AUFSÄTZE Zivilrecht Öffentliches Recht DIDAKTISCHE BEITRÄGE

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AUFSÄTZE Zivilrecht Öffentliches Recht DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Inhalt
AUFSÄTZE
Zivilrecht
Urkundenprozess bei Werklohnforderungen
Zugleich Besprechung von OLG Schleswig,
Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Matthias Fervers, München
337
Öffentliches Recht
Der Lebenszyklus politischer Parteien – Eine
„evolutionäre“ Einführung in das Parteienrecht
– Teil 4/6
Von Prof. Dr. Julian Krüper, Bochum,
Dr. Hana Kühr, Düsseldorf
346
Normenkontrollen – Teil 3
Fragen der Zulässigkeit: Konkrete Normenkontrolle
Von Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf
356
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Zivilrecht
Einführung in das Kostenrecht der ZPO
Von Wiss. Mitarbeiter Felix M. Wilke, LL.M., Bayreuth
365
Strafrecht
Die Zeitweiligkeit des Rechts – Das verfassungsrechtliche
Rückwirkungsverbot und die lex mitior-Regel
(Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 3, 4 OWiG bzw. §§ 1, 2 StGB)
Von Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle-Wittenberg
371
Inhalt (Forts.)
4/2014
ÜBUNGSFÄLLE
Zivilrecht
Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer
Energie
Von Ref. jur. Benjamin Hansen, Köln
378
Öffentliches Recht
Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für
Kartellgeldbußen natürlicher Personen
Von Prof. Dr. Markus Ludwigs,
Wiss. Mit. Richard Lauer, Würzburg
387
Strafrecht
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Marcus Bergmann,
Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle (Saale)
397
Übungsklausur: „I am the danger“
Von Wiss. Mitarbeiter Jacob Böhringer,
Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen
413
ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN
Zivilrecht
BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13
(Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB bei
Störung des Grundstückseigentums durch unterirdische
Stromleitungen)
(Prof. Dr. Beate Gsell, München)
423
Öffentliches Recht
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13
(Nachbarklage gegen baurechtliche Befreiung –
Asylbewerberunterkunft)
(Prof. Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley), Hamburg,
Wiss. Mitarbeiter Manuel Waldmann, LL.B., Hamburg)
428
Strafrecht
BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12
(Anfragebeschluss zur Aufgabe der bisherigen
Rechtsprechung: Verfassungswidrigkeit der echten
Wahlfeststellung)
(Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen)
436
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
Zivilrecht
BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12
(Abschleppen eines verbotswidrig geparkten Kfz –
Einbeziehung eines Dritten in Schutzwirkung des
Vertrages)
(Wiss. Mitarbeiter Jan Singbartl, München)
444
Öffentliches Recht
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11
(Verfassungswidrigkeit des ZDF-Staatsvertrages)
(Prof. Dr. Matthias Cornils, Mainz)
447
Inhalt (Forts.)
4/2014
Entscheidungsanmerkungen (Forts.)
Strafrecht
BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14
(Versuchter Mord aus Heimtücke – „Schuss durchs
Fenster der Beifahrertür“)
(Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg)
454
BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13
(Zum Erfordernis des Absatzerfolges bei der Hehlerei)
(Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz)
458
Buchrezensionen
Zivilrecht
Alexander Rathenau, Einführung in das portugiesische
Recht, 2013
(Wiss. Mitarbeiter Dr. José Carlos Nóbrega, Osnabrück)
462
Öffentliches Recht
Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte,
2. Aufl. 2010
(Wiss. Mitarbeiter Thomas Traub, Köln)
465
Varia
Allgemeines
Das argumentum ad absurdum und seine Bedeutung
in examensrelevanten Meinungsstreitigkeiten
Von Wiss. Mitarbeiter Holger Stellhorn, Münster
467
Urkundenprozess bei Werklohnforderungen
Zugleich Besprechung von OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Matthias Fervers, München
Die Frage der Statthaftigkeit des Urkundenprozesses hat
Rechtsprechung und Literatur in den letzten Jahren vielfach
beschäftigt. Umstritten ist bereits seit Langem, ob ein Kläger
beim Urkundenprozess auch die unstreitigen Tatsachen mit
Urkunden beweisen muss. Zwar hat der BGH die Frage bereits 1974 höchstrichterlich entschieden. Durch ein Urteil
des OLG Schleswig ist jedoch Bewegung in die Diskussion
gekommen. Die Entscheidung des OLG Schleswig kombiniert
die Behandlung prozessualer Probleme des Urkundenprozesses mit werkvertraglicher Fragen des materiellen Rechts.
I. Einleitung und Problemstellung
Der in §§ 592 ff. ZPO geregelte Urkundenprozess findet in
der universitären Ausbildung oftmals nur eingeschränkte Beachtung. In der Praxis kann die Wahl des Urkundenprozesses
einem Gläubiger jedoch entscheidende Vorteile bringen.
Verlangt beispielsweise ein Verkäufer die Zahlung des
Kaufpreises nach § 433 Abs. 2 BGB, so ist für die Entstehung dieses Anspruchs einzig Voraussetzung, dass ein wirksamer Kaufvertrag vorliegt. Wenn nun der Verkäufer den Käufer auf Kaufpreiszahlung verklagt, so kann der Käufer allerdings Einwendungen und Einreden geltend machen. Er kann
sich z.B. darauf berufen, er habe den Kaufpreis bereits bezahlt
(§ 362 Abs. 1 BGB) oder behaupten, die Kaufsache sei mangelhaft (§ 320 Abs. 1 S. 1 BGB). Zum Beweis dieser Behauptungen stünden dem Beklagten alle Beweismittel der ZPO1
zur Verfügung. Haben die Parteien den Kaufvertrag schriftlich geschlossen, so ist der Verkäufer in der Position, sämtliche Entstehungsvoraussetzungen seines Anspruchs (nämlich
das Vorliegen eines Kaufvertrags) mit Urkunden2 zu beweisen.
Erhebt der Verkäufer nun Klage im Urkundenprozess, so
kann der beklagte Käufer zwar nach wie vor Einwendungen
und Einreden geltend machen. Hierfür sind ihm aber alle Beweismittel außer Urkunden abgeschnitten. Er könnte deshalb
für seine Behauptung, er habe den Kaufpreis bezahlt, keine
Zeugen benennen oder für die Behauptung der Mangelhaftigkeit der Kaufsache kein Sachverständigengutachten beantragen. Zwar stellt der Urkundenprozess für den Beklagten
nicht „das letzte Wort“ dar. Gemäß § 599 Abs. 1 ZPO ergeht
1
Merkwort: „SAPUZ“: Sachverständigenbeweis (§§ 402 ff.
ZPO), Augenscheinsbeweis (§§ 371 ff. ZPO), Parteivernehmung (§§ 445 ff. ZPO), Urkundenbeweis (§§ 415 ff. ZPO),
Zeugenbeweis (§§ 373 ff. ZPO).
2
Der Begriff der Urkunde i.S.d. § 592 ZPO ist identisch mit
dem Urkundenbegriff der §§ 415 ff. ZPO (Voit, in: Musielak,
Kommentar zur ZPO, 11. Aufl. 2014, § 592 Rn. 12 und § 595
Rn. 9.) und umfasst daher jede schriftlich verkörperte Gedankenerklärung, die ihren Aussteller erkennen lässt, vgl. BGHZ
65, 300 (301) = BGH NJW 1976, 294; Kratz, in: Beck’scher
Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 12, Stand: 15.3.2014, § 592
Rn. 26; Habersack, in: Münchener Kommentar zum BGB,
6. Aufl. 2013, § 793 Rn. 5; Marburger, in: Staudinger,
Kommentar zum BGB, 2009, § 793 Rn. 2.
lediglich ein Vorbehaltsurteil und bleibt dem Beklagten die
Geltendmachung seiner Rechte im Nachverfahren vorbehalten. Gemäß § 600 Abs. 1 ZPO bleibt der Rechtsstreit im
ordentlichen Verfahren anhängig und hat der Beklagte nun
im Nachverfahren die Möglichkeit, sich wiederum mithilfe
aller Beweismittel auf Einwendungen und Einreden zu berufen. Wenn sich im Nachverfahren herausstellt, dass die Klage
aufgrund der Einwendungen und Einreden des Beklagten
doch unbegründet war, so wird das Vorbehaltsurteil gemäß
§§ 600 Abs. 2, 300 Abs. 4 S. 2 ZPO aufgehoben. Dass dem
Beklagten das Nachverfahren bleibt, um das Ergebnis des
Urkundenprozesses zu korrigieren, ändert aber nichts daran,
dass der Kläger zunächst einmal das Vorbehaltsurteil erlangt.
Dieses Urteil ist gemäß § 599 Abs. 3 ZPO als Endurteil anzusehen, sodass der Gläubiger ungeachtet des Nachverfahrens
mit der Zwangsvollstreckung beginnen kann. § 708 Nr. 4 ZPO
erlaubt ihm dabei abweichend vom Regelfall sogar eine
Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung.
Der Urkundenprozess ist deshalb für den Gläubiger immer
dann eine günstige Wahl, wenn er die Voraussetzungen seines Anspruchs mit Urkunden beweisen kann, dem Schuldner
dagegen für den Beweis seiner Einwendungen und Einreden
keine Urkunden zur Verfügung stehen. In diesem Fall hat der
Gläubiger die Möglichkeit, zügig und unkompliziert einen
vollstreckbaren Titel in die Hände zu bekommen.
II. Die Entscheidungen des OLG Schleswig
Das OLG Schleswig3 hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:4 Am 13.1.2011 übersandte die Klägerin der Beklagten ein Angebot für Fliesenarbeiten, welches die Beklagte mit
Telefax vom 2.11.2011 annahm. In der Annahmeerklärung
waren allerdings ein Skontoabzug sowie eine verlängerte Gewährleistungsfrist vorgesehen. Die Klägerin führte die Fliesenarbeiten aus, eine Abnahme durch die Beklagte erfolgte jedoch nicht. Die Klägerin verlangte von der Beklagten Zahlung des Werklohns im Urkundenprozess. Die Beklagte bestritt den Vertragsschluss nicht und berief sich auch nicht auf
etwaige Mängel.
Das OLG Schleswig hat die Klage als im Urkundenprozess
unstatthaft abgewiesen. Voraussetzungen für das Bestehen eines Werklohnanspruchs nach § 631 Abs. 1 BGB sei nämlich
das Bestehen eines wirksamen Werkvertrags und die erfolgte
Abnahme nach §§ 640 Abs. 1, 641 Abs. 1 S. 1 BGB. Beide
Voraussetzungen könne die Klägerin nicht mit Urkunden beweisen. Das Bestehen eines wirksamen Werkvertrages ergebe
sich nicht schon aus dem Angebotsschreiben und der per Fax
zugegangenen Annahmeerklärung. Denn erstens sei die Annahmefrist nach § 147 Abs. 2 BGB abgelaufen gewesen, so3
OLG Schleswig NJW 2014, 945. Hierzu bereits Leidig/
Jöbges, NJW 2014, 892; Schwenker, IBR 2013, 722, und
Dötsch, NZBau 2013, 767.
4
Der Sachverhalt wird im Folgenden vereinfacht dargestellt
und auf die relevanten Rechtsprobleme reduziert.
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337
AUFSÄTZE
Matthias Fervers
dass die Annahme nach § 150 Abs. 1 BGB einen neuen Antrag darstelle. Zweitens stelle die Annahme auch nach § 150
Abs. 2 BGB einen neuen Antrag dar, da sie veränderte Vertragsbedingungen enthalten habe.5 Der Werkvertrag sei demnach erst durch die widerspruchslose Durchführung der Bauarbeiten zustande gekommen, was dem Urkundenbeweis nicht
zugänglich sei.6
Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Vertragsschluss
zwischen den Parteien unstreitig sei. Zwar müsse ein Kläger
nach überwiegender Auffassung und nach der Rechtsprechung
des BGH auch im Urkundenprozess keinen Beweis für solche
Tatsachen antreten, die offenkundig, zugestanden oder nicht
bestritten würden. Diese Auffassung könne jedoch nicht überzeugen. Vorzugswürdig sei die Gegenauffassung, wonach dem
Kläger im Urkundenprozess eine lückenlose Beweisführung
mit Urkunden obliege.7
Der Statthaftigkeit des Urkundenprozesses stehe deshalb
auch entgegen, dass keine Abnahme durch die Beklagte erfolgt sei. Mangels Abnahme sei ein etwaiger Anspruch nach
§ 631 Abs. 1 BGB gemäß § 641 Abs. 1 S. 1 BGB nicht fällig.
Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass die Beklagten keinerlei Mängel geltend machten. Denn auch wenn
vertreten werde, dass der Unternehmer im Falle unberechtigter
Abnahmeverweigerung durch den Besteller direkt auf seinen
Werklohn klagen könne, so trage der Unternehmer in diesem
Fall die Beweislast für die Mangelfreiheit des Werkes. Diesen Beweis könne die Klägerin wiederum nicht mit Urkunden
führen.8 Zudem enthalte die Klage auf Zahlung des Werklohns im Falle der Abnahmeverweigerung konkludent auch
die Klage auf Abnahme. Gemäß § 592 ZPO könne im Urkundenprozess jedoch nur ein Anspruch auf Zahlung einer
bestimmten Geldsumme oder ein Anspruch auf die Leistung
bestimmter vertretbarer Sachen, jedoch kein Anspruch auf
Abgabe einer Willenserklärung eingeklagt werden.9
III. Die Bewertung der Entscheidung
Die Entscheidung enthält wesentliche Aussagen zur grundsätzlichen Statthaftigkeit des Urkundenprozesses und zur Beweislast bei unberechtigter Abnahmeverweigerung. Um eine
Bewertung der Entscheidung zu ermöglichen, ist es erforderlich, sich zunächst mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein
Kläger im Urkundenprozess auch die unstreitigen Tatsachen
mit Urkunden beweisen muss. Danach soll die Anwendung
auf die Werklohnklage erörtert werden.
5
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 31
(juris).
6
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 32
(juris).
7
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 21 ff.
(juris).
8
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 43 f.
(juris).
9
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 45
(juris).
1. Lückenlose Beweisführung durch Urkunden im Urkundenprozess?
Ob ein Kläger im Urkundenprozess sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen durch Urkunden beweisen muss oder
ob ihm der Urkundenbeweis nur für diejenigen Tatsachen obliegt, für die er auch nach allgemeinen Regeln die Beweisführungslast trägt, ist umstritten.
a) Die herrschende Auffassung
Nach herrschender Rechtsprechung10 und nach der wohl überwiegenden Auffassung in der Literatur11 gelten auch im Urkundenprozess für die Beweisführungslast die allgemeinen
Grundsätze, sodass der Kläger keinen Urkundenbeweis für
offenkundige (§ 291 ZPO), zugestandene (§ 288 ZPO) oder
unbestrittene (§ 138 Abs. 3 ZPO) Tatsachen antreten muss.
Es handele sich um einen nicht zu rechtfertigenden Formalismus, eine Klage im Urkundenprozess abzuweisen, wenn
die Klageforderung durch Urkunden in Verbindung mit unstreitigen Tatsachen bewiesen werden könne.12 Außerdem sei
umgekehrt eine Klage im Urkundenprozess auch dann abzuweisen, wenn Einwendungen des Beklagten unbestritten, zugestanden oder offenkundig sind.13 Diese Sichtweise sei auch
mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbar, da nach § 597
Abs. 2 ZPO der Urkundenprozess nur dann unstatthaft sei,
wenn ein dem Kläger obliegender Beweis nicht mit Urkunden
geführt worden ist. Bei unbestrittenen, zugestandenen oder
offenkundigen Tatsachen obliege dem Kläger aber gar kein
Beweis.14
10
RGZ 109, 70 (71); 142, 303 (306); BGHZ 62, 286 = NJW
1974, 1199; BGH WM 1985, 738; OLG Köln ZIP 1982, 1424
(1426); OLG Köln BauR 2008, 129 (131); OLG Düsseldorf
BauR 2010, 819; OLG München NJOZ 2007, 2520 (2524);
AG Berlin NJW-RR 2007, 1167.
11
Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 72. Aufl. 2014, § 597 Rn. 7; Dötsch, NZBau 2013, 767,
der die Gegenargumente als „ausgekaut“ bezeichnet und daher
gegen die vorliegende Entscheidung auch rechtspraktische
Einwände erhebt; Eichele, in: Saenger, Kommentar zur ZPO,
5. Aufl. 2013, § 592 Rn. 4; Eickmann/Oellerich, JA 2007, 43
(45); Habscheid, ZZP 96 (1983), 313; Hall, in: Prütting/
Gehrlein, Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2014, § 592 Rn. 12;
Hövelberndt, JuS 2003. 1105 f.; Kratz (Fn. 2), § 592 Rn. 24;
Meller-Hannich, Zivilprozessrecht, 2011, Rn. 913; Pohlmann,
Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2009, § 15 Rn. 23; Schilken, Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2010, Rn. 794; Rosenberg/Schwab/
Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl 2010, § 162 Rn. 12;
Berger, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, Bd. 6, 22. Aufl.
2013, § 592 Rn. 15, § 597 Rn. 11 ff.; Voit (Fn. 2), § 592
Rn. 11; Zeiss/Schreiber, Zivilprozessrecht, 12. Aufl. 2014,
Rn. 767; wohl auch Hess, Zivilprozessrecht, 30. Aufl. 2011,
§ 89 Rn. 4; Reichold, in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO,
34. Aufl. 2013, § 592 Rn. 6.
12
BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 23 (juris) =
BGHZ 62, 286 = NJW 1974, 1199.
13
BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 15 (juris).
14
BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 16 (juris).
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ZJS 4/2014
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Urkundenprozess bei Werklohnforderungen
Allerdings soll auch nach der herrschenden Auffassung
die Vorlage von zumindest einer Urkunde notwendig sein, da
andernfalls ein vom Gesetzgeber nicht gewollter „Urkundenprozess ohne Urkunden“ stattfinden könnte.15 Dem Kläger sei
es lediglich gestattet, in seiner Beweisführung „Lücken zu
füllen“.16
b) Die restriktive Gegenauffassung
Nach der restriktiven Gegenauffassung17, der sich das OLG
Schleswig mit eher knapper Begründung18 angeschlossen hat,19
soll dem Kläger im Urkundenprozess dagegen die lückenlose
Beweisführung durch Urkunden obliegen. Lediglich der Beweis offenkundiger Tatsachen durch Urkunden wird regelmäßig nicht für erforderlich gehalten.20 Die Vertreter dieser
15
BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 24 (juris);
OLG Frankfurt WM 1995, 2079; Kratz (Fn. 2), § 592 Rn. 24;
Voit (Fn. 2), § 592 Rn. 11; a.A. OLG Jena MDR 1997, 975;
tendenziell auch Berger (Fn. 11), § 597 Rn. 12.
16
Insoweit ist die Rechtsprechung nicht ganz einheitlich. Insbesondere in der obergerichtlichen Rechtsprechung finden sich
bisweilen gewisse Einschränkungen: Nach OLG Düsseldorf,
Urt. v. 2.3.2005 – 3 U 3/05, Rn. 23, 25 (juris) soll es nur
möglich sein, „kleinere Lücken in der Urkundenbeweisführung
auszufüllen“. Ein solcher Lückenschluss soll bei der Höhe
der Klageforderung nicht möglich sein. Ähnlich für den Beweis der Scheckvorlage nach § 29 Abs. 1 ScheckG OLG
München, Urt. v. 6.3.1998 – 21 U 5432/97, Rn. 42 (juris).
Implizit ähnlich, im konkreten Fall aber mit anderem Ergebnis OLG Köln VersR 1993, 901. Auch das OLG Celle, Urt. v.
7.12.2006 – 14 U 61/06, Rn. 24 f. (juris). lässt es bei der
Werklohnklage nicht genügen, wenn der Vertragsschluss, nicht
aber Leistungserbringung und Abnahme urkundlich bewiesen
sind.
17
Braun, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012,
§ 592 Rn. 14; Bull, NJW 1974, 1513 (1514); Gloede, MDR
1966, 103; ders., MDR 1974, 895; Gsell, in: Artz/Börstinghaus (Hrsg.), 10 Jahre Mietrechtsreformgesetz, S. 913 (923
ff.); Hankel, AcP 71 (1887), 365 (383 f.); Hertel, Der Urkundenprozess, 1992, S. 129 ff.; Leidig/Jöbges, NJW 2014, 892;
Meyer, ZZP 38, 159; Olzen, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Großkommentar, Bd. 8,
4. Aufl. 2013, § 592 Rn. 31 ff.; Stein, Urkunden- und Wechselprozess, 1887, S. 99 f.; Stern, ZZP 32, 245; Stürner, NJW
1972, 1257; ders., JZ 1974, 681; Timme, ProzRB 2003, 192;
Ulrich, ZZP 44, 57.
18
A.A. Leidig/Jöbges, NJW 2014, 892 (894): „Der sorgfältig
begründeten Entscheidung…“.
19
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 24 ff.
(juris). Die Berufung auf OLG München MDR 2012, 186 ist
allerdings zweifelhaft, weil in dieser Entscheidung an sich
nicht von der Rechtsprechung des BGH abgewichen werden
sollte, vgl. Fn. 37.
20
So ausdrücklich Braun (Fn. 17), § 592 Rn. 14; Olzen
(Fn. 17), § 592 Rn. 31 ff.; nach Stürner, JZ 1974, 681 (682),
ist eine solche Einschränkung hinsichtlich allgemeinkundiger
Tatsachen „vertretbar“. Deutlicher differenzierend zwischen
ZIVILRECHT
Auffassung berufen sich erstens auf den Willen des historischen Gesetzgebers. Zweitens wird ein Vergleich mit der
Regelung der § 597 Abs. 2 ZPO21 geltend gemacht: Wenn der
Kläger bei Säumnis des Beklagten alle anspruchsbegründenden Tatsachen mit Urkunden zu beweisen habe, müsse dies
erst recht gelten, wenn der Beklagte erscheine und verhandle.22 Drittens sei es unbillig, den Beklagten, der Tatsachen
wahrheitsgemäß nicht bestreite und so den Weg zum Urkundenprozess ebene, schlechter zu stellen als den Beklagten,
welcher der Wahrheit zuwider bestreite. Die prozessuale
Wahrheitspflicht würde so zu einem Werkzeug, ehrliche
Schuldner „prozessual in die Ecke zu drängen“.23 Viertens sei
es inkonsequent, wenn man einerseits den Kläger bei unstreitigen Tatsachen der Obliegenheit für den Urkundenbeweis entbinde, andererseits aber die Vorlage zumindest einer Urkunde
fordere.24 Hierdurch entstünden auch Abgrenzungsschwierigkeiten.25 Fünftens stünden die prozessualen Voraussetzungen
des Urkundenprozesses wie alle prozessualen Voraussetzungen nicht zur Disposition der Parteien. Der Beklagte könne es
daher nicht in der Hand haben, dem Kläger ein Rechtsschutzverfahren zu verschaffen, was ihm nach der ZPO an sich
nicht zusteht.26 Sechstens sei die Auffassung des BGH auch
nicht vom Wortlaut der §§ 592, 597 ZPO gedeckt. Zwar
spreche § 597 Abs. 2 von einem dem Kläger obliegenden Beweis. Nach § 597 Abs. 2 ZPO sei die Klage allerdings selbst
dann abzuweisen, wenn der Beklagte nur unbegründete oder
unstatthafte Einwendungen geltend gemacht habe. In dieser
Situation sei aber nach allgemeinen Beweisregeln gar nichts
zu beweisen, sodass § 597 Abs. 2 ZPO sich auch nicht auf die
allgemeinen Beweisregeln, sondern nur auf § 592 ZPO beziehen könne.27 Siebtens wird schließlich die rechtspolitische
Fragwürdigkeit des Urkundenprozesses selbst ins Feld geführt. Die gesetzgeberischen Rechtfertigungen für die Einführung des Urkundenprozesses könnten letztlich nicht überzeugen: Von der „Verbriefung eines Rechts“ könne allenfalls die
Rede sein, wenn die Urkunde – wie etwa ein Wechsel oder
allgemeinkundigen und gerichtskundigen Tatsachen Stürner,
NJW 1971, 1257 (1260).
