazu, die
Musik zu SEIN und nicht nur etwas zu spielen. Tim Lothar IST
seine Musik. Daher freue ich mich schon, wenn er das nächste
Mal in der Gegend ist!
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Platte Des Monats
Calum Ingram - Making
It Possible
Er spielt das Cello eher wie eine Gitarre.
Und in den Liedern des scho schen Songwriters Calum Ingram treffen moderne
Kammermusik auf Folk, kel sche Klännge
und etwas Blues. „Making It Possible“ ist
das Debüt dieses außergewöhnlichen Musikers.
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Platte Des Monats
A
uf dem Sampler aus dem imaginären „Jock‘s Jook Joint“
wirkte Calum Ingram noch wie ein Fremdkörper oder
zumindest noch wie ein Exot. Musik wie diese erwartet
man normalerweise nicht auf einem Bluessampler. Oder
nur auf solchen von Leuten, die gerne mal die Bluespolizei verschrecken wollen. Wer nur bei den Standardriffs und -rhythmen,
dargeboten in den bekannten zwölf Takten sagt: Ja, das ist Blues
- nun der ist hier eindeutig beim falschen Album gelandet.
Denn schon vom instrumentalen Anfang an muss man die Bluesklänge auf „Making It Possible“ sehr aufmerksam suchen. Klar:
wer seine Musikgeschichte kennt, kann bei Liedern wie „Don‘t
Mean To Harm“ nicht nur im Saxophon sondern auch im rasenden Riff die Verbindung zu den freifließenden Exkursionen
im Blues etwa bei Cream erkennen. Aber eigentlich höre ich hier
mehr Liebeserklärungen an Songwriter wie Tom Waits, Tim
oder Jeff Buckley und auch den späteren Scott Walker, an an
Jazzkomponisten wir Carla Bley und auch an die Soloalben von
Jack Bruce. Klar, es wird irgendwann im Text „Every Day I‘ve
Got The Blues“ zitiert. Das ist aber ein Blues der dritten oder gar
fünften Generation: Dieser Blues ist gefiltert durch den britischen
Rhythm & Blues der 60er ebenso wie durch den Artrock und Fusionjazz der 70er oder auch die moderne klassische Musik des 21.
Jahrhunderts. Calum Ingram ist nicht der typische Bluesmusiker.
Man hört seine Erfahrungen als Theaterkomponist, man spürt
seine Erfahrungen als klassische Musiker.
Hier ist nicht mehr der direkte spontane Kontakt zwischen Bluesman und Zuhörern möglich, sondern es braucht den intellektuell
gebildeten Genießer. Das ist Musik, die es sich und dem Hörer
niemals einfach macht, die man sich auch als Hörer „erarbeiten“
muss. Und das lohnt sich: Songs wie „Going Home“ oder das
schon erwähnte „Don‘t Mean
No Harm“ sind Kino für die
Ohren in Arthaus-Qualität und
Breitwand.
„Making It Possible“ ist endlich
mal wieder ein Album, das sich
voller Energie und Können abseits der eingetretenen Bluespfade bewegt. Und ich kann jetzt
verstehen, warum meine britischen Freunde mir immer wieder
geraten haben, mich mit diesem
Cellisten ernsthaft zu beschäftigen. Calum Ingram ist eine
echte Entdeckung als Musiker,
Komponist und auch als Sänger. Von seiner Meisterschaft auf
dem Cello muss man bei dem
klassisch studierten Musiker ja
nicht erst reden. (Wood‘n Heart
Records)
Nathan Nörgel
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Platten
Billy Thompson - Friend
Man miete sich eine alte Getreidemühle wegen des guten Sounds,
lade sich jede Menge Freunde ein und musiziere möglichst live.
Herausgekommen ist bei Billy Thompsons neuem Album „Friend“ ein fast perfekter Showcase für einen begnadeten Gitarristen.
Auf die Wortschöpfung muss man erst mal kommen: Ich bin ein
Unglücksritter! Damit geht Billy Thompsons „Friend“ los: eine
heftig groovende Bluesnummer mit einem Text, der sich mit seiner Einzigartigkeit sofort festsetzt. Höhepunkte gibt es auf dem
Album noch ein paar mehr: Da ist etwa der New Orleans-Funk
von „Many Faces“, den man sich auch gut auf einem Album von
Dr. John hätte vorstellen können. Oder die rasante Fankhymne an Jimi Hendrix „Ain‘t But One“. Billy Thompsons Gitarre
kann rasante Läufe oder explosive Slide-Attacken reiten. Und mit
Gast-Musikern etwa von Little Feat oder den Neville Brothers ist
immer das passende musikalische Fundament dafür vorhanden.
Leider hat „Friend“ für mich auch ein paar deutlich schwächere
Songs. Die Ballade „Half A Man“ oder „Got To Be Did“ reizen
mich zum sofortigen Weiterzappen. Und warum jemand noch
eine neue Coverversion von „Ain‘t No Sunshine“ machen muss,
weiß ich nicht. Auch die Fassung von Billy Thompson hat eigentlich nichts über die bislang bekannten Fassungen Herausragendes
zu bieten. Doch davon abgesehen ist das ein Album, das vor allem
Fans des zeitgenössischen Gitarrenblues überzeugen kann. (Soul
Stew Records)
Raimund Nitzsche
Blind Boys of Alabama - I‘ll Find A Way
Die Altstars des Gospel treffen auf ihrem neuen Album auf Vertreter der alternativen Folkszene. Produziert von Justin Vernon
(Bon Iver) treffen überzeugende Gospelnummern auf Folksongs,
bei denen die Blind Boys wie Gäste im Hintergrund zu verschwinden drohen.
Ähnlich wie etwa die Chieftains haben die Blind Boys of Alabama in den letzten Jahren immer wieder mit Künstlern aus den
verschiedensten Musikstilen zusammengearbeitet. Dabei kamen
teilweise umwerfend gute Alben heraus wie „Down In New Orleans“ (2008). Und manchmal funktionierte die Mixtur weniger
wie bei ihrem Country-Album „Take The High Road“. Manche
Musik passt einfach nicht wirklich zu dem direkt ans Herz greifenden Gospelstil dieser Gruppe. Und so ist auch „I‘ll Find A
Way“ eine zwiespältige Angelegenheit. Auf der einen Seite sind
großartige Stücke wie „I Shall Not Be Moved“, „Take Your Bureden To The Lord And Leave It There“ oder auch die DylanNummer „Every Grain of Sand“, die die Band gemeinsam mit
Justin Vernon interpretieren. Hier sind sie gnaz in ihrem Element.
Doch wenn Shara Worden, Sam Amidon oder Sasey Dienel als
Gäste am Mikrofon stehen, dann ändert sich die ganze Musik.
Dann ist von Glaubensgewissheit, von Evangelium und Predigt
nicht mehr viel zu spüren. Und für lamentierende altenative Folksongs sind die Blind Boys of Alabama einfach nicht geeignet. Da
könnte man sie gleich zwingen, Heavy Metal zu singen oder auch
bayrische Volksmusik. Das Experiment ist gründlich in die Hose
gegangen. Aber zum Glück ist davon nur etwa die Hälfte des Albums betroffen. Die anderen Lieder schaffen es immer noch, mir
Gänsehaut zu verursachen und die Sehnsucht nach einem guten
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Platten
Gottesdienst in mir zu wecken. Und das ist mehr, als ausreichend.
Höchstens die Holmes Brothers schaffen das außer ihnen noch
bei jedem Album.
Raimund Nitzsche
Blues Point - Simply Blues
Wenn man kurz vor der polnischen Grenze wohnt und dann
doch erst aus den USA auf das Album einer polnischen Bluesband hingewiesen werden muss, dann macht das deutlich, wie
dicht die Grenzen in Sachen des musikalischen Austauscht heute
noch sind. Und das ist schade, wenn man sich das Album „Simply
Blues“ des 2010 gegründeten Trios Blues Point anhört.
Wlodek Sobczak gehört schon seit den 70er Jahren zur polnischen Bluesszene. Damals gehörte er zur Full Light Blues Band.
Mit Blues Point kann sich der Sänger und Gitarrist (auf Simply
Blues spielt er außerdem noch Bass, Schlagzeug und Keyboard)
auch als Komponist und Texter verwirklichen. Und die Songs
sind nicht einfach nur Blues, wie es der Albumtitel suggeriert.
Blues Point spielen eine meist akustische Melange aus Blues, Folk,
Jazz, Funk und Rhythm & Blues. Neben den prägnanten Gitarren von Sobczak und Mirek Borkowski (Full Light Blues Band,
Country Family) ist es vor allem das Saxophon von Arek Osenkowski (Funktet, Magda Piskorczyk), was den Sound prägt zu
etwas Besonderen im europäischen Blues der Gegenwart macht.
Songs wie „Whiles Like Diamonds“ oder die großartige Coverversion von Philipp Fankhausers „Lonely In This Town“ sind
die richtigen Songs für Nächte irgendwo in leeren Straßen einer
Großstadt: Kein Country-Blues, keine ländliche Idylle sondern
Cityblues des 21. Jahrhunderts ist das. Musikalisch ist das spannend und überraschend. Was ab und zu ein wenig stört, ist der
Gesang, dem man anhört, dass die Musiker in dieser Sprache weniger zu Hause sind als im Polnischen. Oder aber man hört darin
eine exotische Komponente einer gewiss nicht alltäglichen Bluesmusik.
Raimund Nitzsche
Brian Houston - Mercy (Jesus Don‘t Forget My
Name)
Für die Kneipe zu fromm, für die Kirche zu rockig: Brian Houston
ist sich nicht sicher, wo seine neuen Lieder eigentlich ihren Platz
haben sollen. Doch abgesehen davon ist „Mercy“ vor allem eines:
Ein großartiges Album mit rockendem Gospelblues.
Erlöster müssten sie aussehen, meinte Nietsche mal über die Christen. Statt der ständigen Freudlosigkeit und aufgesetzten Bescheidenheit, müsste der Glaube laut, fröhlich, ja tanzend nach Außen
dringen, damit man ihnen glauben könne. Bei Brian Houston
rockt der Glaube heftig im Rhythmus des Blues: Voller Anspielungen auf biblische Themen aber mit der Gewalt der Stones zu
Zeiten von Exile on Main Street singt er vom Auszug aus Ägypten, von der Liebe, die die beste Waffe ist oder von der betenden
Mutter. Man spürt in der Wucht der Riffs, dass für den irischen
Songwriter und Gitarristen der Weg zum Blues über die Black
Keys und die Hills im Norden Mississippis hin zu Muddy Waters,
Howlin‘ Wolf und noch weiter zurück in die Vergangenheit ge-
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Platten
führt hat. Und man spürt in der Simplizität der Texte die Wucht
der frühen Spirituals und Gospel.
Skeptisch veranlagten Menschen wird dieses direkte Singen vom
Glauben vielleicht banal oder kindisch vorkommen. Doch ist genau das auch die Kraft, die Blues und Gospel von Anbeginn an
eigen war: Aus einem vollen Herzen geht es direkt zum Herzen
des Publikums. Und hier natürlich auch in die Beine. Dass die
Musik für die meisten Gottesdienste zu rockig und rauh ist, ist
eindeutig ein Pluspunkt.
„Mercy“ ist eins der besten Gospel- und Gospelbluesalben nicht
nur des Jahres 2013.
Raimund Nitzsche
Calibro 35 - Traditori Di Tuƫ
Funky, bildreich und zwischen Retro und Indie oszillierend: Mit
ihrem aktuellen Album „Traditori Di Tutti“ haben Calibro 35
Musik veröffentlicht, für die die passenden Krimis vor 30 Jahren
hätten verfilmt werden müssen.
„Crime Funk“ nennen Calibro 35 ihren Stil. Und damit ist ziemlich klar, was einen bei ihrer Musik erwartet: Meist instrumentale
Nummern, die im Kopf sofort Assoziationen zu Krimis der 60er
und 70er Jahre hervorrufen. Musik, die in schummrigen Bars
schöne Frauen zu lasziven Tänzen begleitet. Musik, zu denen
man sich wilde Verfolgungsjagden längst der sonnigen Küsten
des Mittelmeeres vorstellen kann. Musik, die Funk, Psychedelic
und Garagen Beat vereint zu einer wilden und abenteuerlichen
Mixtur. Wo Bands wie die Juanitos mittlerweile ihre „Greatest
Hits“ recyceln, ist hier von Müdigkeit oder Stagnation nichts zu
spüren. Man wird bei Songs wie „Mescaline 6“, „The Butcher‘s
Bride“ oder „You Filthy Bastards“ eingesogen in eine unendliche
Partystimmung, die einen dazu bringen könnte, nicht nur James
Bond wieder aus dem DVD-Regal zu holen sondern vor allem
auch Parodien wie „Austin Powers“. Und natürlich wünscht man
sich eine entsprechende Kellerbar mit den schönen Tänzerinnen
für die nächste Geburtstagsparty. Und dazu den passenden Barkeeper, der die klassischen Coctails mit und ohne Schirmchen
serviert. (Record Kicks)
Nathan Nörgel
Carl Verheyen - Mustang Run
Carl Verheyen zählt man zu den 100 besten Gitarristen aller Zeiten (Rolling Stone). Quer durch die Stilarten von Blues bis hin zu
Fusion im Stile von John McLaughlins Mahavishnu Orchestra
mändern die größtenteils instrumentalen Nummern auf seinem
zwölften Album „Mustang Run“.
Normalerweise bin ich ja nicht der Typ, der bei Instrumentalalben jenseits des Blues spontan in Extase verfällt. Im Lauf der Jahre ging mir dann doch die Geduld abhanden, mich weitgefassten
Kompoisitionsbögen und überlangen Soloeskapaden mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu widmen. Und so blieb „Mustang
Run“ bei mir auch ziemlich lange auf dem Rezensionsstapel liegen, wurden immer wieder andere Neuerscheinungen vorgezogen, weil sie halt näher am Blues sind.
Dabei ist „Mustang Run“ keinesfalls langweiliges Gegniedel ohne
Pepp. Verheyens Gitarre steht zu jeder Zeit im Zentrum mit ihren
klaren, swingenden und singenden Linien. Verheyen hat hier jede
Menge bluesiger Hinweise in meist ziemlich sonnige Westcoast-
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Platten
Musik verpackt. Und die werden immer wieder durch besondere
Klangakzente und unerwartete Gastmusiker (wie etwa den großartigen Jazz-Violinisten Jerry Goodman oder Bill Evans am Saxophon) aufgelockert. Aber auch in der puren Quartettbesetzung
(mit Hammond-Teppichen von ganz verschiedenen Gastmusikern) entwickelt sich schon von Anfang an eine Spannung jenseits
akademischer Jazz-Attitüden oder schaumgebremster Fahrstuhlmusik.
Nathan Nörgel
David Bromberg Band - Only Slightly Mad
Nur ein wenig verrückt? Überhaupt nicht verrückt ist die Mixtur,
die David Bromberg auf seinem neuen Album angerichtet hat.
Denn ob er nun Folk, Blues, Gospel oder Bluegrass interpretiert all das kommt auf dem von Larry Campbell produzierten Album
zu einer stimmigen Einheit.
Hatte Bromberg bei „Use Me“ noch seinen großen Freundeskreis
eingeladen, um ihm jeweils einen Song zu schreiben und/oder zu
produzieren, so hat er diesmal wirklich wieder ein Bandalbum
vorgelegt. Doch was die Musik betrifft, ist das Ergebnis ähnlich.
Bromberg, der in den 60ern vom Folk kam, hat inzwischen mit
allen von Dylan über Grateful Dead, bis zu George Harrsion musiziert. Und er fühlt sich überall dort zu Hause, wo es um handgemachte Musik geht, die aus vollem Herzen interpretiert werden
muss. Und das kann Gospel genauso sein wie Blues, Bluegrass
oder Country. Eigentlich hatte er ja ein richtige Blues-Album im
Chicago-Stil machen wollen. Doch Campbell meinte, er solle
wieder das machen, was seine Scheiben in den 70er Jahren so einzigartig gemacht hatten. Und das war diese umwerfende Vielfalt.
Seine Band hat im Übrigen Musiker für alle Stile: da spielen FilleSpieler Nate Grower ebenso mit wie eine komplette Hornsection
und ein halber Chor im Background. Und so kann Bromberg
in „Drivin Wheel“ zum Soulprediger werden, in „Nobodys Fault
But Mine“ einen Bluesheuler vom Feinsten abliefern und im
Medley „The Strongest Man Alive/Maydelle‘s Reel/Jenny‘s Chikkens“ irish Folk mit Bluegrass kreuzen. Verrückt? Kein bisschen.
Einfach großartig! (Appleseed/in-akustik)
Raimund Nitzsche
Edgar & Marie - Langer Weg
Eigentlich war die Sache für mich klar: Das ist kein Album für
mich! Der Sound: klar macht das von Stuart Epps, der mit Led
Zeppelin, Clapton oder George Harrision ebenso gearbeitet hat
wie mit Elton John oder Oasis, einen absolut stimmigen Eindruck. Hier gibt es nix zu meckern. Das ist Popmusik, dem man
meist die Liebe zum Folkpop der 60er und 70er Jahre anhört.
Robert Plant konnte sich sogar dafür begeistern. Und das will
was heißen.
Doch die deutschen Texte der Lieder sind für mich nicht wirklich
überzeugend. Ist das Schlager? Wenn ja, dann ziemlich guter keine Frage! Aber das ist einfach nicht meine Welt.
Bis dann mit „Damals in Weißwasser“ der Song kommt, der für
alles andere entschädigt: Hier wird Musikgeschichte in der ostdeutschen Provinz erzählt mit einer Ehrlichkeit und einer Prägnanz, die selten in der deutsprachigen Popmusik ist. Da geht
es nicht um vorgetäuschte Coolness, da wird nicht mit Ironie
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Platten
das Gesicht gewahrt. Das ist ein Song, den man einfach in der
Sammlung haben muss. Und nicht nur, weil dem Pfeffi hier ein
musikalisches Denkmal gesetzt wird. (Cactus Rock Records)
Nathan Nörgel
Forty4 - 44 Minutes
Sie spielen Blues, sie spielen Funk, sie spielen auch Rhythm &
Blues. Doch die aus dem Nordwesten Englands stammende Band
Forty4 kann man eigentlich in keines der Genre einsortieren. Sie
haben sich daher für die eigene Schublade „Rhythm & Groove“
entschieden und mit 44 Minutes ein Debüt veröffentlicht, das
selbst bei Paul Jones auf Interesse stieß und die Truppe damit ins
Abendprogramm bei BBC 2 brachte.
„Pack It Up“ - besser kann man ein Debüt kaum beginnen. Was
die fünf Herren (Neil Partington - g, voc; Bill Price - bg; Paul
Starkey - g; Glen Lewis - keyb; Nick Lauro - dr) hier für Freddie
Kings Klassiker zusammengebraut haben, geht sofort in die Beine
und den Bauch. Als Zutaten kann man etwas New Orleans Funk,
ein wenig Jazz und natürlich jede Menge Blues ausmachen. Heftig, deftig und ziemlich einmalig kommt das daher. Und auch der
Rest der Scheibe bis hin zum Schluss, einer sechs minütigen Fassung von Muddy Waters‘ Song „Fourty-Four“, ist mit seinen deftigen Grooves weit entfernt vom alltäglichen Bluesrock britischer
oder amerikanischer Prägung. Auch die von Glen Lewis‘ immer
mal wieder gespielte Hammond-Orgel gibt der Band einen sofort
wiedererkennbaren eigenen Sound.
Für ein Debütalbum ist „44 Minutes“ schon mehr als gut gelungen. Hier merkt man, dass eine Band im Studio war, die schon
seit Jahren ihren eigenen Sound auf zahllosen Bühnen geformt
haben. Prima!
Raimund Nitzsche
Fran McGillivray Band - Some Luck
Sängerin Fran McGillivray und Gitarrist Mike Burke spielen
schon seit den frühen 70er Jahren zusammen. Zunächst waren sie
als Duo unterwegs, in den 90er Jahren gründeten sie die Bluesband So Long Angel. „Some Luck“ ist eines der leichtfüßigsten
und elegantesten Bluesalben, das mir seit langem aus Großbritannien in den Player gekommen ist.
Zwischen Piedmont-Picking, clean gespielten Slide-Klängen und
jazzigen Läufen: Mike Burkes Stärke liegt ganz klar in der Reduktion auf das Wesentliche eines Songs. Und ob es nun eine nette
Partynummer wie der Opener „Big Front Seat“ oder „Candle Burning“ ist: nicht eine Note ist zuviel. Und auch Fran McGillivray
hat es als Sängerin nicht nötig, irgendwo eine Power vorzutäuschen, die diese größtenteils selbst verfassten Songs einfach nicht
brauchen.
Der Blues der Beiden ist immer wieder nahe auch am britischen
Folk oder dem Folkrevival in den USA in den frühen 60er Jahren.
Insofern ist „Some Luck“ schon fast ein Anachronismus im Jahre
2013: Zu leicht, zu positiv, zu perlend für das normale Radio,
zu leise für die Fans der elektrischen Klänge. Und doch wunderschön anzuhören.
Nathan Nörgel
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Platten
Groove-A-MaƟcs - Keep It Clean
Sie kommen aus Newcastle. Doch sie hören sich an wie die Fabulous Thunderbirds in den 70ern. Keep It Clean ist swingender
Rhythm & Blues nicht nur für Fans der Blues Brothers.
Proletarische Bluessongs sind selten geworden. Aber wenn sie so
daherkommen wie „Working Class Man“ von Groove-A-Matics,
denn könnte man sich dran gewöhnen: „Came to this world with
nothing and I leave the same way; I worked hard all my life
trying to live from day to day“. Die Nummer kommt mit einem
fast minimalistischen Rhythmus daher und wird nur ab und zu
mit einer rauhen Bluesharp ergänzt. Nichts lenkt hier von der
Botschaft ab. Klar diese Band kann auch ganz anders. Der Opener von „Keep It Clean“ etwa erinnert frappierend an den Groove
der Bluesbrothers. Aber natürlich ist „Way of the World“ nicht
von Jake und Elwood sondern ist ein Eigengewächs der Band.
Aber wie sich hier der swingende Groove mit Saxophon und Harp
vereint, führt schon irgendwie zu einem angenehmen Deja vue.
Mit „Mr Green“ setzen Gitarrist Johnny Whitehall und Sänger/
Harpspieler/Saxophonist Mick Cantwell und der Rest der Band
dem großen Peter Green ein würdiges Denkmal. Und so geht es
weiter auf dem Album: Das ist eine Rundreise durch einen großen
Teil der Bluesgeschichte. Doch nicht in der ewigen Neuauflage
der Klassiker sondern in Songs der obersten Güteklasse.
„Keep It Clean“ ist nur manchmal clean. Oft sind die Songs dank
Cantwells Harp extrem dreckig. Aber gerade das macht einen der
vielen Reize dieses Albums aus. Unbedingt anhören!