21
Bei einem ordentlichen Verfahren werden bei Säumnis des
Beklagten die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen gemäß
§ 331 Abs. 1 S. 1 ZPO als zugestanden angesehen. Ist der Beklagte dagegen im Urkundenprozess säumig, so genügt es
nach § 597 Abs. 2 ZPO nicht, dass der Kläger Tatsachen behauptet. Er muss diese vielmehr tatsächlich durch Urkunden
beweisen.
22
Braun (Fn. 17), § 592 Rn. 14. Hankel, AcP 71 (1887), 365
(384).
23
Stürner, NJW 1972, 1257 (1259); ähnlich ders., JZ 1974,
681 (682).
24
Gsell (Fn. 17), S. 913 (923, 924).
25
Hierauf stellt auch das OLG Schlewsig, Urt. v. 30.8.2013 –
1 U 11/13, Rn. 27 (juris) maßgeblich ab. Welche Art von Abgrenzungsschwierigkeiten gemeint ist, bleibt dagegen unerörtert.
26
Stürner, NJW 1972, 1257 (1259).
27
Stürner, NJW 1972, 1257 (1260); ders., JZ 1974, 681; zust.
Gsell (Fn. 17), S. 913 (923 f.).
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339
AUFSÄTZE
Matthias Fervers
ein Scheck – tatsächlich ein Recht des Gläubigers verbriefe,
nicht aber bei einem schriftlichen Vertrag.28 Auch von einer
„Unterwerfung“ des Schuldners durch die Errichtung einer
Urkunde könne jedenfalls nicht generell ausgegangen werden. Zum einen erfolge die Errichtung oftmals lediglich zu
Beweiszwecken, zum anderen umfasse der Urkundenbegriff
in § 592 ZPO auch solche Urkunden, an deren Errichtung der
Schuldner gar nicht mitgewirkt habe.29 Eine besondere Dringlichkeit sei schon deshalb keine ausreichende Legitimation,
da eine solche keine Zulässigkeitsvoraussetzung des Urkundenprozesses darstelle. In dringlichen Fällen stehe dem Gläubiger vielmehr das Arrestverfahren zur Verfügung.30 Auch
ein verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch nach
§§ 600 Abs. 2, 300 Abs. 4 S. 3 ZPO gleiche die Nachteile des
Beklagten nicht immer vollständig aus.31 Vor diesem Hintergrund sei der Urkundenprozess auf die vom Gesetz vorgegebenen Fälle zu beschränken und nicht auch noch über seinen
Wortlaut hinaus auszudehnen.32
c) Die Auffassung des OLG München
Schließlich wird wohl auch ein differenzierender Standpunkt
vertreten: Danach braucht der Kläger zwar prinzipiell im
Falle des Nichtbestreitens von Tatsachen durch den Beklagten den Urkundenbeweis nicht zu führen. Statthaftigkeitsvoraussetzung soll allerdings gleichwohl sein, dass dem Kläger
die Möglichkeit offen steht, den Urkundenbeweis zu führen.33
Dieser Auffassung hat sich anscheinend das OLG München
angeschlossen.34 Unklar bleibt hier allerdings, was mit der
„Möglichkeit“ des Urkundenbeweises genau gemeint ist.35
Macht der Kläger etwa – wie in dem vom OLG München entschiedenen Fall – einen Anspruch auf eine Nutzungsentschädigung geltend, so lässt sich das Erfordernis der „Möglichkeit
des Urkundenbeweises“ in zweierlei Hinsicht verstehen: einmal dahingehend, dass die geltend gemachte Nutzungsentschädigung abstrakt dem Urkundenbeweis zugänglich ist
oder aber dahingehend, dass der Kläger den Urkundenbeweis
sogar tatsächlich führen könnte, er also über entsprechende
Urkunden verfügt. Versteht man die Einschränkung im letzt-
28
Gsell (Fn. 17), S. 913 (918).
Gsell (Fn. 17), S. 913 (918 f).
30
Gsell (Fn. 17), S. 913 (919 f.); Hertel (Fn. 17), S. 119.
31
Gsell (Fn. 17), S. 913 (917); Hertel (Fn. 17), S. 73 ff.
32
Siehe die Nachw. in der vorhergehenden Fn.
33
Greger, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl. 2014,
Rn. 7, 11: „ […] Dass der Kläger im Falle des Nichtbestreitens durch die Beklagte den Urkundenbeweis nicht zu führen
braucht, ändert nichts daran, dass die Möglichkeit, ihn zu
führen, Statthaftigkeitsvoraussetzung des Urkundenverfahren
ist, also dem Kläger überhaupt erst den Weg zu dieser vereinfachten Titelerlangung öffnet […]“.
34
OLG München, Urt. v. 21.9.2011 – 7 U 4957/10, Rn. 34
(juris), unter Berufung auf die genannte Fundstelle und mit
wörtlichem Zitat. Wiederholt in OLG München, Urt. v. 23.12.
2011 – 7 U 3385/11, Rn. 11 (juris).
35
Ebenso Kratz (Fn. 2), § 592 Rn. 24.
29
genannten Sinne,36 so bestünden im Ergebnis kaum noch Unterschiede zur restriktiven Auffassung.37 Denn die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses und damit auch die Möglichkeit des Urkundenbeweises im konkreten Fall wären von
Amts wegen zu prüfen, sodass der Kläger die Urkunde auch
im Prozess vorlegen müsste.
d) Stellungnahme
Sowohl für die restriktive als auch für die herrschende Auffassung lassen sich gute Argumente ins Feld führen. Letztlich
gebührt der restriktiven Auffassung allerdings der Vorzug.
aa) Der Verweis auf den Willen des Gesetzgebers
Der Verweis der restriktiven Auffassung auf den Willen des
historischen Gesetzgebers ist zwar zutreffend. Es ist auch in
der Tat nicht richtig, wenn vonseiten der herrschenden Auffassung behauptet wird, der gesetzgeberische Wille habe sich
nicht im Gesetzeswortlaut niedergeschlagen. Es hat etwas Sophistisches, wenn der BGH meint, § 597 Abs. 2 ZPO enthalte
einen Verweis auf die allgemeinen Beweisregeln.38 Beide Befunde gebieten indes nicht zwingend eine restriktive Auslegung. Die gesetzgeberischen Erwägungen entfalten per se
keine absolute Bindungswirkung39 und der Wortlaut von
§§ 592, 597 Abs. 2 ZPO spricht zumindest nicht abschließend dafür, dass die Regeln des Urkundenbeweises nicht von
den allgemeinen Beweisregeln überlagert werden könnten.
bb) Der Verweis auf § 597 Abs. 2 ZPO
Der Hinweis der restriktiven Auffassung auf § 597 Abs. 2 ZPO
und die daraus resultierende Besserstellung des säumigen Beklagten40 überzeugt nur teilweise. § 597 Abs. 2 ZPO könnte
nur dann uneingeschränkt indizielle Wirkung entfalten, wenn
das Nichtbestreiten von Tatsachen durch den Beklagten seiner Säumnis tatsächlich gleichzustellen wäre. Das ist aber
nicht der Fall. Es ist etwas anderes, ob ein Beklagter in der
mündlichen Verhandlung erscheint und verhandelt und in
diesem Rahmen Tatsachen zugesteht bzw. auf richterlichen
Hinweis nicht bestreitet oder ob aufgrund seiner Säumnis der
Vortrag des Klägers aufgrund einer Fiktion (§ 331 Abs. 1 S. 1
36
Dieses Verständnis scheint auch das OLG München zugrundezulegen, vgl. OLG München, Urt. v. 21.9.2011 – 7 U
4957/10, Rn. 34 (juris): „ […] Der Kläger kann im vorliegenden Verfahren keine Urkunden vorlegen, die den geltend
gemachten Anspruch auf ‚Nutzungsentschädigung‘ für den
Dienstwagen mit Fahrer belegen könnten […]“.
37
Es überrascht daher, dass das OLG München keine Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen vornimmt.
Das Gericht ist denn auch in Rn. 58 der Auffassung, sich
nicht in Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung
gesetzt zu haben, sodass auch die Revision nicht zugelassen
wurde.
38
Zutreffend und deutlich Stürner, JZ 1974, 681; zust. Gsell
(Fn. 17), S. 913 (924).
39
Honsell, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2013, Einl.
zum BGB Rn. 136; Wenzel, NJW 2008, 345 (347).
40
Vgl. die Nachweise in Fn. 22.
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ZJS 4/2014
340
Urkundenprozess bei Werklohnforderungen
ZPO) nur als zugestanden gilt. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass die vom Kläger vorgetragene Tatsache der Wahrheit entspricht, ist im ersten Fall weitaus höher. Allerdings
erscheint es in der Tat seltsam, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Beklagter es in der Hand hat, durch Säumnis
dem Kläger die Möglichkeit des Urkundenprozesses zu entziehen und damit durch die Säumnis seine prozessuale Stellung zu verbessern.41
cc) Schwächen der restriktiven Auffassung
Erheblich für die herrschende Auffassung spricht, dass die
restriktive Auffassung – sofern man sie konsequent zu Ende
denkt – im Einzelfall zu nicht überzeugenden Differenzierungen führen würde. Das gilt insbesondere für Fälle, in denen
ein Vertragsschluss zwar urkundlich festgehalten ist, der Vertrag normativ allerdings auf anderem Wege zustande kam.
Unterstellt A sendet B ein Angebotsschreiben zum Abschluss
eines Kaufvertrags. Daraufhin begibt sich B zu A, erklärt sich
mündlich einverstanden und übergibt A die Kaufsache. Nach
der restriktiven Auffassung wäre eine Klage des B im Urkundenprozess als in der gewählten Prozessart selbst dann als unstatthaft abzuweisen, wenn A die Umstände des Vertragsschlusses genauso schildert wie B und auch sonst keinerlei
Einwendungen erhebt. Anders allerdings, wenn B dem A den
Abschluss des Vertrages schriftlich bestätigt, sich im Prozess
aber darauf beruft, die Kaufsache sei noch gar nicht übergeben worden. In diesem Fall müsste auch nach der restriktiven
Auffassung ein Urkundenvorbehaltsurteil ergehen, obwohl der
Beklagte in diesem Fall ungleich schutzwürdiger erscheint als
in der ersten Fallvariante.
Besonders anschaulich zeigt sich diese Problematik in Fällen, in denen der Zugang der Annahme nach § 151 S. 1 BGB
entbehrlich ist. Schickt der Bürge dem Gläubiger die Bürgschaftsurkunde und nimmt dieser sie zu den Akten, so ist dies
als konkludente Annahme anzusehen, deren Zugang allerdings
nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich ist.42 Nach der restriktiven
Auffassung könnte der Gläubiger hier auch dann nicht im
Urkundenprozess klagen, wenn der Bürge keine Einwendungen geltend macht. Hätte eine Übersendung der Annahme
stattgefunden, so könnte der Gläubiger dagegen erfolgreich
im Urkundenprozess klagen, selbst wenn der Bürge die Erfüllung der Bürgschaftsforderung behauptet und hierfür mehrere
Zeugen benennt.43
41
Dötsch, NZBau 2013, 767, wertet dies dagegen als Argument für die herrschende Auffassung.
42
BGH NJW 2000, 1563; BGH NJW 1997, 2233; OLG
Brandenburg WM 2006, 1855; Armbrüster, in: Erman, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2011, § 151 Rn. 5; Bork, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2010, § 151 Rn. 20; Busche,
in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 151
Rn. 11; Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB,
73. Aufl. 2014, § 151 Rn. 4.
43
Ebenfalls zum Beispiel der Bürgschaft Voit (Fn. 2), § 592
Rn. 11.
ZIVILRECHT
dd) Der Verweis auf die rechtspolitische Fragwürdigkeit des
Urkundenprozesses
Diesen Bedenken kann auch zumindest nicht isoliert mit dem
Argument begegnet werden, der Urkundenprozess sei als solcher fragwürdig, sodass sein Anwendungsbereich nicht über
Gebühr ausgedehnt werden sollte. Der Urkundenprozess mag
zwar in vielen Fällen unbillig erscheinen. Macht beispielsweise ein Mieter einen nachträglich aufgetretenen Mietmangel
geltend, so kann er diesen durch Urkunden regelmäßig nicht
beweisen, sodass sich der Vermieter mittels einer Zahlungsklage im Urkundenprozess zunächst einen vorläufig vollstreckbaren Titel verschaffen kann.44 Derartigen Unbilligkeiten ließe
sich allerdings auch auf anderem Wege begegnen, als dem
Kläger den Urkundenbeweis für unstreitige Tatsachen aufzuerlegen. De lege lata wäre hier zu erwägen, den Urkundenprozess in solchen Fällen als unstatthaft anzusehen, in denen
eine bestimmte Einwendung oder Einrede statistisch häufig
vorkommt, typischerweise aber nicht mit Urkunden bewiesen
werden kann.45 De lege ferenda wäre eine Beschränkung des
Urkundenprozess im b2c-Verhältnis denkbar. Dem Kläger
aber allein wegen derartiger Unbilligkeiten generell die Beweislast für unstreitige Tatsachen aufzuerlegen, hätte Züge
einer „Breitbandmedikation“, weil diese Maßnahme auch den
Kläger treffen würde, dessen Klageforderung unstreitig weder Einwendungen noch Einreden entgegenstehen.
Richtig ist allerdings, dass die rechtspolitischen Argumente
den Urkundenprozess nicht rechtfertigen können. Insbesondere lässt sich der Urkundenprozess nicht plausibel damit
begründen, dass ein Gläubiger, der die anspruchsbegründenden beweisbedürftigen Tatsachen durch Urkunden beweisen
kann und den Urkundenprozess wählt, zumeist mit einer statistisch höheren Wahrscheinlichkeit auch „am Ende die Ober44
Nach der Rechtsprechung des BGH ist der Urkundenprozess nicht nur dann statthaft, wenn der Mieter einen nachträglich aufgetretenen Mangel geltend macht (BGH NJW 2005,
2701; BGH NJW 2007, 1061), sondern auch, wenn der Mieter sich zwar auf einen anfänglichen Mangel beruft, diesen
aber unstreitig bei der Übergabe der Mietsache nicht gerügt
hat (BGH NJW 2009, 3099). Zu Recht nimmt der BGH allerdings an, dass wenn sich der Mieter wegen eines anfänglichen
Mietmangels bei der Annahme seine Mängelrechte vorbehält,
eine Klage im Urkundenprozess als in der gewählten Prozessart unstatthaft abzuweisen ist (BGH NJW-RR 2013, 1232).
In diesem Fall kann der Vermieter nämlich die Erbringung
der eigenen Vertragsleistung – die Übergabe der mangelfreien Mietsache – nicht mit Urkunden beweisen. Lesenswert
zur Beweislast bzgl. der Mangelverursachung durch den
Mieter BGH, Urt. v. 16.10.2013 – XII ZR 64/12.
45
Diesen Rechtsgedanken zieht die Rechtsprechung bei der
„Bürgschaft auf erstes Anfordern“ heran (BGHZ 148, 283 =
NJW 2001, 3549). Wenn ein Bürge die Bürgschaftsvaluta an
den Gläubiger gezahlt hat und diesen nun auf die Rückforderung verklagt, könnte der Gläubiger den Eintritt des materiellen Bürgschaftsfalls vielfach nicht mit Urkunden, sondern
erst im Nachverfahren beweisen, was nach Ansicht des BGH
mit dem Charakter der „Bürgschaft auf erstes Anfordern“
unvereinbar ist.
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341
AUFSÄTZE
Matthias Fervers
hand behält“.46 Denn diese statistische Wahrscheinlichkeit
wäre ja auch und gerade dann besonders hoch, wenn der Kläger zwar gar keine Urkunden vorlegt, die anspruchsbegründenden Tatsachen aber alle unstreitig sind. Ein solcher „Urkundenprozess ohne Urkunden“ ist aber nach nahezu einhelliger Auffassung gerade nicht möglich.47 Und wenn der Urkundenprozess im Fall größter statistischer Erfolgswahrscheinlichkeit unstatthaft ist, so kann die Erfolgswahrscheinlichkeit
auch nicht als Kriterium für die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses herangezogen werden.48 Wenn sich somit die statistische Erfolgswahrscheinlichkeit als Statthaftigkeitskriterium verbietet, so erscheint auch die soeben vorgenommene
Erwägung, den Urkundenprozess dann als unstatthaft anzusehen, wenn eine bestimmte Einwendung oder Einrede statistisch
häufig vorkommt, typischerweise aber nicht mit Urkunden
bewiesen werden kann, nicht tragbar. Denn der Sache nach
würde hier implizit eine Prüfung der Erfolgswahrscheinlichkeit vorgenommen, die sich beim Urkundenprozess aber wegen des Verbots eines „Urkundenprozesses ohne Urkunden“
nicht schlüssig durchhalten lässt.
Durch die gesetzgeberische Fehlkonzeption, auf der einen
Seite den Urkundenprozess mit der statistisch erhöhten Erfolgswahrscheinlichkeit zu begründen, aber auf der anderen
Seite keinen Urkundenprozess ohne Urkunden zuzulassen,
folgt leider, dass die großzügige herrschende Auffassung notwendig inkonsistent bleiben muss.
ee) Praktische Probleme bei der Anwendbarkeit der herrschenden Auffassung
Entscheidend gegen die herrschende Auffassung spricht die
durch deren Anwendung entstehende Rechtsunsicherheit.
Auch wenn es prima facie aus der Sicht des praktischen
Rechtsanwenders unnötig umständlich erscheinen mag, unstreitige Tatsachen dem (Urkunden)beweis zu unterwerfen,
lässt sich gleichwohl nicht von der Hand weisen, dass sich
auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH in vielen
Grenzfällen nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob der Urkundenbeweis statthaft ist oder nicht. Sofern gar keine Urkunde
vorgelegt wird, soll der Urkundenprozess nach Ansicht des
BGH – auch dann, wenn alle klagebegründenden Tatsachen
unstreitig sind – „zweifellos […] unstatthaft“ sein: für den
Urkundenprozess sei eine „sich auf die Klageforderung beziehende Urkunde begriffsnotwendig.“49 Zulässig sei nur, „Lücken“ beim geführten Urkundenbeweis auszufüllen. Dem BGH
ist zwar zuzustimmen, wenn er einen „Urkundenprozess ohne
Urkunden“ nicht für möglich hält. Dies würde den Wortlaut
des § 592 ZPO eindeutig überdehnen und über die Tatsache
hinweggehen, dass der Gesetzgeber gerade kein Verfahren
vorgesehen hat, in dem der Kläger ein Vorbehaltsurteil erlan46
Nach BGH, Urt. v. 12.7.2001 – IX ZR 380/98, Rn. 17
(juris), liegt „gerade in der generell erhöhten Erfolgswahrscheinlichkeit des von Urkunden gestützten Rechtsschutzbegehrens und der erfahrungsmäßigen Seltenheit von Nachverfahren“ die „innere Rechtfertigung des Urkundenprozesses“.
47
Vgl. die Nachweise in Fn. 15.
48
Gsell (Fn. 17), S. 913 (925).
49
BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 24 (juris).
gen kann, wenn die Begründetheit der Klage überwiegend
wahrscheinlich ist.50 Allerdings bleibt doch die Frage, welche
Anforderungen der BGH an den Bezug der Urkunde zur
Forderung stellen will. Konkret ist hier erstens unklar, wie
„intensiv“ der Bezug der Urkunde zu den anspruchsbegründenden Tatsachen in sachlicher Hinsicht sein muss und zweitens, „wie viel“ die vorgelegte Urkunde beweisen muss, damit tatsächlich nur noch eine „Lückenfüllung“ verbleibt. In
dem vom BGH entschiedenen „Lieferschein-Fall“ konnte der
Kläger Lieferscheine, Frachtbriefdoppel und sich auf die
Lieferungen beziehende Rechnungen vorlegen. Nach Auffassung des BGH ließen diese Urkunden auf das „Bestehen der
behaupteten Forderung schließen“.51 Dieser Maßstab verträgt
sich allerdings kaum mit der Feststellung, dass nur „Lücken“
bei der Beweisführung möglich seien.52 Angenommen ein
Kläger legt als Urkunde lediglich ein Schreiben des Beklagten vor, in dem dieser erklärt: „Den Kaufvertrag über mein
Auto von letzter Woche kannst du dir abschminken“. Auch
diese Urkunde lässt auf das Bestehen einer Kaufpreisforderung schließen. Ob in diesem Fall der Urkundenprozess statthaft wäre, lässt sich kaum sagen. Denn zum einen ist der
normative Bezug zum Vertragsschluss nicht besonders hoch.
Zum anderen wird der Vertragsschluss selbst auch nicht bewiesen.
Auch die soeben unter III. 1. d) cc) erörterten Konstellationen lägen keineswegs eindeutig. Sofern eine Urkunde beispielsweise lediglich ein Vertragsangebot beweist, so ist es
höchst fraglich, ob in diesem Fall der Beweis der Vertragsannahme als „Lückenfüllung“ angesehen werden kann. Ein Vergleich mit dem „Lieferschein-Fall“ des BGH hilft auch nicht
weiter. Denn einerseits ist in den bereits erörterten Konstellationen zwar immerhin das Vorliegen eines Angebots mit den
zugehörigen essentialia negotii bewiesen, auf das Vorliegen
eines Vertrags lässt sich jedoch aufgrund der Urkunde nicht
schließen. Andererseits geht aus Rechnungen (im „Lieferschein-Fall“) zwar hervor, dass der Aussteller von einem geschlossenen Vertrag ausgeht; aber weder Angebot noch Annahme sind tatsächlich bewiesen.