Raimund Nitzsche
Hiss - Das Gesetz der Prärie
Zwischen Taiga und Prärie, Mexiko und dem Orient spielt das
aktuelle Album von Hiss. Walzer, Polka und Blues erklingen mal
ausgelassen, mal melancholisch. Mal erinnern die Songs von „Das
Gesetz der Prärie“ mehr an Element of Crime, mal mehr an Hubert von Goisern.
Klar, beim Akkordeon denken die meisten Hörer erst mal an
Shanties oder das Mutantenstadl. Doch wer bei Walzer oder Polka
nur an Samstagabendverdummung und Krachlederhosen denkt,
hat in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich aufmerksam zugehört. Hiss zum Beispiel könnte man mit Liedern wie „Eier Wurst,
Tanzmusik“ oder „Die schönste aller Plagen“ gerne mal im Stadl
spielen - da hätte man als Verächter volkstümlicher So0e einen
Grund, mal kurz vorbei zu schauen. Denn hier wird Volksmusik
gespielt, die textlich weit entfernt von Schürzenjägern, Herzbuben
oder ähnlichen Kapellen ist. Oder wenn sie auf die Klischeetube
drücken, dann ist die ironische Übersteigerung nicht zu überhören. Und außerdem kommt hier die Polka auch gerne in der TexMex-Version. Und bei „Voodoocoo“ ist der Blues im Louisianastil
nicht zu überhören.
Aber vor allem sind das die komischen bis melancholischen Texte, die „Das Gesetz der Prärie“ zur echten Empfehlung machen:
Schon lange nicht mehr hab ich in deutscher Sprache so gelungene Lieder gehört, die nicht einfach bloß die Popschemata nachplappern sondern wirklich lyrische Weltbeschreibungen sind.
Raimund Nitzsche
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Platten
Holland K. Smith - Cobalt
Texasblues, der nicht an SRV sondern an die großartigen Gitarristen zwischen T-Bone Walker und Anson Funderburgh erinnert,
findet sich auf dem aktuellen Album des Songwriters und Gitarristen Holland K. Smith. „Cobalt“ ist so altmodisch und eingängig
und gleichzeitig so großartig wie sie auch die Musik von James
Hunter, Philipp Fankhauser oder ähnlichen Künstlern ist.
Das ist mal wieder eines der Alben, die man am Besten in stillen Abendstunden hört, wo man den Lärm und die Hektik des
Alltags aussperren will: Wer Rock braucht, greift besser zu einer
anderen Scheibe. Smith hat - produzeirt von Anson Funderburgh
- ein Album voller melancholischer Songs eingespielt in denen
von der Liquidierung von Beziehungen, von vorgespielter männlicher Stärke angesichts von Verlusten, der Sehnsucht nach einem
Zauberstab oder von Geheimnissen und alltäglichen Notlügen
die Rede ist.
Seine Gitarre singt, duettiert mit rauchigen Saxophonen und
macht klar, was Texasblues im Ursprung eigentlich war: eine Musik, die ganz nah dran ist am Jazz und Swing. Manche Rezensenten hören in seinen Lininen gar Anklänge an Django Reinhardt,
oder Wes Montgomery. Dafür muss man allerdings wirklich genau hinhören. Oder man wartet bis zum letzten Stück, der wunderschönen Akustiknummer „Olhos Verdes“. Obwohl man hier
eher Mexiko hören kann und ein wenig Surfsound als Django
und Swing. Aber wie auch das ganze Album gilt: Es ist ein riesiges
Vergnügen für Genießer. (Eller Soul)
Nathan Nörgel
HowellDevine - Jumps, Boogies & Wobbles
Bei dieser Band klingt alles ein ganzes Stück älter als bei den
heute verbreiteten Bluesgruppen: HowellDevine spielen den Blues
oftmals wie in den 30er/40er Jahren. Und das war für das traditionelle Label Aarhoolie Grund genug, nach mehr als 25 Jahren
endlich mal wieder ein neu produziertes Album auf den Markt
zu bringen.
Erster Gedanke: Wieso schon wieder „Rollin‘ And Tumblin“ und
noch dazu als Opener eines Debütalbums? Der erste Blick auf die
Trackliste des Debüts von HowellDevine machte nicht wirklich
neugierig. Doch das ändert sich sofort, wenn man diese Scheibe
auflegt: Wo heutzutage die Klassiker der Mississippi Blues oft nur
noch Schablonen für belanglose Bluesrockorgien sind, bekommt
man hier den Sound der Zeit vor und kurz nach dem Zweiten
Weltkrieg zu hören. Gitarrist/Harpspieler Joshua Howell und
Schlagzeuger Pete Devine haben sich unabhängig voneinander
auf die klassischen Spielweisen von Blues und Jazz spezialisiert.
Howell etwa hat nicht nur den Slidestil von Fred McDowell
und Bukka White oder den Blues des North Mississippi von RL
Burnside studiert sondern auch die Ragtimes der amerikanischen
Ostküste. Und mit seinem minimalistischen Schlagzeugspiel hat
Devine schon für diverse Jazz- oder Jugbands in Kalifornien die
Grundlage gelegt. Die Gruppe wird komplettiert von Bassist Joe
Kyle Jr., der seine Sporen während des Swing Revivals in den
90ers Jahren in San Francisco erwarb.
Zu dritt (und auf dem Album „Jumps, Boogies & Wobbles“ auch
manchmal noch mit einem Saxophon verstärkt) spielen sie derartig
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Platten
traditionell, dass es heutzutage schon wieder aventgardistisch sein
könnte. Das ist Blues, der deftig und tanzbar daherkommt. Alle drei sind ausgezeichnete Instrumentalisten. Doch stehen nicht
ausgefeilte Solos im Vordergrund sondern ein Gruppensound, der
ab und zu auch in Kollektivimprovisationen ausbricht. Und da
ist es egal, ob Songs wie das erwähnte Rollin & Tumblin oder
Sonny Boy Williamsons „Help Me“ oder (eigene?) Nummern wie
Harmonica Wobble #2 gespielt werden. Diese Stücke sind ganz
zu ihren eigenen geworden und sind derartig lebendig, dass man
verstehen kann, wie das Trio 2013 bis ins Finale der International
Blues Challenge vorstoßen konnte. So hat man den Blues eben
viel zu lange nicht mehr gehört. Und schön, dass Aarhoolie damit
endlich wieder angefangen hat, neue Alben zu veröffentlichen.
Raimund Nitzsche
JC Crossfire - When It Comes To The Blues
Was tun die in Ft. Lauderdale (Florida) eigentlich ins Trinkwasser, dass von dort immer wieder bemerkenswerte Bluesmusiker
kommen? Auch Gitarrist/Sänger JC Crossfire stammt aus dieser
musikalischen Stadt und hat sich für „When It Comes To The
Blues“ mit einer Band großartig eingespielter Musiker umgeben.
Traurig? Kein bißchen! „When It Comes To The Blues“ ist echte
Gute-Laune-Musik. Manche würden auch sagen „Party-Blues“.
Da hilft auch die erdige Bluesharp von Niles Blaize nichts - Songs
wie „Deliza“ oder „Grand Ole Girl“ sind keine Kinder der Traurigkeit. Crossfire ist ein flexibler Gitarrist und ein Sänger mit jeder
Menge Soul in den Stimmbändern. Lieder wie das von Harp und
Piano vorangetriebene „One More Time“ zielen direkt auf die
Tanzfläche. Doch Crossfire kann auch anders: „American Way“
ist eine Abrechnung mit den fernsehgeilen Politikern, denen es
letztlich egal ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung nahe der
Pleite lebt. Der „american way“ ist zum großen Witz verkommen.
Heftig und selten im Blues heutzutage!
Nathan Nörgel
Jonny Lang - Fight For My Soul
Mit 13 war er gepriesenes Blueswunderkind. Mit 18 sang er im
Weißen Haus für Bill Clinton. Musikalisch entwickelte er sich
über die Jahre vom Bluesrock hin zu Soul, Funk und Rhythm
& Blues weiter. Und dann war (nach 2006) erstmal Studiopause
angesagt, bis er jetzt bei Provogue sein neues Album „Fight For
My Soul“ herauskam.
Anfangs war Provogue ja ein Label für die härteren Bluesrockscheiben. Doch mittlerweile gibt es hier auch häufiger soulige
Klänge zu hören. Und Jonny Lang hat genau hier die Heimstatt für seine Weiterentwicklung vom Bluesrocker hin zu Soul,
Rhythm & Blues und Pop gefunden. Produziert von Tommy
Sims, der auch diverse Instrumente spielte, entstand ein Album,
das mal nach dancefloortauglichem Rhythm & Blues der Marke
Prince mal nach Motown oder auch nach Gospel klingt.
Schon der Opener „Blew Up (The House)“ klingt trotz seines heftigen Bluesriffs oft mehr nach Rockmusik von Bowie in den 80er
Jahren als nach Bluesrock. Der Song geht absolut in Ordnung,
er rockt nach vorne. Lang singt sich die Seele aus dem Leib und
seine Gitarre sorgt für die notwendige dreckige Erdung im Blues,
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Platten
während der Backgroundchor schon mal vorsichtig andeutet,
worauf man sich auf dem Album noch gefasst machen kann.
Die nächste Nummer „Breakin In“ ist dann absoluter 80s Funk
- macht Lang jetzt einen auf Michael Jackson? Das sollte er wirklich nicht tun, denn dafür hat er nicht die richtige Stimme - die
braucht mehr Blues und Rock als Hochglanz-Pop, um ihre Stärken ausspielen zu können. Und wenn dann wie bei „We Are The
Same“ dann auch noch elektronische Verfremdung auf die Stimme gepackt wird und der Pop völlig ohne Scham auf die aktuellen
Dancefloors zielt, ist die Schwierigkeit klar, die ich mit diesem
Album habe: Es fehlt einfach eine wirkliche Linie drin. Was will
Jonny Lang eigentlich sein? Ist er noch ein Bluesman mit Gitarre?
Oder will er wirklich zum Popstar in den Hitparaden werden?
Wenn er das so macht, wie auf diesem Album, werde ich ihm
nicht folgen. Diese Songs überzeugen mich nicht. Und sie passen
meiner Meinung nach weder zu seiner Stimme, noch zu seiner
Gitarre. Experiment klar misslungen - bis auf den guten Opener.
(Provogue/Mascot)
Raimund Nitzsche
Jump Blues Syndicate - Indtroducing The Jump
Blues Syndicate
Konsequent retro: Das Jump Blues Syndicate widmet sich (wie
der Name verheißt) dem swingenden Jump Blues. Auf dem als
freier Download vertriebenem Album finden sich Klassiker des
Rhythm & Blues in absolut tanzbarer Umsetzung.
Eine Sängerin (Queen Maja), ein Sänger, ein Piano und ein röhrendes Saxophon, dazu eine teils rockende, teils locker swingende
Rhythmusgruppe und wenn nötig noch eine Bluesharp - das pass
schon mal alles prima zusammen. Und mit Songs wie „Bloodshot
Eyes“, „Java“ oder „That Mellow Saxophone“ haben die sechs Musiker aus Düsseldorf eine feine Visitenkarte abgeliefert, die ihnen
die nötigen Gigs bei Swingtanzveranstaltungen oder Treffen von
Rock & Rollern besorgen sollte. Was mir fehlt - und worauf ich
jetzt warte: eigene Songs, die mit der gleichen Energie und dem
gleichen Humor daherkommen.
Nathan Nörgel
Kara Grainger - Shiver & Sigh
Zwischen Folk, Blues und Pop bewegt sich „Shiver & Sigh“ mit
dem die australische sängerin und Gitarristin bei Electo Groove debütiert. Neben eigenen Stüscken intertpretiert sie darauf so
unterschiedliche Songwriter wie Robert Johnson und Mike Zito.
Welches Bluesalbum hat heutzutage noch die Chance, im Radio
zu laufen? Wahrscheinlich am ehesten noch eines wie dieses: Hier
passiert alles wie gebremst: Die Melancholie ebenso wie die Wut,
der Funk ebenso wie der Blues. „Shiver & Sigh“ perlt mit seinen
elf Songs voller Eleganz dahin und tut niemals weh. Kara Grainger ist eine wirklich gute Gitarristin und Sängerin. Doch wenn
man sich „Shiver & Sigh“ am Stück anhört, dann ist das alles viel
zu entspannt und bringt zuweilen auch zu wenig Abwechslung.
Zurückhaltung ist zwar eine Tugend. Doch manchmal hätte ich
mir bei diesem Album ein wenig weniger davon gewünscht. Für
mich ist das zu sehr auf Radiofreundlichkeit getrimmt und zu wenig Blues. Hier blutet das Herz nicht, hier sind selbst die Kratzer
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nach Ende des Songs verschwunden und hinterlassen keine Narben. Ein Album für die Zahnarztfrau ihres Vertrauens also, passend zu deren Scheiben von Norah Jones und Katie Melua.
Nathan Nörgel
King Khan & The Shrines - Idle No More
Irgendwann war der aus Kanada stammende und Berlin ansässige
Arish Khan vom Garagensoul mehr zum Indie-Rock und Punk
gewechselt. Doch mit „Idle No More“ präsentiert er sich wieder als
rockender Soulguru im Sound der 60er Jahre.
Während sich Bands und Solisten der Retro-Soul-Szene wie JC
Brooks 2013 immer mehr an den Sound der 80er Jahre angenähert
haben, ist King Khan auf „Idle No More“ den gegenteiligen Weg
gegangen: Lieder wie „Thorn In Her Pride“, „Luckiest Man“ oder
der Opener „Born To Die“ kommen daher mit der Enegie und Unschuld wie die Stones zu Zeiten von Brian Jones. Doch der Sound
des rockenden Rhythm & Blues wird mit Bombast-Pop a la Phil
Spector und einer wildgewordenen Hornsection zu einem unwiderstehlich groovenden Gebräu veredelt, das so völlig einzigartig
ist. Man kann es kaum glauben, das Khan in den letzten Jahren
nicht nur viele Enge Freunde verloren sondern sich auch selbst fast
in Drogen und psychischen Krankheiten abhanden gekommen
wäre. Das ist optimistische Musik, die sofort ihre Funken auf die
Hörer überspringen lässt. Und es ist Musik, die ganz im Sinne des
Urpunk politisch ist: Idle No More ist eine kanadische Bürgerrechtsbewegung, die sich für die Rechte der Ureinwohner einsetzt.
Wer seinen Soul mit jeder Menge Punk und Power mag: Das Album kann man nicht sitzend anhören!
Raimund Nitzsche
Kyle & Moore - The Whale & The Wa‘ah
Von britischen Heavy Metal hin zum Blues? Diesen Weg hat Sänger Nicky Moore in den letzten Jahren gewählt. Und zusätzlich zu
seiner Band Nicky Moore‘s Blues Corporation hat er jetzt mit dem
Gitarristen Danny Kyle ein akustisches Duo gegründet. Und dessen Album „The Whale & The Wa‘ah“ ist ein heftiger Tritt gegen
allzuviel Gemütlichkeit und behaglicher Pflege des Folk-Erbes.
Früher sang Nicky Moore bei Bands wie Momoth oder Samson
(wo er Nachfolger von Bruce Dickinson wurde, der damals grad zu
Iron Maiden gehen wollte). Und passend zum Metal ist eigentlich
auch seine Stimme: Kraftvoller alleine als ein halber Männerchor,
theatralisch wie Meat Loaf und gleichzeitig auch verletztlich wie
ein junger Folkbarde. Und er kann zwischen all den Extremen notfalls in einem Song hin und her wechseln.
Wenn das Album mit dem „Fruitpickers Blues“ losgeht, dann wird
das schnell deutlich: Hier geht es um deftige Geschichten, keine
behäbige Lagerfeuer-Mucke. Hier geht es nicht um brave Früchtchen sondern um dreckigen Sex, um Rache, Blut und Flucht vor
den durchdrehenden Eltern. Man glaubt kaum, dass die Bands
wirklich eine Chance auf den Himmel hat, selbst wenn sie „Take
Me Up (To Heaven) singen. Headbangermäßig wird „Hang Your
Heads“ gefordert und dem einmaligen Gefühl hinterhergejagt,
dass man nachlässigerweise viel zu schnell bei Seite geschoben hatte. Schwachpunkt des Albums ist ausgerechnet die Coverversion
von „Dark End Of The Street“: diese Soulnummer braucht dann
wesentlich mehr Power in der Begleitung als die feine und immer
präzise Gitarre von Kyle. Das wird auch bei „Who‘s The Fool“ klar.
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Doch danach kommt gleich der absolute Höhepunkt des Albums:
Der Titelsong ist eine fast sieben Minuten lange Tour durch die
Wogen des Meeres. Theatralisch wie Manowar sind Kyle & Moore hier fast als Tenacious D des Blues zu bezeichnen. Atemberaubend und auch ohne große Band bombastisch wie Spinal Tap,
Raimund Nitzsche
Lightnin‘ Malcolm - Rough Out There
Eine, maximal zwei Gitarren und ein Schlagzeug: Mehr braucht
Lightnin Malcolm auf seinem zweiten Soloalbum nicht, um den
harten und fast brutalen Blues aus dem Norden Mississippis zu
zelebrieren. Nachdem 2011 „Renegade“ beim deutschen Label
Ruf Records veröffentlicht wurde, hat er „Rough Out There“ jetzt
komplett in Eigenverantwortung herausgebracht.
Das Konzept ist so ähnlich wie bei der von Fans und Kritikern
bejubelten 2-Man Wrecking Crew, die Malcolm vor Jahren mti
Cedric Burnside gegründet hatte: Es braucht nur gute Songs und
jede Menge Energie, um überzeugenden Blues spielen zu können.
Bei Rough Out There fand er Unterstützung bei zwei Schlagzeugern, „Stud“ (alias Cals White, früher bei T-Model Ford) und
Cam Jones. Nur bei vier Liedern spielt Luther Dickinson (North
Mississippi Allstars) mit seiner Slidegitarre mit. Ansonsten: keine
Ablenkung von den Songs über die heftige Realität eines Musikers. Lightnin Malcolm singt über notwendige Realitätschecks,
über Chefs, über fehlendes Geld und die Arbeit ebenso wie über
das Gefühl, dass das Leben ein einziges Wrack ist bei all dem
Chaos, das noch dazu von den Frauen verursacht werden kann.
Die Musik ist ähnlich hart wie die Texte: keine falsche Romantik, kein Zuckerguss: treibende und hypnotische Rhythmen und
Riffs, wie sie typisch sind für den Norden Mississippis. Und so
enwickelt „Rough Out There“ einen Sog und eine Dringlichkeit,
wie sie im Blues viel zu selten geworden ist. Absolut empfehlenswert!
Nathan Nörgel
Mátyás Pribojszki Band - Treat
Rick Estrin, Steve Baker und auch Jean-Jaques Milteau werden
auf der Homepage des ungarischen Harpspielers Mátyás Pribojszki zitiert mit Lobeshymnen zitiert. Und wenn man sich das neue
Album seiner Band „Treat“ anhört, dann versteht man auch warum: Ob traditionellen Blues zwischen Zydeco und Chicago oder
modernere Sounds - mit einer atemberaubenden Virtuosität spielt
Pribojszki alles. Und seine Band is kickin‘ ass!
Es ist eine Schande, dass man den Blues gerade aus den osteuropäischen Ländern hierzulande kaum noch hört. Wenn es um
Blues aus Ungarn etwa geht, dann fallen mir akutell zunächst nur
Mississippi Big Beat und der Boogie Pianist Balasz Daniel sofort
ein. Ab sofort werde ich Mátyás Pribojszki zu der kleinen Liste
hinzufügen. Denn was er mit seiner Band auf „Treat“ abgeliefert
hat, verdient eine uneingeschränkte Empfehlung. Dass Pribojszki
als einer der besten Harpspieler seiner Heimat gilt, kann man in
ziemlich jedem der zwölf Stücke hören. Und wenn Estrin, Milteau und Baker als Laudatoren genannt werden, dann wird auch
die stilistische Vielfalt deutlich, die er in sein Spiel legen kann.
Schon der losfetzende Opener „Zydecola boogie“ macht sofort gute Laune - das ist Harmonika-Boogie vom Feinsten. Wer sich jetzt
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aber innerlich auf eine ganz traditionelle Bluesscheibe eingerichtet
haben soll, wird seine Überraschung erleben. Schon die Single
„Real Good Man“ geht eher in Richtung Soulblues. Und auch der
Titelsong ist mit seinem verhalten-treibenden Groove eindeutig
im 21. Jahrhundert. Aus „Three Kisses of Love“ von den Bee Gees
wird hier ein ganz traditioneller Pianoblues mit einer eher jazzigen
Harp. „Gonna Take You Home“ ist so funky, dass es einen zum
Schwitzen bringt. Und die Gitarre von Ferenc Szász ist trocken
wie nur möglich. Doch dann kommen eben auch weitere klassische Boogienummern wie „Farmer John“ (D. Harris/D,Terry)
oder der „Goobie Boogie“, bei denen Erik Kovacz sich auf dem
Klavier ebenso austoben kann wie bei dem feienn Chicagoblues
von „My Little Angle“. oder auch bei dem swingenden „She Put
A Spell On Me“ (J. Milton). Und damit wird klar: Die Band ist
nicht einfach nur ein Begleitinstrument des Chefs sondern in ihrer rhythmischen Vielseitigkeit und den instrumentalen Fertigkeiten der einzelnen Musiker schon eine Entdeckung für sich.
Neben „Raw Blues“ von Will Wilde ist „Treat“ für mich eines
der bemerkenswertesten Harpalben 2013. Nicht mehr und kein
bisschen weniger.
Raimund Nitzsche
Niecie - Wanted Woman
„Wanted Woman“ setzt da fort, wo „Beyond The Surface“ aufgehört hat: Niecie ist eine bissige, humorvolle und niemals langweilige Blueslady. Ihr Soulblues klingt zeitlos und reflektiert gleichzeitig ihre Biografie als Musikerin in Detroit, Chicago und den
Casinos von Las Vegas.
Nein, es sind nicht nur Janiver Magness oder Shemekia Copland,
die heute das Erbe von Koko Taylor fortführen. Gerade in den
letzten Jahren sind Sängerinnen bekannt geworden, die zwar noch
nicht den internationalen Ruhm wie diese haben, die aber selbstbewusst und musikalisch packend ihren Platz beanspruchen. Und
das sind nicht nur „Neulinge“ wie Shelley Lynn Hardinge sondern
auch langgediente Künstlerinnen wie Shaun Murphy oder eben
Niecie, die auf „Wanted Woman“ wieder Bluesgeschichten voller
Power und Selbstbewusstsein erzählt. Nein, sie nicht das „Typical Chick“, dass sich ohne Aufwand verführen lasst von Blendern
des männlichen Geschlechts. Sie regt sich auf, sie kampft und
bettelt nicht um ein wenig Glück. Und gleichzeitig kann sie so
mädchenhaft daherkommen, dass man glatt vergisst, wie lange
diese Frau schon ihren Blues singt in den Clubs dieser Welt. Produziert wurde Wanted Woman von Musikerkollege Johnny Neel
(Allman Brothers). Und der hat eine Band zusammengeholt, die
genau den nötigen Biss von Gitarren und Bläsern vermittelt wie
die groovende Atmosphäre der Hammondorgel. Herausgekommen ist ein Album, das einfach Spaß macht. (cdbaby)
Nathan Nörgel
Paper Aeroplanes - LiƩle LeƩers
Es geht los mit Explosionen. „When The Windows Shook“ mag
zwar als ziemlich schwereloser Indie-Folk-Rock daherkommen.
Doch die Geschichte von diversen Explosionen in Ölraffinerieem
in oder nahe bei Milford Haven in Wales spricht eine andere,
melancholische Sprache. Und die zieht sich auch durch die ande-
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Platten
ren Songs von „Little Letters“ von Paper Aeroplanes alias Sarah
Howells und Richard Llewellyn.
Es sind vor allem die kleinen persönlichen Geschichten, die hier
nachdrücklich ins Herz gehen. Etwa „Multiple Love“, diese Ballade über das Warten auf die einzig wahre Liebe, auf den Menschen, der einen vervollständigt und wirklich zum Leben in dieser
Welt befähigt. Dieses Warten aufzugeben, fällt heutzutage leichter als der so scheinbar naive Glaube an die Große Liebe, auf die
es zu warten lohnen würde. Paper Aeroplanes wollen einen daran
erinnern, wie man selbst früher so romantisch war. Und mit „At
the Altar“ kommt quasi dann auch noch die richtige Fortsetzung.
„Palm of Your Hand“ könnte man bei der Hochzeit dann auch als
passende Tanzmusik spielen - hier ist Wales schon fast CountryLand. „Little Letters“ sind musikalische Briefe voll schöner Melodien und kleiner Geschichten mit mehr Tiefgang, als man beim
ersten Hören vermuten würde. (Navigator Records)
Raimund Nitzsche
Paul Lamb & Chad Strentz - Goin‘ Down This Road
Unwiderstehlicher akustischer Blues. Diese drei Worte fassen das
Album zusammen. Warum ist es unwiderstehlich? Weil Harmonikaspieler Paul Lamb und Gitarrist Chad Strentz zusammenpassen wie Eier und Schinken. Ihr Zusammenspiel auf „Goin‘ Down
This Road“ bringt den Sound der frühesten Bluesmusik zum Leben vor der Ära der schreienden Gitarre.
Das Album beginnt und endet mit einen Stücken. „The Underdog“ summt und funkelt ganz im Gegensatz zu seinem Inhalt,
dass das Glück niemals gefunden werden kann. „Nothing But
The Truth“ hat einen treibenden Beat, der an Sonny Boy Williamson II erinnert. Dazwischen gibt es bearbeitungen von Klassikern von Künstlern wie Big Bill Broonzy und Roosevelt Sykes.
Es sind schnelle Songs, langsame Songs, humorvolle Songs und
Lieder mit einem deutlichen Gospel-Feeling (wie „Pass Me Not“).
Lamb und Strentz machen sie mit gesanglichen Ausbrüchen und
instrumentalen Improvisationen zu ihren eigenen.
Es ist schwer, einen Track als besondere Empfehlung herauszugreifen aus diesem tollen Hörerlebnis. Aber hör Dir unbedingt
das Cover von Solomon Burkes‘s „Don‘t You Feel Like Cryin“ an.
Das ist eine Straße, die es lohnt, hinabzugehen. (blueRoots)
Darren Weale
Perrecy - Du bist das Opfer
Wer das Opfer ist, macht das Cover schon klar: Morrissey und
The Smith. Ihre Hits werden von Perrecy nicht nur auf Ukelele
gespielt sondern auch gnadenlos ins Deutsche übersetzt.
Im Quatsch Comedy Club gab es vor Jahren mal die Rubrik „Lieder die die Welt nicht braucht“. Dort wurde die Magie von Ohrwürmen oft schon damit herzlich zerstört, indem man die Texte
Wort für Wort ins Deutsche brachte. Das Ergebnis: Schnelle Lacher, aufmerksamerer Musikkonsum und neue Lieblingslieder.
Zum Glück gehöre ich nicht zu den Menschen, die ihre Teenagerjahre in Begleitung der Songs von The Smith verbracht haben.
Erst viel später lernte ich sie kennen und beschäftigte mich auf
Anregung von Freunden auch mit dem Solowerk von Morrissey.
Und ich verliebte mich in diese melancholischen Lieder auch ganz
ohne Teenagerangst. Nein - es war mir klar: Das sind Lieder, die
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Platten
musikalisch und lyrisch weit über dem Durchschnittspop und
-rock stehen. Und jetzt das: „Das ist ein Licht das niemals erlischt“ - Mit Ukelele und Rumpelversen zerlegt da ein Musiker
eines der schönsten Lieder aller Zeiten. Gleich zwei CDs hat das
Label Timezone dem bayrischen Musiker Perrecy eingeräumt,
um sämtliche Hits der Smiths und aus dem Solowerk von Morrissey auf Deutsch umzudeuten: Da wird die Panik auf die Straßen
bayrischer Städte verlagert. Die Melancholie des Rocksounds von
The Smiths wird mit Ukelelen, Bass, Schlagzeug und ab und zu
ein paar Tasteninstrumenten nachgebaut.
Manchmal kann ich mir das Lächeln nicht verkneifen. Manchmal bin ich kurz davor, voller Wut die Platte aus dem Fenster zu
werfen. Zwischen Amüsement und der Fomulierung einer Blasphemieanklage wechselt meine Stimmung hin und her. Manchmal sag ich: genau so sollte man das übersetzen. Manchmal
könnte ich vor Wut in den Tisch beißen. Also genau: natürlich
hat Perrecy ein paar packende Versionen gemacht. Und natürlich
werde ich nicht der Einzige sein, der zwischen Faszination und
Wut schwankt. Was aber der Kritiker in mir ernsthaft anmerken
muss: Man kann die zwei CDs nicht am Stück durchhören. Dann
wird man übersättigt und letzlich gelangweilt. Eine wohldosierte
Anwendung allerdings kann man nur empfehlen. (Timezone)
Raimund Nitzsche
Roy Harper - Man & Myth
Led Zeppelin hat ihn in einem Lied verewigt. Und selbst wer
noch nie Songs des Songwriters Roy Harper gehört hat, kennt
wahrscheinlich seine Stimme aus „Have A Cigar“ von Pink Floyd.
Nach 13 Jahren hat der Folksänger wieder ein Album unter eigenem Namen veröffentlicht und das ist so unzeitgemäß wie faszinierend.
„Willkommen in den 70ern!“, fühlt man sich versucht auszurufen.
Aber nein: Die 70er mögen zwar ähnlich geklungen haben: voller Harmonien, der Himmel teils wolkig, teils voller Geigen hängend. Doch diese musikalische Welt hier ist absolut einzigartig.
Willkommen in den Mythen von Roy Harper, zu den Predigten
eines aus der Zeit gefallenen Troubadours, der sich früher schon
mal als bärtiger Jesus, der übers Wasser geht hat auf Plattencovern
verewigen lassen.
Heute ist er 72 Jahre alt, doch seine Stimme kann vom Wispern
bis hin zum knurrend-wütenden Forte alles. Und seine Songs, die
manchmal an die mäandernden Unendlichkeiten von Bob Dylan
und dann wieder an den zynisch-humorvollen Blick der Kinks erinnern nehmen schon mal gar keine Rücksicht auf die Generation
Zapp: Zwei Lieder sind länger als sieben Minuten und sind schon
unterträglich für den normalen Ritalin-Konsumenten. Und „Heaven Is Here“ ist mit 15 Minuten schon fast an der Maximallänge
einer evangelischen Predigt angelangt. Doch wie singt Harper so
zutreffend: Zeit ist auch nur ne temporäre Angelegenheit. In diese
Lieder zwischen Lamento und gebremsten Furor kann man sich
getrost fallen lassen.
Raimund Nitzsche
Sean Chambers - The Rock House Sessions
Erstmals als Solist mit jeder Menge Gastmusikern hat Sean
Chambers sein neues Album „The Rock House Sessions“ einge-
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Platten
spielt. Der klassische Sound des Bluesgitarristen wird dabei oftmals in Richtung Jamrock, Southern und auch in soulige Gefilde
ausgedehnt.
Klar, den Texas-Blues hat der ehemalige Bandleader von Hubert Sumlin noch immer drauf: Wenn das Album mit „World
On Fire“ losgeht, dann passiert genau das. Der Saitenhexer setzt
den Titel unter große Hitze. Und der Text ist ein Gebet, was um
mehr feurige Liebe in dieser Welt bittet. Auch „Your Love Is My
Disease“ kommt ganz klassisch bluesrockig daher, während das
von Bob Seeger bekannte „Come To Popa“ mit vollem Bläsersatz
in Richtung Soulrock abhebt. Bei „Healing Ground“ kann man
dafür dann Anklänge an die frühen Faces und Alvin Lee‘s „Choo
Choo Mama“ ist ganz im Geiste von Ten Years After - und das
äußerst mitreißend.
„Live From The Long Island Blues Warehouse“ kam 2011 bei
uns unter die Top 3 der besten Live-Alben. Ob die „Rock House
Sessions“ ähnliches im Studiobereich schaffen können, bleibt abzuwarten. Die musikalische Qualität und vor allem auch die mitreißende Spielfreude von Chambers und seinen Kollegen ist auf
jeden Fall hervorragend.
Nathan Nörgel
The California Honeydrops - Like You Mean It!
Mit ihrem dritten Studioalbum haben The California Honeydrops ihr Soundspektrum von Blues, Jazz. Swing und Jugband
in Richtung Soul erweitert. „Like You Mean It!“, veröffentlicht
schon im Frühjahr 2013 kam hier rechtzeitig im Spätherbst an,
um die Herbstdepressionen zu bekämpfen.
Vielleicht sollte man doch einfach nach Kalifornien auswandern
- schon allein die dortige Musikszene hat genügend Sonne abbekommen, um sofort die Gedanken an den nassen Spätherbst vor
dem Fenster zu vertreiben. Zumindest wenn es sich um eine solch
ausgewiesene Party-Band wie die Honeydrops handelt. Mit einer
Leichtigkeit servieren sie auf ih „Like You Mean It“ eine jazzige
Soulmusik, die mit exzellenten Solos, vertrackten Harmoniegesängen und einem unwiderstehlichen Groove so nicht so schnell
wo anders finden kann. Waren die ersten beiden Alben der Band
um Sänger/Trompeter/Songschreiber Lech Wierzynski noch stark
von der Herkunft aus der Straßenmusik geprägt mit ihrer unbändigen Spielfreude, die über sämtliche Ecken und Kanten hinwegsehen lässt, so ist bei „Like You Mean It“ durchaus eine Professionalisierung eingetreten. Das ist ein von vorn bis hinten großartig produziertes Album geworden, Und es hat das Zeug, ein
Lieblingsalbum nicht nur für die dunkle Jahreszeit sondern auch
für sommerliche Grillabende oder die hoffentlich bald wieder beginnenden Soulparties zu werden. Da kann man die beinharten
Funkfans sicherlich ganz schön aus dem Konzept bringen, wenn
urplörzlich wie in Carolina Peach jazzige Ragtimerhythmen oder
auch der Streetjazz aus New Orleans erklingt.
Raimund Nitzsche
The Liberators - Power Struggle
Afrobeat ist zuallererst politische Musik. Das rufen einem die Titel von „Power Struggle“, dem zweiten Album der australischen
Band The Liberators unmissverständlich in Erinnerung. Doch
wer sagt, dass man die Revolution nicht tanzend gewinnen kann?
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Platten
Der Funk Nigerias in den 70er Jahren spielt bei der Band aus
Sidney natürlich die Hauptrolle. Doch die zehnköpfige Truppe
bedient sich bei ihrer Instrumentalmusik auch beim Jazz der Brass
Bands aus New Orleans, sie zitieren Latinrhythmen, Soul und
natürlich auch den klassischen Funk aus den USA. Und wenn
wie im an den arabischen Frühling gemahnenden Opener „Cairo Uprising“ auch arabische Melodielinien benötigt werden, was
spricht dagegen? Und sie tun das mit einer Energie und Präzision,
die atemberaubend ist. Man will zunächst gar nicht glauben, dass
„Power Struggle“ live und ohne Overdubs im Studio direkt aufs
Band gebannt wurde. Hier wird deutlich, wie gut die Band durch
ihre zahlreichen Live-Shows ist: The Liberators sind im weitesten
Feld der Weltmusik eine der Gruppen, denen man unbedingt mal
auf einem Festival begegnen sollte. Wenn Weltmusik gleichzeitig so großartig, tanzbar und ebenso politisch engagiert ist, dann
sollte man aufhören, den Begriff abwertend zu verwenden. The
Liberators zeigen, wie man voller Respekt die verschiedensten Stile verschmelzen kann ohne beliebig zu sein. (Record Kicks)
Nathan Nörgel
Thomas Ford - Breaking Everything But Even
In Großbritannien zählt man Thomas Ford zu den kommenden Stars in dern Bluesszene. Auch auf seinem akutellen Album
„Breaking Everything But Even“ hört man einerseits seine Liebe
zum Deltablues der Vorkriegszeit und gleichzeitig einen Sognwriter, der sich nicht nur im Wiederholen von veralteten Klischees
verliert.
Als er seine erste Resonator-Gitarre hatte, wollte er gleich so klingen wie Son House. Und auch für Mississippi Fred McDowell hat
Ford offensichtlich ne Menge übrig. Selbst einem klassischen Beerdigungsmarsch a la New Orleans kann er sich nicht verkneifen
(Peace Inside Blues). Doch niemals kommt „Breaking Everything
But Even“ so bewusst auf konsequenten Retro-Sound getrimmt
vor wie etwa bei Pokey LaFarge oder C.W. Stoneking. Wenn es
ihm richtig erscheint, wird der Gesang auch mit Effekten versehen. Und auch die Stromlosigkeit ist auf dem Album kein Dogma: Schon der Opener „You Ain‘t What You Used To Be“ verdankt Elmore James mehr als Robert Johnson. Und der Klassiker
„Bottle Up And Go“ lebt beim vor allem aus dem Kontrast zwischen Hammondorgel, Ragtime-Gitarre und der dreckigen Harp.
Sowohl als Gitarrist als auch mit der Bluesharp ist Ford hervorragend. Man kann sich gut Solokonzerte mit den Songs des Albums
vorstellen. Doch eigentlich machen sie noch mehr Spaß, wenn sie
wie hier von einer druckvollen Band angetrieben werden: So ist
Blues sowohl traditionell als auch mitreißend und unterhaltsam.
Raimund Nitzsche
Tommy Z - SomeƟmes
Rockig wie Stevie Ray Vaughan, groovend wie Howlin Wolf,
deftig und unpoliert, wie man es von Bluesrock erwarten sollte:
Tommy Z veröffentlichte mit „Sometimes“ zwar erst sein zweites
Album. Doch dem hört man die jahrzehntelange Erfahrung als
Gitarrist hinter so ziemlich jedem Musiker zwischen Pinetop Perkins und Ian Gillan an.
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Platten
Mit dem Opener hat er sofort meine Aufmerksamkeit: Wie ein
Schlag in den Magen knallt „Roger That“ los. Ein Instrumental,
was derartig an Stevie Ray Vaughans beste Zeiten erinnert, dass
sich einem die Haare auf den Armen sofort aufrichten. Doch dieser
trocken auf Höchstgeschwindigkeit daherrockende Song bildet nur
das einze Extrem des äußerst vielseitigen Musikers. Wenn er Willie Dixons‘ „300 Pounds of Joy“ einer Schlankheitskur unterzieht,
dann betriff t das nur den Text. Musikalisch groovt die Nummer
dahin (samt Bläsern) wie zu den besten Zeiten des Chicago-Blues.
Und Johnny „Guitar“ Watsons „Gängster of Love“ wird vom Funk
entkleidet zum bösartig dahinstampfenden Blues.
„Sometimes“ hat natürlich nicht nur Cover sondern besteht vor
allem auch aus eigenen Stücken des Gitarristen/Songwriters. Und
auch die passen ohne Rest hinein: Funky, rockend und schweißtreibend. Und das dürfte vor allem die Fans virtuoser Bluesrockgitarren begeistern.
Nathan Nörgel
Tony McLoughlin - The Contender
Er kommt eigentlich aus Irland. Doch sein aktuelles Album „The
Contendert“ entstand in Nashville. Zu Gast waren dabei neben
Studiomusikern von dort auch die Gitarristen Thomm Jutz, Timo
Gross und Mick McCarney.
Deutsche Fans von Rootsrock und Americana haben die Songs von
Tony McLoughlin wahrscheinlich schon länger im Ohr, sind seine ersten Alben doch hierzulande von Glitterhouse veröffentlicht
worden. Seit einigen Jahren allerdings ist er für seine Aufnahmen
immer wieder nach Nashville gezogen.
„The Contende“ ist ein Album geworden, was mit seinen rockigen
und oftmals melancholischen Songs die ganze Palette von Americana bedient: Melancholisch rockend entsteht vor dem inneren
Auge das Bild langer staubiger Highways, kleiner Ortschaften
am Rande des Vergessenwerdens. Und McLoughlins Geschichten
erzählen die dazu passenden Geschichten, während die Gitarren
Erinnerungen an Neil Young ebenso wachrufen wie an den früheren Dylan oder an Tom Petty. Manchmal wie bei „Moonshadows“
kommen gar Erinnerungen an die späteren Dire Straits in den
Sinn. Doch nirgendwo klingt das wie wahllos zusammengesuchtes
Referenzmaterial. Das sind Lieder, die meist unaufdringlich sofort
ins Ohr und ins Herz gehen. Das sind Songs, bei denen einem das
Büro plötzlich viel zu klein vorkommt und man hinaus will auf die
Straße und los bis zum Horizont: Für mich ist „The Contender“
eine echte Entdeckung. Für Freunde erdiger Rootsrock-Klänge ist
es eine echte Empfehlung.
Nathan Nörgel
Van Morrison - Moondance. Expanded EdiƟon
„Astral Weeks“ zählt zu den besten Alben der Popgeschichte überhaupt. „Moondance“, Van Morrisons Nachfolgewerk, ist in gewisser Weise das Gegenstück zu diesem Monolithen. Jetzt ist das 1970
veröffentlichte Album sowohl als Expandet Edition (mit einer Bonus-CD) als auch in verschwenderischer Deluxe-Fassung mit drei
Bonus-CDs und als BluRay.Abmischung im 5.1 Surround.
Beethoven hatte zu seiner sechsten Sinfonie (Pastorale) Höranweisungen geschrieben, um die ländliche Atmosphäre der Komposi-
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© wasser-prawda
Platten
tion zu erläutern. Ähnliches könnte man auch zu „Moondance“
schreiben, dieser Feier des ländlichen Lebens. Zeitlose Schönheit
in einer Mixtur aus Blues, Soul - Lieder wie „Caravan“, der großartige Titelsong oder „Into The Mystic - entfalten einen Zauber
und sind gleichzeitig so zugänglich, wie es wenige der frühen Solowerke Van Morrisons sind. Insgesamt ist „Moondance“ eines
der Alben, bei dem man sich nicht vorstellen kann, wie man sie
in den so beliebten erweiterten Fassungen neu präsentieren will.
Doch gerade die „Expanded Edition“ macht eines klar: Dieses
Album entstand nicht am Reißbrett oder besser dem Schreibtisch
eines Komponisiten sondern entwickelte sich aus beseelten Jams
der beteiligten Musiker. Auf der Bonusscheibe kann man neben
„Nobody Knows You, When You‘re Down And Out“ und dem
bislang unveröffentlichten „I Shall Sing“ Ergebnisse dieser Sessions, die die allmähliche Annäherung an die Magie der Songs
nachvollziehbar machen. Nur für Hardcorfans interessant sein
dürfte allerdings die komplette Deluxe-Variante, die diese Jams in
chronologischer Abfolge vollständig auflisten.
„Moondance“ ist eines der großartigsten Alben der Geschichte
der Popmusik, der Inbegriff von Van Morrisons eigener Variante des Blue Eyed/Celtic-Soul. Und wer dieses Meisterwerk noch
nicht kennt, der sollte jetzt unbedingt zugreifen. (Warner)
Raimund Nitzsche
Wooden Horse - This Kind Of Trouble
„This Kind Of Trouble“ von Wooden Horse ist eine (zumeist) helle und freundliche Sammlung von Songs. Das Album beginnt mit
„A Big Deal“, das ein paar der Beat- und Gesangskombinationen
des großartigen Albums „Delta Time“ von Hans Theesink und
Terry Evans hat. Und das ist wahrscheinlich auch der beste Vergleich aus der jüngeren Vergangenheit, den man für dieses Album
insgesamt finden kann.
„You Ain‘t Letting Me Down“ ist wesentlich schneller und eilt
mit lebhaftem Klavier und Saitenklängen dahin und erinnert an
einige der weniger aggressiven Nummern von Jerry Lee Lewis.
„Get It Right“ ist langsamer und nachdenklich, während bei „All
Along“ Sänger Jamie Knight überraschenderweise wie Crooner
Bing Crosby klingt. Auch wenn das ein Name ist, der eher nicht
für Blues, Folk oder Country steht, die die man auf diesem Album zu hören bekommt, konnte Crosby definitiv singen, so dass
dieser Einwand irrelevant ist.
„Crazy Mama“ perlt voll positiver Stimmung dahin und solltest
Du das minderschwere Verbrechen in Erwägung ziehen, nur eine
Nummer des Albums anzuhören, dann ist das das Lied. Wenn
Du die gehobene Stimmung beibehalten möchtest, dann solltest
Du nicht direkt den nächsten Song „The Walking Rain“ anschließen. Das ist ein tolles Lied, aber so traurig, gleichzeitig wunderschön und zum Heulen. Insgesamt haben wir also Lieder, um
die Stimmung anzuheben, oder sie zu drücken. Du solltest also
die Songauswahl des Albums sorgfältig treffen. Aber gut sind die
Lieder alle. (www.woodenhorsemusic.co.uk)
Darren Weale
© wasser-prawda
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Platten
Made in Kanada
Von Nathan Nörgel
Dan McKinnon - As Sharp As Possible
Scharfe Riffs, deftige Rhythmen - das Debüt des kanadischen
Bluesrockers Dan McKinnon ist kräftige Kost für alle Fans des
Genres. Das muss man laut hören!
Mal wieder macht sich ein neuer Gitarrenheld auf, die Bluesrockwelt zu erobern. Und man hört dem Kanadier an, dass er in den
letzten Jahren in Großstädten wie Los Angeles, New York und
Chicago gespielt hat. Songs wie der Opener „Ain‘t Looking Back“
erinnern manche an Bands wie Foghat. Doch man kann auch die
Einflüsse von Gitarristen wie Buddy Guy, Freddie King und ab
und zu sogar jazzige Wendungen und etwas Pop vernehmen.
Was mir noch fehlt sind eine wirklich deutlicher erkennbare persönliche Sprache und Songs, die sich wirklich im Ohr festsetzen.
Hier hat McKinnon noch jede Menge Entwicklungsmöglichkeiten für die nächsten Jahre. Doch für Fans des Bluesrock kann
man nur sagen: Anlage aufdrehen und abrocken.