Das wesentliche Problem liegt darin, dass sich auch kein
justiziables Kriterium für die Lösung derartiger Grenzfälle
finden lässt. Insbesondere verbietet sich auch hier eine Differenzierung nach der statistischen Wahrscheinlichkeit. Und
weil sich kein Kriterium für die Abgrenzung finden lässt,
müsste jede höchstrichterliche Entscheidung insoweit eine
schwer begründbare Einzelfallentscheidung bleiben.
50
Gsell (Fn. 17), S. 913 (925).
BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 27 (juris).
Diese vage Formulierung dürfte auch der Grund für die Uneinheitlichkeit der obergerichtlichen Rechtsprechung sein.
Vgl. die Nachweise in Fn. 16.
52
Ebenso Stürner, JZ 1974, 681: „Es ist einfach unrichtig,
wenn der BGH ausführt, das Nichtbestreiten schließe nur Lücken des Urkundenbeweises.“ Hieraus folgert Stürner, nunmehr könne „jeder Kläger im Urkundenprozess klagen, der
zum klagebegründenden Rechtsverhältnis irgendeine Urkunde
– auch ohne unmittelbaren Beweiswert – vorlegt […]“.
51
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ZJS 4/2014
342
Urkundenprozess bei Werklohnforderungen
ff) Zusammenfassung
Somit lässt sich letztlich Folgendes festhalten: Die Systemwidrigkeit des Urkundenprozesses führt dazu, dass keine Auffassung vollends zu überzeugen vermag. Die restriktive Auffassung führt zu den oben bereits dargestellten sinnwidrigen
Differenzierungen. Die herrschende Auffassung wäre demgegenüber nur dann konsequent, wenn auch ein „Urkundenprozess ohne Urkunden“ möglich wäre. Dies überdehnt jedoch den Wortlaut des § 592 ZPO deutlich und wird daher zu
Recht nahezu einhellig abgelehnt. Ohne einen „Urkundenprozess ohne Urkunden“ erscheint die herrschende Auffassung jedoch auch nicht stimmig und sieht sich vor allem dem
Vorwurf der fehlenden Rechtssicherheit und Praktikabilität
ausgesetzt. Deshalb erscheint die restriktive Auffassung –
trotz berechtigter Bedenken – zumindest als das „kleinere
Übel“.
2. Die Ausführungen des OLG Schleswig zum Vertragsschluss
Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zum Vertragsschluss und seiner Nichtbeweisbarkeit mit Urkunden sind in
sich schlüssig. In der Tat wird man im vorliegenden Fall annehmen müssen, dass die Annahme der Beklagten nach § 150
Abs. 1, Abs. 2 BGB als neuer Antrag zu qualifizieren und der
Werkvertrag daher tatsächlich erst durch die Ausführung der
Bauarbeiten zustande gekommen ist. Da der Vertragsschluss
somit nicht lückenlos durch Urkunden bewiesen werden kann,
ist es konsequent, wenn das OLG Schleswig von seinem
Standpunkt aus die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses ablehnt, obwohl der Vertragsschluss als solcher zwischen den
Parteien nicht streitig war. An diesem Fall zeigen sich wiederum anschaulich die Probleme beider Auffassungen. Hätte
die Klägerin nicht sogleich mit den Bauarbeiten begonnen,
sondern vorher noch ein Fax mit dem Inhalt „In Ordnung, ich
beginne morgen“ zurückgesendet, wäre der Vertragsschluss
lückenlos mit Urkunden beweisbar und der Urkundenprozess
deshalb unstreitig statthaft gewesen. Im konkreten Fall kommt
hinzu, dass die Beklagte nicht nur die Durchführung der Bauarbeiten tatsächlich nicht bestritten hat, sondern selbst in
einem ordentlichen Verfahren faktisch noch nicht einmal die
Möglichkeit des Bestreitens gehabt hätte. Denn dass die Bauarbeiten durch die Klägerin durchgeführt worden sind, hätte
sich leicht überprüfen lassen, sodass die Beklagte durch ein
Bestreiten offensichtlich gegen ihre prozessuale Wahrheitspflicht nach § 138 Abs. 1 ZPO verstoßen hätte. Die restriktive
Auffassung erscheint vor diesem Hintergrund auf den ersten
Blick grob unbillig. Aber auch auf der Grundlage der herrschenden Auffassung ließe sich nicht mit letzter Sicherheit
sagen, ob ein Urkundenprozess statthaft wäre oder nicht. Die
Klägerin hat lediglich das Vertragsangebot durch Urkunden
bewiesen. Es ergibt sich aus dem vorgelegten Fax weder der
Vertragsschluss insgesamt, noch lässt sich (im Gegensatz
zum „Lieferschein-Fall“) darauf schließen, dass eine Partei
von einem bereits geschlossenen Vertrag ausgeht. Die herrschende Auffassung führt also in casu wiederum zu einer
Rechtsunsicherheit bezüglich der Statthaftigkeit. Wenn in der
Praxis dagegen anerkannt wäre, dass sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden müssen, stünde ein Kläger nicht mehr vor der schwierigen und
ZIVILRECHT
riskanten Entscheidung, ob er im Urkundenprozess klagen
soll oder nicht.
3. Die Ausführungen des OLG Schleswig zur Abnahme
Das OLG Schleswig lässt die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses zumindest an zwei weiteren Punkten scheitern: Zwar
habe die Beklagte keine Mängel behauptet, eine Abnahme sei
gleichwohl nicht erfolgt. Ob der Werkunternehmer in diesem
Fall überhaupt auf Zahlung des Werklohns klagen könne, sei
ungeklärt (hierzu a). Jedoch habe die fehlende Abnahme in
jedem Fall zur Folge, dass die Klägerin die Abnahmereife
und damit die Mangelfreiheit des Werkes hätte beweisen müssen (hierzu b). Darüber hinaus beinhalte im Fall einer unberechtigten Abnahmeverweigerung die Klage auf Werklohn
immer konkludent auch die Klage auf Erklärung der Abnahme. Und im Urkundenprozess könne der Anspruch auf die
Erklärung der Abnahme nicht eingeklagt werden, da gemäß
§ 592 ZPO im Urkundenprozess nur ein Anspruch auf Zahlung
einer bestimmten Geldsumme oder auf die Leistung bestimmter vertretbarer Sachen eingeklagt werden könne (hierzu c).53
a) Werklohnklage ohne Abnahme
Das OLG Schleswig meint, es sei „ungeklärt“, ob der Werkunternehmer im Falle unberechtigter Abnahmeverweigerung
sofort auf die Zahlung des Werklohns klagen kann. Dagegen
spreche die Möglichkeit der Fristsetzung nach § 640 Abs. 1
S. 3 BGB.54
Grundsätzlich ist gemäß § 641 Abs. 1 S. 1 BGB die Abnahme Voraussetzung für die Fälligkeit der Vergütung.55
Nimmt der Besteller das Werk trotz Abnahmereife nicht ab,
so hat der Unternehmer in der Tat die Möglichkeit, gemäß
§ 640 Abs. 1 S. 3 BGB eine Frist zur Abnahme zu setzen;
nach Fristablauf wird die Abnahme fingiert. Diese Option
bietet sich für den Unternehmer insbesondere dann an, wenn
der Besteller untätig bleibt. Sofern der Besteller die Abnahme
jedoch ernsthaft und endgültig verweigert, konnte der Unternehmer zumindest vor der Einführung des § 640 Abs. 1 S. 3
BGB nach ganz herrschender Auffassung unmittelbar auf die
53
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 44 f.
(juris).
54
OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 44
(juris).
55
Einen anderen Ansatz verfolgen Peters/Jacoby, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2013, § 641 Rn. 3b ff. Hiernach soll sich die Fälligkeit nach der allgemeinen Bestimmung des § 271 BGB richten und die berechtigte Abnahmeverweigerung nicht zu einer Abweisung der Klage als „zurzeit unbegründet“, sondern lediglich zu einer Zug-um-ZugVerurteilung führen. Ausführlich dagegen Voit, in: Beck’scher
Online-Kommentar zum BGB, Ed. 31, Stand: 1.2.2013, § 641
Rn. 14. Auch die Rechtsprechung versteht die Abnahme offensichtlich als Fälligkeitsvoraussetzung, vgl. nur BGH, Urt. v.
18.12.1980 – VII ZR 41/80, Rn. 10 ff. (juris), wo der BGH
davon ausgeht, dass der Anspruch auf Werklohn erst mit der
Abnahme entsteht und dass auch erst in diesem Zeitpunkt
eine Klagemöglichkeit des Unternehmers besteht.
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343
AUFSÄTZE
Matthias Fervers
Zahlung des Werklohns klagen.56 Entgegen der Auffassung
des OLG Schleswig kann auch die zum 1.1.2002 eingeführte
Möglichkeit der Fristsetzung nach § 640 Abs. 1 S. 3 BGB
hieran nichts ändern. Denn erstens ergibt im Falle ernsthafter
und endgültiger Abnahmeverweigerung eine Fristsetzung keinen Sinn mehr.57 Und zweitens sollte die Rechtsstellung des
Unternehmers durch die Möglichkeit der Fristsetzung nach
§ 640 Abs. 1 S. 3 BGB nicht verschlechtert, sondern verbessert werden.58 Auch der BGH geht davon aus, dass eine Fristsetzung nach § 640 Abs. 1 S. 3 BGB im Falle endgültiger
Abnahmeverweigerung entbehrlich ist.59
Das Problem liegt also weniger darin, dass der Unternehmer im Falle der Abnahmeverweigerung überhaupt die Möglichkeit hat, auf den Werklohn klagen, sondern vielmehr darin, dass der Unternehmer nach zutreffender Auffassung auch
mit Urkunden beweisen müsste, dass der Besteller die Abnahme ernsthaft und endgültig verweigert hat. Nimmt man mit
der zutreffenden restriktiven Auffassung an, dass der Kläger
im Urkundenprozess alle beweisbedürftigen Tatsachen mit
Urkunden beweisen muss, so hätte die Klägerin in casu also
auch durch Urkunden beweisen müssen, dass die Beklagte
die Abnahme ernsthaft und endgültig verweigert hat.
b) Beweis der Abnahmereife
Sofern das OLG Schleswig meint, die Klägerin hätte selbst
im Falle einer unberechtigten Abnahmeverweigerung die Abnahmereife als Tatbestandsvoraussetzung mit Urkunden beweisen müssen, so ist dies im Ergebnis richtig. Erwägen ließe
sich aber, ob sich etwas anderes aus den (geringen) Anforderungen an den klägerischen Vortrag im Falle der Werklohnklage ergibt. Denn nach wohl übereinstimmender Auffassung
muss ein Kläger, der bei unberechtigter Abnahmeverweigerung auf Zahlung des Werklohns klagt, nichts zur Mängelfreiheit des Werkes vortragen. Der Kläger muss erst dann hierzu Stellung nehmen, wenn der Beklagte substantiiert Mängel
56
RGZ 58, 173 (176); 69, 381 (383); 171, 297 (301); BGHZ
50, 175 (177) = NJW 1968, 1873; BGH NJW-RR 1996, 883;
OLG Hamm NJW-RR 1994, 474; Peters/Jacoby (Fn. 55),
§ 641 Rn. 6; Sprau, in Palandt, Kommentar zum BGB,
73. Aufl. 2014, § 641 Rn. 5; Voit (Fn. 55), § 641 Rn. 5; krit.
Busche, Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012,
§ 641 Rn. 30, der die Anwendung von §§ 642, 643, 645, 649
BGB für ausreichend hält.
57
Sprau (Fn. 56), § 641 Rn. 5; Voit (Fn. 55), § 641 Rn. 5;
Koeble, BauR 2012, 1153 (1155 f.); tendenziell auch bereits
BGH, Urt. v. 25.4.1996 – X ZR 59/94, Rn. 19 (juris), wonach
der Einwand, der Werklohn sei mangels Abnahme nicht fällig, begrifflich voraussetze, dass die Abnahme noch erfolgen
kann, was im Falle endgültiger Abnahmeverweigerung nicht
der Fall ist.
58
So zutreffend BGH NJW 2003, 200; Sprau (Fn. 56), § 641
Rn. 5.
59
Ausdrücklich BGH, Urt. v. 8.11.2007 – VII ZR 183/05,
Rn. 19 (juris); BGH, Urt. v. 18.5.2010 – VII ZR 158/09,
Rn. 5 (juris).
vorträgt.60 Nun könnte man geneigt sein anzunehmen, dass
ein Kläger, der nichts zur Mangelfreiheit vortragen muss, auch
nach der restriktiven Auffassung zum Urkundenprozess die
entsprechende Tatsache auch nicht mit Urkunden beweisen
muss.
Dem ist jedoch nicht so. Denn obwohl der klagende Unternehmer nicht pauschal die Mängelfreiheit des Werkes vortragen muss, verbleibt sowohl die Behauptungs- als auch die
Beweislast für die ordnungsgemäße Leistungserbringung beim
Kläger. Den beklagten Besteller trifft bezüglich etwaiger
Mängel eine sog. sekundäre Darlegungslast,61 welche die objektive Beweislast aber gerade nicht umkehrt. Der Unterschied zum „Normalfall“ der sekundären Darlegungslast besteht zwar darin, dass der Kläger zur Mangelfreiheit ausdrücklich gar nichts vortragen,62 also noch nicht einmal pauschal die Mängelfreiheit behaupten muss. Hierbei handelt es
sich jedoch nur um eine Form der Auslegung des klägerischen Vortrags. Die pauschale Behauptung der Mangelfreiheit hätte keinen selbständigen Mehrwert.63 Vielmehr schließt
der Vortrag, die Werkleistung erbracht zu haben, typischerweise die Behauptung der Mangelfreiheit mit ein.64 Somit ist
ein Kläger, der die Herstellung des Werkes und die unberechtigte Abnahmeverweigerung vorträgt, seiner Behauptungslast
60
BGH NJW 1996, 1749; OLG Hamm NJW-RR 1994, 474
(475): „Dem Senat ist auch kein Fall bekannt, in dem eine
Werklohnklage deshalb abgewiesen worden ist, weil der
Unternehmer nichts zur Abnahmefähigkeit vorgetragen hat,
obwohl er dazu nach seinem eigenen Vorbringen oder dem
Vortrag des Bestellers keinen Anlaß hatte.“; Peters/Jacoby
(Fn. 55), § 641 Rn. 6; Werner/Pastor, Der Bauprozess,
14. Aufl. 2013, Rn. 1802.
61
Ein Grundfall zur sog. „sekundären Darlegungslast“ ist der
folgende: K macht gegen B einen Anspruch aus § 812 Abs. 1
S. 1 Alt. 1 BGB geltend, weil er B rechtsgrundlos Geld überwiesen hat. K trägt nach allgemeinen Grundsätzen die Beweislast für alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen von
§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB, also auch für das Merkmal
„ohne Rechtsgrund“. Da es K aber nicht möglich ist, jeden
denkbaren Rechtsgrund vorauseilend zu widerlegen, trifft B
insoweit eine „sekundäre Darlegungslast“. B muss daher das
Bestehen eines Rechtsgrundes – etwa eines wirksamen Kaufvertrags – behaupten. Tut B dies, verbleibt die Beweislast
jedoch bei K. K muss also das Nichtzustandekommen oder
die Unwirksamkeit des Kaufvertrags beweisen. Ausführlich
zur sekundären Darlegungslast vgl. Bacher, in: Beck’scher
Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 12, Stand: 15.3.2014, § 284
Rn. 84 ff. sowie zu § 812 Abs. 1 BGB: BGH NJW 1990, 392;
NJW 1995, 662; BGH NJW 2003, 1039; BGH NJW 2011,
2130; Sprau (Fn. 56), § 812 Rn. 76; Stadler, in: Jauernig,
Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2014, § 812 Rn. 20 f.
62
K müsste im eben skizzierten Grundfall zumindest vortragen, dass kein Rechtsgrund für die Überweisung des Geldes
bestand.
63
OLG Hamm NJW-RR 1994, 474 (475).
64
Dementsprechend nimmt OLG Hamm NJW-RR 1994, 474,
auch an, dass der Unternehmer mit seiner Klage konkludent
die Mangelfreiheit behauptet.
_____________________________________________________________________________________
ZJS 4/2014
344
Urkundenprozess bei Werklohnforderungen
in Bezug auf die Mangelfreiheit nachgekommen. Das ändert
aber nichts daran, dass weder Behauptungs- noch Beweislast
auf den Beklagten übergehen.
Somit gehört in der Tat auch die Abnahmereife (also die
Mängelfreiheit) zu den Tatsachen, die nach der zutreffenden
restriktiven Auffassung beim Urkundenprozess des Urkundenbeweises bedürfen.
c) Der Streitgegenstand der Werklohnklage bei unberechtigter
Abnahmeverweigerung
Die zweite These des OLG Schleswig, im Fall einer unberechtigten Abnahmeverweigerung enthalte eine Klage auf
Werklohn immer konkludent auch die Klage auf Erklärung
der Abnahme, liegt dagegen nicht gerade nahe. Angesichts
der Tatsache, dass sich für die Auffassung des Gerichts kaum
Belege finden lassen,65 verwundert insbesondere die knappe
Begründung. Im Gegenteil geht die ganz überwiegende Auffassung zu Recht davon aus, dass durch eine unberechtigte
ernsthafte und endgültige Abnahmeverweigerung der Anspruch auf Werklohn fällig wird, eine Abnahme also gar nicht
mehr erforderlich ist.66 Aus diesem Grund ist auch eine konkludente Klage auf Abnahme nicht notwendig. Hinzu kommt,
dass der Urteilstenor bei erfolgreicher Werklohnklage keine
gesonderte Verurteilung zur Abnahme enthält67 und der vom
OLG Schleswig angenommene „konkludente Antrag“ auch
nicht streitwerterhöhend wirken würde. Im Übrigen würden
sich auf der Grundlage der Auffassung des OLG Schleswig
erhebliche Komplikationen für den Kläger ergeben. Denn
durch das Urteil könnte die Abnahme nicht nach § 894 ZPO
(vollständig) als erfolgt gelten, da die Abnahme nicht lediglich eine Willenserklärung, sondern einen zweiteiligen Willensakt darstellt: die körperliche Hinnahme des Werkes verbunden mit der Erklärung, dass der Besteller das Werk im
Wesentlichen als vertragsgerecht anerkennt. Deshalb müsste
der klagende Unternehmer eine Vollstreckung nach § 888
Abs. 1 ZPO durchführen,68 bevor er wegen seiner Werklohnforderung vollstrecken kann. Die Unannehmlichkeiten, die
durch Möglichkeit einer unmittelbaren Werklohnklage vermieden werden sollten, würden somit nur in das Vollstreckungsverfahren verschoben. Daher ist entgegen der Auffas-
ZIVILRECHT
sung des OLG Schleswig davon auszugehen, dass die Abnahme bei deren unberechtigter ernsthafter und endgültiger
Verweigerung entbehrlich und somit auch eine Klage auf Abnahme weder ausdrücklich noch konkludent erforderlich ist.
IV. Fazit
Die besseren Gründe sprechen dafür, den Urkundenprozess
lediglich dann als statthaft anzusehen, wenn der Kläger alle
anspruchsbegründenden Voraussetzungen mit Urkunden bewiesen hat. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn Tatsachen
zwischen den Parteien unstreitig oder durch den Beklagten
zugestanden sind. Zwar führt diese Sichtweise bisweilen zu
unbefriedigenden Ergebnissen. Diese lassen sich aufgrund der
Systemwidrigkeit des Urkundenprozesses aber nie ganz vermeiden. Und für diese restriktive Sichtweise spricht entscheidend der Vorteil der Rechtsklarheit, sodass sie zumindest als
das „kleinere Übel“ erscheint. Dass die restriktive Auffassung
vorzugswürdig erscheint, zeigt sich auch am vom OLG Schleswig entschiedenen Fall.
Dieser zeigt darüber hinaus grundsätzlich, dass der Urkundenprozess bei der Werklohnklage regelmäßig jedenfalls
dann unstatthaft ist, wenn der klagende Unternehmer die Abnahme nicht mit Urkunden beweisen kann. Denn auch wenn
man mit der zutreffenden herrschenden Auffassung davon
ausgeht, dass der Unternehmer im Falle der unberechtigten
ernsthaften und endgültigen Abnahmeverweigerung die Möglichkeit hat, unmittelbar auf Zahlung des Werklohns zu klagen, so scheitert der Urkundenprozess in diesem Fall an zwei
Hürden: zunächst kann der klagende Unternehmer typischerweise nicht die ernsthafte und endgültige Abnahmeverweigerung urkundlich beweisen. Vor allem aber kann er durch Urkunden zumeist nicht beweisen, dass diese unberechtigt erfolgt ist. Denn die Abnahmereife und damit die Mangelfreiheit des Werkes gehört letztlich zu den anspruchsbegründenden Voraussetzungen einer solchen Werklohnklage und ist
mit Urkunden regelmäßig nicht beweisbar.
65
Allerdings heißt es bei Werner/Pastor (Fn.60), Rn. 1082 in
der Tat etwas missverständlich: „ […] dabei reicht ein Zahlungsantrag aus, da mit ihm konkludent die Abnahme der
Bauleistung begehrt wird.“ Auch wenn diesen Ausführungen
zu entnehmen ist, dass die Abnahme prozessual gerade nicht
beantragt werden muss, so wird doch suggeriert, dass die Abnahme prinzipiell noch erforderlich sei.
66
Peters/Jacoby (Fn. 55), § 641 Rn. 6; wohl auch Busche
(Fn. 56), § 640 Rn. 44, der allerdings davon ausgeht, dass die
Fälligkeit im Fall unberechtigter Abnahmeverweigerung nicht
durch die (nicht erfolgte) Abnahme, sondern durch den Annahmeverzug des Bestellers herbeigeführt wird.
67
Dötsch, NZBau 2013, 767 (768).
68
Busche (Fn. 56), § 640 Rn. 42; Derleder NZBau 2004, 237
(241); implizit auch OLG Stuttgart NJW 2011, 3172; a.A.
unter Verweis auf die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1
S. 1 GG Peters/Jacoby (Fn.55), § 640 Rn. 12.
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345
Der Lebenszyklus politischer Parteien – Eine „evolutionäre“ Einführung in das Parteienrecht – Teil 4/6
Von Prof. Dr. Julian Krüper, Bochum, Dr. Hana Kühr, Düsseldorf*
I. Rückblick auf die vorangegangenen Beiträge
Im ersten Beitrag dieser Reihe1 stand im Mittelpunkt, die Parteien als von Bürgern gegründete – grundrechtsverankerte –
Akteure des politischen Systems des Grundgesetzes zu verstehen. Der zweite Beitrag2 konzentrierte sich auf Fragen rund
um die Gründung politischer Parteien. Zentraler Ausgangspunkt war die verfassungsrechtliche Rechts- und Pflichtenstellung der Parteien, wie sie sich aus Art. 21 GG ergibt. Die
Bedeutung des einfachgesetzlichen Parteienbegriffs wurde erörtert und die Bedeutung von Parteisatzungen als Rechtstexten
und von Parteiprogrammen als politischen Dokumenten wurde
erwogen. Schließlich wurden die Grundstrukturen des für Bürger und Parteien gleichermaßen wesentlichen Mitgliedschaftsverhältnisses vorgestellt. Der unmittelbar vorangegangene Beitrag3 hatte die mit der Etablierung neu gegründeter Parteien
zusammenhängenden Fragen zum Gegenstand. Er befasste sich
damit, wie Parteien ihre Organisationsstrukturen fortentwickeln und wie sie ihre Ressourcen gewinnen und erhalten können. Dabei stand das gesetzlich vorgegebene System der staatlichen und der Eigenfinanzierung der Parteien im Mittelpunkt.