David Blair - I Hate Liking You
Akustischen Pop spielt David Blair aus Vancouver. Die fünf Songs
auf seiner aktuellen EP „I Hate Liking You“ sind radiofreundlich
und doch teilweise von einem teils verschmitzten Humor durchzogen.Lieder wie der Titelsong haben durchaus Hitpotential. Als
Songwriter braucht er aber vielleicht noch ein paar Jahre, um
auch größere und ernstere Geschichten zu erzählen.
Jadea Kelly - Clover
Mit Folk und in einer Metalband hat die kanadische Sängerin
Jadea Kelley bislang ihre Sporen verdient. Auf ihrem aktuellen
Soloalbum „Clover“ erzählt sie Geschichten vom Leben einer fahrenden Musikerin ebenso wie von ihrer Arbeit auf der Farm.
Manchmal fühlt man sich bei dieser Stimme an Portishead erinnert. Und auch die Orgelsounds, die Streicher und die Bässe aus
dem Synthesizer sind nicht das, was man auf einem „normalen“
Album einer aus dem Folk kommenden Songwriterin erwarten
würde. Stücke wie „Powell River“ schwingen sich langsam zu umwerfenden Hymnen auf, entwickeln eine Strahlkraft, die dann
irgendwann wieder in verhallten Räumen verklingt. Und wenn
„Lone Wolf“ beginnt, glaubt man erst mal wieder, die völlig überflüssigen Reminiszenzen an den Elektropop der 80er zu hören,
bevor man feststellt, dass trotz des elektronischen Grundsounds
dieses Lied mehr mit Folkmelodieen der jungen Rebecca Pidgeon
zu tun hat als mit dem gegenwärtigen 80s Revival. „Glover“ überzeugt mit einem absolut einzigartigen Sound, einer großartigen
analogen Produktion und mit Songs, die völlig frei von falscher
Romantik sind: Jadea Kelly hat lang genug als Musikerin und auf
der Farm gearbeitet, um hier keine falschen Trugbilder aufzubauen. Doch sich lässt sich auch nicht das Träumen verbieten. Und
ihre Melancholie ist niemals ohne Hoffnung. (True North/Alive)
Maria In The Shower - The Hidden Sayings of
Der Bandname ist schon mal eingängig. Auch wenn man nach
dem Hören des Albums „The Hidden Sayings of Maria In The
Shower“ die Frage stellen kann, was er denn bedeuten soll. Aber
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Platten
das kann man getrost auch lassen. Das führt genausowenig zu
einem zwingenden Ergebnis wie der Versuch, diese Musik in eine
Schublade zu packen. Das Quartett aus Vancouver (ohne eine
Maria) bezeichnet sich als Folk Cabaret. Und das ist wahrscheinlich ebenso zutreffend wie der Versuch, die Band als moderne
Form einer Vaudeville-Show zu betrachten. Auf dem (bereits 2011
erschienenen) Debüt geht es von Gypsy-Musik über OldtimeJazz, klassichem Folk bis hin zu heftigem Rock & Roll.
All das wird mit heftigen Kontrasten inszeniert, was in der Verankerung der Truppe in der Theaterszene seine Ursache haben
dürfte. Und entsprechend geht es bei den Liedern auch nicht um
eine historisch korrekte oder eine persönlich akkurat stimmige
Musik sondern um die Darbietung einer Show, die beides verbindet. Und da wird dann gefordert, keine Mauer rund um den
Friedhof zu errichten (weil doch keiner versuchen würde, reinzukommen). Jesus bekommt ein Ständchen zum Valentinstag. Und
immer wieder ganz traditionelle Folksongs wie „Star of Bannack“
und düstere Cabaret-Musik wie „Tomorrow‘s Song“. Abwechslungsreich, unterhaltsam und unwahrscheinlich mitreißend!
Melanie Dekker - Distant Star
Die Songwriterin Melanie Dekker hat mit konstanten Tourneen
hierzulande sich zumindest in Insiderkreisen eine eingeschworene
Fangemeinde erspielt. Auch ihr aktuelles Album „Distant Star Ist
wiedeer eine Sammlung von lyrischem Folkpop mit ein wenig
Countryflair und viel Liebe zu den Idealen der Hippiezeit.
Für jemanden, der Lieder wie „Worry Gets You Nowhere“ oder
„The Price You Pay“ schreibt, darf man getrost den Namen Liedermacher verwenden. Obwohl natürlich die Bezeichnung Singer/Songwriter viel gängiger ist und auch weniger klischeebeladen
ist. Auf jeden Fall hat Melanie Dekker für „Distant Star“ wieder
kleine, unspektakuläre Alltagsgeschichten und persönliche Betrachtungen in Musik gefasst. Und diese Lieder sind mit ihrer
Wärme und Ehrlichkeit die richtige Therapie gegen die beginnenden Winterdepressionen. Diese Songwriterin trägt ihr Herz auf
der Zunge und in ihren Fingespitzen. Und die Produktion von
Allan Rodger, der auch diverse Instrumente gespielt und beim
Schreiben der Lieder beteiligt war, kommt mit dem Einsatz einzelner zusätzliche Instrumente wie einem Banjo oder der prägenden Klarinette bei „Black Swan“ aus.
New Country Rehab - Ghost of your Charms
Rehabilitation hat diese Band ganz sicher nicht nötig. Oder haben
sich die Musiker, die 2011 mit der Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Debüts als eine der besten Americana/Folk-Rock-Bands in
der Szene bekannt wurden, vorher einer solchen unterzogen? Ihr
zweites Album jedenfalls ist ein Musterbeispiel dafür, wie man
heute Country spielen sollte, wenn man nicht aus traditionsverliebten Landkommunen sondern aus der Großstadt stammt. Über
die Vergleiche zu Mumfords and Sons können NCR wahrscheinlich nur lachen. Ich jedenfalls hab mich drüber köstlich amüsiert.
Denn was die Truppe macht, ist wesentlich traditioneller (auf der
einen Seite), gar zum Squaredance animierend (wie schon im ganz
langsam losgehenden Opener „Empty Room Blues“). Andererseits schreiben die Musiker Songs, die von der Güte her eher mit
REM verglichen ewrden sollten. „Luxury Motel“ beispielsweise
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Platten
ist für sich allein schon den Kauf dieses Albums wert. Doch auch
„Rollin“ oder das wundervolle Schlusslied „Too Many Parties and
Too Many Pals“ sind Folk-Rock vom allerfeinsten. Überall ist ein
tiefer Respekt vor den traditionellen Spielweisen von Folk und
Country spür- und hörbar. Doch eine echte oder vorgespielte Altertümlichkeit wird man bei New Country Rehab nicht finden.
Und auch keine aufgesetzten Rock-Attitüden.
Soulstack - Five Finger Discount
„Big Red“, das Debüt der kanadischen Band „Soulstack“ gehörte
für mich 2012 zu den hörenswertesten Neuentdeckungen. Entsprechend gespannt war ich dann auch auf das Nachfolgewerk.
„Five Finger Discount“ ist wieder eine Sammlung überzeugender
Songs zwischen Bluesrock, Soul und Americana geworden.
Da ist er wieder unterwegs, der rote Traktor, der schon auf dem
Debüt zu sehen war. doch diesmal ist er eher in der Stadt unterwegs, ist die Musik von Soulstack weniger ländlicher Blues als
städtischer Soulrock, der manche Kollegen gar zu Vergleichen mit
dem Jamrock von Grateful Dead herausforderte. So weit muss
man gar nicht ausholen. Denn die Musik der Kanadier hat auch
heutzutage einige Verwandte: den Funkblues a la Louisiana hört
man auch bei der TTB, andere mehr gradausgespielte Rocker sind
CCR verwandt. Und wenn dann Slidegitarren erscheinen, dann
sind Bonnie Raitt und Ry Cooder bestimmt nicht weit. Manche
Harmoniegesänger erinnern dann gar an die Holmes Brothers.
Doch wie schon „Big Red“ ist auch „Five Finger Discount“ wieder ein eindeutiges Bandprodukt: Jon Knight und seine Kollegen
sind als Musiker und Songwriter absolut überzeugend und mitreißend. Ihre Lieder entziehen sich der Kategorisierung, die immer
die Hilfskrücke des Rezensenten ist. Sie ziehen einen unwillkürlich hinein in ihre Welt zwischen Liebesschmerz und Sehnsucht,
zwischen Party und Alltag. Und sie schaffen es, die professionelle
Maske des Hörers nicht nur anzukratzen sondern herunter zu reißen, dass er sich mal wieder ganz auch auf sein Gefühl verlassen
muss.
Bei „Five Finger Discounts“ ist nichts billig. Das ist ein zutiefst
anrührendes und faszinierendes Album. Für mich ein Kandidat
für die Liste der Platten 2013.
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Platten
Weihnachtsplatten
Auch dieses Jahr wie jedes Jahr kommt für den Nörgler die
schwerste Herausforderung: Das Hören von Weihnachtsalben. Bislang sind es erst zwei, die hier in der Redaktion eingetrudelt sind. Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend
loben. Die Frage ist die Gleiche, die ich mir auch schon im
letzten Jahr gestellt habe: Schafft 2013 ein Album, langfristig in Erinnerung zu bleiben? Zuletzt hatte das bei mir Boy
Dylan geschafft.Von Nathan Nörgel.
Bright Eyes - A Christmas Album
Schon 2002 erschien das von den Bright Eyes eingespielte Weihnachtsalbum, damals zunächst online. Jetzt wird die Sammlung
der von Conor Oberst arrangierten traditionellen Weihnachtslieder erneut herausgegeben.
Man hat diese Scheibe schon mal als das schwermütigste Weihnachtsalbum bezeichnet. Lieder wie „Away In A Manger“ oder
„Silent Night“ sind hier weniger besinnlich als tieftraurig. „The
Little Drummer Boy“ ist gar so düster, dass man sich aus Verzweiflung gern die Kugel geben möchte. Zum Glück gibt es mit
„God Rest Ye Merry Gentlemen“ wenigstens eine Aufmunterung
zwischendurch.
Wer über die Feiertage ein wenig mehr Ruhe als gewöhnlich
braucht, wird hier die passende Begleitung finden. Doch wer
wirklich Weihnachten als eines der fröhlichsten aller denkbaren
Feste feiern möchte, sollte hier die Finger von Lassen.
Dieter Kropp - Eine schöne Bescherung
Es swingt, es klingelt, die Lieder sind zum größten Teil bekannt:
Bluesharp-Virtuose Dieter Kropp hat sich für sein Weihnachtsalbum nicht nur die amerikanischen Klassiker sondern auch deutsche Lieder wie „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ oder „Morgen
Kinder wird‘s was geben“ rausgesucht.
Weihnachtsplatten von Elvis oder auch von Götz Alsmann haben
Kropp begeistert. Und auch die Chöre mit deutschen Liedern. So
verwundert es nicht, dass „Eine schöne Bescherung“ dann auch
gleich mit echten Kirchenglocken losgeht, die „Süßer die Glokken nie klingen“ einleitend. Bei „Jingle Bells“ (Ein kleiner weißer
Schneemann) präsentiert sich Kropp wie eine Kreuzung aus Alsmann und Ted Herold im swingenden Rock & Roll. Und auch
„Winter Wonderland“ klingt fast so wie eine der deitscjem Aufnahmen, die amerikansiche Stars in den 50er und 60er Jahren zu
machen gezwungen wurden. Aber das macht in seiner Nostalgie
schon wieder Spaß. Und bei „Schöne Bescherung“ ist dann sogar
ein munterer Weihnachtsblues zu entdecken. Da passt auch die
deutsche Fassung von Mary Christmas Baby von Charles Brown
hervorragend.
Insgesamt ist das eine gelungene Bescherung: nicht zu kitschig,
nicht nur besinnlich und mit jeder Menge Charme werden hier
bekannte Lieder und paar neue Nummern präsentiert, die nach
nem ausgiebiegigen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt „Last
Christmas“ aus den Gehörgängen vertreiben können. Und außerdem: ein absolut familientaugliches Album!
© wasser-prawda
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Feuilleton
20.1.90 Bez. Cottbus: Demonstration- Mehr als 2.000 Betroffene Bürger demonstrierten in Klitten gegen
die Zerstörung ihrer Gemeinde durch vorrückende Tagebaue ab 1993. Auf ihrer 5. Umweltdemo forderten
die Sorben den Erhalt der Lausitz und ihres traditionellen Siedlungsraumes.
(Foto: Rainer Weisflog/Bundesarchiv 183-1990-0120-035)
Lausitzer Bodenschätze und
der Kueka-Stein
Von Peter Kroh.
Mitte des Jahres 2012 berichteten einige Zeitungen, 1998 sei aus dem
Nationalpark Canaima in Venezuela ein 30 Tonnen schwerer Fels, der
sogenannte Kueka-Stein, entwendet und nach Berlin verbracht worden.
Seit damals, so liest man, protestieren dagegen ca. 30.000 Angehörige des
dort beheimateten Volkes der Pemón. Der Diebstahl war ihnen keineswegs
gleichgültig; sie besaßen damals nur nicht die Mittel, sich wirkungsvoll zu
widersetzen und fanden bei der damaligen Regierung kaum Unterstützung.
Tatsächlich sehen die Pemón die Entwendung des Steins als Misshandlung und Zerstörung von etwas, was ihnen heilig ist. Für sie ist
es zudem eine Wiederkehr kolonialistischen Verhaltens, wenn sich
die Mächtigen, in diesem Fall Deutsche, die Reichtümer anderer
Völker aneignen, ohne sich um deren Traditionen und Rechte zu
kümmern.
Konkrete rechtliche Regelungen besagen, im Nationalpark Canaima darf nichts von seinem Standort entfernt werden. Ein entsprechendes Schreiben der zuständigen Senatskommission ging vor
dem Abtransport an die deutsche Botschaft.
Nach der Auffassung des venezolanischen Instituts für kulturelles
Erbe (IPC), das sich um die Rückführung des Steins bemüht, ist
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Feuilleton
die Entwendung eine respektlose Missachtung der Rechte und der
Kultur der Pemón. Mit den Stimmen aller Parteien hat die Nationalversammlung Venezuelas darum 2012 die Forderung nach einer
Rückgabe des Kueka-Steins unterstützt. In Kundgebungen vor der
deutschen Botschaft wird diese Forderung immer wieder bekräftigt.
Die neue Verfassung Venezuelas anerkennt und schützt autochthone Ethnien, ihre Kultur, ihre Territorien und ihre Sprache. Das hat
deren Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigene Identität gestärkt.
Deshalb fühlen sie sich auch heute ermutigt, für ihre Rechte, ihre
Kultur, ihre Traditionen und Mythen einzutreten.
Einstweilen liegt der Kueka-Stein geschliffen und leider auch beschmiert als Kulturdenkmal im Berliner Tiergarten. Der deutsche
Professor Dr. Bruno Illius vom Lateinamerika-Institut der Freien
Universität Berlin stellte bei einer Gesprächsrunde in der Botschaft
Venezuelas am 3.7.2012 mit deutsch-kolonialer Überheblichkeit fest,
ein Stein könne nichts Heiliges sein, das Ganze sei nichts weiter als
ein Propaganda-Akt der Regierung Venezuelas.
Der Präsident des IPC, Raúl Grioni, erklärte dagegen auf einer
Pressekonferenz Mitte Juni 2012 in Berlin: „Es geht bei der ganzen
Geschichte um die Rechte aller Bürger der Bolivarischen Republik
Venezuela und vor allem um die Rechte der Minderheiten.“ Das Volk
der Pemón kämpft weiter um seinen Stein, unterstützt von anderen
autochthonen Ethnien. Entfernte Verwandte in Nordamerika haben
inzwischen ihr Eigentumsrecht an den Bodenschätzen ihrer Heimat
erstritten.
Was hat das mit den Lausitzer Bodenschätzen zu tun? Wenig und
Viel!
In unseren Zeitungen findet man keine Meldung, es sei etwas aus
der Lausitz weggeschafft worden, was den Sorben/Wenden gehöre.
Die Lausitz, eine Region, deren Charakter vor allem das einzigartige
Biotop des Spreewalds sowie weite Heide-, Seen- und Berglandschaften und mehrere Naturparks prägen, ist seit mehr als einem Jahrtausend Heimat der heute noch etwa 60.000 Sorben. Gerade deshalb ist
die Zerstörung der Lausitzer Landschaft durch den Braunkohleabbau vielen Sorben (und erfreulicherweise auch manchen Deutschen)
durchaus nicht gleichgültig. Der sporadisch laut werdende Protest ist
allerdings derzeit noch nicht wirkungsvoll genug, wird von den Verantwortlichen oft bagatellisiert und von der Bundesregierung kaum
beachtet.
Das derzeitige Stopp-Zeichen für die Vernichtung der Dörfer Atterwasch (Wótšowaš), Grabko (Grabk), Kerkwitz (Kerkojce) und die
Information des brandenburgischen Braunkohlenausschusses, im
Jahre 2013 die Planungen erneut für zwei Monate öffentlich auszulegen, könnte ein hoffnungsvoller Hinweis darauf sein, dass die Deutschen Abstand von der kolonialistischen Beseitigung von Lebensräumen der Sorben/Wenden nehmen und der Geringschätzung ihrer
Traditionen und Rechte ein Ende setzen.
Für mehr Gerechtigkeit sind Rechtvorschriften zum Umgang mit
der Lausitzer Natur notwendig, welche die kulturellen und sozialen
Interessen der Sorben, der autochthonen Bevölkerung der Lausitz
berücksichtigen. Noch zu selten setzen sich die politischen Parteien
im Bund entschieden dafür ein. Zwar wurden im Mai 2012 im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des Bundestages diesbezügliche Anträge erörtert, aber jede Oppositionspartei stellte ihre eigenen.
Der Antrag der SPD (Drucksache 17/9560) zielte auf mehr Transparenz bei bergrechtlichen Verfahren und stärkere Einbeziehung des
Umweltschutzes. Der Antrag der LINKEN (Drucksache 17/9034)
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Peter Kroh: Die Lausitzer
Slawen. Ein Rückblick in die
Zukunft
[Regionale Literaturen Europas, Band 2. Herausgegeben
von Jürgen Buchmann.]
Erscheinungsdatum:
10.03.2014
Softcover, ca. 120 Seiten
Preis: 12,95 EUR (D)
ISBN: 978-3-943672-29-9
Wer sind die Sorben? Ein kleines slawisches Volk, das seit
über einem Jahrtausend in
der Lausitz lebt – länger als
die Deutschen. Ein friedfertiges Volk, das niemals Kriege
geführt, doch eine blühende
Literatur, bedeutende Beiträge zur Wissenschaft und eine farbenreiche, bezaubernde
Folklore hervorgebracht hat.
Ein unbeugsames Volk, das
seine melodischen Sprachen
und Mundarten sowie seine
Kultur trotz vielhundertjähriger Verfolgungen und Verbote durch die Deutschen wie
durch ein Wunder bewahrte.
Seit Jahren diskutieren vor
allem Sorben, aber auch Deutsche in der Lausitz – leider zu
oft nur in kleinen Zirkeln,
selten in der breiten Öffentlichkeit – über die zahlreichen
Bedrängnisse und Bedrohungen, denen das kleine Volk
ausgesetzt ist. Es geht dabei
u. a. um die Abbaggerung
sorbischer Heimat durch große Energiekonzerne, um die
Finanzierung des kulturellen
Lebens über die von Deutschen dominierte Stiftung für
das sorbische Volk, um ungenügende Möglichkeiten, die
eigenen Belange selbst zu bestimmen, um Verunreinigung
des Spreewaldes, um die Zerstörung sorbischer Schilder
und Wegkreuze.
Zu diesen und anderen Problemen hat Peter Kroh – Enkel und Biograph des wohl
größten politischen Denkers
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Feuilleton
der Sorben, Jan Skala (18891945) – im Nowy Casnik, der
letzten noch lebenden Zeitschrift in wendischer Sprache,
eine Serie exemplarischer Artikel publiziert, die nun gesammelt und in wendischer,
deutscher und obersorbischer
Fassung vorliegen.
Die klarsichtigen Analysen,
die ein Jahrhundert deutscher
Sorben-Politik Revue passieren lassen, um daraus konkrete politische und juristische
Forderungen für ein künftiges
Zusammenleben von Deutschen und Sorben herzuleiten,
sind von Bedeutung nicht nur
für die Belange des um sein
Überdauern bangenden slawischen Volks in der Lausitz.
Denn im Kampf um den Erhalt ihrer Sprache und Kultur
stehen die Sorben nicht allein;
vom Nordkap bis zu den Pyrenäen und zum Golf von Biskaya leben Minderheiten, die
gefährdet sind wie sie. Angesichts der Woge der Globalisierung kommt diesen kleinen
Völkern und ihren Geschikken exemplarische Bedeutung
zu.
70
bezweckte die angemessene Berücksichtigung der Interessen der
Umwelt und der vom Abbau von Bodenschätzen betroffenen Menschen; die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen brachte einen
Gesetzentwurf ein (Drucksache 17/9390), in dem eine einheitliche Förderabgabe von 10 % angestrebt wird. In einem gesonderten
Antrag (Drucksache 17/813399) forderte sie zudem die öffentliche
Interessenabwägung zwischen den potenziell positiven Wirkungen
des Bergbaus für die Gesellschaft und seinen negativen Folgen für
die betroffenen Menschen.
Das alles ist wichtig und richtig, aber nicht ausreichend für eine tatsächliche Änderung bestehender Zustände. Denn trotz aller
Übereinstimmung in Inhalt und Ziel gab und gibt es kein gemeinsames Handeln. Insofern sind es Anträge zum Fenster hinaus. Man
tut so, als ob. Aber nichts wird zugunsten des sorbischen Volkes
verändert. Eine solche Umgestaltung kann auch nicht den Ländern
Sachsen und Brandenburg überlassen werden. Eine gerechte und
dauerhafte Lösung im Interesse des sorbischen Volkes kann nur auf
der Ebene des Bundesrechts wirksam durchgesetzt werden.
Dazu ist zunächst – wie in dieser Zeitung schon an gleicher Stelle
ausgeführt – eine Ergänzung des Grundgesetzes erforderlich, in der
nationale Minderheiten, ihre Kultur, ihre Traditionen, ihre Sprache
anerkannt, geschützt und gefördert werden. Die derzeitige unzureichende Erfassung dieser Rechte lähmt auch das Selbstbewusstsein
der Sorben und den Stolz auf ihre Besonderheit, beschleunigt ihre
Assimilation und Germanisierung. In gleichem Maße schwindet
ihre Bereitschaft, sich der Nichtachtung ihrer Kultur und der Zerstörung ihrer Heimat zu widersetzen.
Mitunter hört man, wer die Bodenschätze der Lausitz in Zusammenhang mit dem sorbischen Volk und seiner Heimat bringe,
der wolle doch nur einen billigen Propaganda-Coup landen. Das
jedoch ist falsch. Die gesetzliche Grundlage ermöglicht durchaus andere Regelungen als die derzeit praktizierten. Das seit dem
1.1.1982 gültige Bundesberggesetz beruht auf dem fast 1.000 Jahre
alten Grundsatz der Bergfreiheit. Dieses Prinzip besagt, alle im Gesetz aufgeführten bergfreien Bodenschätze (Metalle, Erdöl, Erdgas,
Kohle, Salze etc.) sind dem Grundeigentum entzogen. Dem Grundeigentümer stehen nur die grundeigenen Bodenschätze (z. B. Sand,
Kies, Ton etc.) zu. Er hat Anspruch auf Entschädigung, wenn er z.