II. Einführung: Der „Beruf“ politischer Parteien
Staatliche Wahlen sind das hauptsächliche Aktionsfeld politischer Parteien.4 Wahlen sind insbesondere in der repräsentativen Demokratie ohne die Parteien als Intermediäre zwischen
Staat und Gesellschaft nicht denkbar. Hat sich eine Partei insofern verfestigt, als sie organisatorische Strukturen ausgebildet hat und ihre Finanzierung gewährleisten kann, ist es ihr
hauptsächliches Ziel, an staatlichen Wahlen mit Erfolg teilzunehmen. Erfolg bedeutet in diesem Kontext, dass möglichst
viele Mitglieder der eigenen Partei in den Bundestag und die
Landesparlamente, in kommunale Volksvertretungen und auch
das Europaparlament entsandt werden können.
Ist eine Partei durch eigene Mitglieder in einem oder mehreren Parlamenten vertreten, werden auch parlamentsrechtliche
Vorgaben für sie relevant. Die von Parteien entsandten und
von den Bürgern gewählten Abgeordneten können sich innerhalb der Parlamente zu Fraktionen zusammenschließen, die
rechtlich allerdings strikt von „ihren“ Parteien zu trennen
sind. Wegen dieser Trennung gelten für Fraktionen, obwohl sie
in der Praxis etwa im Bundestag personell teilidentisch mit
den Funktionsträgern der Parteien sind, andere Regeln als für
* Julian Krüper ist Inhaber der Professur für Öffentliches
Recht, Verfassungstheorie und interdisziplinäre Rechtsforschung
an der Ruhr-Universität Bochum; Hana Kühr ist Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf und war bis 2012 Mitarbeiterin am Institut für deutsches und internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF) an der HHU Düsseldorf.
1
Krüper/Kühr, ZJS 2014, 16.
2
Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143.
3
Krüper/Kühr, ZJS 2014, 241.
4
Henke, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bearbeitung 1991, Art. 21 Rn. 195.
Parteien. Zu beachten ist, dass parteiangehörige Mandatsträger
auch als Abgeordnete die Interessen ihrer Partei repräsentieren. Mit dem Status des durch die Wahl errungenen Mandates
gewinnen sie aber auch ein gewisses Maß an rechtlich gewährleisteter Unabhängigkeit von ihrer Partei. Darin zeigt sich erneut die vermittelnde Position der politischen Parteien in der
Verfassungsordnung des Grundgesetzes: Ihre Kandidaten treten als Privatpersonen für die Partei als Vereinigung von Bürgern zur Wahl an. Erringen die Kandidaten ein Mandat, übernehmen sie als Abgeordnete ein öffentliches Amt und treten
damit in die Sphäre des Staates ein, ohne wiederum ihre
Eigenschaft als Bürger und Parteimitglied aufzugeben. Durch
diese Ambivalenz wird der Einfluss der Parteien auf das
politische System gesichert. Die Teilnahme an Wahlen mit
allen dazugehörigen Aufgaben sowie die Arbeit von Parteimitgliedern in den Volksvertretungen sind daher die wichtigsten Aufgaben politischer Parteien. Die Chance auf politische Macht ist – legitimer – Triebfaktor der politischen Parteiarbeit.
III. Die Teilnahme an Wahlen
Die Vorbereitung von und Teilnahme an staatlichen Wahlen
ist also objektiv und subjektiv, vom Standpunkt des Rechts
wie der Parteien selbst, die wichtigste Aufgabe politischer
Parteien. Die Beteiligung von Parteien an Wahlen wird ausdrücklich im Aufgabenkatalog des § 1 Abs. 2 PartG genannt.
Die Wahrnehmung dieser Aufgabe wird durch die Gesamtheit
aller Vorschriften des Wahlrechts auf Verfassungsebene und
einfachgesetzlicher Ebene gesteuert. Daher ist ein Überblick
über das rechtliche Programm für staatliche Wahlen erforderlich, um diese Aufgabe der Parteien zu verstehen. Was Parteien sind, wie sie rechtlich und tatsächlich funktionieren, ist
sinnvoll nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Parteienrecht ist also eine Querschnittsmaterie, die zu wesentlichen
Teilen wahlrechtlicher Natur ist. Zur Veranschaulichung soll
hier das Bundestagswahlrecht im Mittelpunkt stehen; auf Landeswahlrecht oder das Europawahlrecht wird nur vereinzelt
Bezug genommen.
1. Verfassungsrechtliche Vorgaben an staatliche Wahlen
a) Die Bedeutung von Wahlen in der parlamentarischen
Demokratie
Parlamentswahlen sind der demokratisch wichtigste Akt zur
Begründung der Legitimation der staatlichen Gewalt, weil die
Wahlberechtigten durch ihre Entscheidung auf die Zusammensetzung des Bundestages als der Legitimationsmitte des Staates5 und in der Folge auch auf die staatliche Willensbildung
5
Hierzu Kirchhof, in: Brenner/Huber/Möstl, Der Staat des
Grundgesetzes, Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 237
(241 ff.).
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ZJS 4/2014
346
Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6
Einfluss nehmen.6 Die Legitimation durch den Souverän setzt
sich über die Parlamente – diese wirken an der Besetzung der
anderen Verfassungsorgane mit7 – in jedem Akt staatlicher
Gewalt fort und begründet den Zurechnungszusammenhang
zwischen staatlichem Handeln und dem Willen des Volkes.8
Durch die so geschaffene ununterbrochene Legitimationskette9
wird jedenfalls im rechtlichen Modell gewährleistet, dass im
Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG alle Staatsgewalt vom Volke
ausgeht. Dadurch, dass staatliche Wahlen in regelmäßigen
Abständen neu durchgeführt werden, wird gewährleistet, dass
die vom Souverän gespendete Legitimation „aufgefrischt“ und
aktuell gehalten wird, damit die Besetzung der Parlamente
dem aktuellen Willen des Volkes entspricht. Schließlich erfüllen staatliche Wahlen eine Integrationsfunktion, weil sie
politische Überzeugungen der Bürger über die Volksvertreter
in den staatlichen Entscheidungsprozess einspeisen.10
b) Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG
Die Grundsätze der Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit,
Gleichheit, Geheimheit der Wahl11 dienen dazu, bei allen staatlichen Wahlen dem Demokratieprinzip zur Geltung zu verhelfen.12 In ihrem Kern verkörpern sie das Wesen einer demokratischen Wahl. Die legitimierende Funktion des Wahlaktes wird durch sie gesichert. Dies geschieht dadurch, dass die
Machtausübung staatlicher Organe gerade wegen der Wahlrechtsgrundsätze besonders eng an den Willen des Volkes angebunden wird.13
Die Grundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verpflichten
insbesondere den Gesetzgeber, der sich in Wahrnehmung seines Regelungsauftrages in Art. 38 Abs. 3 GG zwar frei für
ein Wahlsystem entscheiden kann, dabei aber die Wahlrechtsgrundsätze beachten muss. Die dem Gesetzgeber durch
Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumte Gestaltungsmacht im Bereich
des Wahlrechtes findet demnach in den Wahlrechtsgrundsätzen
ihre verfassungsrechtliche Grenze.
6
Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2,
2. Aufl. 2006, Art. 38 Rn. 51.
7
Der Bundestag wählt den Bundeskanzler (Art. 63 GG) sowie
den Wehrbeauftragten (Art. 45b GG, § 13 WBeauftrG) und
den Präsidenten des Bundesrechnungshofes (§ 3 BRHG). Zudem wirkt der Bundestag an der Besetzung des BVerfG mit.
Über die Entsendung von Abgeordneten in Gremien (Bundesversammlung, Richterwahlausschüsse) nimmt der Bundestag
darüber hinaus an der Wahl des Bundespräsidenten (Art. 54
Abs. 1, 3 GG) und der Richter der Obersten Gerichtshöfe
(Art. 95 Abs. 2 GG) teil. Schließlich entsendet der Bundestag
Abgeordnete in den Vermittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2
S. 2 GG, § 1 BTBRGGO).
8
Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,
69. EL (Mai 2013), Art. 38 Rn. 68.
9
BVerfGE 47, 253 (275); 93, 37 (66); 107, 59 (87).
10
Kotzur, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 5, 2013, § 120 Rn. 11.
11
Für eine Darstellung der einzelnen Grundsätze siehe Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2013, 1078; Lampert, JuS 2011, 884.
12
BVerfGE 99, 1 (13).
13
Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 56.
ÖFFENTLICHES RECHT
Zwischen den Wahlrechtsgrundsätzen besteht keine Rangfolge im formellen Sinne.14 Man wird aber sagen können,
dass dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl eine überragende
Bedeutung zukommt.15 Dieses Gebot fordert, dass alle Staatsbürger ihr Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können. Das Wahlrecht des einen darf nicht mehr oder
weniger wert sein, als das des anderen. Genauer besagt das
Gebot der Gleichheit der Wahl, dass jeder Stimme der gleiche
Zählwert und – dies ist das durch einfaches Wahlrecht weitaus schwieriger herzustellende Ziel – der gleiche Erfolgswert
zukommt.16 Dies verlangt, dass jede abgegebene gültige Stimme jedenfalls rechtlich die gleiche Chance hat, sich auf die
endgültige Zusammensetzung des Parlamentes auszuwirken.17
Der in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verankerte besondere Gleichheitssatz ist streng und formal zu verstehen. Dementsprechend
sind die Anforderungen an die Rechtfertigung für die Durchbrechung des Wahlrechtsgrundsatzes besonders hoch: Das
BVerfG18 betont, dass eine Beeinträchtigung der Wahlgleichheit nur durch einen zwingenden Grund19 gerechtfertigt werden kann.20 Als zwingende Rechtfertigungsgründe kommen
grundsätzlich solche in Betracht, die die Funktionen der Wahl
selbst sichern sollen. Im Zusammenhang der Rechtfertigung
von Sperrklauseln wurde der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments und der Integrationswirkung von Wahlen
eine solche Rechtfertigungskraft zugesprochen.21 Auch Beschränkungen der übrigen Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38
Abs. 1 GG sind nur durch zwingende Gründe zu rechtfertigen.
Mit der Wahlgleichheit in engem Zusammenhang steht
die Allgemeinheit der Wahl, weil auch sie die Egalität der
Staatsbürger sicherstellen soll.22 Die Wahl ist allgemein, wenn
keine Bevölkerungsgruppen von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Damit stellt das Gebot einer allgemeinen Wahl
ein besonderes Diskriminierungsverbot dar. Beschränkungen
der Allgemeinheit der Wahl haben auch historische Tradition;
wenngleich sie nach und nach abgebaut worden sind, bestehen wirksame Beschränkungen der Allgemeinheit der Wahl
bis heute fort. So hat das BVerfG etwa das Erfordernis, im
Wahlgebiet sesshaft zu sein,23 als verfassungsgemäß erachtet.
Eine verfassungsunmittelbare Schranke der Allgemeinheit der
14
BVerfGE 99, 1 (13).
Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005,
§ 45 Rn. 36, nennt die Wahlrechtsgleichheit den politischsten
der Wahlgrundsätze.
16
Krüper, ZRP 2014, im Erscheinen.
17
BVerfGE 95, 335 (353); 120, 82 (103); 121, 266 (295).
18
BVerfGE 1, 208 (249) – ständige Rspr.
19
Etwa in BVerfGE 129, 300 (320); 124, 1, (19); 121, 266
(297), ist die Rede von einem Rechtfertigungsgrund, der der
„Wahlgleichheit die Waage halten kann“. Damit meint das
Gericht in der Sache dasselbe, vgl. Morlok, JZ 2012, 76 (77 f.);
Grzeszick/Lang, Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht,
2012, S. 78 ff.
20
Morlok/Kühr, JuS 2012, 385 (388 f.).
21
S. hierzu noch III. 3. c) aa).
22
BVerfGE 99, 1 (13); Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 90.
23
BVerfGE 58, 202 (205 f.).
15
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347
AUFSÄTZE
Julian Krüper/Hana Kühr
Wahl ergibt sich aus dem in Art. 38 Abs. 2 GG festgelegten
Mindestwahlalter.
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert, dass
sich die Zusammensetzung des Parlamentes allein und ohne
jegliche Vermittlung nach dem im Wahlakt entäußerten Willen
des Volkes bestimmt. Aktuell geworden ist der Grundsatz in
der jüngeren Vergangenheit vor allem im Zusammenhang mit
dem sogenannten „negativen Stimmgewicht“, einem mathematischen Paradoxon des Wahlrechts.24
Nach dem Grundsatz der Freiheit der Wahl muss die Willensäußerung bei der Wahl frei von Zwang oder unsachlichen
äußeren Einflüssen sein. Außerdem muss den Wahlberechtigten bei der Stimmabgabe eine Auswahl möglich sein; das Angebot einer einzigen Wahlmöglichkeit stellt schon begrifflich
keine Wahl dar.
Die Geheimheit der Wahl schließlich sichert die Freiheit
der Wahl insofern ab, als sie unstatthafte Beeinflussungsversuche auf den Akt der Wahl untersagt.25 Wenn jeder Wähler
seine Stimme geheim abgibt, kann er sich eventuellen Zwängen leichter entziehen. Der freiwillige Verzicht eines Wahlberechtigten auf die Geheimheit der Wahl – etwa durch Bekanntgabe seiner Wahlentscheidung – führt so lange nicht zur
Unzulässigkeit der Wahl, wie Private die Freiheit anderer
Wähler nicht beeinträchtigen. Diese Grenze war etwa im Zusammenhang mit vorab bei Twitter veröffentlichten Wahlergebnissen zu diskutieren.26
Neben den fünf ausdrücklich in der Verfassung genannten
Wahlrechtsgrundsätzen existiert ein weiterer, ungeschriebener
Grundsatz. Die Öffentlichkeit der Wahl wird aus Art. 38 Abs. 1
GG und Art. 20 Abs. 1 und 2 GG abgeleitet.27 Aus diesem
Grundsatz folgt, dass der Wahlakt, der der Ursprung staatlicher
Gewalt ist, der öffentlichen Kontrolle unterliegt.
c) Das Wahlrecht als subjektiv-öffentliches Recht
Das durch das Grundgesetz gewährleistete subjektive Wahlrecht ist das wichtigste Partizipationsrecht eines Bürgers im
demokratischen Staat. Das Wahlrecht ist ein „politisches
Grundrecht“28, weil es das effektivste (und auf Bundesebene
auch das einzige) Instrument der Bürger darstellt, um an der
politischen Willensbildung teilzuhaben. Dabei ist Art. 38 GG
nicht als ein echtes Grundrecht, sondern als ein grundrechtsgleiches Recht zu verstehen, weil es in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a
GG den Grundrechten gleichgestellt wird, ohne aber selbst im
Katalog der Grundrechte (Art. 1-19 GG) enthalten zu sein.
Das Wahlrecht gliedert sich in ein aktives und ein passives.
Das aktive Wahlrecht aus Art 38 Abs. 2, 1. Hs. GG gewährt
das Recht zu wählen und Wahlvorschläge zu machen. Das
Wahlrecht beschränkt sich also nicht auf den Moment der
Stimmabgabe, sondern entfaltet seine Schutzwirkung auch
24
Dazu Krüper, Jura 2013, 1147.
Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 110; Morlok (Fn. 6), Art. 38
Rn. 114.
26
Hierzu ausführlich Hientzsch, DÖV 2010, 357.
27
BVerfGE 123, 39 (68).
28
BVerfGE 1, 208 (242); Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 119;
Schneider, in: Denninger/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Alternativkommentar Grundgesetz, Bearbeitung 2002, Art. 38 Rn. 74.
25
schon im Vorfeld einer staatlichen Wahl. Das passive Wahlrecht im Sinne des Art. 38 Abs. 2, 2. Hs. GG meint das
Recht, selbst zum Abgeordneten gewählt zu werden. Obwohl
Art. 38 Abs. 2 GG als individuelles demokratisches Recht konzipiert ist, können sich auch politische Parteien und Wählervereinigungen auf das Wahlrecht berufen, da sie nach dem
einfachen Recht Wahlvorschläge einreichen dürfen und damit
ein passives Wahlrecht von den durch sie vorgeschlagenen
Bewerbern ableiten.29
d) Der Auftrag an den Gesetzgeber aus Art. 38 Abs. 3 GG
Die Anordnungen, die das Grundgesetz selbst in Art. 38 GG an
staatliche Wahlen stellt, sind wegen ihres hohen Abstraktionsgrades nicht dazu geeignet, dass allein auf ihrer Grundlage
tatsächlich Wahlen durchgeführt werden. Insbesondere gibt
die Verfassung nicht vor, nach welchem System Wahlen zum
Bundestag erfolgen sollen.30 Das insofern offene Verfassungsrecht muss einfachgesetzlich näher ausgeformt werden. Daher
überträgt die Verfassung in Art. 38 Abs. 3 GG die Aufgabe
der entsprechenden Konkretisierung dem Gesetzgeber. Die
Einordnung des Wahlrechts als materielles Verfassungsrecht31
zeigt auf, dass die Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze
durch den Gesetzgeber zwar nicht formell in der Verfassungsurkunde enthalten, aber inhaltlich dem Verfassungsrecht zuzuordnen ist. Was die Einordnung als materielles Verfassungsrecht konkret bedeutet, insbesondere auch im methodischen
Umgang, ist dabei allerdings nicht geklärt. Jedenfalls ist das
einfachgesetzliche Wahlrecht inzwischen hochgradig von einer
Reihe verfassungsgerichtlicher Maßstäbe geprägt, die sich aus
seiner Natur als materielles Verfassungsrecht erklären lassen
mögen.
Die Regelung des Art. 38 Abs. 3 GG räumt dem Bundesgesetzgeber das Recht ein, das Wahlrecht auszugestalten. Weil
es sich aber um einen echten verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsauftrag handelt, erlegt dieser dem Gesetzgeber gleichzeitig die Pflicht zur Normierung des Wahlrechts auf. Dabei
kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu,
der etwa die Entscheidung für ein Wahlsystem nicht festlegt.
Allerdings sind dem Gesetzgebungsauftrag verfassungsrechtliche Grenzen aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gesetzt. Außerdem
muss der Gesetzgeber, sofern er sich für ein Wahlsystem entscheidet, dieses folgerichtig und ohne Systemwidrigkeiten regeln.32 Wie schwierig die Aufgabe ist, ein Wahlverfahren mit
einer Beteiligung von knapp 62 Millionen Wahlberechtigten33
zu regeln, belegt die mittlerweile beeindruckende Änderungs29
Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 143.
Anders aber einige Landesverfassungen, die bereits die Entscheidung für ein Wahlsystem (in Grundsätzen) aussprechen,
vgl. Art. 28 Verf. BW; Art. 14 Verf. Bayern; Art. 80 Verf.
RP; Art. 66 Verf. Saarland.
31
BVerfGE 121, 266 (296).
32
BVerfGE 120, 82 (103 f.); zum Gebot der Folgerichtigkeit
Payandeh, AöR 136 (2011), 578.
33
Bei der Bundestagswahl 2013 waren 61.946.900 Deutsche
zur Wahl berechtigt, vgl. die Angaben des Bundeswahlleiters:
http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_
BUND_13/ergebnisse/bundesergebnisse/.
30
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ZJS 4/2014
348
Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6
historie des BWahlG,34 die zu weiten Teilen von der Verfassungsrechtsprechung angestoßen wurde.
3. Das geltende einfachgesetzliche Wahlsystem auf Bundesebene
a) Grundmodelle der Wahlsysteme
Es existiert eine quasi unbegrenzte Vielzahl von verschiedenen
Wahlsystemen.35 Die relevantesten Grund-Wahlmodelle sind
das der Mehrheitswahl und das der Verhältniswahl. Die
Mehrheitswahl ist ein Wahlverfahren, bei dem Personen gewählt werden. Es ist dabei diejenige Person gewählt, die entweder die absolute (qualifizierte) oder relative Mehrheit36 der
Stimmen auf sich vereinigen konnte. Bei der Verhältniswahl
handelt es sich um ein Proportionalwahlsystem, bei dem die
zu vergebenden Mandate nach dem Verhältnis der für einen
Wahlvorschlagsträger abgegebenen Stimmen vergeben werden. Ziel dieses Systems ist es, dass das so zusammengesetzte
Parlament möglichst ein Spiegelbild der politischen Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft darstellt. Beide Grundmodelle einer Wahl haben in ihrer reinen Form Vor- und
Nachteile,37 weshalb sich der Bundesgesetzgeber für eine
Kombination in Form der personalisierten Verhältniswahl entschieden hat.
b) Die personalisierte Verhältniswahl des BWahlG38
Nach § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG findet die Wahl zum Deutschen
Bundestag „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ statt. Dieser Formulierung
zufolge handelt es sich bei dem durch das BWahlG geregelten System um ein Verhältniswahlrecht, das durch Elemente
der Personenwahl (Mehrheitswahl) ergänzt wird. Die Abgeordneten werden zur einen Hälfte in Wahlkreisen in Form der
relativen Mehrheitswahl und zur anderen Hälfte aus sog. starren Landeslisten39 der Parteien nach Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Technisch wird diese Verbindung der
Wahlsysteme dadurch ermöglicht, dass jeder Wähler zwei
Stimmen hat. Mit der Erststimme beeinflusst der Wähler die
personelle Zusammensetzung des Parlamentes (relative Mehr34
Zum relativ jungen BWahlG gibt es inzwischen 22 Änderungsgesetze; siehe für einen konkreten Fall Krüper, Jura
2013, 1147.
35
Strelen, in: Schreiber (Begr.), Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 9. Aufl. 2013, § 1 Rn. 110.
36
Zum Mehrheitsprinzip als Funktionsregel siehe Krüper, ZJS
2009, 477.
37
Überblick bei Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 156; Strelen
(Fn. 35), § 1 Rn. 116.
38
Das Wahlsystem kann hier nur in seinen Grundzügen dargestellt werden. Zur Vertiefung siehe Strelen (Fn. 35), § 1
Rn. 109 ff.; Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl.
2014, S. 141 ff.; zusammenfassend Lechleitner, Jura 2002,
602.
39
Die Alternative zu starren Listen sind sog. freie Listen, bei
denen die Wähler die Reihenfolge der Bewerber auf einer
Parteiliste ändern und unter Hinzuziehung anderer Listen eine
„eigene“ Liste erstellen können.
ÖFFENTLICHES RECHT
heitswahl) und die Zweitstimme entscheidet darüber, wie viele
Sitze die Parteien im Parlament erhalten (Verhältniswahl).
Die Berechnung des Wahlergebnisses und die Sitzzuteilung
erfolgt nach dem in § 6 BWahlG festgelegten Verfahren.
Die konkreten Festlegungen des Bundestagswahlrechts
führen häufig zu Rechtskonflikten. Insbesondere Überhangmandate und Sperrklauseln sind auch wegen der durch sie
veranlassten Verzerrung der Chancengleichheit der Parteien
heftig umstritten.40
4. Die Rolle der Parteien bei staatlichen Wahlen
a) Parteien als Wahlvorbereitungs- und Willensbildungsorganisationen
Die Verfassung überträgt Parteien eine Reihe von Aufgaben.41
Hervorzuheben sind an dieser Stelle die im Kontext von
Wahlen stehenden Leistungen von Parteien. Die Parteien sind
Wahlvorbereitungsorganisationen, das heißt sie beteiligen
sich an staatlichen Wahlen, indem sie diese vorbereiten und
durchführen.42 Sie bilden Personal zur Besetzung der staatlichen Ämter heran, nominieren aus ihren Reihen Wahlbewerber, die sich dann zur Wahl stellen. In dieser Aufgabe erschöpft sich die wahlbezogene Funktion der Parteien – mittlerweile auch nach Auffassung des BVerfG – jedoch nicht.
Denn ein wesentlicher Beitrag der Parteien im Zusammenhang
mit Wahlen ist, dass sie den Bürgern einen wirksamen Einfluss auf staatliche Entscheidungen ermöglichen, indem sie
sie freiwillig zu politischen Handlungseinheiten bündeln.43
Die dauernde Einflussnahme der Parteien auf die politische
Willensbildung des Volkes wirkt sich auch bei staatlichen
Wahlen aus.
b) Das privilegierte Wahlvorschlagsrecht der Parteien nach
dem BWahlG
Bereits aus dem verfassungsrechtlichen Gebot der Wahlfreiheit
ergibt sich, dass es auch ein freies Wahlvorschlagsrecht für
alle an der Wahl Beteiligten geben muss.44 Für die politischen
Parteien folgt das Wahlvorschlagsrecht aus der Gewährleistung der Parteienfreiheit in Art. 21 Abs. 1 GG. Das Vorschlagsrecht steht sowohl den Parteien (§§ 18 Abs. 1, 2
BWahlG) als auch den Wahlberechtigten (§§ 18 Abs. 1, 20
BWahlG) zu.
Politische Parteien können sowohl in jedem Wahlkreis
Wahlkreisvorschläge (§ 18 BWahlG) als auch in jedem Land
Vorschläge für die Wahl nach Landeslisten (§ 27 Abs. 1
BWahlG) einreichen. Letztere Möglichkeit ist Nicht-Parteien
verwehrt. Grund für diese Unterscheidung ist, dass eine Liste
von Wahlbewerben ein gewisses Maß an Kohärenz aufweisen
muss, die der Gesetzgeber in der einheitlichen politischen
40
Diese wahlrechtlichen Konflikte werden im folgenden Beitrag thematisiert.
41
Vgl. Krüper/Kühr ZJS 2014, 143 (144 ff.).
42
BVerfGE 8, 51 ff. In dieser Entscheidung sah das BVerfG
die Wahlvorbereitung noch als hauptsächliche Aufgabe der
Parteien an.
43
BVerfGE 85, 264 (284).
44
BVerfGE 41, 399 (417); 47, 253 (282); 89, 243 (251).
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349
AUFSÄTZE
Julian Krüper/Hana Kühr
Überzeugung einer Partei als gewährleistet angesehen hat.45
Auf der Landesliste einer Partei werden deren Landeslistenbewerber, die innerparteilich nominiert wurden, in einer bestimmten, ebenfalls von der Partei festgelegten Reihenfolge
aufgeführt. Die Reihenfolge der Bewerber entscheidet darüber, wer einen Sitz im Bundestag erhält, weil sich die Sitzzuteilung an der Abfolge auf der Landesliste orientiert. Je
weiter ein Kandidat oben auf der Liste steht, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Sitz im Bundestag erhält.
Auch bei einem Nachrücken für einen ausgeschiedenen Abgeordneten wird die Reihenfolge der entsprechenden Landesliste berücksichtigt. Die Zahl der Bewerber auf einer Liste ist
gesetzlich nicht vorgegeben, es existiert weder eine Obernoch eine Untergrenze. Große Parteien werden zweckmäßigerweise mehr Kandidaten auf die Liste wählen als kleine Parteien, bei denen von vornherein klar ist, dass ihr Wahlerfolg
nicht erlauben wird, eine Vielzahl von Abgeordneten in das
Parlament zu senden. Ist eine Liste aber „abgearbeitet“, weil
eine Partei etwa nur wenige Kandidaten nominiert hat, aber
wider Erwarten einen großen Wahlerfolg erzielte, so besteht
eine Möglichkeit der Nachnominierung nicht, wenn etwa bei
vorzeitigem Ausscheiden Nachrücker bereitstehen müssten.
Dabei handelt es sich allerdings nur um ein eher theoretisches
Problem. Bei der Bundestagswahl sind die Wähler an die von
den Parteien gewählten Reihenfolgen der Kandidaten gebunden, das heißt sie können weder verschiedene Listen miteinander verbinden, noch die Rangfolge auf einer Liste verbinden. Der Bundesgesetzgeber hat sich – anders als einige Landesgesetzgeber im Kommunalwahlrecht – für sog. starre
Listen entschieden.
Politische Parteien dürfen ihr Vorschlagsrecht nur einzeln
ausüben. Das gilt sowohl für die Wahlkreisvorschläge als auch
für die Landeslisten. Ausgeschlossen ist es also, dass zwei
oder mehrere Parteien einen gemeinsamen Kreiswahlvorschlag
oder eine gemeinsame Landesliste einreichen. Unbenommen
ist es ihnen jedoch, untereinander taktische Absprachen dergestalt zu treffen, dass sie jeweils zugunsten der anderen Partei nur in bestimmten Wahlkreisen Kandidaten aufstellen.46
Das Wahlvorschlagsrecht der Parteien ist stärker als das
der übrigen Vorschlagsberechtigten. Den politischen Parteien
wird aufgrund der recht hohen Anforderungen an Kreiswahlvorschläge der anderen Wahlvorschlagsträger in § 20 Abs. 3
BWahlG eine Bevorzugung zuteil. Andere Wahlvorschläge –
also diejenigen, die nicht von politischen Parteien eingereicht
werden – können danach nur durch eine Gruppe von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises eingereicht werden. Im Ergebnis ist es damit für einen parteilosen Wahlbewerber erheblich schwieriger, ein Bundestagsmandat zu erringen.47 Wahlbewerber können zudem nur Kreiswahlvorschläge einreichen, während politischen Parteien nach § 27
BWahlG das Monopol zukommt, Landeslisten zu bilden.
Das Privileg, das den Parteien hier zuteil wird, erklärt sich
aus ihrer herausgehobenen verfassungsrechtlichen Stellung und
ihrer Funktion der Interessenbündelung. Die Regelungen zum
Wahlvorschlagsrecht im BWahlG gehen davon aus, dass die
organisatorische Verfestigung der Parteien bereits hinreichend
die Relevanz der von ihnen durch eine Kandidatur beförderten Zwecke dokumentiert. Ökonomisch gewendet zeigt sich,
dass der Zugang zur Wahl als Kandidat eine knappe Ressource ist, wenn die Wahl nicht wegen Zersplitterung des
Kandidatenpanoramas dysfunktionale Ergebnisse produzieren
soll. Die Beschränkung des Wahlzugangs ist damit zwar eine
Einschränkung des passiven Wahlrechts, zugleich aber fördert sie erheblich eine effektive Verwirklichung der Allgemeinheit der Wahl: Unter der Voraussetzung nämlich, dass
auf ein zersplittertes Kandidatenfeld eine Sperrklausel Anwendung findet, droht eine Vielzahl von Stimmen wirkungslos zu
werden. Davon profitierten wiederum die wenigen großen
Parteien, für die die Sperrklausel keine Hürde ist, wodurch
diese in der Folge völlig überrepräsentiert wären. Einen „Vorgeschmack“ einer solchen Entwicklung hat die Bundestagswahl 2013 geboten, bei der rund 15 % aller abgegebenen
Stimmen nicht mandatsrelevant geworden sind.
45
48
Hahlen, in: Schreiber (Fn. 35), § 27 Rn. 2.
Hahlen (Fn. 45), § 18 Rn. 16.
47
Hahlen (Fn. 45), § 21 Rn. 1; Seifert, Die politischen Parteien
im Recht der Deutschen Bundesrepublik, 1975, S. 335.
46
c) Kandidatennominierung durch die Parteien
Die Bewerber einer Partei – seien es die Wahlkreisbewerber
oder die Listenkandidaten – kommen nicht zufällig zu ihrer
Kandidatur. Das Gesetz sieht in §§ 17 PartG, 21, 27 Abs. 5
BWahlG vor, dass die innerparteiliche Nominierung durch
eine Abstimmung eines Parteigremiums erfolgen muss. Damit
soll verhindert werden, dass Kandidaturen in einer Partei „unter der Hand“ vergeben werden. Zwar handelt es sich bei der
Kandidatenaufstellung in Parteien nicht um Wahlen im verfassungsrechtlichen Sinne, weil Parteien private Organisationen sind. Die innerparteilichen Wahlen bewirken jedoch eine
wichtige Vorprägung der staatlichen Parlamentswahlen.
Die innerparteiliche Kandidatenaufstellung ist aus zwei
Perspektiven zu sehen: Einerseits stellt sie eine innerorganisatorische Wahl dar, die ebenfalls von der Parteienfreiheit des
Art. 21 Abs. 1 GG geschützt ist und daher grundsätzlich nach
Maßgaben der jeweiligen Partei durchgeführt werden darf.
Die Heranbildung von Personal und auch dessen Auswahl ist
grundsätzlich eine interne Angelegenheit der Parteien. Andererseits prägt diese Wahl, obwohl sie innerhalb einer Partei
und nicht zwischen Parteien stattfindet, die staatlichen Wahlen
entscheidend vor. Denn aufgrund des soeben in Grundzügen
beschriebenen Wahlsystems des BWahlG entscheiden faktisch
die Parteien darüber, aus welchen Personen sich das spätere
Parlament zusammensetzen wird. Das Recht der Kandidatennominierung nimmt daher auch eine Zwischenstellung zwischen Parteien- und Wahlrecht ein; überwiegend wird vertreten, dass der Schwerpunkt im Wahlrecht liegt.48
Damit die staatlichen Wahlen von Beginn an als demokratisch zu qualifizieren sind, müssen auch die Kandidatenaufstellungen ein Minimum an demokratischen Anforderungen
wahren. Für die innerparteilichen Wahlen gilt ein KernbeHahlen (Fn. 45), § 21 Rn. 6; Morlok, Parteiengesetz, Nomos-Erläuterungen zum deutschen Bundesrecht, 2. Aufl. 2013,
§ 17 Rn. 3; Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidatenaufstellung, Handkommentar, 2011, BWahlG, Rn. 2 f.
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ZJS 4/2014
350
Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6
stand demokratischer Grundsätze.49 Ein undemokratisch zustande gekommener Wahlvorschlag einer Partei kann nicht
den Anfang einer ununterbrochenen demokratischen Legitimationskette staatlicher Gewalt bilden. Ein erheblicher demokratischer Mangel „infiziert“ den gesamten Prozess einer staatlichen Wahl.50 Die Wahlgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 2
GG gelten daher auch im Vorfeld der Wahlen für Kandidatennominierungen.
Weil die Bewerberaufstellung aber auch ein wichtiger Akt
innerparteilicher Entscheidungsfindung ist, sind die Demokratieanforderungen hieran durch Art. 21 Abs. 1 GG begrenzt.
Das bedeutet, dass den Parteien keine strikte Pflicht zur Vermeidung aller denkbaren Abstimmungsfehler aufzuerlegen ist.
Vielmehr müssen die Parteien bei Durchführung der innerparteilichen Wahlen „rechtlich mögliche und ihnen zumutbare
organisatorische Maßnahmen“51 vornehmen. Praktisch bedeutet dieser insoweit reduzierte Demokratiemaßstab, dass beispielsweise die bei staatlichen Wahlen erforderlichen Wahlurnen und -kabinen bei innerparteilichen Wahlen von einer
Partei nicht zur Verfügung gestellt werden müssen.52
Die Kandidatenauswahl ist eine Aufgabe der Parteien im
Sinne des § 1 Abs. 2 PartG und wird in § 17 PartG geregelt.
Diese Vorschrift stellt nur zwei echte Anforderungen an die
parteiinterne Nominierung von Wahlbewerbern: Sie muss erstens eine Abstimmung sein, die zweitens geheim stattzufinden hat. Diese Minimalvoraussetzungen werden wegen der
beschriebenen Bedeutung der Kandidatennominierung für die
staatlichen Wahlen von der Verfassung insofern überlagert,
als die Kandidatenwahl im Grundsatz auch insbesondere frei,
gleich und allgemein sein muss.
In § 21 BWahlG werden Anforderungen an die Person
des Bewerbers und die Durchführung der innerparteilichen
Abstimmung gestellt und die örtliche Zuständigkeit für diese
geregelt. Die Wahl kann entweder durch eine Mitgliederversammlung oder eine Vertreterversammlung der Parteien erfolgen. Nach § 21 Abs. 5 BWahlG sind die Parteien aufgefordert, die gesetzlichen Vorgaben zur der Kandidatenwahl in
ihren Satzungen zu ergänzen. Dadurch haben sich in der Parteienpraxis verschiedene besondere Regelungen entwickelt,
die kritisch betrachtet werden. Hierzu zählen insbesondere
von den Parteien satzungsmäßig festgelegte Geschlechterquoten, die üblicherweise Frauenquoten53 sind.
ÖFFENTLICHES RECHT
5. Rechtsschutz der Parteien im Wahlrecht
a) Nichtzulassungsbeschwerde
Im Vorfeld einer Wahl kann eine nicht durch den Wahlausschuss zugelassene Partei um Rechtschutz im Wege einer
Nichtzulassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG,
§ 18 Abs. 4a BWahlG, §§ 13 Nr. 3a, 96a ff. BVerfGG nachsuchen.54 Insbesondere – und dies war überwiegend die nicht
genommene Hürde zahlreicher Anträge von Vereinigungen
beim BVerfG – ist hierfür die viertägige Beschwerdefrist
gemäß § 96 Abs. 2 BVerfGG ab Bekanntgabe der Entscheidung des Bundeswahlausschusses zu wahren. Hat der Antrag
Erfolg, hebt das BVerfG die Entscheidung des Bundeswahlausschusses (§ 18 Abs. 4 S. 2 BWahlG) auf und erkennt die
Vereinigung selbst als wahlvorschlagsberechtigte Partei zur
Wahl an.55
b) Wahlprüfungsbeschwerde
Das Wahlprüfungsverfahren ist zweistufig ausgestaltet. In einem ersten Schritt entscheidet der Bundestag nach entsprechendem Einspruch (Art. 41 Abs. 1 GG, § 2 WahlPrG) über
die Zulässigkeit einer Bundestagswahl. Gegen die Entscheidung des Bundestages kann dann in einem zweiten Schritt
eine Wahlprüfungsbeschwerde zum BVerfG (Art. 41 Abs. 2
GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG) erhoben werden.56 Diese Beschwerde dient hauptsächlich dem Schutz objektiven Wahlrechts und ist daher als ein objektives Verfahren ausgestaltet.57 Subjektiver Rechtsschutz – auch derjenige der Parteien
– wird hierdurch lediglich als Nebenfolge gewährt.58 Bei
Erfolg der Beschwerde erklärt das BVerfG die angegriffene
Bundestagswahl (teilweise) für ungültig und ordnet eine (teilweise) Neuwahl an. Die Beschwerdebefugnis ist in § 48
BVerfGG enger gefasst als die Einspruchsberechtigung im
Wahlprüfungsverfahren beim Bundestag auf der ersten Stufe
gem. § 2 Abs. 2 WahlPrG. Danach sind Abgeordnete, deren
Mitgliedschaft bestritten ist, eine wahlberechtigte Person oder
eine Gruppe von wahlberechtigten Personen, deren Einspruch
vom Bundestag verworfen worden ist, eine Fraktion oder eine
Minderheit des Bundestages von mindestens 10 % der gesetzlichen Mitgliederzahl beschwerdeberechtigt. Politische Parteien sind als solche also nicht unmittelbar befugt, eine Wahlprüfungsbeschwerde zu erheben. Dies ist allerdings deshalb
nicht zu beanstanden, weil es einem einzelnen Parteimitglied
offen steht, die Beschwerde in eigenem Namen zu erheben.59
Die Parteien können daher vermittelt über ein oder mehrere
54
49
BVerfGE 89, 243 (252); Werner, Gesetzesrecht und Satzungsrecht bei der Kandidatenaufstellung politischer Parteien,
2010, S. 57 ff.
50
In BVerfGE 89, 243 erklärte das BVerfG wegen der Verletzung elementarer Wahlgrundsätze bei der innerparteilichen
Kandidatenaufstellung eine Wahl teilweise für ungültig.
51
BVerfGE 89, 243 (257); Morlok, NVwZ 2012, 913 (914 f.).
52
Saarl. VerfGH NVwZ-RR 2012, 169 (175).
53
Hierzu Lenski (Fn. 48), § 21 BWahlG Rn. 84 ff.; Hahlen,
RuP 2013, 151 ff.
Zu dem 2012 neu geschaffenen Rechtsmittel siehe Bechler/
Neidhardt, NVwZ 2013, 1438; Klein, DÖV 2013, 584; Beispielsfall bei Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143 (147).
55
Siehe BVerfG, Beschl. v. 23.7.2013 – 2 BvC 3/13.
56
Aktuelle Fallbearbeitung zur Wahlprüfungsbeschwerde bei
Kircher u.a., Jura 2014, 436.
57
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/
Bethge (Hrsg.), BVerfGG, Kommentar, Bearbeitung 2006,
§ 48 Rn. 26.
58
Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 15), § 70 Rn. 159.
59
Oliver Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 1246.
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351
AUFSÄTZE
Julian Krüper/Hana Kühr
ihrer Mitglieder die Gültigkeit einer Bundestagswahl überprüfen lassen.
Voraussetzung für den Erfolg einer Beschwerde nach § 48
BVerfGG ist, dass die zur Überprüfung gestellte Bundestagswahl an einem mandatsrelevanten Fehler leidet. Als mögliche
Fehler prüft das BVerfG nur solche Verstöße gegen objektives
Wahlrecht, die bereits im Einspruchsverfahren beim Bundestag vorgetragen wurden. Allerdings kann das BVerfG auch die
Verfassungsmäßigkeit des angewandten Wahlgesetzes selbst
überprüfen, während sich die Kompetenz des Bundestages in
der Prüfung erschöpft, ob geltendes Wahlrecht ordnungsgemäß angewendet wurde.60 Insofern enthält die Wahlprüfungsbeschwerde eine inzidente Normenkontrolle.61 Regelmäßig
bleiben die Wahlprüfungsbeschwerden allerdings folgenlos.
c) Organstreit
Anders als die Wahlprüfungsbeschwerde steht das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff.
BVerfGG den Parteien selbst offen. Will eine Partei die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch ein Wahlverfahren rügen, ist für dieses Begehren ein Antrag auf Eröffnung des Organstreitverfahrens das statthafte Rechtsmittel.
Die Parteifähigkeit der politischen Parteien in diesem kontradiktorischen Verfahren liegt jedenfalls nach dem Wortlaut
des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zunächst nicht auf der Hand.
Nach dem im Vergleich zu § 63 BVerfGG weiter gefassten
Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG62 kommen drei Gruppen von Antragsberechtigten in Betracht: oberste Bundesorgane, mit eigenen Rechten ausgestattete Teile dieser Organe und andere
Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder die GOBT mit
eigenen Rechten ausgestattet sind. Politische Parteien sind
weder oberste Bundesorgane noch Teile dieser Organe, sodass sie nur der Gruppe der anderen Beteiligten zugerechnet
werden können.63 Auch wenn die Parteien Organisationen
des Privatrechts sind, stehen sie wegen ihres besonderen in
Art. 21 Abs. 1 GG gewährleisteten Status so sehr in der Nähe
der staatlichen Sphäre, dass ihnen der Rechtsschutz durch den
Organstreit ebenfalls zuzugestehen ist. Das Organstreitverfahren ist allerdings nur dann statthaft, wenn und soweit eine
Partei ihren spezifischen Status aus Art. 21 Abs. 1 GG verteidigen möchte. Dies ist etwa der Fall, wenn um Rechtsschutz
nachgesucht werden soll, weil die formelle Wahlgleichheit
verletzt wurde.64 Geht es um spezielle Grundrechte, die auch
einer politischen Partei zustehen können, so ist die Verfassungsbeschwerde zu wählen. Soll ein Fehler im Wahlverfahren
gerügt werden, ist die Wahlprüfungsbeschwerde als spezielleres Rechtsmittel vorrangig, vgl. § 49 BWahlG.
60
Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011,
Rn. 779.
61
Oliver Klein (Fn. 58), Rn. 1242.
62
§ 63 BVerfGG ist wegen des Vorrangs der Verfassung dahin auszulegen, dass auch andere Beteiligte im Organstreitverfahren antragsberechtigt sind.
63
Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2013, Rn. 1027.
64
Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 57),
Bearbeitung 2012, § 63 Rn. 62.
d) Verfassungsbeschwerde
Politische Parteien sind nach Art. 19 Abs. 3 GG Träger derjenigen Grundrechte, die ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind, ohne dass es auf ihre Organisationsform ankommt.65
Sofern der Schutzbereich eines speziellen Grundrechts eröffnet ist, geht dieses Grundrecht der Parteienfreiheit aus Art. 21
Abs. 1 GG in der Anwendung vor. Sowohl im Rahmen der
allgemeinen Tätigkeit einer Partei als auch im spezifischen
Zusammenhang mit der Beteiligung an Wahlen können die
einer Partei zustehenden Grundrechte verletzt sein. So kann
es passieren, dass eine Partei in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt wird oder keinen gleichberechtigten Zugang zu einer
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt erhält.66 In diesen Fällen kann eine politische Partei Verfassungsbeschwerde (Art. 93
Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) erheben.