B. sein Land für den Bau von Bergwerksanlagen abtreten soll. Die
bergfreien Bodenschätze hingegen sind zunächst herrenlos, sozusagen Gemeingut des Volkes. Eigentum daran kann durch ein vom
Staat kontrolliertes Verfahren erworben werden, das auch den Kreis
derer bestimmt, die am Gewinn aus dem Abbau der Bodenschätze
in Form von Steuern und Abgaben beteiligt werden sollen.
Geologische Untersuchungen haben in der Gegend zwischen
Grodk (Spremberg), Syjk (Graustein) und Slepo (Schleife) in etwa 1.000 Metern Tiefe größere Mengen von Kupfererz mit einem
Anteil von etwa 20 % Gold, Silber, Zink, Blei, Platin und anderen,
noch kostbareren Elementen (den sogenannten seltenen Erden) festgestellt. Die Ergiebigkeit allein an Gold soll etwa 15 Tonnen und an
Kupfer etwa 1,5 Millionen Tonnen betragen. Ab 2017 soll gefördert
werden.
Wird es eine sorbische Persönlichkeit oder autorisierte Vertretung des sorbischen Volks geben, die – ähnlich wie der Präsident
des IPC, Raúl Grioni – sagt: „Es geht bei der Nutzung dieser Schätze auch (oder vor allem) um die Rechte unseres Volkes“? Werden
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Feuilleton
selbstbewusste Sorben, unterstützt von vernünftigen Deutschen aller
demokratischen politischen Parteien, ihr Recht auf die Schätze ihrer
Heimat einfordern, so wie man in Venezuela für den Kueka-Stein auf Zur Debatte um den
die Straße geht?
Kueka-Stein
Die Zukunft ist offen. Sie wird beeinflusst durch vernünftig begrünBei aller Sympathie für die
dete Zuversicht, daraus gewonnenen neuen Erfahrungen und der so
Rechte
nationaler Minderheigestärkten Hoffnung auf Gerechtigkeit.
ten, sollte man hier auch die
Gegenseite der Debatte darstellen. Der Kueka-Stein im
Berliner Tiergarten ist Teil
des Global Stone genannten
Kunstprojektes von Wolfgang
Kraker von Schwarzenfeld.
Er will im Berliner Tiergarten
Monolithen von allen Kontinenten versammeln und ihnen
jeweils einen Schwesterstein im
Herkunftsland gegenüberstellen. Der jetzt „Kueka“-Stein
genannte Monolith wurde mit
allen offiziellen Papieren und
nach Konsultation mit den
Indios, die in dem Nationalpark wohnen, exportiert. Das
haben mittlerweile auch die
venezolanischen Behörden anerkannt, die zunächst offensiv
die Rückgabe des Steins gefordert haben. Auch ist der Stein,
soviel muss man mittlerweile
auch annehmen, keinesfalls
für alle Angehörige der Pemón
ein Heiligtum. Youtube-Filme, die mit spanischen und
deutschen Untertiteln versehen wurden, erzählen eine Legende, die in keiner Beziehung
zu dem Stein selbst steht. Und
die Behauptung, der Stein sei
von einem derartigen Tabu
betroffen, dass er weder berührt noch angeschaut werden
dürfe, sind auch kaum zu belegen.
Schwarzenfeld, der sein
Kunstwerk in Berlin größtenteils aus eigenen Mitteln errichtet, hat mittlerweile einer
Rückführung des Steins zugestimmt, wenn die Regierung
von Venezuela die Transportkosten übernimmt.
Raimund Nitzsche
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Feuilleton
„So muß man erzählen!“
Ole Schwabe unterwegs zu Uwe Saeger
Über den Autor
Ole Schwabe studiert kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim. Journalistische Erfahrungen hat er
zuvor unter anderem beim
Studentenmagazin „Moritz“
in Greifswald gesammelt. Sein
hier abgedruckter Text bildet
die Grundlage für ein RadioFeature, das Ende November
beim Webradio litradio.net
erscheinen wird. Für diesen
Sender hatte er auch schon ein
Feature über den Erzähler Jürgen Landt produziert.
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Achtundzwanzig Jahre jung war Uwe Saeger, als er 1976
mit dem schmalen Erzählband „Grüner Fisch mit gelben
Augen“ im Rostocker Hinstorf Verlag debütierte. Sieben
Texte, in denen sich neben autobiographischen Bildern des
Ueckermuenders vor allem ein Motiv wiederfindet: Das
Wasser und was es mit den Menschen macht. Und so liegt
es nahe, sich dem bis heute außergewöhnlichen Schreiber
Saeger auf Peenestrom und Haff zu nähren.
„ Die Hitze war kaum erträglich, und der Du
welkenden Grases und fauligen Wassers trieb in
ihr.“
Als das letzte Lüftchen plötzlich weg ist, fühle ich den Sommer. Hinter Lassan fließt der Peenestrom in zwei zähen Kurven
und bereits zu Beginn verfluche ich meinen Aktionismus, die
Aufnahmen zu einem Radiofeature über Uwe Saeger mit einer
Paddeltour zu kombinieren. Die von mir im Vorfeld ausgelobten
frischen Küsse der Muse hinsichtlich Interviewfragen schmelzen
unter der Sonne in völliger Flaute zusammen. Ich denke tatsächlich an gar nichts. Die fünf Meter Kajak und ich schleppen uns
bis zur Zecheriner Brücke auf halber Strecke zwischen Wolgast
und Ueckermuende.
„Jetzt rechts die Peene hoch bis Anklam“, fabuliere ich und kippe hastig das Radler, „dort hat sich der Nöhr aus dem ‚Kakerlak‘Roman von Saeger mit seiner Karre von der Brücke gestürzt.“
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Feuilleton
Die Gedanken, wie ich diesen regionalen Bezug später textlich
verwurste unterliegt dem Sonnenstich und ich mümmel leidend
Graubrot mit veganem Olivenaufstrich.
Stunden später knarzt der Kiel des roten Kajaks endlich leise
durch den groben Sand der Campingplatzbadestelle, es dämmert
schon und ich danke den langen Wellen des Haffs und meiner
Angst. Beide traten mir in den Hintern und verhindern einen Abbruch.
Der Platzwart sitzt bei Pflaumenschnaps und Filterzigaretten
vor seinem Blockhüttchen, verkauft mir Duschmarken, Bier und
Übernachtungen. Ich dieser Reihenfolge kämpfe ich mich durch
den Abend bis mich der Schlafsack verschluckt.
„ Über dem Ufer war der Himmel blaß, nur über
das Haff hin spannte sich e lauer Glast. Selten
zuckte eine Handvoll Wind über das Wasser, es
san kräuselnd. Kaum Leben. Ein s ller Tag.“
Als erstes ist da Bella. Ich stehe vor dem hölzernen Gartentor
und suche die Klingel, doch Bella ist schon herran, noch bevor ihr
Herrchen die Hand zum Gruß erhoben hat. Ungestüme Pfoten
trapsen auf meiner Brust und kaum können wir uns den Weg zum
Haus bahnen, so eifrig flitzt die heimliche Hausherrin um unsere
Beinen. Die Anstalten sie zu verscheuchen, gehen völlig unter und
Uwe Saeger, breitschultrig, sonnengebräunt mit akkuratem grauen Schnurrbart, hebt entschuldigend die Hände, er könne nunmal
niemanden erziehen. Obwohl angekündigt, haftet meinem Besuch
doch etwas Unerwartetes an, „Das du noch kommst hät ich nicht
gedacht. Dachte du wärst abgesoffen mit deinem Boot.“
Die Freude ist echt, das Du von Anfang an natürlich und während ich in der Küche in Ruhe ankomme, Kaffee und ausgesperrter
Bella sei Dank, ruft er seine Frau an. Das ich doch gekommen sei.
Bellin ist ein überschaubares Ortsteilchen von Ueckermuende,
direkt am Haff gelegen und der Ort, an dem Saeger aufwuchs,
zu schreiben begann sobald er es konnte und bis heute lebt und
arbeitet. In seinem Elternhaus mit alter Scheune, Gemüsebeeten
und einem massiven Steg im dichten Schilfgürtel. Viele Winter
drückte der harte Frost dicke Eisschollen gegen die Bohlen und
Bretter und in jedem Frühling danach, erzählt Saeger gleichmütig,
schufte er hier aufs Neue, natürlich alleine.
Körperliche Arbeit war, noch vor der großen Flucht Schreiben,
prägend in der Kindheit. Der Großvater war Fischer, ebenso der
Vater. Und Uwe Saeger war ein Sohn, der genau wusste, was er
nicht werden wollte. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn, die
unterbewussten wie auch ganz offensichtlichen Spannungslinien
und Hassmomente ziehen sich in literarisierter Form duch weite
Teile von Saegers Werk. Beinahe zart treten sie in den Geschichten
um den Fischerjungen Nob, im eingangs erwähnten Grüner Fisch
mit gelben Augen zu Tage.
„ Er setzte sich neben Nob auf die Ruderbank ,
und sie aßen ihre Brote, die wie immer dick mit
fe em, schwach geräuchertem Speck belegt waren und die Nob nicht mochte, die er aber essen
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Feuilleton
mußte, weil der Vater nicht duldete, daß Nob etwas nicht aß, was er selber essen musst. [...]
Und Nob dachte wieder, wie müde er war und
wie lange schon und daß er etwas tun möchte
dagegen oder auch gegen den Vater, aber als er
in dessen Gesicht sah, das im Zug der Zigare e
erhellt wurde, fern und gespens sch, lehnte er
sich gegen ihn und schloß die Augen.“
Alle vier Geschichten erzählen von den kleinen, harten Kämpfen eines entbehrungsreichen Alltags. Vom sich beweisen wollen
des Jungen, der zum Rumpf des abgeschossenen Flugzeugs taucht,
an dem sich das Netz verhakt hat, vom Eingeschlossensein im Eis
und den Momenten der Zartheit, wenn der Vater vom Krieg und
den weinenden Mädchen im Bordell erzählt, von dem Moment in
dem er begriff, das sie es „nur fürs Brot“ tat.
In Borkos Lied ist Nob der einzige, der um den halb verwest in
einer Strohmiete gefundenen Landstreicher Borko weint und Iris,
die kleine Schwester, versteht nicht warum den Bruder die Strophen des Liedes nicht trösten.
„Mein Grab bleibt leer ich weiß
niemals kann ich sterben niemals weiter gehn
kein Stein trägt meinen Namen
kein Wurm frisst mein Gebein
ich werde immer Sehnsucht säen und sehnend sein.“
Und auch, wenn die Handelnden in allen Erzählungen Einsame sind, so sind sie nicht ‚physisch‘ allein. Dies wird deutlich,
besieht man sich die Darstellung der Natur, insbesondere die des
Wassers in der frühen Prosa.
Der Literaturwissenschaftler Dr. Wolfgang Gabler schrieb in
seinem 1990 erschienenen Essay Erzählen auf Leben und Tod, welche Saegers Prosawerk der 80er Jahre zum Gegenstand hat,
„daß das Wasser nicht einfach Kulisse für die Akonen der literarischen Figuren bleibt. Es wird
geradezu selbst zur literarischen Figur, denn es
erscheint als ein mit eigenem Willen ausgestattetes Subjekt [...] - ein Ort der Gefahr.“
Auch heute noch fährt Saeger raus aufs Haff, rudert Kilometer um Kilometer, braucht, so sagt er, die Schinderei. Wenn er
schreibt, dann meistens nachts, mit Kaffetasse und Kugelschreiber auf kleinkariertem Papier. Der Schreibtisch ist nur eine kleine
Fläche innerhalb des vollen Bücherregals, daneben ein einfaches
Bett. Schreiben, sagt Uwe Saeger, völlig unpathetisch, war das
Mittel die Kindheit zu überleben, später ermöglichte es die Flucht
aus dem verhaßten Dasein als Lehrer für Geographie und Körpererziehung in die Freiberuflichkeit. Es ernährte die Familie und
brachte 1987 den Bachmann-Preis für den Text Aus einem Herbst
jagdbaren Wildes, sechs Jahre später dann den Adolf-GrimmePreis für das Drehbuch Landschaft mit Dornen und im Jahre 1996
schließlich den Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpom-
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© wasser-prawda
Feuilleton
mern. Vor allem aber brachte es dem Autor Linderung, schuf ein
Dasein als Schreiber.
Ein Schreiber, der mit Intensität erzählt und der, wie er nach
dem Gewinn des Bachmann-Preises 1987 ins ORF-Mikrofon
sprach, oftmal anders leben möchte, ohne ‚die Schreibe‘, die keinen Feierabend kennt, im Mittelpunkt des Lebens steht und eigentlich keine erklärenden Wort mehr benötigt, wie folgendes
Zitat aus dem Jahre 1991 unterstreicht:
„Was zu Papier kommt spricht entweder für sich
oder nicht. Der Autor ist dahinter immer nur der
klägliche Rest, den man besser nicht anrührt.“
Fragt man Wegbegleiter_innen nach persönlichen Lieblingstexten im umfangreichen Werk aus Hörspielen, Drehbüchern,
Theaterstücken und Prosa, so fällt häufiger der Name Plonck, eine
Novelle aus dem Debütband. Eine Geschichte über einen jungen
Mann, der aus Liebe zu Marisa, seinen Onkel und zugleich Mörder ihres Vaters, erschlägt. Und es ist die Geschichte von Berger,
der mit Plonk zur Schule ging, der in bewunderte/liebte und sich
neun Jahre später, beim Familienurlaub am Haff, an ihn erinnert.
„Doch, man muß alles erzählen, alles ohne Vorbehalt erzählen und erzählen, bis man nackt ist,
und die Haut muß man sich vom Leib erzählen,
so muß man erzählen, so mußt du erzählen, erzähl mir so, du, erzähle doch...“
Diese Forderung von Berger kann bis heute als Grundcharakteristik von Saegers literarischen Arbeiten dienen. Wolfgang Gabler
kommt in seinem bereits erwähnten Essay zu dem Schluss, Saegers frühe Prosa sei geprägt von einem ‚radikalen Erzählen‘,
© wasser-prawda
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Feuilleton
„ das auf den Leser nur wenig Rücksicht nehmen
kann. Das Vermögen, sich die Haut vom Leibe zu
erzählen, hat nur der, der ohne zu erzählen nicht
leben kann.[...] Deshalb ist seine Prosa eine Erzählung von Leben und Tod und ein Erzählen auf
Leben und Tod.“
Im persönlichen Gespräch fügt Wolfgang Gabler dann noch
hinzu, dass sich Saegers Drang zu einem ‚radikalen Erzählen‘ in
den letzten Jahren noch verstärkt habe, hin zu einer sehr dichten
Kunstsprache, die sich bewusst absetzen möchte von den Mühen
alltäglicher Ebenen. Kein Realismus, keine leichte Kost, nichts
für einen Feierabend.
Im Frühjahr 2014 erscheint der neue Roman Faust Junior und
seine Essenz ist stark und einfach: So muß er erzählen, der Uwe
Saeger.
Der Abend im Innenhof des Klabautermanns, vielleicht einer
der letzten tatsächlichen Dorfkneipen, war angenehm gewesen.
Hausgemachten Brathering mit Bratkartoffeln, dazu Pils und später hatten wir geraucht und weiter getrunken.
Es war noch nicht ganz dunkel als wir uns trennten. In der
Diskussion, wer die Zeche bezahlen darf, kam ich mit meiner
„journalistischen Unabhängigkeit“ nicht weit, ein bestimmtes
„Schluss jetzt!“ ließ mich verstummen. Ob ich der Enkel oder der
Sohn sei, hatte Erika gefragt, als sie die erste Runde Bier auf den
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© wasser-prawda
Feuilleton
Plastiktisch stellte. Saeger verneinte, doch wer ich war und was
ich tat, mochte er ihr nicht sagen, vielleicht später einmal, in einer
ruhigeren Minute.
Auf dem Campingplatz lädt mich die Familie aus Chemnitz
zu Grillwurst und Schnaps ein. Schließlich liege ich wieder im
Schlafsack, die Nacht ist hell und laut, Grillen zirpen und ein leiser
Wind bläht die Zeltwand. Gegen halb vier fliehe ich vor telefonierenden Menschen im Nachbarszelt aufs Wasser. Hinten über
Usedom wird irgendwann die Sonne aufgehen, das haff ist eine
rosa-violette Scheibe und wie schon die ganze Nacht singen die
Vögel. Der letzte Rest Graubrot mit Olivenaufstrich verschwindet
in meinem Mund, und ich beginne zu paddeln, vorbei an Reusen
und Graureihern, die in Ufernähe auf Steinen stehen. Hinter der
Peendemündung bei Zecherin frischt der Wind auf und inmitten
des Stroms schiebt Rückendwind das Kajak durch kleine Wellen,
wenn sie das Heck angeheben musst du paddeln was du kannst,
dann tragen sie dich und du hörst nur noch den Schiebwind und
im fernen Schilfgürtel Borkos Lied.
Einige Kilometer weiter bei Lassan werde ich übermütig, kreuze
den inzwischen schaumgekrönten Strom hinüber zur Landspitze
Möwenort, wo das Achterwasser beginnt. Bei jeder Paddelstütze
zwischen den kurzen, kabbeligen Wellen über Back- und Steuerbord verfluche ich meinen Leichtsinn, denke an Nob und die gemütlich rollenden Wellen des Haffs.
Die letzten zwei Kilometer vor Wolgast plätschere ich dahin, mit
schmerzendem Rumpf und müden Armen, mit Kopfschmerzen
und den paar Minuten Schlaf der letzten Nacht. In der Bahn dann
die Melancholie und die Gewissheit, die Aufnahmen erstmal liegen zu lassen, erstmal muss sich alles setzen.
„Eine Erzählung“, heißt es in „Der andere Hafen“,
„weißt du, das ist so ein Ding, richƟg besehen,
kann das kaum einer so erzählen, wie es eigentlich gewesen ist, aber, ach schweig, ich fang einfach an!“
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Bücher
Dirk Uwe Hansen zwischen unge/
sehnen Orten
Edition silbende Kunst
Verlag Jenny Feuerstein 2013
44 Seiten
ISBN: 978-3944981000
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Dirk Uwe Hansen: Zwischen
unge / sehnen Orten
Das kleine Heftchen erregt gerade durch dieses sehr handliche
Format Interesse. Erschienen bei silbende_kunst, ist es nach Sirenen der zweite lyrische Band eigener Verse, den Hansen veröffentlicht. Siebenundzwanzig Gedichte, die in Zwei Teilen präsentiert
werden, enthält das Buch. Der erste Teil, mit dem Buchtitel überschrieben, besteht aus freien Versen und Strophen. Die folgenden
Strophen sind dagegen gleichmäßig in ihren Versmaßen.
Mit zwei schönen Vergleichen, die vielleicht lieber Bilder sein
wollen, beginnt Hansen. Die folgenden Gedichte enthalten viele stimmige Spiele mit mehrdeutigen Perspektiven, die den Leser schließlich zwischen die Objekte führt. Manchmal fühlt man
sich hier zwischen den Versen verlassen, dann wieder an die (unge-) oder (er-) sehnen Orte, geführt, wie auf Spaziergängen durch
unbekannte Wälder, den Weg sich leiten, und doch die Richtung
nie aus den Augen lassend.
Hansen lotet mit seinen Gedichten tatsächlich Räume aus. Der
Autor bewegt sich aus dem Zwischen von vielen Klammern, deren
erläuternde, hinzusetzende Funktion hier in (beinahe) elliptischer
Art gebraucht wird, über mythische Figuren und Naturbetrachtungen, zu lokal kolorierten Titeln norddeutscher Orte. Die beinahe pflichtgemäßen Enjambements über einzelne Wörter, schon
im Titel zu sehen, (sic!) lassen nur ein Vorwärts als (gedankliche) Bewegung zu. Manchmal zwischen zwei schlafen, dem der
Buchtitel entlehnt ist, führt dies wohl am besten thematisch wie
bildlich aus.
Das lesende Auge wird jedoch bald (zu) häufig abgeschüttelt
vom Auf und Ab der ungewöhnlichen Satzstrukturen, die „...lassen bei jedem / ersten Sehen die Augen / sich weiten...“ (Astern).
© wasser-prawda
Bücher
Beim zweiten Sehen passiert dies dann mit einem verständnisvolleren Ausdruck. Ich habe jemanden sagen hören, was Wissenschaftler sich nicht wirklich zu sagen trauten, aber unbedingt wollen,
würden sie in die Fußnoten schreiben. Bei Hansen scheinen Klammern die Fußnoten ersetzt zu haben. Mich hat er damit überzeugt.
(vielleicht zu bemerken)
Max Wienold
Möwe
Ist allein das blaue Un
endliche über ihr auf
das hinunter ich blicke zu
mir hinauf und sie
(einzige Form einer) Möwe
geflügelter Punkt und ist sonst Rundes nicht: flach
auf der ich stehe die Erde die letzte
Gerade vor dem Sturz (ins Meer) stürzt
stürzt sie nach aufwärts (und ab)
allein der Scha en am Boden
hat ein Woher und Wohin und ist schnell
Manchmal zwischen zwei schlafen
schlafen Gänse im Flug
schlafen im Flug zwischen schwarzer
Erde grau vor dem weißen Stern
weisen zwei zwei Linien auf einen (so
weist das Echo auf unge
hörten Schrei) einen Punkt (zurück)
ist ein Raum zwischen unge
sehnen Orten gibt es mich doch.
© wasser-prawda
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Bücher
Ben Lewis - Das komische Manifest
Kommunismus und Satire von
1917 bis 1989
Aus dem Englischen von Anne
Emmert.
Karl Blessing Verlag 2010.
464 Seiten
ISBN: 978-3896673930
Es gibt verschiedene Meinungen über Witze in
Auf der Suche nach dem
verlorenen Witz
den kommunistischen Staaten. Der britische Dokumentarfilmer und Journalist Ben Lewis spürt in
seiner Reportage „Das komische Manifest“ der
Geschichte der kommunistischen Witze ebenso
nach wie er versucht, eine Antwort auf die Frage zu
finden, welche Bedeutung dieselben auf den Sturz
der kommunistischen Systeme hatten. Seine teils
persönliche teils wissenschaftliche Darstellung ist
gleichzeitig eine Sammlung bekannter und unbekannter Witze aus diversen osteuropäischen Staaten. Von Raimund Nitzsche.
I
ch liebe gute Witze. Und wie die meisten in der DDR Geborenen vermisse ich besonders die politischen Witze. Scheinbar
von einem Tag auf den anderen sind sie in der Wende verschwunden. Heute gibt es noch ab und zu treffsicheres politisches Kabaret. Doch eine Angela Merkel lässt letztlich jeden Witz
an sich abgleiten wie auch jegliche Kritik an ihrem „Regierungshandeln“. Die Tatsache des Verschwindens des politischen Witzes steht
auch am Anfang und Ende des „Komischen Manifests“ von Ben Lewis. Er stellt aber nicht nur die Frage, warum die Witze verschwanden sondern fragt vor allem auch, welche Funktion diese während
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© wasser-prawda
Bücher
der kommunistischen Zeit hatten. Die Suche nach Argumenten
für die in der Forschung vertretenen maximalistischen These (die
Witze hatten einen entscheidenden Anteil am Sturz der Systeme in
Osteuropa) und der minimalistischen These (Witze waren nur ein
Ventil, dass der Bevölkerung half, Dampf abzulassen, hinderte sie
aber gleichzeitig an echter politischer Aktivität zur Veränderung der
Verhältnisse) führt ihn quer durch Europa. Er triff t sich mit Witzsammlern und -forschern ebenso wie mit den Leuten, die früher für
die Verfolgung von Witzeerzählern verantwortlich waren. Er spricht
mit „offiziellen“ Satirikern etwa vom „Eulenspiegel“. Altkommunisten erzählen ihm noch immer ihre von keinerlei Selbsterkenntnis
getrübten Lebenserinnerungen. Und letztlich droht das Unternehmen fast zu scheitern: All die von der Witzforschung seit den 50er
Jahren vertretenen Thesen scheinen ihm nicht einleuchtend. Und
außerdem muss Lewis irgendwann feststellen, dass die Zahl der
wirklichen „Kommunistenwitze“ wesentlich geringer ist, als vermutet: Ein großer Teil der Witze geht in ihrem Ursprung schon auf
Vorbilder aus dem 18. und 19. Jahrhundert zurück.
Gerettet wird die Untersuchung schließlich durch die Untersuchung eines Statistikers aus Rumänien. Der konnte in seiner regional sehr begrenzten Untersuchung nachweisen, wie sich die Inhalte
und die Zahl der erzählten Witze im Laufe der politischen Entwicklung veränderten. Und diese wurden immer direkter, je näher die
Revolution in Rumänien ankam.
Die Geschichte der kommunistischen Systeme aus der Sicht der
erzählten Witze zu erzählen, ist eine äußerst unterhaltsame Angelegenheit. Lewis lässt es sich nicht nehmen, immer die passenden
Witze aus den jeweiligen Epochen einzufügen. Das geht so weit,
dass er in einer grandiosen Montage aus Alltagswitzen Episoden einer imaginären sowjetischen Version der Comic-Serie der Simpsons
vor dem Auge der Leser entstehen lässt. Hier ist jegliche Analyse
zweitrangig für Denjenigen, der seine eigenen Erinnerungen an Versorgungsmängel, Spitzeltum und Bürokratismus hat.
Einen Witz vermisste ich. Auch weiß ich nicht, in welcher Zeit er
ursprünglich entstanden ist. Ich hörte ihn irgendwann in den 80er
Jahren:
Ein Polizist sieht, wie ein Pfarrer sein Notizbuch verliert. Neugierig schlägt er es auf. Auf der ersten Seite
steht: Gott erhalte Erich Honecker. Erstaunt blättert er
um. „Gott erhalte Erich Mielke“, steht auf dem nächsten Blatt. „Gott erhalte Willi Stoph“, steht auf Seite
drei. Der Polizist kommt aus dem Staunen nicht mehr
heraus. So etwas hätte er bei einem Pfarrer nicht erwartet. Erneut blättert er um. Auf der vierten Seite steht:
„Gott erhalte Leonid Breschnjew.“ In Klammern steht
dahinter: Schon erhalten.“
Nein, das „Komische Manifest“ ist keine komplette Witzsammlung. es ersetzt sicherlich nicht eine historische Untersuchung des
politischen Widerstands in den Ländern des Ostblocks seit der Oktoberrevolution. Aber es ergänzt die schon verhandenen Arbeiten in
einer Weise, die die oft überhöhten Perspektiven der Kommunisten
und der Menschen, die sich gegen das System zur Wehr setzten.
Und das macht es bei aller wissenschaftlichen Korrektheit unterhaltsamer als die meisten Geschichtsbücher.
© wasser-prawda
81
Bücher
Paul BeaƩy: Slumberland
Aus dem Amerikanischen von
Robin Detje
Blumenbar, 2009
ISBN: 978-3936738605
Fischer Taschenbuch 2011
320 Seiten
ISBN: 978-3596186136
€ 9,99
Der Schwa und der perfekte
Beat
Auch nach dem Ende der Kassettenrekorder ist
das Mixtape (unabhängig vom Medium) noch immer eine der persönlichsten Liebeserklärungen,
die man jemandem machen kann. Übertreffen
kann man das nur mit einem perfekten DJ-Set.
Und genau das ist „Slumberland“, der 2009 erschienene Roman von Paul Beatty.
H
its, Hits und noch mehr Hits!, hallt mir der Ratschlag
eines Freundes noch immer in den Ohren. Bei ihm
lernte ich erstmals, was seiner Meinung nach ein DJ
tun soll. Er verdient damit nicht schlecht. Aber er legt
halt bei großen Parties auf, Abschleppveranstaltungen, Dorffesten oder ähnlichen Gelegenheiten. Dafür bin ich nicht geeignet.
Mein Gehör streubt sich dagegen, die Schlagerplatten aufzulegen
oder die totgespielten Pophits der 80er Jahre. Wenn ich auflege,
dann will ich die Kontrolle haben, erfülle ich nur die Wünsche,
die ich vor meinem Geschmack vertreten kann. Ansonsten erzähle ich meine Geschichte.
Die Geschichte, die Paul Beatty erzählt, hat einen ähnlichen
Protagonisten. DJ Darky, der der die perfekte Erinnerung an
Klänge hat, denkt sich seinen Soundtrack, produziert sich die eigenen Songs aus Verkehrslärm, Bluesgitarren und anderswo auf-
82
© wasser-prawda
Bücher
geschnappten Geräuschen. Und er ist auf der Suche nach dem
perfekten Beat, die über sämtliche kulturellen, politischen oder
nationalen Grenzen hinweg die Verhältnisse und die Menschen
zum Tanzen bringt. Als DJ sieht er sich gehandicapt nicht nur,
weil er als Linskhander vor den Plattentellern sich gehemmt fühlt.
Auch ist er der Meinung, dass man die Menschen eher durch die
musikalischen Tripps erreicht, die man ihnen serviert als durch
das Bedienen von den ewiggleichen Erwartungen.
Das Verknüpfen scheinbar unvereinbarer Motive und Klänge,
das Springen zwischen Stimmungen, Situationen und Klischees,
das macht auch diesen Roman aus. Debatten über schwarzes
Selbstverständnis, über alltäglichen Rassismus oder Xenophilie
gehören hier ebenso dazu wie Alltagsbeobachtungen in Berlin vor
und kurz nach der Wende, die Schilderungen der verschiedensten
Musiken ebenso wie absurde Situationen. Wenn etwa DJ Darky
plötzlich feststellt, dass er für eine Party von Ostberliner Neonazis gebucht wurde und sie mit Freejazz-Versionen des HorstWessel-Liedes zum ergriffenen Zuhören bringt. Oder sein Job
als Jukebox-Sommelier, der für Kneipen die perfekte Füllung der
Jukeboxen mit erwählter Musik vorschlägt, die nichr nur die Erwartungen der Besucher erfüllt sondern sie vor allem dazu bringt,
sich neuen und ungewohnten Songs zu öffen. Oder das immer
wieder zum Einsatz gebrachte von der Stasi verbreitete Pornotape
eines Hühnerfickers, das als erstes Lebenszeichen des von Darky
kultisch verehrten und seit Jahrzehnten verschollenenen Jazzmusikers Charles Stone, genannt „Der Schwa“, den Weg nach Berlin
weist.
Im Laufe des episodenhaft springenden Romans ist es vor allem diese Figur, die sich wie ein roter Faden, weniger wie ein
wagnersches Leitmotiv sondern eher wie ein von Charles Mingus gespieltes Riff hindurchzieht. Er ist der Typ, der von allen als
Obdachloser angesehen, überall versucht, die Mauer wieder zu
errichten,. Er ist die fehlende Zutat, die den Beat von DJ Darky
zum universellen Manifest machen könnte. Er ist aber auch die
Verbindung zwischen der durch die Wende zerstörten verlogenen
Ost-Idylle und der aufbrechenden neuen Frontlinien von Rassismus, Intoleranz und schrankenloser Genusssucht. Höhepunkt
der Geschichte ist der Wiederaufbau der Berliner Mauer durch
den Schwa als Klangkunstwerk, das von Ost wie von West sich
verschieden anhört. Und es ist die Zugabe zu diesem Happening,
die Zusammenführung des fast perfekten Beats mit dem Freejazz
des Schwa, der zu einem orgiastischen Wegfall aller Klischees,
Schranken und Schamgrenzen führt.
Selten ist mir ein Roman begegnet, der so perfekt den Rhythmus der Musik aufnimmt und einen mitreißen kann durch komische, absurde oder melancholische Momente, ein Roman, der
nicht durch die Stringenz seiner fortlaufend erzählten Geschichte
sondern im Gegenteil durch das Verweben der verschiedensten
Episoden, inneren oder äußeren Diskussionen oder Alltagsbeobachtungen mitreißt.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Ich meine, wissen
sie denn nicht,
dass es nach eintausendvierhundert Jahren aus ist
mit der Scharade
des Schwarzseins?
Dass wir Schwarzen, die einstmals
ewigen Hippen,
die Typen, die so
hier und jetzt waren wie die Zeitansage, ab heute genauso von gestern
sind wie der Faustkeil, das Veloziped
und der Strohhalm
aus Papier? Der
Neger ist jetzt offiziell Mensch. Alle
sagen das, sogar
die Briten.
Paul Beatty.
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Bücher
George MarƟn (mit
Jeremy Hornsby): Es begann in der Abbey Road
Der geniale Produzent der
Beatles erzählt
Aus dem Englischen von Alan
Tepper
Hannibal Verlag 2013
ISBN: 978-3854454106
336 Seiten, 24,99 Euro
All You Need Is Ears
oder: Leben und Leiden eines Produzenten
Schon 1979 hatte George Martin erstmals seine
Autobiographie veröffentlicht. Ohne wesentliche
Aktualisierungen wurde sie in den USA zuletzt
1994 neu gedruckt. Jetzt hat der Hannibal Verlag
die Erinnerungen des Produzenten in deutscher
Sprache herausgebracht.
George Martin, der eigentlich erst den Beruf des Popmusikproduzenten in der heutigen Sicht definiert hat, wird natürlich immer
zuerst mit den Beatles in Erinnerung gebracht. Aber seine Autobiographie - eigentlich mehr eine Sammlung von Erinnerungen,
Anekdoten und Bermerkungen zum Produzieren und zur technischen Entwicklung - konzentriert sich zum Glück nicht nur auf
diese zehn Jahre. Er zeichnet ein skizzenhaftes Bild von Großbritannien vom Ende des zweiten Weltkrieg bis hin zum Beginn des
digitalen Zeitalters in der Musik.
Als typisch britischer Gentleman sind seine Erinnerungen voll
menschlichem Humor, einer Menge Sachkenntnis - und viel Liebe zum Beruf. Ob er die Arbeit mit schottischen Tanzmusikern
und deren Liebe zum Whiskey schildert oder die Probleme bei
der Produktion von Comedy-Alben mit Peter Sellers oder Peter
Ustinov.
84
© wasser-prawda
Bücher
Aber natürlich sind es vor allem die Erinnerungen, wie er gemeinsam mit den Beatles den Weg der Popmusik für immer verändert hat, die das Buch besonders reizvoll machen. Auch wenn er
sich immer gegen den Titel des fünften Beatle gewehrt hat - ohne
seine Hinweise am Anfang der Bandkarriere - und ohne seine
technischen Fertigkeiten bei den späteren Alben - ist das Phänomen dieser Band nicht zu verstehen. Und wie unterschiedlich
er mit ihnen und anderen Bands nicht nur aus dem Umfeld von
Brian Epstein (Garry & The Peacemakers, Cilla Black) herangehen musste, um erfolgreiche Platten zu produzieren, macht diese
Kapitel noch spannender. Denn Zu oft vergisst man aus der heutigen Sicht die zahllosen anderen Bands, die nach dem Erfolg der
Beatles plötzlich bei allen Labels Verträge erhielten und meist nur
für kurze Zeit in den Hitparaden auftauchten.
Wenn Martin über die Entwicklung der Aufnahmetechnik oder
der Produktionsmethoden erzählt, dann wird das ansonsten
leicht und unterhaltsam zu lesende Buch ein wenig trockener.
Doch wird aus ihnen erst so richtig deutlich, welche Bedeutung
auf Grund seiner Arbeit der Beruf des Plattenproduzenten heute
gewonnen hat. Als er die Leitung des kleinen Labels Parlaphone übernommen hatte, da war der Beruf der Produzenten kaum
wirklich definiert - und er war absolut mies bezahlt. Heute bestimmen Produzenten nicht nur mit, wie eine Band auf Platte
rüberkommt. Sie verdienen ebenso aum Verkauf der Werke mit.
Dass die EMI nicht bereit war, ihm seiner Arbeit gemäß zu bezahlen, führte bei Martin zum Entschluss, sich als Produzent
selbstständig zu machen.
Was man leider anmerken muss: Nicht nur dass auf Grund der
späten Veröffentlichung auf Deutsch einige wichtige Daten aus
dem Leben von Martin fehlen - richtig ärgerlich ist auch, dass das
Kapitel zur Digitalisierung der Musikproduktion einfach komplett veraltet ist. Hier wäre eine Kürzung sinnvoll gewesen, wenn
man schon vom Autor keine Aktualisierung bekommen kann. Allerdings hat er sich auch in den später geführten Interviews zu der
Dokumentation „Produced By George Martin“ nicht zu diesem
Thema geäußert. Bei anderen Themen allerdings sei dieser Film
zur Ergänzung empfohlen.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Produced By George
Martin
Die BBC strahlte 2012 eine
Dokumentation über das Leben und die Arbeit von George Martin aus. Neben seinem
Sohn Giles, Paul McCartney
und Ringo Starr unterhält
sich Martin unter anderem
auch mit Michael Palin (über
die großartigen ComedyProduktionen, die er vor den
Beatles unter anderem mit Peter Sellers und anderen Schauspielern der legendären GoonShow gemacht hat).
Zum Bonusmaterial des inzwischen auf DVD und BluRay erhältlichen Streifens
gehören auch Interviews mit
Produzenten wie Rick Rubin
und T Bone Burnett über die
Veränderungen, die Martin in
der Musik und dem Job des
Produzenten angestoßen hat.
Und da Martin nie die Zeit
gefunden hat, seine Autobiographie zu überarbeiten ist
„Produces By George Martin“
auch eine wichtige Ergänzung
zu „Es begann in der Abbey
Road“ für die Zeit nach deren
Veröffentlichung.
85
Sprachraum
Arthur Kahane: Happy end
Auszug aus „Theater. Aus dem Tagebuch des
Theatermannes“, Berlin 1930.
D
as happy end, der unter allen Umständen glückliche
Ausgang, gilt als die unkünstlerische Konzession des
Künstlers an den Philistergeschmack, an das philiströse
Behagen, das sich nicht durch unbequeme Zuspitzungen stören
lassen will, an die philiströse Angst vor der konsequenten Tragik. Der Philister zahlt nicht teures Geld für Theater und Kino,
um beunruhigende Probleme zu Ende zu denken, er verlangt vom
geistigen Genuß eine gesunde Förderung seiner Verdauung, mit
diesem Anspruch sitzt er da, in der getrosten Zuversicht, daß in
seiner zu seinem Glück kapitalistischen Welt, in dieser vorläufig besten aller denkbaren Welten, es nicht anders als gut enden
kann, genau so zufriedenstellend, wie es in seinem Leben zugeht
und auch weiterhin zugehen soll, und daß Probleme, Gegensätze,
Verwirrungen, Verwicklungen, kurz, die komischen Sorgen der
weniger gutgestellten geistigen Arbeiter unmöglich so ernst sein
können, um sich nicht schließlich in einer alle Teile befriedigenden Weise gütlich beilegen zu lassen. Und der Künstler, um seine
breite Wirkung und den materiellen Erfolg besorgt, bringt, in unverzeihlichem Kunstverrat, ihm das Opfer seiner Überzeugung,
indem er die düsteren Wahrheiten des grausamen Lebens zum
tröstlichen Abschluß noch schnell mit rosenfarbener Seligkeit verschminkt und alles in Frieden, Glück und Butter enden läßt.
Gewiß, so tut der unkünstlerische Künstler und so denkt der
unkünstlerische Philister. Aber in diesem Gedanken, der heute
die Empörung und den Spott aller Intellektuellen, aller Eiferer für
den unerbittlichen Ernst der Probleme in der Kunst weckt, bege-
86
© wasser-prawda
Sprachraum
gnet er sich, ohne es zu ahnen, mit dem tiefsten Sinn und Wesen
der Kunst. Das happy end befriedigt nämlich nicht bloß die Bequemlichkeit der Philister, sondern eine metaphysische Sehnsucht
der künstlerischsten unter den Künstlern, in einem gewissen Sinne sogar der tragischen Künstler.
Um es zu beweisen, müßte ich bei Adam anfangen. Mit dem
Augenblick, da das erste Menschenpaar sein Paradies verlor, setzte
die Problematik des Menschen ein. Mit der Loslösung von seinem Schöpfer (wie ein Kunstwerk sich vom Künstler löst, um
sein eigenes Leben zu leben), mit der Bewußtwerdung des eigenen Lebens im Gegensatz zu ihm, mit dem ersten Trieb zur Erkenntnis, die Auflehnung bedeutet, mit dem Bewußtwerden des
Geschlechtsunterschieds, mit dem Erwachen der Scham aus dem
Stande der Unschuld, mit der Unterscheidung von gut und böse:
und schon entsteht die Verschiedenheit der Charaktere, Differenzierung, und schon tritt, mit all seiner Tragik und in allen seinen
Formen, das Übel in die Welt; Neid, Haß, Kampf und Tod. Aber
wer einmal im Paradies gelebt hat, kann es nie mehr ganz verlieren. Und so ist im Menschen dunkel auf dem Grunde seines Bewußtseins das Paradies geblieben: die dunkle Erinnerung an das
Paradies, als Heimweh nach dem Paradies, als Sehnsucht nach
dem Paradies. Die Sehnsucht, wieder eins zu werden mit seinem
Schöpfer, eins zu werden mit der Welt, mit Erde und Himmel,
Baum und Tier, die Sehnsucht nach dem paradiesischen Frieden
und paradiesischer Versöhnung mit der Welt, nach Unschuld und
Harmonie. Der Ausdruck dieser Sehnsucht, der dem Menschen
gegeben ist, heißt Kunst. Kunst ist Heimweh des Menschen nach
dem Paradies. Auch die tragische Kunst. Tragik ist nicht Kampf,
sondern Überwindung des Kampfes durch den Tod, Tragik ist
nicht Tod, sondern Verklärung des Todes, Versöhnung mit dem
Tode durch Vollendung im Tode. Der Tod ist ein tragisches happy end. Denn der letzte Sinn auch der Tragik ist Harmonie mit
dem Weltganzen, wie Harmonie der letzte Sinn aller Kunst ist.
(Ich komme zu dieser Anschauung nicht vom Glauben an das
Paradies her, sondern von meiner Anschauung der Kunst aus: weil
ich alles in der Welt für ein Gleichnis, also für Kunst halte, weil
ich die Welt für ein Gleichnis, also für ein [gelungenes] Kunstwerk halte, weil ich den Schöpfer für ein Gleichnis des schöpferischen Künstlers halte.)
Ich sehe den Einwand kommen: wenn der Tod ein happy end
ist, dann ist jedes Ende ein happy end; dann gibt es kein anderes
als das happy end; dann ist auch der Tod in den Schau- und Trauerspielen des bürgerlichen Lebens, der Mord und der Selbstmord,
ein happy end; und erst recht der todlose Ausgang, die Verzweiflung, der Verzicht, die Resignation, das Auseinandergehen, der
Abschied, die Perspektive auf ein unglückliches Beieinanderbleiben, der in Permanenz erklärte Irrtum, die Unlösbarkeit des Problems, das Fragezeichen.
Hier liegt der Irrtum. Nur der tragische Tod ist ein happy end.
Der bürgerliche nicht. Der tragische Tod und der bürgerliche Tod
sind nicht dasselbe. Sie sind zweierlei, bedeuten Verschiedenes.
Der tragische Tod ist ein Gleichnis, der bürgerliche eine Realität.
Der tragische Tod ist erfülltes Schicksal, der bürgerliche ein trauriger Akzidenzfall. Der tragische Tod ist das erreichte Ende des
Heldenweges zu sich selbst, des Schicksalsweges über Kampf und
Irrtum, ist das Ende von Kampf und Irrtum, ist Selbsterfüllung
© wasser-prawda
87
Sprachraum
im Höchstpunkte des Lebens, in dem Augenblicke, um dessentwillen der Held gelebt hat, über den es kein Hinaus mehr gibt, kein
Höher, keine Steigerung, keine andere Möglichkeit als das Ende.
Er ist Überwindung der Welt durch die Versöhnung des Ichs mit
der Welt, durch Harmonie. Der bürgerliche Tod ist ein dem Leben nicht Gewachsensein, ist Unzulänglichkeit, ist Zerstörung, ist
Zerfall mit der Welt. Der tragische Tod ist ein Sieg, der bürgerliche
eine Niederlage. Der tragische Tod ist heroisch, der bürgerliche bürgerlich. Der tragische Tod ist Lebensbejahung, der bürgerliche Lebensverneinung. Der tragische Tod ist ein seelisch-metaphysisches
Phänomen, der bürgerliche eine körperlich-pathologische Angelegenheit. Der tragische Tod ist künstlerische Form, der bürgerliche
eine Anekdote.
Dasselbe gilt erst recht von den andern Formen des unglücklichen
Ausgangs. Im Grunde sind sie alle unkünstlerisch. Für den Künstler endet nichts auf der Welt unglücklich. Für den Künstler gibt es
die Antithese Glück und Unglück nicht. Sie ist ihm unwesentlich,
verschiedene Farbennuancen einer und derselben Substanz, deren
Gesetz und Notwendigkeit ihm allein wesentlich ist. Wie kann einer, dem alles Notwendigkeit, Notwendigkeit alles ist, sich um die
Begleiterscheinungen des Behagens oder Mißbehagens kümmern!
Sein Behagen ist die Übereinstimmung der Notwendigkeiten miteinander, das Einswerden und Stimmen alles Gewordenen in sich
und mit der Welt. Er hält es nicht aus in der Welt der unlösbaren
Probleme. Kunst ist Lösung des scheinbar Unlösbaren, ist Erlösung
vom Problem. In diesem Sinne ist alle Kunst Erlösungskunst. Ein
Kunstwerk, das mit dem Fragezeichen endet, ist kein Kunstwerk.