Das Recht der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG ist hingegen
kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht, weil es
schlicht nicht im Katalog des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG aufgeführt wird. Will eine politische Partei also etwa einen Chancengleichheitsverstoß rügen, so ist hierfür der Organstreit der
richtige Verfahrensweg.67
IV. Nach dem Wahlerfolg: Die Arbeit der Parteien im Parlament
Ist es einer Partei gelungen, einen Wahlerfolg insofern zu erzielen, als sie eigene Mitglieder in das Parlament entsenden
darf, so findet ab diesem Zeitpunkt das Parlamentsrecht im
weiteren Sinne Anwendung. Dieses steuert insbesondere das
Verhältnis zwischen einem parteiangehörigen Abgeordneten
und seiner Partei. Zudem schließen sich innerhalb eines Parlaments Abgeordnete der gleichen Partei regelmäßig zu Fraktionen zusammen. Für Fraktionen gelten besondere rechtliche
Anforderungen, die strikt von den Regeln für politische Parteien zu unterscheiden sind.
1. Das freie Mandat der Abgeordneten
Erringt ein Parteimitglied ein Abgeordnetenmandat, geht damit ein grundlegend anderer und besonders wertvoller Status
in der demokratischen Sphäre einher. Die Stellung des Abgeordneten ist von der Verfassung so konzipiert, dass in dieser
Position – in Auseinandersetzung mit den anderen Mitgliedern des Parlamentes – der intensivste Einfluss auf verbindliche staatliche Entscheidungen geübt werden kann. Zur Erfüllung der herausragenden Funktion der Abgeordneten für die
parlamentarische Demokratie kann sich der einzelne auf die
Gewährleistungen des freien Mandates aus Art. 38 Abs. 1
S. 2 GG berufen. Dieser besondere Rechtsstatus hat auch und
gerade Auswirkungen auf die Beziehung zwischen einem parteiangehörigen Mandatsträger und seiner Partei.
65
Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar
zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Rn. 188, mit
einer Aufzählung der auf politische Parteien anwendbaren
Grundrechte.
66
BVerfGE 7, 99; 47, 198; 82, 54.
67
Bethge (Fn. 64), Bearbeitung 2013, § 90 Rn. 96.
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ZJS 4/2014
352
Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6
Das freie Mandat ist ein grundrechtsgleiches Recht (vgl.
Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und gewährt einem Abgeordneten
in erster Linie das Recht, seine Arbeit allein an eigenen
Überzeugungen und damit unabhängig von äußeren Einflüssen auszurichten. Weder Vorgaben einer Partei noch denen
einzelner Wähler oder gesellschaftlicher Interessengruppen
muss ein Abgeordneter Folge leisten. Gerade Steuerungsversuchen der eigenen Partei kann sich der Abgeordnete unter
Berufung auf sein freies Mandat erwehren. Das freie Mandat
aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verbietet aber nicht jegliche
Wechselwirkung zwischen einem Abgeordneten und politischen Parteien. Es kann durchaus Teil der eigenen Überzeugung des in der Regel parteiangehörigen Abgeordneten sein,
die Auffassungen der eigenen Partei auch in die parlamentarische Arbeit zu transportieren. Schließlich hat sich ein solcher Abgeordneter ursprünglich auch aus freien Stücken seiner Partei angeschlossen. Auch für andere Interessengruppen
darf ein Abgeordneter offen sein, denn das Parlament ist
Vertreter des ganzen Volkes. Die Verfassung konzipiert den
einzelnen Abgeordneten als ein „sozial integriertes Individuum“68. Wichtig für ein materiell freies Mandat im Sinne des
Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ist nur, dass ein Abgeordneter grundsätzlich von allen Seiten gleichermaßen beeinflussbar ist.69
Das freie Mandat verbietet die faktischen Wechselwirkungen
zwischen Abgeordneten nicht.
Zur Absicherung des freien Mandates flankiert es die Verfassung ausdrücklich mit einer Reihe besonderer Gewährleistungen. Diese sind persönliche Schutzrechte70 des Abgeordneten, die diesem zwar subjektiv zugute kommen, letztendlich aber die objektive Sicherung der Funktion eines freien
Abgeordneten bezwecken. Hierzu zählen die Indemnität und
die Immunität (Art. 46 GG), das Zeugnisverweigerungsrecht
nach (Art. 47 GG), das Recht auf amtsangemessene Alimentierung (Art. 48 Abs. 3 GG), das Verbot der Hinderung an der
Mandatsausübung (Art. 48 Abs. 2 GG) sowie für Bewerber
das Recht, Urlaub zur Wahlvorbereitung zu nehmen (Art. 48
Abs. 1 GG).
Neben diesen auf die Person des Abgeordneten in seiner
Funktion als Mandatsträger gerichteten Rechten folgt aus der
Gewährleistung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG eine Reihe von
Einzelgewährleistungen. Diese beziehen sich konkreter auf
die Arbeit des Abgeordneten im Parlament. Hierzu sind das
Stimmrecht, das Antrags- und Wahlvorschlagsrecht, das
Rederecht, das Frage- und Informationsrecht sowie das Recht
auf Bildung von Zusammenschlüssen des Abgeordneten zu
zählen.71
Im Verhältnis zu „seiner“ Partei entfaltet das freie Mandat
aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG für den Abgeordneten eine Absenkung des Rechtfertigungsdruckes. Folgt er im Rahmen seiner
parlamentarischen Arbeit einmal der Parteilinie nicht oder
68
Stolleis, VVDStRL 44 (1986), 7 (16).
Morlok/Krüper, NVwZ 2003, 273 (274).
70
Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 6.
Aufl. 2011, Art. 38 Rn. 69.
71
Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 149 f.
69
ÖFFENTLICHES RECHT
widersetzt er sich unzulässigem Fraktionszwang72, hat dies
keine Konsequenzen in Bezug auf sein parlamentarisches
Mandat. Das freie Mandat kann einem Abgeordneten weder
durch einen Ausschluss aus der Partei noch aus der Fraktion
entzogen werden. Auch der zwischen Wahl und Zusammentritt
eines Parlamentes stattfindende Wechsel zu einer anderen Partei berührt den Bestand des Abgeordnetenmandates nicht.73
2. Der Zusammenschluss zu Fraktionen
a) Existenzgrund der Parlamentsfraktionen
Fraktionen sind zentrale Organisationseinheiten des Parlamentes, weil sie die parlamentarische Arbeit auf vielfache Weise
erleichtern und fördern.74 Sie werden daher auch als „politisches Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestages“75
bezeichnet. Die Bildung von Fraktionen ist sinnvoll und notwendig, weil der Entscheidungsfindungsprozess im Parlament
vorbereitet und geordnet werden muss. Denn bei einer gesetzlichen Zahl von 58976 Abgeordneten im Bundestag ist es fast
nicht vorstellbar, wie die Vielzahl divergierender Auffassungen in angemessener Zeit zu einer Entscheidung führen soll,
wenn sich die Abgeordneten nicht untereinander verständigen.
Fraktionen leisten zur Strukturierung der Parlamentsarbeit einen wesentlichen Beitrag dadurch, dass sie politische Überzeugungen der Bundestagsabgeordneten bündeln und die
Arbeitsteilung der Abgeordneten organisieren.77 Außerdem
nehmen die Zahl der vom Bundestag zu treffenden Entscheidungen und teilweise auch die Komplexität der zu entscheidenden Fragen zu. Die Funktionen des Parlamentes als Gesamtrepräsentationsorgan können daher nur erfüllt werden,
wenn die einzelnen Abgeordneten in die Lage versetzt werden, eine eigene Überzeugung im Sinne des Art. 38 Abs. 1
S. 2 GG auszubilden. Innerhalb einer Fraktion kann spezieller
Sachverstand generiert und die Fülle von Sachfragen strukturiert werden, weil diese als Zusammenschluss einer Vielzahl
von Abgeordneten auf mehr Ressourcen (personeller wie finanzieller Art) zurückgreifen kann. Grund für die Bildung
von Fraktionen im Parlament ist daher zusammengefasst ihre
Mitwirkungs- und Koordinierungsfunktion, die die Arbeit der
Abgeordneten unterstützt.78 Allerdings erschöpft sich die Leistung der Fraktionen auch in der Mitwirkung an den Aufgaben
des Parlamentes, wie auch der Wortlaut des § 47 Abs. 1 AbgG
klarstellt. Nicht die Fraktionen, die jeweils nur einen Teil der
72
N. Achterberg/M. Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck
(Fn. 65), Art. 38 Rn. 41.
73
VerfGH Saarland NVwZ-RR 2013, 825.
74
Überblick über die Aufgaben und Funktionen von Fraktionen bei Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion,
2011, S. 17 ff.; siehe auch Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 246 ff.
75
BVerfGE 80, 188 (Leitsatz 3b, 219).
76
§ 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG.
77
BVerfGE 118, 277 (329).
78
Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck‘scher OnlineKommentar zum Grundgesetz, 20. Edition 2014, Art. 38
Rn. 143.
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353
AUFSÄTZE
Julian Krüper/Hana Kühr
politischen Auffassungen vertreten, sondern das Parlament in
seiner Gesamtheit repräsentiert das Volk.79
er als Mitglied einer Fraktion seinen Überzeugungen leichter
und effektiver zur Geltung verhelfen kann.
b) Die Bildung von Fraktionen
Die Voraussetzungen für die Gründung einer Fraktion beschreibt § 10 Abs. 1 GOBT.80 Danach muss der Zusammenschluss eine Mindeststärke von 5 % der Mitglieder des Bundestages aufweisen.81 Hintergrund dieser formalen Voraussetzung ist wie bei den Sperrklauseln das Ziel, die Funktionsfähigkeit des Parlamentes zu sichern. In der Mindestzahl der
Fraktionsmitglieder ist jedoch trotz der neuesten Rechtsprechung des BVerfG zu wahlrechtlichen Sperrklauseln82 keine
verfassungswidrige Regelung zu sehen. Denn das Gebot der
Wahlrechtsgleichheit gilt nur für die Wahl selbst, nicht aber
die Arbeit eines gewählten Abgeordneten im Parlament.83 Darüber hinaus müssen die Fraktionsmitglieder der gleichen
Partei angehören. Wegen des Diskontinuitätsgrundsatzes endet
die Existenz einer Fraktion mit dem Ende einer Legislaturperiode.84
Die Abgeordneten sind natürlich nicht gezwungen, sich
einer Fraktion anzuschließen; Fraktionen werden freiwillig
gebildet.85 Dies gewährleistet zum einen das freie Mandat aus
Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Zum anderen repräsentiert das Parlament das Volk als Ganzes, weshalb alle Abgeordneten in
gleicher Weise an der Parlamentsarbeit mitwirken können
müssen – unabhängig davon, ob sie einer Fraktion angehören
oder nicht.86 Gleichsam ist der Fortbestand des Abgeordnetenmandates nicht von der Zugehörigkeit zu einer Fraktion betroffen. Einem fraktionslosen Abgeordneten stehen die gleichen Rechte zu wie demjenigen, der sich einer Fraktion angeschlossen hat. Rein tatsächlich ist der Anschluss an eine
Fraktion jedoch für den einzelnen Abgeordneten ratsam, weil
c) Der rechtliche Status der Fraktionen
Das Grundgesetz enthält sich einer aussagekräftigen Vorgabe
zur Rechtsstellung der Fraktionen. Lediglich in Art. 53a Abs. 1
S. 2 GG werden die Fraktionen beiläufig erwähnt.
Richtigerweise dürfte der Status der Fraktion aus dem
freien Mandat der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG
herzuleiten sein.87 Fraktionen sind Zusammenschlüsse von
ausschließlich Abgeordneten, die sich freiwillig und in Ausübung ihres freien Mandates entschlossen haben, eine solche
Organisationseinheit zu gründen. Die Fraktionen leiten ihre
Rechte daher von denen der einzelnen Abgeordneten ab, sie
haben keine originären eigenen Rechte.88 Das bedeutet, dass
ihre Befugnisse, aber auch ihre Verpflichtungen nicht weiter
reichen können als die der Abgeordneten. Ihre eigenen Angelegenheiten dürfen die Fraktionen wegen des freien Mandates
der sie bildenden Abgeordneten selbstständig regeln. Sie haben sich zu diesem Zweck eine Geschäftsordnung zu geben.
Die Fraktionen haben einen Anspruch auf staatliche Finanzierung,89 mit deren Hilfe sie die Aufgabe der Unterstützung
der Parlamentsarbeit erfüllen können. Über die Herkunft und
Verwendung ihrer Mittel müssen die Fraktionen Rechenschaft
ablegen.90 Die staatliche Finanzierung von parlamentarischer
Arbeit über die Diäten hinaus ist ein Privileg der Fraktionen;
fraktionslose Abgeordnete haben keinen Anspruch auf entsprechende Zuschüsse.
79
Bäcker, Parl Beilage 2012, Nr. 38-39, 43 (44).
Die rechtliche Regelung der Fraktionen überlässt § 45 Abs. 2
AbgG der Geschäftsordnung des Bundestages.
81
Erreicht eine Mehrzahl von Abgeordneten diese Anzahl
nicht, kann sie sich zu einer Gruppe gem. § 10 Abs. 4 GOBT
zusammenschließen.
82
Mit Urteil vom 26.2.2014 (BVerfG NVwZ 2014, 439) hat
das BVerfG die im Europawahlrecht bisher geltende 3%Hürde für verfassungswidrig und die Vorschrift des § 2 Abs. 7
EuWG für nichtig erklärt. Kurz zuvor, im Jahr 2011, hatte es
die vorige 5 %-Sperrklausel für nichtig erklärt, BVerfGE 129,
300. Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht wurden bereits
ebenfalls für verfassungswidrig erklärt, vgl. BVerfGE 120,
82; VerfGH NRW NVwZ 2009, 449.
83
So bereits BVerfGE 96, 264 (279), an dieser Bewertung
der Wirkung der Wahlgleichheit ändert die neuere Rspr. zur
Verfassungswidrigkeit der Sperrklauseln nichts.
84
§ 54 Abs. 1 Nr. 3 AbgG.
85
Dies folgt auch einfachgesetzlich aus dem Wortlaut des
§ 45 Abs. 1 AbgG. Zur Rechtsstellung eines fraktionslosen
Abgeordneten BVerfGE 80, 188.
86
Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 221. Ausführlich zum Ausschluss
eines Abgeordneten aus einer Bundestagsfraktion vgl. Bäcker
(Fn. 74), S. 163 ff.
80
d) Strikte rechtliche Unterscheidung von politischen Parteien
Da die politische Homogenität der Mitglieder wesentliches
Charakteristikum der Fraktionen ist, können die Fraktionen
rein tatsächlich als „Parteien im Parlament“91 bezeichnet
werden. In den Fraktionen hat die Entwicklung der politischen
Parteien in Deutschland ihren Anfang genommen. Auch heute
bestehen zahlreiche faktische Verflechtungen zwischen den
politischen Parteien und Parlamentsfraktionen.92
In der Regel haben Mitglieder eines Fraktionsvorstandes
auch entsprechende Positionen in der jeweiligen Partei auf
Bundesebene. Weil die Parteien ein besonders starkes Wahlvorschlagsrecht haben, bestimmen sie die personelle Besetzung des Parlamentes und damit auch die möglichen Mitglieder der Fraktionen entscheidend vor. Gleiche inhaltliche Überzeugungen in den Parteien und entsprechenden Parlaments-
87
Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Fn. 4), Drittbearbeitung
2008, Art. 38 Rn. 89. Für einen Überblick über verschiedene
Ansätze der rechtlichen Verankerung des Status der Fraktionen
siehe Hölscheidt (Fn. 74), S. 237 ff.
88
Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 176.
89
§§ 50 ff. AbgG.
90
§ 52 AbgG.
91
Arndt, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 21 Rn. 20; Demmler, Der Abgeordnete
im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 179 ff.
92
Klein (Fn. 8), Art. 21 Rn. 199.
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ZJS 4/2014
354
Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6
ÖFFENTLICHES RECHT
fraktionen resultieren aus der für die Bildung einer Fraktion
grundsätzlich erforderlichen politischen Homogenität.
Vor diesem Hintergrund überrascht es auf den ersten
Blick, dass das Recht bezüglich Organisation und Finanzierung streng zwischen Parteien und Fraktionen unterscheidet.
Insbesondere dürfen die staatlichen Mittel, die den Fraktionen zugewendet werden, nach § 50 Abs. 4 AbgG nur für die
Wahrnehmung der Fraktionsaufgaben und gerade nicht die
der Parteien verwendet werden. Die personelle, organisatorische und finanzielle Trennung von Fraktionen und Parteien
beruht allerdings auf der jeweils unterschiedlichen Funktion
der beiden Vereinigungstypen in der parlamentarischen Demokratie. Während die politischen Parteien trotz ihrer staatlichen
Nähe als Organisationen des Privatrechts in der gesellschaftlichen Sphäre existieren und wirken, gehören die Parlamentsfraktionen der staatlichen Sphäre an. Fraktionen sind Organteile des Bundestages und damit Teile eines staatlichen Organs.
V. Ausblick
Die Tätigkeit der politischen Parteien zeichnet sich dadurch
aus, dass eine Vielzahl von Organisationen um eine begrenzte
Zahl von öffentlichen Wahlämtern ringen. Dies tun sie, um
jeweils die bestmögliche Chance zu erhalten, auf verbindliche staatliche Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Das Handeln der individuellen politischen Akteure ist zusätzlich von
persönlichen Interessen – etwa an der Beförderung der eigenen politischen Karriere oder an der Durchsetzung abweichender persönlicher Überzeugungen – geleitet. Durch die Eigenschaft des politischen Prozesses als Wettbewerb ist vorprogrammiert, dass Konflikte sowohl zwischen als auch innerhalb der Parteien entstehen. Innerparteilich kann es zu Spannungen zwischen der Organisation und einem oder mehreren
Parteimitgliedern kommen, die dann zu Sanktionen, der Einschaltung der parteilichen Schiedsgerichte und schließlich zu
einem Ausschluss eines Mitglieds aus der Partei führen mögen.
Im Verhältnis zu anderen Parteien kann der Grundsatz der
chancengleichen Behandlung durch den Staat verletzt werden. Solche Fehler ereignen sich hauptsächlich im Rahmen
staatlichen Leistungen an Parteien, insbesondere bei der staatlichen Parteienfinanzierung. Aber auch die Parteien selbst
können ihre rechtlichen Pflichten aus der Verfassung bzw.
dem PartG missachten, etwa einen fehlerhaften Rechenschaftsbericht einreichen. Auch im Wahlrecht sind angesichts des
komplizierten Systems bei der Durchführung von Wahlen
Fehler vorprogrammiert.93
Der folgende Beitrag befasst sich damit, nach welchen
rechtlichen Vorgaben solche Konflikte zu lösen sind und welche Rechtsschutzmöglichkeiten den einzelnen Akteuren des
politischen Prozesses dabei zur Verfügung stehen.
93
Zur Fehleranfälligkeit der Parlamentswahlen als Massenverfahren siehe Morlok, NVwZ 2012, 913.
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355
Normenkontrollen – Teil 3
Fragen der Zulässigkeit: Konkrete Normenkontrolle
Von Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf*
IV. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der wichtigsten Normenkontrollverfahren (Fortsetzung)
3. Konkrete Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG
Der Erörterung der einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen
sei eine Vorbemerkung zur teleologischen Auslegung der einschlägigen Vorschriften vorangestellt: Anders als bei der abstrakten Normenkontrolle ist der Telos der konkreten Normenkontrolle umstritten. Vorzugwürdig ist, in diesem Verfahren
eine Mischung dreier Zwecke zu sehen.
Erstens: Das BVerfG stellt einen funktionell-gewaltenteiligen, der konkreten Normenkontrolle eigentümlichen
Zweck in den Mittelpunkt, nämlich den Schutz des parlamentarischen Gesetzgebers vor den Fachgerichten, die – wenn es
die konkrete Normenkontrolle nicht gäbe – sonst unter Berufung auf ihre Verfassungsbindung selbst ein Verwerfungsrecht
für sich beanspruchen könnten. Es geht dem BVerfG also um
einen Zweck der Gewaltenteilung, bei dem es selbst der „lachende Dritte“ ist. Denn dem BVerfG kommt damit das Verwerfungsmonopol für Parlamentsgesetze zu. Wird als Schutzzweck insoweit die Autorität des Gesetzgebers genannt,1 wird
dadurch nur umso deutlicher, dass die Autorität des BVerfG
demgegenüber noch herausgehoben ist. Deutlich gesagt sei
allerdings, dass der Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG nicht
darin liegt, die Fachgerichte davor zu bewahren, schwierige
verfassungsrechtliche Fragen selbst zu stellen und (vorläufig,
nämlich vorlegend) zu beantworten.
Zweitens: Jedenfalls soweit das Ausgangsverfahren des
vorlegenden Fachgerichts dem subjektiven Rechtsschutz dient,
wird dieser gegebenenfalls auch durch die konkrete Normenkontrolle verwirklicht, wenn nämlich eine den Kläger belastende Norm verworfen wird.2 Die subjektiv-rechtliche Funktion ist allerdings nicht eigenständig, sondern Folge des erstgenannten Zwecks i.V.m. dem gegebenenfalls subjektiv-rechtlichen Charakter des Ausgangsverfahrens. In Art. 100 Abs. 1
S. 1 GG heißt es nicht: „Hält ein Gericht ein Gesetz [...] für
verfassungswidrig und kann sich einer der Verfahrensbeteiligten auf die Verletzung der Verfassungsbestimmung berufen, [...]“. Die gegebenenfalls auch subjektiv-rechtliche Bedeutung der konkreten Normenkontrolle ist Reflex ihrer primär
objektiv-rechtlichen Funktion – und nicht umgekehrt, wie es
bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde der Fall ist.
Drittens: Wie prototypisch bei der abstrakten Normenkontrolle geht es auch bei der konkreten – und letztlich bei
jeder – Normenkontrolle jedenfalls auch um einen weiteren,
ebenfalls objektiv-rechtlichen Zweck, nämlich der Klärung
* Der Verf. ist Inhaber einer Professur für Öffentliches Recht
an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Der Beitrag ist
die Fortsetzung des Beitrags „Normenkontrollen – Teil 2 –
Fragen der Zulässigkeit: Abstrakte Normenkontrolle“, ZJS
2014, 254.
1
Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011,
Rn. 567.