Nämlich: Fragen ist Wissenschaft: die Kunst ist Antwort. Nie
wird die Menschheit zu fragen aufhören und jede gelöste Frage
birgt bereits Stoff und Ansatz zur nächsten. Aber wie könnte die
Menschheit leben, wenn sie von Frage zu Frage taumeln muß, ohne
die Kunst der Antwort, ohne die Antwort der Kunst? Kann man
sterben, mit einem Wust ungelöster Fragen um sich, in einem Labyrinth ohne Ausgang? Einmal muß jedes Rätsel seine Lösung finden,
jedes Geheimnis seinen Sinn offenbaren, der Menschheit wie jedem Einzelnen. Jedem Einzelnen vielleicht erst in seinem Tode, die
Menschheit aber ist unsterblich. Und auch der Tod des Einzelnen
ist nur der Augenblick des Übergangs zu seiner geistigen Unsterblichkeit. Daß wir nicht den schweren Packen unserer ungelösten
Geheimnisse mit in unsere geistige Unsterblichkeit herübernehmen,
verlangt unsere tief in uns hineingepflanzte metaphysische Ordnungsliebe, auch sie ist eine Abart unseres Triebes nach Harmonie.
Fragen heißt auf Antwort warten, im Aufstellen eines Gegensatzes,
im Aufwerfen eines Widerspruchs steckt bereits der Wille zur Ausgleichung und Auflösung, in jeder Dissonanz der latente Wille, sich
in einer harmonischen Konsonanz auflösen zu lassen. Das Wissen
lehrt fragen, lehrt immer weiter fragen, aber das Wissen antwortet
nicht, es ist sein Bestes, daß es fragen muß, daß es nichts weiß,
und immer unsicher bleibt, die sichere Ahnung der Künstlerseele
antwortet. Alle Unsicherheit wird durch die Wirklichkeit widerlegt,
und Kunst ist Gestalt gewordene Wirklichkeit. Unser Suchen nach
Gesetz und Sinn unseres Lebens wird durch die Form erfüllt und
Form ist Kunst gewordenes Gesetz.
Es widerspricht also dem eigentlichsten Wesen der Kunst, wenn
am Schlusse das anklagende oder verzweifelte Warum? steht. Ein
Kunstwerk, das mit einem Fragezeichen schließt, negiert sich selbst.
Das Kunstwerk entläßt nicht unbefriedigt. Noch aus seiner tief88
© wasser-prawda
Sprachraum
sten Not, aus seiner melancholischsten Verzweiflung, aus seiner
schmerzlichsten Gespaltenheit findet der Künstler den Weg zur
Einheit, ja die bloße Tatsache, daß er künstlerisch schaff t, daß er
seinen Schmerz gestaltet, die bloße Tatsache Kunst ist Wille zum
Ausweg, ist Ahnung seiner Möglichkeit, ist Gewißheit, daß es ihn
gibt. Was macht denn einen Menschen zum Künstler, zum Dichter, als daß er dieses als ihm aufgegeben in sich trägt: ich ahne die
Lösungen, von denen die andern, die Wissenden, nicht wissen können? Die allergrößten, Shakespeare, Cervantes, Molière, Goethe,
haben in den Jahren ihrer tiefsten Verdunkelungen, in den Jahren
eines schmerzlichen Sichalternfühlens unter Menschenverachtung
und Weltflucht in reifer Selbstgestaltung die erlösende Antwort gefunden, bis sie in harmonischen Prosperofrieden und westöstliche
Seligkeit landen konnten; alle romantische Ironie und Zerrissenheit
war nichts anderes als schamhafte Maske für die Sehnsucht nach
verlorenen Paradiesen der Unschuld, für die Sehnsucht, wieder ganz
und wieder ganz eins zu werden mit dem All; und selbst Balzac,
Dostojewskij, Hamsun, die durch alle Höllen des Lebens und der
pessimistischen Anschauung des Lebens durchgegangen sind, sagen
letzten Endes ja zum Leben: denn wer, wie diese, selbst eine Welt
aufbaut, der bejaht die Welt.
In diesem Sinne ist es wahr, daß jedes künstlerische Ende gewissermaßen happy ist. Eine Sache zu Ende bringen, heißt bereits sie zu
einem glücklichen Ende bringen.
Im Leben mag es vorkommen, daß die Dinge wie das Hornberger Schießen auslaufen. Jede Verwicklung ruft neue Verwicklungen
hervor, jede Beziehung führt zu neuen Beziehungen, ein Schicksal
wird von andern abgelöst, setzt sich in andern Schicksalen fort, alles
geht ineinander über, ohne Einschnitt, ohne Unterbrechung, auch
der Tod ist keine, die Kette reißt nie ab, das Leben geht weiter, im© wasser-prawda
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Sprachraum
mer weiter. Das Leben ist amorph. Die Kunst aber gibt dem amorphen Leben erst seine Form, und damit Anfang und Schluß. Wer
das Leben, ob das Leben der äußeren oder seiner inneren Welt,
in ein Kunstwerk verwandelt, in dem entsteht mit dem Anfange
schon das natürliche Bedürfnis, es bis zum Ende zu führen, Schluß
zu machen, einen deutlichen Schlußpunkt zu setzen. Dieses Bedürfnis wächst aus dem künstlerischen Zwange zur Abrundung,
aus der künstlerischen Freude an harmonischer Abrundung. Wie
könnte er mit seinem Werke innerlich fertig werden, wie könnte er
es bis zum äußerlichen Abschlusse bringen, wenn er alle die Fragen
und Zweifel, die es weckt, zuerst in ihm geweckt hat, um sie dann
in andern zu wecken, in der Schwebe ließe? Ein Werk beenden
heißt es in Harmonie ausklingen lassen. Weil das Geheimnis der
Form bereits den Willen zur Harmonie in sich schließt.
Das tiefste Geheimnis der Form ist die Proportion, ist das harmonische Verhältnis aller Teile eines Kunstwerkes zueinander, und
so bedeutet der goldene Schnitt vielleicht ebenso ein happy end wie
die erfreuliche Tatsache, daß der Hans seine Grete kriegt.
Es ist aber gar nicht so gleichgültig, ob der Hans seine Grete
kriegt. Für den Hans nicht, weil ihm das Kriegen der Grete ein
Lebensglück bedeutet; für die Grete nicht, weil ihr der Hans nun
einmal nicht gleichgültig ist; für die Menschheit nicht, weil sie aus
lauter Hänsen besteht und in Hansens Greteschicksal die einzige
Garantie ihres Fortbestandes sieht; für den Philister nicht, denn in
jedem Philister steckt ein Heiratsvermittler; und für den Künstler nicht, der in der Verlobung von Hans und Grete vielleicht die
platonische Idee von der Wiedervereinigung des einst getrennten
Zusammengehörigen feiert. Für den Künstler ist im Grunde jede
Liebe eine glückliche Liebe und wird in jedem Hans, der seine Grete küßt, das verlorene Paradies noch einmal wiedergefunden.
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© wasser-prawda
Sprachraum
Kurt Tucholsky: Die freie
Marktwirtschaft
Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort, die Gruppen – sei unser Panier!
Na, ihr nicht. Aber wir.
Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen,
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn
– wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht. Aber wir.
Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge
– kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier...
Ihr nicht. Aber wir.
© wasser-prawda
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Sprachraum
Jürgen Landt: „So schlimm,
der letzte Abend?“
Es war ein langes Wochenende. Der Tag der Deutschen Einheit,
der 3. Oktober, fiel auf einen Freitag. Von 19 Patienten gingen 16
in den verlängerten Wochenendurlaub. Ich gehörte zu den dreien,
die das Haus nicht verließen.
Schon Samstagfrüh kam die erste Frau zurück und zeigte mir
ihren Unterarm. Etwa 10 Zentimeter von ihrer Pulsader entfernt,
waren vier kleine, frische Risse. „Das war ’ne Rasierklinge“, sagte
sie und krempelte den Ärmel ihrer geblümten Bluse wieder runter.
Die Risse sahen aus wie die kleinen Kratzer, die mir meine 11monatige Tochter in Abständen und unabsichtlich mit ihren stumpfen Fingernägeln verpasste.
„So schlimm, der letzte Abend?“, fragte ich.
„Und wie, mein Kerl hat ’ne Macke! Wichst die ganze Woche
nur rum und wenn ich am Wochenende vorbeischau und ihn mir
reinstecken will, dann geht er jedes Mal ums Haus und versucht,
unsere 29 Goldfische zu zählen. Da kann man nur schnippeln!“
So nach und nach trudelten immer mehr vorzeitig ein. Der eine
so zerledert, der andere anders zerhackt. Eine Frau mit rotblauen
Striemen am Hals, ein Mann mit einem gesplitterten Brillenglas
und einem verlorengegangenen Brillenbügel, eine andere hatte
keine Umhängeriemen mehr an ihrer Handtasche und hielt sie
krampfhaft unterm Arm, ein anderer kam mit dickgeheulten Augen und getrocknetem Blut am Ohr zurück. Und zum Kaffee am
Sonntag gab es für jeden ein Stück Käsekuchen.
Ich ging zu meinem Stück Käsekuchen und eine Patientin, so Ende vierzig, hatte fünf Menschen zu Besuch. Ein junger Bengel,
eine Alte mit einem riesigen Buckel, eine Frau mit einem noch
nicht ganz so großen Buckel und zwei Typen, die die Patientin
anschauten, als könnten die beiden nur ihr Mann und ihr Schwager sein.
Die beiden Kerle waren laut: „Menschenskind, Marita! Du musst
hier was machen! Du musst was basteln! Häkeln, stricken, irgendwas musst du hier machen!“, sagte der Mann, der für mich aussah
wie ihr Mann, mit aufgequollenem Gesicht und trotzdem groben
Zügen, mit jähzornigen Augen und dummen Seitenblicken. Und
der Mann, der für mich als nichts anderes als ihr Schwager übrigblieb, sagte: „Du musst was machen! Strick doch irgendwas! Oder
Häkel! Oder bastel was!“
Ein angepasster Typ, der seine Unterwürfigkeit und sein nicht
eigenständiges Denken, seine Widerspruchslosigkeit in seiner
ganzen Haltung wie einen Pappkarton mit der Aufschrift „ICH
SAGE DAS GLEICHE WIE DU! ICH SAGE DAS, WAS IHR
VON MIR HÖREN WOLLT! UND WIRKLICH NIE WAS
ANDERES!“ vor sich herschob.
„Ich kann nicht, ich hab Angst“, sagte leise die Schwägerin zu
ihrem Schwager, und noch viel leiser die Frau zu ihrem Mann.
Doch ich hörte es, und dann hörte ich furchtbar laut: „Du hast
sie doch nicht mehr alle! Vor was hast du denn Angst?! Gibt es
hier irgendeinen, vor dem du Angst haben musst!!? Wart mal ab,
zuhause stecken wir dich in den Schrank!“
Ich dachte, das gibt’s doch nicht, das ist doch nicht wahr! Sagte mir, was die Frau braucht, ist ’ne Psychiatrie mit Frauenhausanbindung, oder ein Frauenhaus mit separatem Tunnel zu einer
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© wasser-prawda
Sprachraum
Psychiatrie, und für mich brauch ich in diesem Schuppen ’ne Besenkammer, in die mir einmal am Tag das Essen reingeschoben
wird und aus der ich zweimal am Tag mit verbundenen Augen
und Stöpseln in den Ohren zur Toilette abgeführt werde und
wenn meine Prostata abgehobelt ist und wieder ’ne schicke Form
hat, vielleicht bloß einmal.
Das verquollene Gesicht ihres Mannes lag zwischen dem Käsekuchen und dem Licht im Aufenthaltsraum in einem violetten
Schimmer und die Frau schluchzte: „Ich werde dem Arzt sagen,
dass ich andere Tabletten haben will. Ich kriege die, die ich jetzt
bekomme nicht runtergeschluckt.“
„Du glaubst doch nicht, dass der Klapperarzt das macht, was du
willst! Wie lange bist du denn schon hier?“
„Vier Wochen.“
„Vier Wochen? Du spinnst doch total! Du warst doch immer mal
wieder zwischendurch zuhause! Komm du mal nach Hause, da
schluckst du alles, das sag ich dir!“
„Ich hab Fieber.“
„Ja klar, zuhause werden wir dir alle mal das Fieber messen!“
Der junge Bengel, die alte mit dem riesigen Buckel, die Frau mit
dem noch nicht ganz so großen Buckel und der Schwager kicherten. Nur ihr Mann kicherte nicht.
„Ja, zuhause messen wir dir Fieber. Dich machen wir gesund“,
sagte das bucklige Individuum. Der junge Bengel nickte und
grinste immer noch. Der Schwager kicherte erneut und nickte
ebenfalls. Die Frau mit dem kleineren Buckel bewegte ebenfalls
den Kopf hoch und runter und der Schädel des anderen Kerls war
immer noch violett.
Ich löffelte mir das letzte Eckchen von meinem Käsekuchen.
Einen kleinen Augenblick war Stille.
Dann bellte es in meine Richtung: „Und, Meister, was hast du für
’ne Krankheit?“
Ich hatte einen so schönen Freitagabend gehabt, eigentlich auch
ein ganz ruhiges Wochenende, nur drei Pillen abholen müssen, ab
und an mein vergangenes Verlorensein vor Spielautomaten gesehen, mein allgegenwärtiges Verlorensein, meine Verlorenheit der
Zukunft, hin und wieder über meine suizidalen Schübe nachdenken müssen. Was für besinnliche Stunden.
Und jetzt musste ich aufstehen, wusste nicht, ob der Kerl mit
seiner violetten Fratze oder der Sack mit dem vor sich herschiebenden und beschrifteten Pappkarton die Frage gestellt hatte,
schraubte den Deckel der Kaffeethermoskanne ab, sah heißen
Dampf aufsteigen, griff mir das Ding und ging wie ein Kellner
zur Besuchergruppe.
„Meine Krankheit ist, ich hab ’nen Tick, ich muss fremden Menschen heiße Sachen an den Kopf kippen. Kann nichts dafür.“
Die Alte mit dem Buckel sprang wie ein junges Mädchen vom
Käsekuchen weg. Die anderen blieben einfach sitzen. Ich kippte
schnellteilend den schwarzen Kaffee über den Ehemannlampion
und den Schwagerwirsing aus, stand da und sah mir an, wie zwei
Köpfe dank fremder Hilfe dampften.
Für mich war kein Kaffee mehr drin, obwohl eine Prince Denmark
mit einem Tässchen Kaffee einfach besser geschmeckt hätte, drin
blieb nur der Käsekuchen und die Verlegung auf die geschlossene
Station eine Etage tiefer und mein Zittern, zum Glück im selben
Haus.
© wasser-prawda
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Sprachraum
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Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu
Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1.
. Die Werbung des Mörders.
In den Anlagen, welche einen Teil des Hafenufers von NewYork zieren, wandelte ein Mann auf und ab, der sich durch den
wiegenden Gang als Seemann kennzeichnete.
Er schien nicht geneigt, jedem sein Antlitz zu zeigen, denn obgleich die anbrechende Nacht schon an sich alles nur undeutlich
erkennen ließ, hatte er doch noch den Rockkragen möglichst
hochgeschlagen und die Schiffermütze tief in die Stirn gezogen,
sodaß nur Nase und Augen zu sehen waren. Er war einäugig, aber
das unverletzte Auge schien die Fähigkeit zu besitzen, die schwärzeste Finsternis zu durchdringen. Das unter der Mütze hervorsehende, kurzgeschorene Haar war eisgrau, doch zeigten die Bewegungen des Mannes eine noch jugendliche Frische.
Der Einsame zog seine Uhr.
»Es ist bereits neun,« murmelte er durch die Zähne, »jetzt könnte er kommen. Es muß ein vornehmer Herr oder eine sehr geheimnisvolle Sache sein, daß sie der Meister nicht selbst in die
Hand nimmt. Aha, da naht einer, das könnte er sein.«
Er trat an den Betreffenden heran und fragte ihn nach der Zeit,
indem er dabei sonderbar hüstelte.
»Zehn Minuten nach neun,« antwortete dieser kurz und ging
weiter.
Der Seemann murmelte einen Fluch in den weißen Schnurrbart
und wanderte wieder auf und ab.
Abermals kam ein Herr die Straße entlang, in einen langen,
schwarzen Mantel gehüllt, den Filzhut tief in die Augen gedrückt.
Der Wartende hüstelte wieder.
»Bitte, wie ist die Zeit?« fragte er den Herrn.
»Es ist Zeit, daß Ihr gehängt werdet!« entgegnete jener mit tiefer, ruhiger Stimme.
»Teufel,« lachte der Seemann heiser, »Ihr seid noch gröber, als
Bill, der Schiffskoch. Doch scheint Ihr der rechte Mann zu sein.
Gebt die Losung!«
»Seewolf.«
Der Seemann zuckte zusammen.
»Pst,« flüsterte er und blickte sich scheu nach allen Seiten um,
»nicht so laut! Dieser Name hat einen schlechten Klang. Folgt mir
jetzt in einiger Entfernung! Es ist nicht weit.«
Er schritt schnell voraus, der andere folgte ihm.
Nachdem sie den Weg durch einige dunkle Straßen und Gäßchen möglichst im Schatten zurückgelegt hatten, bog der Seemann in eine Sackgasse ein und hielt vor einem kleinen, unansehnlichen Gebäude, welches nicht bewohnt zu sein schien. Ein
eigentümlicher Griff an dem Schloß, und die Thür war offen.
»Schnell herein,« flüsterte der Führer und schloß dann die
Hausthür wieder sorgfältig.
Er zog aus der Tasche eine Blendlaterne, machte Licht und
leuchtete dem Fremden die Treppe hinauf, dabei aber durch die
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vorgehaltene Hand das an sich schon schwache Licht der Laterne
dämpfend.
In der zweiten Etage des Hauses traten sie in ein kleines Gemach, welches nichts weiter enthielt als einen Tisch. An der einen
Wand befand sich ein offener Kamin, wie sie in Amerika sehr
gebräuchlich sind.
Der Einäugige setzte die Laterne so auf den Tisch, daß der
Lichtschein nicht zum Fenster hinausfiel, und wendete sich dann
zu dem Herrn im Mantel. Dieser hatte zwar jetzt den Kragen desselben heruntergeschlagen, dafür aber bereits auf der Treppe das
Gesicht mit einer schwarzen Larve bedeckt, durch welche dieses
vollständig verhüllt wurde. Nur die Augen funkelten wie die eines
Raubtieres hervor.
»Nun sprecht,« begann der Einäugige. »Was ist Euer Wunsch?«
Der Schwarzmantel zog wortlos einen versiegelten Brief hervor
und gab ihn dem anderen.
»Kennt Ihr das Siegel?« fragte er dabei.
Der Angeredete nahm den Brief und brachte ihn in den Lichtkreis der Laterne. Er bebte
scheu zusammen, als er den
Abdruck des Petschaftes erkannte. Derselbe zeigte einen
Galgen mit der Umschrift:
›Tod dem Verräter.‹
»Lest den Brief, er ist für
Euch!«
Der Seemann las. Er zündete dann das Schreiben an, und
erst, als das Siegel zerschmolzen war, ließ er das brennende
Papier zu Boden fallen und dort
zu Asche werden. »Entschuldigen Sie mein voriges Betragen,«
begann er dann in demütigem
Tone, »ich konnte nicht ahnen,
daß Sie in so naher Beziehung
zum Meister stehen. Fragen Sie!
Ich werde Ihnen antworten.«
»Kennt Ihr den Meister?«
»Nein, niemand kennt ihn.
Aber ich weiß, daß sein Arm
überall ist, auf dem Meere, wie
in den fernsten Ländern. Ich
könnte seltsame Geschichten
davon erzählen. So zum Beispiel hatte einmal ein Neuling,
ein junges Bürschchen, unser
Leben an Bord satt, es bekam
Gewissensbisse. In Kapstadt
lief es eines Nachts von Bord,
um dem englischen Konsulat
Enthüllungen zu machen; doch
habe ich dies erst später erfahren. Thatsache aber ist, daß
der Bursche nicht weit kam.
Als ich des Morgens an Deck
stieg, hing er aufgeknüpft an
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der höchsten Raae, auf der Stirn das Zeichen des Meisters eingebrannt, die Glieder des Toten aber waren schon so steif, daß er
sicher bereits stundenlang da oben gehangen hatte. Solcher Geschichten könnte ich noch manche erzählen.«
»Wie kamt Ihr in den Dienst des Meisters?«
Der Einäugige zögerte eine Weile mit der Antwort.
»Vor etwa zehn Jahren,« begann er dann unsicher, »wurde ich
wegen Sklavenhandels von Engländern in Sansibar festgenommen. Ich sah von einem Fenster aus, wie alle Leute meines Schiffes, einer nach dem anderen aufgehängt wurden, ich, der Kapitän,
sollte als letzter darankommen. Aber in der Nacht vor meinem
Todestag wurde ich in einer mir noch heute rätselhaften Weise
aus dem Kerker befreit und für den Dienst des Meisters geworben. Derselbe nimmt nnr die tüchtigsten Leute an, und der Name
des Seewolfs war damals weit und breit berüchtigt.«
In dem Kamin knisterte es. Der Schwarzmantel lauschte aufmerksam und machte dem Seemanne ein Zeichen, mit der behandschuhten Rechten nach dem Ofen deutend.
Der Einäugige schüttelte gleichgiltig den Kopf.
»Fledermäuse!« sagte er. »Dieses Haus ist unbewohnt, verlassen,
und wir sind absolut sicher.«
»Ihr triebt neben dem Sklavenhandel Seeräuberei?« fragte der
Maskierte, welchersich wieder beruhigt hatte, weiter.
»Ja, bei Gelegenheit.«
»Und was habt Ihr jetzt im Dienste des Meisters zu thun?«
»Ich führe als spanischer Kapitän unter dem Namen Fonfera
mein Schiff von Hafen zu Hafen, bin im Besitze aller nötigen
Papiere und empfange an jedem Landungsplatze Weisungen vom
Meister, wohin ich zu fahren habe. Ist es möglich, so nehmen
wir eine Ladung mit, sonst befrachten wir einfach das Schiff mit
Kisten voll Sand, welche in dem nächsten Hafen von ebenfalls
Eingeweihten des Meisters vorschriftsmäßig abgeholt werden.
Niemals kommen wir daher mit der Polizei in Berührung. In
dem neuen Hafen bekomme ich wieder Befehle vom Meister.
Entweder muß ich einen Verfolgten, der im Dienste des Bundes
etwas Strafwürdiges begangen hat, in Sicherheit bringen oder
muß manchmal ganze Banden nach anderen Ländern schaffen
oder sonst etwas Aehnliches. Ab und zu gilt es auch,« schloß der
Pirat mit unsicherer Stimme, »ein ganzes Schiff auf offener See
verschwinden zu lassen.«
»Ich weiß, Ihr erzählt mir nichts Neues. So kennt Ihr das Meer?«
»O,« rief der Einäugige fast laut, die magere, aber sehnige und
starkknochige Gestalt stolz emporreckend, »das Meer ist meine
Heimat, es gehört mir. Auf ihm bin ich geboren, fünfundfünfzig
Jahre habe ich auf ihm zugebracht, jedes Land, jede Bucht, jede
hervorspringende Ecke der verschiedenen Küsten kenne ich wie
mich selbst. Und das Meer kennt den Seewolf. Vierzehnmal schon
verschlang es mein Schiff und meine Kameraden, aber mich spie
es stets wieder aus. Ich bin sein Kind.«
»Habt Ihr zuverlässige Leute an Bord?« fragte der Fremde weiter.
»Herr, der ›Friedensengel‹ hat die bravsten und fixesten Matrosen, die jemals das Meer durchkreuzt haben, auf seinen Planken.
Die Kerls fürchten Gott und den Teufel nicht. ›Friedensengel!‹
Hahaha! Ein vortrefflicher Name für das Schiff des Seewolfs.«
Der Schwarzmantel schwieg eine geraume Zeit und blickte
nachdenkend vor sich nieder. Dann heftete er den finsteren Blick
fest auf den Seemann und sagte:
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»Ihr tretet von jetzt ab in meine Dienste!«
Der Seewolf machte eine linkische Verbeugung.
»Hat Euch der Meister bis jetzt in Silber bezahlt, so bezahle ich
Euch in Gold.«
Der Einäugige schmunzelte und verbeugte sich wieder.
»Herr, befehlt! Was soll ich thun? Soll ich die Erde in die Luft
sprengen oder jedes mir begegnende Schiff in den Grund rennen?«
»Kennt Ihr das weißgestrichene Vollschiff, das im nördlichsten
Hafendock liegt?«
Der Pirat lächelte geringschätzig.
»Man erzählt sich Seltsames. Die Welt wird bald vollständig
verrückt werden. Es ist die ›Vesta‹, sie ist heute getauft worden
und geht morgen früh mit vierundzwanzig Unterröcken in See.
Hahaha,« lachte er mit erstickter Stimme, »ich will nicht der Seewolf heißen, wenn ich mir nicht einmal das Schiff da draußen
genauer betrachte und den Weibern einen Streich spiele.«
»Kennt Ihr die Kapitänin?«
»Dem Namen nach; sie soll Ellen Petersen heißen und die Verrückteste von allen sein.«
Der Schwarzmantel zog eine Photographie hervor und hielt sie
dem Piraten vor das Auge.
»Blitz und Donner!« rief der Seemann überrascht. »Beim heiligen Klüverbaum, das ist ein Prachtmädel. Diese Augen sehen
einem bis ins Herz.«
Der Schwarzmantel bohrte seine Blicke fest in das Auge des Piraten und sagte leise, jedes Wort betonend, mit zischender Stimme:
»An demselben Tage noch, an dem ich die Nachricht erhalte,
daß Miß Ellen Petersen nicht mehr unter den Lebenden weilt,
erhaltet Ihr eine Million Dollars bar ausgezahlt und seid von dem
Dienste des Meisters entbunden, seid ein freier Mann. Hier habt
Ihr die Beglaubigung vom Meister.«
»Ah,« rief der Pirat freudig, nachdem er das ebenfalls versiegelt
gewesene Schreiben gelesen und dann sorgfältig vernichtet hatte.
»Das ist einmal ein Geschäft. Endlich eine Hoffnung, von diesem
verfluchten Sklavendienste befreit zu werden und wieder auf eigene Faust arbeiten zu können. Doch was soll ich thun?«
»Ihr werdet wie bisher in jedem Hafen Instruktionen vom Meister erhalten und jede notwendige Geldsumme empfangen. Doch
die ›Vesta‹ ist ein schnellsegelndes Schiff, werdet Ihr ihm bei Gelegenheit folgen können?«
Der Seemann lachte höhnisch auf.
»Wohl ist es ein scharf gebautes Fahrzeug und wäre in meiner
Hand das schnellste der Welt, doch auch der ›Friedensengel‹ ist
nicht zu verachten, und schließlich sind diese Weiber doch gleich
Kindern gegen mich und verstehen nichts von der Sache, wenn
sie auch noch so viele nautische Kenntnisse besitzen. Was wissen
diese Neulinge von den Geheimmitteln, um den Lauf eines Schiffes zu beschleunigen! Wie man das Vorderteil beschwert, wie man
die Masten schwippend macht, und wie man den ungünstigsten
Wind abfängt. In diesen Kniffen ist der Seewolf Meister. Nein,
nein, das ist Spielerei für mich. Doch, wie ist es, wenn das eine
oder das andere Mädchen mit darauf geht?«
»Und wenn das ganze Schiff auf den Meeresgrund sinkt oder
in die Luft fliegt,« antwortete der Gefragte finster, »es schadet
nichts. Erfahre ich den Tod der Ellen Petersen aus sicherer Quelle, so bekommt Ihr die Million Dollars und seid frei. Auf dem
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Wasser oder auf dem Lande, durch Kugel, Dolch oder Gift, sie
muß sterben.«
»Und sie wird durch meine eigene Hand fallen,« rief der Einäugige mit wilder Fröhlichkeit aus, »diese Gelegenheit, mich freizumachen, soll mir nicht entgehen! Wohin geht die ›Vesta‹ zuerst?«
»Ich kann mit Bestimmtheit nur sagen, daß das erste Reiseziel
das mittelländische Meer ist. Dort könnt Ihr sie leicht treffen.«
«All right,« entgegnete der Pirat und ergriff die Laterne, denn
der Schwarzmantel schritt schon nach der Thür. »Mein Schiff ist
reisefertig, noch heute steche ich in See und lauere der ›Vesta‹ in
der Straße von Gibraltar auf, um ihr zu folgen und eine Gelegenheit für meinen Zweck zu erspähen. Sie sollen mit dem Seewolf
zufrieden sein.«
Vorsichtig, wie sie gekommen waren, entfernten sich die beiden
würdigen Männer aus dem Hause und gingen unten in verschiedenen Richtungen davon. – – – –
Auf dem Dache des Hauses, in welchem eben diese nächtliche
Unterredung stattgefunden hatte, saß ein Katzenpärchen und miaute verliebt. Plötzlich sprangen die Tiere scheu davon. Aus einem
Schornsteine blickte ein Menschenkopf hervor, dem im nächsten
Moment die ganze Gestalt folgte. Der Mann setzte sich auf den
Rand der Esse und rieb sich schmunzelnd die Hände.
»Es ist doch ausgezeichnet,« sagte er vergnügt zu sich selber,
»wenn ein Detektiv als Schornsteinfeger gelernt hat. Also der Seewolf ist wieder aufgetaucht und treibt nach wie vor sein sauberes
Handwerk! Vor dreißig Jahren schreckte mich meine Mutter mit
seinem Namen, wenn ich nicht folgen wollte. ›Wenn du nicht artig bist,‹ rief sie immer, ›so sage ich es dem Seewolf, der nimmt
dich dann mit.‹ Diesmal aber werde ich ihn mitnehmen. Der Bursche ist natürlich viel zu schlau, um ihn schon jetzt fassen zu können, denn wie er sagt, fährt er als ein schlichter Kapitän; außerdem bindet mich mein Versprechen, denn wird er jetzt dingfest
gemacht, so sucht sich dieser saubere Gentleman einen anderen,
der seine teuflischen Pläne ausführt.« Er überlegte eine Weile und
fuhr dann in seinem Selbstgespräch fort:
»Also hatte Lord Harrlington doch recht, als er diesen Herrn
meiner Aufmerksamkeit empfahl. Wer hätte das geglaubt! Ein
Glück war es, daß ich durch eine Unbedachtsamkeit des vermeintlichen Kapitäns Fonsera von dieser Unterredung hier im
Hause erfuhr und, nichts Gutes ahnend, mich hier einfand. Mit
Gold ist die Entdeckung gar nicht zu bezahlen. Nun gilt‘s bloß
noch, den nächsten Hafenplatz der ›Vesta‹ auszukundschaften,
und dann – auf Wiedersehen, Seewolf, mich wirst du nicht wieder von deiner bluttriefenden Spur los, bis ich dich, Raubtier des
Meeres, eingefangen habe.«
Der Schornsteinfeger sprang von der Esse herab und lief trotz
der pechschwarzen Nacht so sicher wie eine Katze auf dem
schmalen Firste des Daches entlang, bis er durch ein Fensterchen
verschwand.
3. Die neue Vestalin.
Während die heimliche Unterredung zwischen dem Piraten
und dem maskierten Mann in jenem Häuschen stattfand, spielte
sich in dem Prachtgebäude, welches dem ehemaligen Damenruderklub ›Ellen‹ als Versammlungsort diente, eine andere Scene ab.
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Alle vierundzwanzig Mitglieder, welche sich noch diese Nacht an
Bord der ›Vesta‹ begeben wollten, um früh ihre Reise um die Erde
anzutreten, waren anwesend. Die Kapitänin, Miß Ellen Petersen,
hatte sich eben erhoben, um eine Ansprache zu halten.
Miß Petersen war eine Waise. Nach dem Tode ihres Vaters, eines
enorm reichen Pflanzers in Louisiana, hatte die Mutter noch einmal geheiratet, dann aber selbst bald das Zeitliche gesegnet. Mit
ihrem Stiefvater, einem ehemaligen Abenteurer, der durch seine
schöne Gestalt und seine bestechenden Manieren das Herz ihrer
geliebten Mutter gefangen hatte, konnte sich Ellen nie befreunden.
Ein unnennbares Gefühl stieß sie von dem ihr stets sehr liebenswürdig begegnenden Mann mit den stechenden, grauen Augen zurück und ließ sie schon in ihrem siebzehnten Jahre nach New-York
ziehen.
Das Mädchen hatte in seiner Kindheit eine zügellose Freiheit
genossen, wie sie nur der Aufenthalt auf einer Plantage gewähren
kann. Wurde sie nicht durch Unterricht an das Haus gefesselt, so
konnte man sie während der Tagesstunden zwischen den Cowboys finden, jenen unübertrefflichen Rinder- und Pferdehirten der
Prärie. Von diesen lernte sie, wie man das wildeste Roß zum Gehorsam zwingt, und wie man, während das Pferd über eine Hecke
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setzt, eine in die Luft geworfene Orange mit der Revolverkugel
zerschmettert.
Als der verhaßte Stiefvater dem schon erwachsenen Mädchen
einst Vorwürfe über dieses unweibliche Betragen gemacht hatte,
war sie kurz entschlossen nach New-York gezogen, um ganz ihren
Neigungen leben zu können.
Hier war ihr nicht so oft die Gelegenheit geboten, Rosse zu tummeln und andere körperliche Uebungen vorzunehmen, dafür aber
fand sie bald Geschmack am Wassersport und gab sich diesem mit
vollem Eifer hin. Schon nach einem Jahre hatte sie viele gleichgesinnte, junge Mädchen, die reich und unabhängig gleich ihr waren,
um sich versammelt und gründete mit diesen den ersten Damenruderklub der Welt, von dessen Siegen oft in den Zeitungen zu lesen
war.
Ihre neueste Idee war nun, mit diesen Freundinnen als Matrosen
eine Reise um die Erde zu machen, um der staunenden Männerwelt zu zeigen, daß die Frauen, wenn sie wollen, jener in nichts
nachstehen.
Miß Ellen stand jetzt im zweiundzwanzigsten Jahre. Ihr prächtiger, schlanker und doch voller Wuchs bezauberte jeden Mann,
auch wenn er nicht in das schöne Gesicht sah, welches einer Venus zu gehören schien. Reiches, blondes Haar umrahmte die weiße
Stirn und flutete über den Nacken. Aber das Herrlichste an Ellen
waren ihre tiefblauen Augen, deren Strahlen bis in das Herz zu
dringen schienen. Zwar waren diese Strahlen noch kalt, aber es
schien nur die Gelegenheit zu fehlen, um sie in sengende, leidenschaftliche Gluten zu verwandeln.
»Meine Freundinnen,« begann sie mit einer wundervollen Altstimme, »es handelt sich also um die Aufnahme einer neuen Vestalin. Wir sind vierundzwanzig Mitglieder, und, wie wir berechnet
haben, sind zur Bedienung der ›Vesta‹ unbedingt fünfzig Hände
erforderlich. Eine geeignete Person haben wir bis jetzt noch nicht
finden können. Nun stellte sich mir heute früh eine junge Dame
mit dem dringenden Wunsche vor, uns auf der Reise begleiten zu
dürfen. Empfohlen wurde sie mir von unserer Freundin Jessy Murray. Die Novize wartet im Nebenzimmer, und ehe wir zur Abstimmung schreiten, sollen Sie sie dem Aeußeren nach beurteilen. Ich
bemerke gleich, daß Johanna Lind zwar in Amerika geboren ist,
über von deutschen Eltern abstammt.«
Während Miß Ellen die Hand nach der Klingel ausstreckte, um
die Wartende zu rufen, entstand unter den Damen ein mißmutiges
Gemurmel, weil eine Deutsche an Bord der ›Vesta‹ kommen sollte.
Doch ehe die Vorsitzende ihr Vorhaben noch ausführen konnte,
sprang Jessy Murray auf.
»Halt!« rief das junge Mädchen mit blitzenden Augen. »Wenn
Miß Petersen gegen Miß Lind ein Vorurteil erweckt hat, so will ich
dies abschwächen. Johanna Lind ist in ganz Amerika nicht unter
diesem, sondern unter ihrem englischen Namen, Jane Lind, bekannt.«
Triumphierend wartete die Sprecherin den Eindruck ihrer Worte
ab.
»Ah,« riefen alle Damen fast gleichzeitig aus. »Jane Lind, die Heldin vom Oberonsee?«
»Ja, sie ist es. Johanna Lind wagte im Winter letzten Jahres siebenmal ihr Leben, um ebensoviele Personen aus den hochgehenden Wogen des Oberonsees zu retten.«
»Dann ist eine Abstimmung gar nicht nötig,« rief eine Dame.
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»Nein, sie ist aufgenommen!«
stimmten alle anderen bei.
Die Gerufene trat ein. Wenn
ihre Aufnahme noch nicht beschlossen gewesen wäre, so hätte doch schon ihre Erscheinung
diese bewirkt.
Unter all den schönen Mitgliedern des Klubs konnte sie
Anspruch erheben auf den Titel
der schönsten; dabei blickte das
kluge, braune Auge so liebevoll
und freundlich, daß es im Nu
die Herzen aller Damen bezauberte. Niemand hatte dieser
zarten, schmiegsamen Gestalt
zugetraut, daß sie sich siebenmal den eisigen Fluten preisgegeben hatte, ohne nachteilige
Folgen zu verspüren.
Mit herzlichem Willkommen
wurde sie als neue Vestalin begrüßt. Jessy Murray hatte bereits
erzählt, daß dieselbe in jeder
Weise würdig sei, an Bord der
›Vesta‹ zu leben, da sie auch auf
den großen Seen oder vielmehr
Binnenmeeren Nordamerikas,
genügend Gelegenheit gehabt
hätte, sich mit dem Wassersport
vertraut zu machen.
»Bevor wir jedoch,« nahm die
Kapitänin wieder das Wort, »Sie
definitiv als Vestalin aufnehmen
können, ist es nötig, daß Sie
unsere Gesetze kennen lernen.
Glauben Sie diese nicht halten zu können, so steht Ihrem Rücktritt
nichts im Wege. Die Regeln sind einfach, aber sehr streng, doch
nicht streng für uns, die wir uns freiwillig Vestalinnen nennen. Sie
kennen die Sage von der Vesta und deren Priesterinnen?«
Johanna bejahte lächelnd.
»Nun wohl! So wissen Sie auch, daß eine Vestalin, welche das
Gelübde der Keuschheit brach, eingemauert wurde; ließ sie das
heilige Feuer ausgehen, so wurde sie gegeißelt, desgleichen, wenn
sie Ungehorsam zeigte. Dies gilt allerdings nicht für uns. Wer aber
mir, der Kapitänin der ›Vesta‹, ungehorsam ist, wird an der Stelle,
wo wir uns gerade befinden, sei es an der Küste, an einer Insel oder
mitten auf dem Ocean, unwiderruflich vom Schiff ausgesetzt. Wer
während dieser Reise das Gelübde der Keuschheit bricht, wird an
den Mast gebunden, gegeißelt und im nächsten Hafen an das Land
gesetzt. Dasselbe gilt für diejenige, welche etwas über unser Leben
verrät, ein Reiseziel nennt oder überhaupt Mitteilungen über etwas
macht, was unter uns besprochen wurde. Sind Sie damit einverstanden, Miß Jane Lind, so unterschreiben Sie dieses Formular,
sodaß Sie sich später nicht über uns beschweren können.«
Die Vestalin ergriff die Feder, überlegte einige Sekunden und unterschrieb dann mit fester Hand den Vertrag.
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Bis jetzt hatte die Vorsitzende mit ernster Stimme gesprochen,
nun aber fuhr sie in ihrer gewöhnlichen, heiteren Weise fort:
»Der Zweck dieser Reise ist, der Welt den Beweis zu geben, daß
wir Frauen den Männern in nichts nachstehen, daß wir ebensogut
wie sie ein Schiff durch den Sturm leiten und jeder Gefahr Trotz
bieten können, ohne mit den Wimpern zu zucken. Wer, wie ich,
schon vielfach Seereisen gemacht hat, weiß, daß unbedingter Gehorsam auf einem Schiffe notwendig ist. Alle diese Bestimmungen sind nicht willkürlich von mir getroffen, sondern von allen
beschlossen worden. In den einzelnen Hafenplätzen hört dieses
Vorgesetztenverhältnis zu mir natürlich auf. Wir besehen uns die
betreffende Stadt, unternehmen Ausflüge ins Innere des Landes,
Jagdpartien u. s. w., für welche an Bord alle Vorbereitungen getroffen sind. Und nun seien Sie als Vestalin herzlich begrüßt.«
Sie schüttelte, ebenso wie die anderen, Johanna Lind, der neu
angemusterten Vestalin, herzlich die Hand.
»Wie wird die Arbeit an Bord verteilt?« fragte diese.
»Ich bin für immer zur Kapitänin gewählt worden,« erklärte Miß
Ellen. »Zeigt sich aber eine der Damen mehr für diese Stellung geeignet, so werde ich sie ihr freiwillig abtreten. Bei Segelmanövern
arbeiten alle nach verteilten Rollen in der Takelage. Die Funktionen der beiden Steuerleute gehen die Reihe um, ebenso die der
Köchin, bis sich im Laufe der Zeit zeigt, wozu jede der einzelnen
Damen besondere Neigung besitzt. Die Mannschaft ist, wie auf
jedem Schiffe in zwei Gruppen geteilt, in die Backbord- und in
die Steuerbordwache, welche sich aller vier Stunden ablösen. Die
Verteilung der Wachen machen die Damen unter sich aus, damit
Freundinnen möglichst zusammenkommen. Das Schiff ist neu,
sodaß außer den nötigen Segelmanövern und der täglichen Reinigung sehr wenig Arbeit zu thun sein wird. Für Unterhaltung,
Musik, Bücher u. s. w. ist auf der ›Vesta‹, wie Sie finden werden,
aufs beste gesorgt, desgleichen für Bequemlichkeit. Die einzelnen
Arbeiten, wie zum Beispiel Zeugwaschen, muß sich natürlich jede
selbst besorgen, wie auf anderen Schiffen die Matrosen.«
»Die ›Vesta‹ geht bereits morgen in See?«
»Ja, morgen früh. Wir begeben uns noch diese Nacht an Bord.
Lassen Sie Ihre Sachen gleich nach dem Schiffe bringen! Ordnen
Sie noch alles Nötige an, und kommen Sie selbst an Bord.«
»Kann ich schon jetzt erfahren, welchen Hafen die ›Vesta‹ zunächst anlaufen wird?«
»Gewiß. Wir haben keine Heimlichkeiten unter uns. Wir kreuzen durch den atlantischen Ocean, möglichst langsam, um uns
im Segelmanövrieren zu vervollkommnen, fahren ins mittelländische Meer und laufen zuerst Konstantinopel an. Von dort begeben wir uns nach Alexandrien, machen einen Abstecher nach
Kairo, besuchen die Pyramiden u. s. w. und segeln dann wieder
der Straße von Gibraltar zu, unterwegs noch einige sehenswerte
Plätze mitnehmend. Welchen Weg wir dann einschlagen, wird
später beschlossen.«
Die jungen Mädchen plauderten und scherzten noch lange miteinander und malten sich die sie erwartenden Erlebnisse
und Abenteuer mit den heitersten Farben aus. Hätten sie ahnen
können, daß jetzt gerade der berüchtigtste Seeräuber und seine
Matrosen, Hyänen in Menschengestalt, die Anker lichteten, um
draußen auf dem Meere der ›Vesta‹ aufzulauern und sie samt ihrer
Besatzung für immer verschwinden zu lassen!
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Noch ehe sich die Damen an Bord ihres Schiffes begaben, entfernte sich Miß Jane Lind, weil sie ihre Koffer noch besorgen wollte, mit dem Versprechen, bald nachzukommen.
Als sie auf der Straße stand, seufzte sie tief auf und schlug die
Augen zum Himmel empor.
»Gott, Du Allmächtiger,« stammelte sie, »gieb mir die Kraft,
mein Vorhaben zu vollbringen! Schweres habe ich mir vorgenommen. Behüte Du mich, wie Du mich immer bis jetzt wunderbar
beschirmt hast! Mut, Johanna, es muß sein, und es wird dir gelingen!«
Eilends entfernte sie sich, bestieg eine Droschke und fuhr in ein
anderes Stadtviertel. Vor einem Postgebäude hielt der Wagen.
Johanna stieg aus, trat in den Schalterraum und spähte umher.
Niemand außer ihr befand sich im Zimmer. Flüchtig warf sie ein
paar Zeilen auf ein ausliegendes Depeschenformular und reichte
dieses dem dienstthuendcn Beamten.
Der Telegraphenapparat klapperte, und im nächsten Momente
durchliefen das Kabel des atlantischen Oceans die Worte:
»Lord Harrlington, London. Abreise morgen früh. Konstantinopel.«
Die neue Vestalin hatte den ersten Verrat verübt; die Geißel
wartete ihrer.
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T G Purvis - Tall Ships In A Dock (1900-1910).
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Prudenci Bertrana:
Josafat oder Josafat oder Unsere Liebe Frau von der Sünde
86 Seiten 14,8 x 21,0 cm;
ISBN: 978-3-943672-20-6
11,00 EUR (D)
auch als E-Book erhältlich.
Jürgen Buchmann:
Lüneburger Trilogie.
96 Seiten; 14,8 x 21 cm;
ISBN: 978-3-943672-09-1
10.00 EUR (D)
Auch als E-Book erhältlich.
Uwe Saeger:
Ein Mensch von heute
92 Seiten; 14,8 x 21 cm
ISBN: 978-3-943672-17-6
10,00 EUR (D)
(Auch als E-Book erhältlich.)
Angelika Janz:
tEXt bILd. Ausgewählte Werke 1: Visuelle Arbeiten und
Essays
120 Seiten; 14,8 x 21 cm; 11,95 EUR (D)
ISBN: 978-3-943672-09-1
11,95 EUR (D)

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