2
So auch Hillgruber/Goos (Fn. 1), Rn. 571 f.
von Zweifeln über die Gültigkeit von Rechtsnormen. Dieser
Zweck hat nach der Rechtsprechung im Falle der konkreten
Normenkontrolle keine eigenständige Bedeutung, sondern ist
lediglich ein Reflex. Das BVerfG3 stellt diesen Zweck aber
weit zurück, da er Argumente zu einer extensiveren Handhabung liefert, denen das BVerfG mit einer restriktiven Sichtweise begegnet. Dieser dritte Zweck tritt nach der Rechtsprechung hinter den erstgenannten Zwecken gegebenenfalls zurück: Wenn es nicht um Parlamentsgesetze geht und wenn
dem subjektiven Rechtsschutz auch ohne das verzögernde
Zwischenverfahren Rechnung getragen werden kann, dann
bleibt die Vorlage unzulässig.
a) Zuständigkeit(en)
Genau betrachtet regelt Art. 100 Abs. 1 GG zwei alternative
Zuständigkeiten für konkrete Normenkontrollen, die sich nach
dem Maßstab der Überprüfung unterscheiden: Geht es um die
Vereinbarkeit einer Norm mit Bundesrecht, ist das BVerfG
zuständig, geht es um die Vereinbarkeit mit dem Landesverfassungsrecht, sind die Landesverfassungsgerichte zuständig,
die freilich auch ihrerseits vorlageberechtigt sind.4 § 13 Nr. 11
BVerfGG fasst die Fälle der Zuständigkeit des BVerfG zusammen.
b) Vorlageberechtigung
Mit „Gericht“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG ist nicht die abstrakte
Institution als ganze (also nicht etwa ein Verwaltungsgericht)
gemeint und ebenso wenig jeder einzelne Richter. Vorlageberechtigtes „Gericht“ ist vielmehr der für das Ausgangsverfahren zuständige Spruchkörper eines staatlichen Gerichts
(also etwa die Kammer eines Verwaltungsgerichts). Über die
Vorlage entscheidet der Spruchkörper in seiner vollständigen
Besetzung, d.h. der einzelne Richter nur dann, wenn er als
Einzelrichter seinerseits die Entscheidung, für die die Vorlage
entscheidungserheblich ist, alleine zu treffen hat.5 Das ergibt
sich daraus, dass es sich bei dem Verfahren um ein Zwischenverfahren eines konkreten Rechtsstreits handelt. Der Spruchkörper muss sachlich unabhängig sowie gesetzlich mit den
Aufgaben eines Gerichts betraut sein und als Gericht bezeichnet werden.6 Nur staatliche Gerichte, also keine Schiedsgerichte sind gemeint. Auch Tätigkeiten, die der Justiz institutionell zugeordnet sind, wie die des Rechtspflegers7 und die
so genannten Justizverwaltungsakte eines Richters als weisungsgebundene Vollstreckungsbehörde8, fallen aus dem Rah-
3
Statt aller BVerfGE 1, 184 (197); 114, 303 (310); zustimmend und den Gegensatz zur abstrakten Normenkontrolle
betonend Hillgruber/Goos (Fn. 1), Rn. 567.
4
BVerfGE 69, 112 (117 f.).
5
BVerfGE 98, 145 (152).
6
BVerfGE 6, 55 (63).
7
BVerfGE 61, 75 (77).
8
BVerfGE 20, 309 (311 f.).
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ZJS 4/2014
356
Normenkontrollen – Teil 3
men des Art. 100 Abs. 1 GG, während das BVerfG Vorlagen
in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit anerkannt hat.9
c) Vorlagegegenstand
Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle ist ein „Gesetz“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG. Es ist auslegungsbedürftig
und umstritten, was mit „Gesetz“ gemeint ist. Nach der
Rechtsprechung ist der Begriff „Gesetz“ – anders als i.S.d.
Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG (dazu Teil 4 unter 5. c) – eng auszulegen. Das BVerfG10 erkennt als Gegenstand konkreter
Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG nur nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze an. Nachkonstitutionell sind die
Gesetze, die nach dem 23.5.1949 verkündet wurden sowie
diejenigen Normen, die der Gesetzgeber seither in seinen
Willen aufgenommen hat. Ein Bestätigungswille kann durch
Neuverkündung11 (nicht aber durch bloße Neubekanntmachung12), Änderung (wohl auch die normbestätigende, d.h. im
Ergebnis negative Beratung über eine Änderung13) oder Bezugnahme14 (Verweis auf eine vorkonstitutionelle Norm)15 geschehen. Das „Gesetz“ als Vorlagegegenstand und auch seine
Einstufung als nachkonstitutionell beziehen sich auf Einzelvorschriften, nicht also auf ganze Regelwerke. So sind einzelne, nach wie vor unveränderte Vorschriften aus dem BGB
bis heute als vorkonstitutionell zu behandeln. Das BVerfG16
sieht die Funktion des Art. 100 Abs. 1 GG primär in einem
besonderen Aspekt der Gewaltenteilung: Nur die demokratisch
konstituierten Parlamente i.S.d. Grundgesetzes seien davor
geschützt, dass jedes Fachgericht ihre Rechtsetzungsakte verwerfen darf. Insofern gelte das Verwerfungsmonopol des
BVerfG, was Art. 100 Abs. 1 GG klarstelle. Bei dieser restriktiven Auslegung entstehe auch – anders als bei Art. 93 Abs. 1
Nr. 4b GG (dazu Teil 4 unter 5. c) – keine ungewollte Lücke.
Andere Rechtsnormen kann das vorlageberechtigte Fachgericht gegebenenfalls auch selbst unangewendet lassen, wenn
solche Normen gegen höherrangiges Recht verstoßen. Wenn
das Gericht eine streitentscheidende Norm trotz vorgetrage9
BVerfGE 4, 45 (48).
BVerfGE 1, 184 (Ls. 1): nur Gesetze im formellen Sinne;
zum Erfordernis der Nachkonstitutionalität: BVerfGE 2, 124
(Ls.).
11
BVerfGE 64, 217 (220).
12
BVerfGE 64, 217 (221).
13
BVerfGE 6, 55 (64); offen gelassen in BVerfGE 13, 290
(295); kritisch: W. Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 100 Rn. 18.
14
BVerfGE 70, 126 (130 f.).
15
Das kann auch eine vorkonstitutionelle Verordnung sein;
für den Spezialfall einer gesetzesvertretenden Verordnung
von 1944: BVerfGE 52, 1; zu gesetzesvertretenden Verordnungen als solche BVerfGE 22, 1 (12).
16
BVerfGE 1, 184 (197); dazu Bettermann, in: Starck (Hrsg.),
Bundesverfassungsgerichtsgesetz und Grundgesetz – Festgabe
aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 1976, S. 323 (328); K. Stern, Das Staatsrecht
der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 988; zu den
Konsequenzen für die Grenzen verfassungskonformer Auslegung: BVerfGE 90, 263 (275).
10
ÖFFENTLICHES RECHT
ner Zweifel an deren Verfassungsmäßigkeit anwendet, kann
die unterlegene Partei nach Erschöpfung des Rechtswegs
gegebenenfalls Verfassungsbeschwerde erheben. Das BVerfG
muss sich allerdings vorwerfen lassen, von dem Argument
des Schutzes der Autorität der Parlamente abgerückt zu sein,
indem es satzungsvertretende Gesetze17 den untergesetzlichen
Normen i.S.d. § 47 VwGO (dazu ausführlich in Teil 5) gleichgestellt hat.18
Wer mit einem Teil der Literatur19 die objektive Klärungsfunktion aller Normenkontrollen optimieren mag, hat gute
Gründe, Art. 100 Abs. 1 GG weit auszulegen. Danach könnte
„Gesetz“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG – wie bei Art. 93 Abs. 1
Nr. 4b GG (dazu Teil 4 unter 5. c) – auch jede materielle
Norm, also auch eine Satzung oder eine Verordnung sein.
Verfahrensökonomische Aspekte sprechen freilich dagegen,
dass das BVerfG seine Rechtsprechung ändert. Denn unbestreitbar wird das BVerfG durch die restriktive Auslegung
des Art. 100 Abs. 1 GG entlastet. Freilich könnte eine möglichst frühzeitige Klärung der Verfassungswidrigkeit untergesetzlicher Normen Rechtsklarheit schaffen und damit auch
Rechtsstreitigkeiten verhindern. Aber regelmäßig wird auch
die Rechtsprechung der Fachgerichte mit ihrem Instanzenzug
eine Klärung leisten können – angesichts der Überlastung des
BVerfG vielleicht sogar schneller als jenes. Vor allem für die
Parteien im Ausgangsrechtsstreit führen die Aussetzung des
Verfahrens und die Vorlage wenigstens zunächst zu einer Verzögerung der Sachentscheidung. Die Auffassung des BVerfG
dient somit auch dem subjektiven Interesse effektiven Rechtsschutzes. Weil hier zwei der drei Zwecke der konkreten
Normenkontrolle für eine Beschränkung des Gegenstandes
streiten, ist der Rechtsprechung im Ergebnis zuzustimmen.
Zur Vertiefung: Bemerkenswert ist insofern auch die historische Entwicklung. Das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen war eine in der Weimarer Zeit viel und sehr
kontrovers diskutierte Frage. Erinnert sei daran, dass Carl
Schmitt20 vor den Konsequenzen eines Jurisdiktionsstaates
warnte und in monarchischer Tradition die Rolle des „Hüters
der Verfassung“ dem Staatsoberhaupt als pouvoir neutre zuerkannte. Darauf reagierte Hans Kelsen21 mit seiner Streitschrift, die ein Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung
forderte. Das Reichsgericht selbst hatte zuvor ein richterliches, auch materielles Prüfungsrecht für sich reklamiert22 und
der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich bezeichnete sich
17
Ein satzungsvertretendes Gesetz ist ein solches, das aufgrund einer in einer Landesverfassung normierten Ermächtigung an Stelle einer Satzung erlassen wird.
18
BVerfGE 70, 35; auf diese Inkonsequenz weist auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 13 Rn. 9, hin.
19
Zur Kritik an der Rechtsprechung K. Hesse, Grundzüge des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl.
1999, Rn. 686; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 138.
20
C. Schmitt, AöR 55 (1929), 161.
21
H. Kelsen, Die Justiz 6 (1930/31), 576 ff.: „diese Schrift
aus der Rumpelkammer des konstitutionellen Theaters“.
22
RGZ 111, 320 (322 f.).
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357
AUFSÄTZE
Lothar Michael
als „Hüter der Reichsverfassung“23. Nahe läge es insofern,
Art. 100 Abs. 1 GG als Bestätigung des richterlichen Prüfungsrechts in der Sache und dessen Zuweisung an die nunmehr
geschaffene Verfassungsgerichtsbarkeit zu interpretieren. Das
BVerfG indes sieht Art. 100 Abs. 1 GG nur als (freilich zentralen) Spezialfall eines im Übrigen in der Tradition des Reichsgerichts fortbestehenden allgemeinen richterlichen Prüfungsrechts.
Wo Art. 100 Abs. 1 GG nicht greift, kann es zu uneinheitlicher Rechtsprechung kommen. Inzidenten Normenkontrollen
der Fachgerichte fehlt eine verbindliche Wirkung über den
Einzelfall hinaus. Die faktische Orientierungswirkung fachgerichtlicher Rechtsprechung kann freilich in der Praxis ähnlich weit reichen. Würde man Gesetze i.S.d. Art. 100 Abs. 1
S. 1 GG auch auf untergesetzliches Recht erstrecken, ließe
sich eine insoweit optionale Richtervorlage auch mit dem
Korrektiv des objektiven Klarstellungsinteresses auf solche
Fälle beschränken, in denen uneinheitliche Rechtsprechung
vorliegt. Allerdings wären dies die Fälle, in denen § 76 Abs. 1
Nr. 2 BVerfGG eine Normbestätigungsklage im Rahmen der
abstrakten Normenkontrolle anerkennt. Dem Gesetzgeber
bleibt es überlassen, inwieweit er die Funktion der objektiven
Rechtssicherheit dadurch optimiert, dass er die Möglichkeiten
der bestehenden Normenkontroll-Verfahren erweitert. So
könnte der einfache Gesetzgeber nicht nur nach Art. 93 Abs. 3
GG weitere Zuständigkeiten des BVerfG über dessen verfassungsrechtliche Zuständigkeiten hinaus begründen. Dem Entlastungsinteresse des BVerfG, das hinter dessen restriktiver
Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG steht, könnte der Gesetzgeber auch dadurch Rechnung tragen, dass er die Normenkontrollen nach § 47 VwGO zu den Oberverwaltungsgerichten auf alle untergesetzlichen Normen des Landesrechts erstreckt und eine entsprechende Normenkontrolle zum Bundesverwaltungsgericht für untergesetzliche Normen des Bundesrechts einführen würde. Immerhin besteht bei Uneinigkeiten
über die Gültigkeit einer Norm die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle zum BVerfG, die nach § 76 Abs. 1 Nr. 2
BVerfGG von der Bundesregierung, einer Landesregierung
oder einem Viertel der Mitglieder des Bundestages auch mit
dem Ziel der Feststellung der Gültigkeit der Norm beantragt
werden kann.
Erst recht besteht kein Anlass dafür, auch ungeschriebenes Recht zum Gegenstand von konkreten Normenkontrollen
nach Art. 100 Abs. 1 GG zu machen. Dafür spricht nicht nur
der Wortlaut, der zwischen Gesetz (konkrete Normenkontrolle)
und Recht (abstrakte Normenkontrolle) differenziert, sondern
auch die Tatsache, dass es die Fachgerichte selbst sind, die
hier gegebenenfalls durch Richterrecht korrigierend steuern.
Hier unterscheidet sich einmal mehr die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG von der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (dazu oben Teil 2
unter 2. c), aber auch von dem Normverikationsverfahren
nach Art. 100 Abs. 2 GG, das sich gerade auf ungeschriebene
„allgemeine Regeln des Völkerrechts“ i.S.d. Art. 25 GG be-
23
StGH RGZ 118, Anhang S. 1 (4).
zieht, also auf Völkergewohnheitsrecht und auf allgemeine
Rechtsgrundsätze.24
Letztlich können die Voraussetzungen abstrakter, konkreter und inzidenter Normenkontrollen nur in der Gesamtschau
der bestehenden Möglichkeiten überzeugend geklärt werden.
Aus solcher Gesamtschau resultiert auch die Lösung der Frage,
ob Unionsrecht Vorlagegegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein kann. Das wäre nämlich nur dann der Fall,
wenn ansonsten eine unerträgliche Lücke im Rechtsschutzsystem entstünde. Dies hatte das BVerfG in seiner „Solange IEntscheidung“ zunächst angenommen, übt aber seine Gerichtsbarkeit angesichts der allmählich gewachsenen Möglichkeiten des Rechtsschutzes vor dem EuGH in Luxemburg seit
1986 insoweit nicht mehr aus. Seit der „Solange II-Entscheidung“ sind entsprechende Vorlagen nicht mehr zulässig.25
Die Zulässigkeitshürde könnte nur dann überwunden werden,
wenn ein Gericht zugleich geltend macht, dass eine solche
Lücke wieder klafft, d.h. dass der EuGH die Grundrechte und
das begrenzte Integrationsprogramm der EU in grundsätzlicher
Weise missachtet.26 Eine solche Vorlage von Unionsrecht
nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zum BVerfG wäre allerdings
streng subsidiär gegenüber einer Vorlage nach Art. 267 AEUV
zum EuGH.27 Die insoweit durch die „Solange II-Rechtsprechung“ entstehende prozessuale Lücke des Grundrechtsschutzes soll nämlich dadurch gefüllt werden, dass die Fachgerichte dem EuGH nach Art. 267 AEUV gegebenenfalls die
Frage vorlegen, ob Sekundärrecht gegen EU-Grundrechte verstößt. Wenn die Fachgerichte dies nicht tun, kann die unterliegende Partei gegebenenfalls sogar Verfassungsbeschwerde
zum BVerfG mit dem Argument erheben, das Fachgericht
habe ihr den gesetzlichen Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2
GG entzogen.28 So lässt sich gegebenenfalls mit dem Hebel
der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG ein durch den EuGH
zu gewährleistender Grundrechtsschutz durchsetzen. Auf die
Probleme der Kontrolldichte dieser Verfassungsbeschwerde
kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.29
Das BVerfG hat als Vorlagegegenstand auch einen ganzen,
in verfassungswidriger Weise lückenhaften Regelungskomplex
und mittelbar ein Unterlassen des Gesetzgebers anerkannt.30
Genau betrachtet geht es also gar nicht um das Gesetz selbst,
sondern um eine gesetzlich in verfassungswidriger Weise geregelte Rechtslage. Dass die Rechtsfolgen Anlass der konkreten Normenkontrolle sind, zeigt sich auch an der Voraussetzung der Entscheidungserheblichkeit (dazu e).
24
Hillgruber/Goos (Fn. 1), Rn. 651.
BVerfGE 73, 339 (Ls. 1).
26
BVerfGE 102, 147 (Ls. 1 und 2) – Bananenmarktordnung.
27
Diese Konstellation der Subsidiarität ist nicht zu verwechseln mit derjenigen einer Vorlage eines nationalen Gesetzes
(siehe unter 3. e).
28
BVerfGE 73, 339 (Ls. 1).
29
Dazu Michael, JZ 2012, 870, sowie ders., JZ 2013, 302.
30
BVerfGE 115, 259 (275).
25
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ZJS 4/2014
358
Normenkontrollen – Teil 3
d) Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm
Das vorlegende Gericht muss alle in seiner eigenen Kompetenz stehenden Mittel ausschöpfen, die eine Vorlage an das
BVerfG entbehrlich machen könnten. Es muss von der Verfassungswidrigkeit einer Norm, die es selbst weder verwerfen
darf (s.o.), noch verfassungskonform auslegen kann und auf
deren Gültigkeit es in der konkreten Entscheidung ankommt
(dazu e), überzeugt sein. Dies lässt sich in zwei Schritten
prüfen:
Erstens: Bloße Zweifel an der Verfassungswidrigkeit der
Norm reichen nicht aus. Im Gegensatz zur abstrakten Normenkontrolle (s.o.) geht es hier um die Vorlage eines Gerichts,
das mit professionellem juristischen Sachverstand ausgestattet
ist und sich nicht enthalten darf. Das Gericht darf die Norm
zwar nicht selbst verwerfen. Es darf und muss aber auf die
Frage, ob die Norm verfassungswidrig ist, eine eigene Antwort finden und diese auch entsprechend begründen. Es muss
gleichsam für sich die Entscheidung, die es vom BVerfG erwartet, treffen und dann wegen des Verwerfungsmonopols
die Norm vorlegen.
Zweitens: Im Gegensatz zu den insoweit hier irrelevanten
Modifikationen der Entscheidungswirkungen muss sich das
vorlegende Gericht aber eine Vorfrage der Verfassungswidrigkeit der Norm stellen, nämlich die Frage der verfassungskonformen Auslegung. Das vorlegende Gericht muss (umgekehrt gesagt) prüfen und darlegen, ob sich die Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit einer Norm nicht durch verfassungskonforme Auslegung ausräumen lassen. Die Auslegung und
auch die verfassungskonforme Auslegung der Gesetze sind
nicht etwa dem BVerfG vorbehalten, sondern gehören zu den
Aufgaben der Fachgerichte. Eine verfassungskonforme Auslegung setzt voraus, dass es Auslegungsspielräume der Norm
gibt, dass je nach Auslegung die Norm im Ergebnis gegen die
Verfassung verstößt bzw. nicht verstößt. Wenn zumindest eine
der möglichen Auslegungen der Norm im Ergebnis mit der
Verfassung vereinbar ist, muss das Gericht eine verfassungskonforme Auslegung vornehmen, die sowohl die Verwerfung
der Norm als auch deren Vorlage zum BVerfG entbehrlich
macht. Hinsichtlich denkbarer Auslegungsspielräume darf das
vorlegende Gericht nicht auf obergerichtliche Rechtsprechung
verweisen, sondern muss gegebenenfalls auch Abweichungen
hiervon mit in Betracht ziehen.31
31
Es sei denn, es ist nach einer zurückverweisenden Rechtsmittelentscheidung im Einzelfall gebunden. Dann allerdings
ist die Vorlage regelmäßig deshalb unzulässig, weil das Ausgangsgericht nicht bereits zuvor die Entscheidung des BVerfG
eingeholt hat. Denn daraus schließt das BVerfG (BVerfGE
68, 352 [358 ff.]), dass das Ausgangsgericht von der Verfassungswidrigkeit nicht überzeugt ist, sondern allenfalls Zweifel
hat. Hinter dieser rigiden Rechtsprechung steckt der Gedanke,
dass Vorlageverfahren einerseits möglichst zu vermeiden,
andererseits aber gegebenenfalls möglichst schnell einzuleiten sind. Beides dient der Verfahrensbeschleunigung. Untergerichte können also nicht obergerichtliche Entscheidungen
auf den Prüfstand des BVerfG stellen. Kommt es letztlich in
einer solchen Konstellation zur Anwendung der Norm, bleibt
ÖFFENTLICHES RECHT
Zur Vertiefung: Die Grenzen der Auslegung – und auch
der verfassungskonformen – sind freilich schwer zu ziehen
und fließend. Plakative Thesen wie die vom „Wortlaut als
Grenze der Auslegung“ geben auf das Problem keine Antwort.32 Nicht der Wortlaut, sondern erst seine Bedeutung gibt
einer Norm Sinn und Wirkung. Die Bedeutung von Zeichen
(Worten) ist aber gerade in Zweifelsfällen nicht eindeutig –
das ist das Dilemma der Sprachgebundenheit des Rechts.
Richtigerweise ist der Wortlaut Ausgangspunkt der Auslegung.
„Wortlautgrenze“ ist so zu verstehen, dass die Grenze der
Auslegung dort zu ziehen ist, wo sich eine Auslegung auf
diesen Ausgangspunkt noch plausibel zurückführen lässt. Die
Plausibilität verweist aber notwendig auf die Bedeutung und
d.h. auf Sinnzusammenhänge und ist deshalb von teleologischen und gegebenenfalls auch von verfassungsrechtlichen
Gesichtspunkten nicht scharf zu trennen. Die klassische Methodenlehre unterscheidet insoweit zwischen der teleologischen Auslegung einerseits und einer teleologischen Reduktion bzw. Extension oder Analogie andererseits.33 Reduktion,
Extension und Analogie sind jenseits des Wortlautes bzw.
jenseits einer historischen Auslegung nicht mehr Auslegung
i.e.S., können aber lege artis eine Rechtsfortbildung darstellen.
Inwieweit eine solche Rechtsfortbildung ihrerseits verfassungsrechtlich verboten ist, hängt von der Strenge ab, mit der wir
den Vorbehalt des Gesetzes interpretieren. So gilt im Strafrecht ein strenges Analogieverbot zulasten des Täters, während
eine teleologische Reduktion strafbegründender Normen oder
Analogien zugunsten des Täters nicht ausgeschlossen sind.
Auch im Bereich der Eingriffsverwaltung gilt im Grundsatz
ein Analogieverbot für Ermächtigungsgrundlagen, während
Rechtsfortbildung jedenfalls mit dem grundrechtlichen34 Vorbehalt des Gesetzes dann nicht kollidiert, wenn Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht zu besorgen sind oder abgemildert35
werden.
gegebenenfalls der unterlegenen Partei die Möglichkeit der
Verfassungsbeschwerde.
32
Skeptisch gegen methodische Eindämmungsversuche
A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 93 Rn. 52.
33
Zur Unterscheidung statt aller Sauer, in: Krüper (Hrsg.),
Grundlagen des Rechts, 2. Aufl. 2013, § 9 Rn. 36; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung – Zugleich ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung, 1996, S. 268 ff.
34
Zu denken ist aber auch an den Haushaltsvorbehalt, der das
Budgetrecht des Parlaments schützt. So hat das BVerfG die
Rechtsprechung des BGH zum Sonderopfer (BGHZ 6, 270
[279]) mit deren Option „dulde und liquidiere“ gestoppt:
BVerfGE 58, 300 (324).
35
Ausgangspunkt der insoweit notwendig relativen Betrachtung ist das Gesetz, nicht der ungeregelte Zustand. D.h. eine
verfassungskonforme Reduktion eines grundrechtsbeschränkenden Gesetzes ist als relative Abmilderung des Grundrechtseingriffs nicht mit dem Argument unzulässig, dass die
Aufhebung des Gesetzes den Grundrechtseingriff gänzlich
entfallen ließe.
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359
AUFSÄTZE
Lothar Michael
Insoweit unproblematisch sind die Fälle, in denen im
Rahmen klassischer Auslegung eine verfassungskonforme und
also auch eine verfassungswidrige Auslegung einer Norm in
Betracht kommen. Hier sind alle Gerichte (und auch die Exekutive) befugt und verpflichtet, die Norm so auszulegen, dass
sie mit der Verfassung in Einklang steht. Das Verfassungsrecht kann den Spielraum jeglichen staatlichen Handelns und
auch den der Auslegung eingrenzen. Das entspricht der unmittelbaren Bindung aller Gewalten an die Verfassung und
insbesondere an die Grundrechte (Art. 20 Abs. 3 und Art. 1
Abs. 3 GG). Es ist dem Gesetzgeber gar nicht möglich, Normen stets so zu formulieren, dass eine Auslegung gar nicht in
Betracht kommt, die im Ergebnis mit der Verfassung kollidieren würde.36 Die verfassungskonforme Auslegung ist in
solchen Fällen ein ganz alltäglicher Auslegungsvorgang, der
weder auf einen Fehler des Gesetzgebers zurückgeht, noch
eine Entscheidung des BVerfG notwendig macht. Der Verfassung sind insoweit gegebenenfalls „Zwecke“ zu entnehmen, die strukturell als Teil der „teleologischen“ Auslegung
begriffen werden können. Teleologische Argumente gewinnen
hier verfassungsrechtliches Gewicht und überwinden wegen
des Vorrangs der Verfassung gegebenenfalls entgegenstehende
andere – z.B. historische oder systematische – Auslegungsgesichtspunkte.
Mit „verfassungskonformer Auslegung“ werden aber häufig auch und gerade die Konstellationen bezeichnet, in denen
– über die Auslegung i.e.S. hinaus – eine Rechtsfortbildung
(meist teleologische Reduktion) stattfinden muss, um der
Verfassung gerecht zu werden.37 Auch insoweit sind primär
die Fachgerichte aufgerufen, den Normkonflikt verfassungskonform zu lösen. Das gilt selbstverständlich nur im Rahmen
verfassungsrechtlich zulässiger Rechtsfortbildung. Die Herstellung eines verfassungskonformen Zustandes ist zwar Aufgabe aller Gewalten, begründet aber keine Blankettkompetenz der Judikative zu beliebiger Korrektur des Gesetzgebers.
Insoweit kollidieren hier formelles und materielles Verfassungsrecht, wobei die Erfüllung der materiellen Verfassungsbindung ihre Grenze in der Kompetenz der Fachgerichtsbarkeit hat. Weist erstere über letztere hinaus, greift der Mechanismus des Art. 100 Abs. 1 GG. In solchen Fällen käme dann
aber auch keine verfassungskonforme Auslegung durch das
BVerfG in Betracht, sondern nur die Normverwerfung. Denn
die Grenze der Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte ist
auch Grenze der verfassungskonformen Rechtsfortbildung
durch das BVerfG.
Typischerweise ist die Frage der verfassungskonformen
Auslegung bei der konkreten Normenkontrolle also eine
Frage der Zulässigkeit und keine der Begründetheit. Daraus
folgt aber nicht zwingend, dass eine „Rettung“ der Norm
durch verfassungskonforme Auslegung beim BVerfG nur im
Rahmen der abstrakten Normenkontrolle und bei der Verfassungsbeschwerde stattfände. Im Rahmen der Zulässigkeit der
Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG kommt es auf eine plausible
36
Sauer, Folgen hoheitlicher Rechtsverletzungen – Theorie
und Dogmatik des öffentlichen Reaktionsrechts, Habilitationsschrift Düsseldorf, 2014, S. 654, im Erscheinen.
37
Sauer (Fn. 33), § 9 Rn. 33 m.w.N.
(und im Zweifel ausführliche!) Darlegung der fachgerichtlichen Erwägungen hierzu an. Das Fachgericht muss sich dabei
also insbesondere auch zu den Grenzen der Auslegung und
gegebenenfalls der Rechtsfortbildung äußern. Dem BVerfG
ist es unbenommen, die Ausführungen hierzu unter Gesichtspunkten der Zulässigkeit für hinreichend zu erachten, dann
aber in der Begründetheit seinerseits Erwägungen zur Konformauslegung anzustellen. In der Fallbearbeitung empfiehlt
es sich, die Fragen im Zweifel in der Begründetheit zu vertiefen. Denn in der Zulässigkeit kommt es nicht darauf an, ob und
wie die Norm verfassungskonform ausgelegt werden sollte,
sondern darauf, ob das Fachgericht sich mit dieser Möglichkeit hinreichend auseinandergesetzt hat.
e) Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm
Schließlich muss das Gericht prüfen und darlegen, dass es auf
die Gültigkeit der Norm im konkret zu entscheidenden Fall
im Ergebnis ankommt. Das bedeutet, dass das Gericht die
Konsequenzen der Geltung der Norm hypothetisch zu prüfen
hat. Ist die Norm z.B. wegen des Anwendungsvorrangs des
Unionsrechts im konkreten Fall nicht anzuwenden, bedarf es
ihrer Verwerfung durch das BVerfG nicht.38 Auch die tatsächlichen Voraussetzungen der Anwendbarkeit der Norm
müssen durch etwaige Beweisaufnahme geklärt sein.39 Das
gilt auch für die prozessuale Erheblichkeit. So kann eine
Klageänderung oder Klagerücknahme sowie ein Vergleich
den Rechtsstreit im Sinne der Parteien lösen und diese vor
dem Umweg über das BVerfG bewahren. Einerseits legt das
BVerfG hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Fachgerichts
zu Grunde, soweit diese nicht offensichtlich unhaltbar ist.40
Andererseits sind die Anforderungen an eine plausible Darlegung und Begründung sehr hoch. Das Fachgericht muss dabei
– über die Fragen einer verfassungskonformen Auslegung der
vorgelegten Norm hinaus – auch darlegen, dass es – unter Berücksichtigung der „Literatur und Rechtsprechung“41 – keine
sonstigen Optionen der Rechtsauslegung gibt, die vorgelegte
Frage dahinstehen zu lassen. Das bei der abstrakten Normenkontrolle zu prüfende objektive Klarstellungsinteresse (siehe
Teil 2 unter 2. e) hat bei der konkreten Normenkontrolle
keine Bedeutung, weil die Anwendbarkeit der Norm bereits
in der Entscheidungserheblichkeit umfassend zu prüfen ist.
Zur Vertiefung: Grundsätzlich keine Bedeutung hat in
diesem Rahmen allerdings die Anschlussfrage der Entscheidungswirkungen der Normverwerfung (für nichtig/unanwendbar/unvereinbar erklären), die sich also erst das BVerfG – vor
allem bei einem Verstoß gegen Gleichheitsrechte – stellen
muss. Auch die Frage, ob überhaupt von einem Grundsatz
ausgegangen werden kann, dass Normen wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht im Zweifel ipso iure sowie
38
BVerfGE 85, 191 (203 ff.), für einen Fall offenbaren Vorrangs des Gemeinschaftsrechts.
39
BVerfGE 79, 256 (264), zu den Möglichkeiten einer Vorlage auch ohne mündliche Verhandlung.
40
BVerfGE 129, 186 (203) – Investitionszulagengesetz,
m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerfG.
41
BVerfGE 79, 240 (243).
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ZJS 4/2014
360
Normenkontrollen – Teil 3
ex tunc nichtig sind oder ob auch die Nichtigerklärung gegebenenfalls eine konstitutive Kassation der Norm darstellt, ist
eine Frage der Entscheidungsfolgen (dazu Teil 6). Selbst wenn
die bloße Unvereinbarkeit der Norm die Folge ihrer Verfassungswidrigkeit wäre, bleibt deren Vorlage zum BVerfG zulässig.42 Denn auch ein solches Verfahren kann im Ergebnis
für die Entscheidung des Einzelfalls Auswirkungen haben,
wenn nämlich der Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet
wird, das Verfahren bis dahin ausgesetzt bleibt43 und eine
Option des Gesetzgebers darin besteht, die Rechtslage rückwirkend zugunsten des Verfahrensbeteiligten im Ausgangsverfahren zu regeln.
Drei schwierige Probleme stellen sich bei der Frage der
Entscheidungserheblichkeit:
Erstens: Der Grundsatz einer umfassenden Überwachungspflicht44 der Gerichte auch über Verstöße von Gesetzen gegen
Gleichheitssätze erfährt durch das BVerfG eine praktisch erhebliche Einschränkung: Danach muss eine der Prozessparteien zu den benachteiligten Personen zählen.45 Gleichheitswidrige gesetzliche Leistungsansprüche sind danach regelmäßig nicht vorlagefähig.
Müssen also Richter gegebenenfalls sehenden Auges
gleichheitswidrige Begünstigungen zusprechen? In der Literatur wird dies – z.T. heftig46 – kritisiert. In der Tat stellt sich
die Frage, ob der Vorrang der Verfassung es nicht gebieten
würde, dass dann ein Fachgericht sogar Parlamentsgesetze unangewendet ließe. Aber das widerspräche Art. 100 Abs. 1 GG
und insbesondere auch dem Sinn, den das BVerfG dieser
Norm primär zuweist (Verwerfungsmonopol zum Schutz des
Parlamentsgesetzgebers). Gibt es für diese restriktive Rechtsprechung zu den Gleichheitsverstößen eine dogmatisch konsistente Begründung? Nahe läge zunächst folgende Erklärung:
Die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG als Zwischenverfahren
innerhalb eines Verfahrens des subjektiven Rechtsschutzes
hat ihrerseits jedenfalls auch eine subjektiv rechtsschützende
Funktion zur Abwehr gegen verfassungswidrige Gesetze und
deren Vollzug. Aber auch das BVerfG47 weist dieser Funktion
keine eigenständige Bedeutung zu. Zwar macht Art. 100
Abs. 1 S. 1 GG in einer gleichsam vorweggenommenen Normenkontrolle eine sonst möglicherweise anschließende (und
42
BVerfGE 17, 210 (215 f.); 72, 9 (17 f.); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 844; restriktiver
noch BVerfGE 8, 28 (32 f.).
43
Das Verfahren muss gegebenenfalls sogar ausgesetzt bleiben, BVerfGE 49, 280 (282).
44
Dies betont Ulsamer, in: Maunz u.a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, 42. EL (Oktober 2013),
§ 80 Rn. 139, ohne allerdings die Konsequenzen zu ziehen.
45
Vgl. BVerfGE 66, 100 (105); 67, 239 (243 f.) und dazu
Schlaich/Korioth (Fn. 19), Rn. 150.
46
Benda/Klein (Fn. 42), Rn. 848, mit Verweisen auf „zu
Recht scharfe Kritik“ bei Aretz, JZ 1984, 918 (920 ff.);
Sachs, DVBl. 1985, 1106 (1107 ff.); Löwer, in: Isensee/
Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 92.
47
BVerfGE 72, 51 (62); diese Inkonsistenz wird als „frappierend“ bezeichnet von Benda/Klein (Fn. 42), Rn. 848 Fn. 290.
ÖFFENTLICHES RECHT
gegebenenfalls auch angedrohte) Verfassungsbeschwerde entbehrlich. Aber Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG erschöpft sich nicht
darin, mag das Verfahren auch regelmäßig von Verfahrensbeteiligten angeregt werden. Richtervorlagen kommen auch
in Betracht, wenn das Gericht objektiv-verfassungsrechtliche
Bedenken gegen eine Norm hat, wenn also eine spätere Verfassungsbeschwerde per se rechtlich ausgeschlossen wäre.
Stellen wir uns etwa ein Gesetz vor, das entgegen der in
Art. 26 Abs. 2 S. 1 GG bestimmten Voraussetzungen den Handel mit Kriegswaffen erlauben würde. Würde sich ein Waffenhändler auf ein solches Gesetz vor Gericht berufen, wäre eine
Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zulässig, auch wenn
die Verfahrensbeteiligten von einer solchen gesetzlichen Regelung ausschließlich begünstigt würden. Eine Auslegung,
die Vorlagen auf subjektive Verfassungsverletzungen eines
Verfahrensbeteiligten beschränken würde, verstieße nicht nur
gegen Wortlaut und Zweck des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG. Sie
würde auch die unmittelbare und umfassende Verfassungsbindung der Gerichte in Frage stellen.48
Eine einzige Erklärung kann die restriktive Rechtsprechung
zur Vorlage gleichheitswidriger, begünstigender Gesetze plausibel machen: Mit der unmittelbaren Grundrechtsbindung der
Gerichte nach Art. 1 Abs. 3 GG lässt sich diese nur so vereinbaren, dass Art. 3 Abs. 1 GG als ein rein subjektiver Anspruch auf Nichtbenachteiligung interpretiert wird, der für
den Richter gar keine darüber hinausreichende objektivrechtliche Gleichbehandlungspflicht begründet, sondern der
außer Betracht bleibt, solange sich darauf im konkreten
Rechtsstreit niemand beruft bzw. berufen kann. Der subjektive
Anspruch auf Nichtbenachteiligung richtet sich zwar unverändert und objektiv oder besser abstrakt gegen den Gesetzgeber, der jedermann und nicht nur konkrete Verfahrensbeteiligte zu berücksichtigen hat. In diesem Modell blenden die
Fachgerichte einen Verstoß des Gesetzgebers gegen Art. 3
Abs. 1 GG aus, ohne ihrerseits gegen den insoweit eng interpretierten Art. 3 Abs. 1 GG zu verstoßen. Denn Art. 3 Abs. 1
GG entfaltet vor den Fachgerichten nur Wirkung zugunsten
der Verfahrensbeteiligten oder zwischen ihnen. Damit ist die
Rechtsprechung konsistent rekonstruierbar als eine Folge spezifischer Dogmatik des allgemeinen49 Gleichheitssatzes. Diese
Dogmatik ist aber keineswegs auf andere Verfassungsverstöße
und insbesondere auch nicht auf die besonderen Gleichheitssätze zu übertragen. Denn Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verbietet
explizit, bezüglich der speziellen Diskriminierungstatbestände
„benachteiligt oder bevorzugt [zu] werden“. Daran sind auch
die Gerichte nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar gebunden.
48
Beachte, dass Art. 20 Abs. 3 GG nicht so zu verstehen ist,
dass die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung im Gegensatz zur Gesetzgebung nicht an die Verfassung, sondern
gleichsam nur an „Gesetz und Recht“ gebunden wären. Vielmehr ist es umgekehrt so, dass die Gesetzgebung nur an die
Verfassung, die beiden anderen Gewalten hingegen auch an
das einfache Gesetz und Recht gebunden sind.
49
Übertragbar wäre sie nicht einmal auf den Sonderfall des
Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, der zwar explizit nur Benachteiligungen
ausschließt, sich insoweit aber gleichermaßen an alle Gewalten richtet.
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361
AUFSÄTZE
Lothar Michael
Allgemein anerkannt ist, dass Art. 3 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht begründet. Nach
der Rechtsprechung des BVerfG begründen darüber hinaus
Gesetze, bei deren Erlass der Gesetzgeber gegen Art. 3 Abs. 1
GG verstößt, gegebenenfalls einen subjektiven, gerichtlich
durchsetzbaren Anspruch, obwohl dieser im Ergebnis zu einer
Ungleichbehandlung im Unrecht führt. So verstanden wird
noch deutlicher, warum Art. 100 Abs. 1 GG primär eine den
Gesetzgeber schützende Norm sein soll. Und es wird daran
deutlich, wie sehr subjektiv-rechtlich die Rechtsprechung des
BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz an dieser Stelle
geprägt ist. Das BVerfG sieht zwar Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG
als objektiv-rechtliches, der Gewaltenteilung dienendes Verfahren, interpretiert aber dessen Voraussetzungen umso enger.
Mag die Rechtsprechung des BVerfG insoweit plausibel erklärbar sein, wäre eine großzügigere Handhabung des Art. 100
Abs. 1 S. 1 GG auch unter diesen Prämissen zu erwägen.
Denn erstens ist eine auch objektiv-rechtliche Bedeutung des
Art. 3 Abs. 1 GG denkbar und zweitens setzt Art. 100 Abs. 1
S. 1 GG nicht explizit voraus, dass der Richter selbst in einem
eigenen Normkonflikt steckt. Dass sich das BVerfG auch hier
einmal mehr zu entlasten sucht, um seine Funktionen als
Verfassungsgericht überhaupt bewältigen zu können, ist freilich eine auch verfassungsrechtlich begründbare Tendenz der
„Subjektivierung“ sogar der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Zweitens: Im Zusammenhang der Entscheidungserheblichkeit sollte gegebenenfalls auch erörtert werden, ob eine Vorlage auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in
Betracht kommt. Diese umstrittene50 Frage, bei der zwei Verfassungsnormen, nämlich Art. 100 Abs. 1 GG (Verwerfungsmonopol) und Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz)
zum Ausgleich zu bringen sind, ist differenziert zu beantworten: Einerseits entfällt die Entscheidungserheblichkeit nicht
bereits wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung.51 Die
Rechtsprechung hat Vorlagen in Eilverfahren jedenfalls dann
für zulässig und sogar für geboten gehalten52, wenn die
Hauptsache ausnahmsweise vorweggenommen wird, sich das
Klageziel im Hauptsacheverfahren also vor dessen Abschluss
erledigen wird. Andererseits ist es den Fachgerichten aber
auch nicht verwehrt, im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes zugunsten einer Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeit der Verwerfung der Norm durch
das BVerfG ohne sofortige Vorlage in die Betrachtung einzubeziehen. Dies muss dann gegebenenfalls in drei Schritten
geschehen: Erstens muss das Fachgericht selbst von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt sein (s.o. unter d).
Zweitens muss das Fachgericht im Rahmen des einstweiligen
Rechtsschutzes ausnahmsweise außer der üblichen Betrachtung (nämlich der Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter
Zugrundelegung der Gültigkeit der Norm) auch die Erwä50
Pietzcker, in: J. Ipsen u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im
Wandel, 1995, S. 623 (625 ff.); Pestalozza, JuS 1978, 312;
Schlaich/Korioth (Fn. 19), Rn. 140; aus der Rechtsprechung
BVerfGE 63, 131 (141 f.); 86, 382 (389).
51
Pietzcker (Fn. 50), S. 630.
52
BVerfGE 46, 43 (51); zurückhaltender BVerfGE 63, 131
(141).
gungen anstellen, die das BVerfG selbst bei einstweiligen
Anordnungen nach § 32 BVerfGG anstellt (nämlich der Vergleich der Nachteile des Vollzugs einer gegebenenfalls verfassungswidrigen Norm mit den Nachteilen des Nichtvollzugs
einer gegebenenfalls verfassungsmäßigen Norm). In diesem
Rahmen kann das Fachgericht dann im Ergebnis die Norm
auch vorläufig unangewendet lassen, wenn die Nachteile des
Normvollzugs überwiegen. Insoweit handelt es sich um eine
Abwägungsentscheidung.53 Da es sich hier lediglich um eine
einstweilige Entscheidung nach Interessenlage und ohne abschließende Beurteilung der Rechtslage handelt, setzt sich das
Fachgericht hier nicht dem Vorwurf aus, das Verwerfungsmonopol des BVerfG zu verletzen. Schließlich muss das Fachgericht dann drittens die Norm im Hauptsacheverfahren vorlegen, so dass die Autorität des Gesetzgebers wenigstens nachträglich gesichert ist.54 Letzteres hängt dann freilich auch von
den Parteien ab, die es gegebenenfalls in der Hand haben, das
Hauptsacheverfahren zu betreiben oder auch nicht.
Drittens: Ebenfalls an dieser Stelle der Frage der Entscheidungserheblichkeit ist gegebenenfalls auch die Frage zu
klären, wie sich die Vorlage eines nationalen Gesetzes nach
Art. 100 Abs. 1 GG zum BVerfG zu einer Vorlage nach
Art. 267 AEUV zum EuGH verhält. Hier sind abermals verschiedene Konstellationen zu unterscheiden:
Konstellation 1: Grundsätzlich hat ein Fachgericht Wahlfreiheit, ob es eine entscheidungserhebliche Norm, die nach
seiner Auffassung sowohl gegen das Unionsrecht als auch
gegen das Verfassungsrecht verstößt, entweder dem BVerfG
vorlegt oder/und dem EuGH die Frage vorlegt, ob insoweit
ein Verstoß gegen Unionsrecht vorliegt. Das Fachgericht kann
dies nach Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden.55 Die
Entscheidungserheblichkeit ist nicht berührt.
Konstellation 2: Wenn „feststeht“56, insbesondere wenn
eine Vorlage an den EuGH ergibt, dass eine Anwendung des
deutschen Gesetzes im vorliegenden Fall wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ausscheidet, wird die Vorlage
an das BVerfG entbehrlich und wegen mangelnder Entscheidungserheblichkeit unzulässig.
Konstellation 3: Die Vorlage zum BVerfG nach Art. 100
Abs. 1 GG ist zudem gegenüber einer Vorlage an den EuGH
nach Art. 267 AEUV dann subsidiär, wenn die Frage zu klären
ist, ob das Unionsrecht dem nationalen Recht insoweit Spielräume lässt. Denn dies ist eine Vorfrage, die für die Entscheidung des BVerfG eine doppelte Bedeutung hat. Erstens richtet sich danach, ob solche Spielräume durch Anwendung eines
(gegebenenfalls strengeren) nationalen Grundrechtsschutzes
gefüllt werden können. Zweitens bekommt der EuGH auf
53
Sieckmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 100 Abs. 1
Rn. 9.
54
Ähnlich Pestalozza, JuS 1978, 312 (318 f.); T. Schmitt,
Richtervorlagen in Eilverfahren?, 1997, S. 306 f.; Sieckmann
(Fn. 53), Art. 100 Abs. 1 Rn. 11.
55
BVerfGE 116, 202 (214); ausdrücklich bestätigt durch
BVerfGE 129, 186 (203) – Investitionszulagengesetz; das
verkennt W. Meyer (Fn. 13), Art. 100 Rn. 22.
56
BVerfGE 116, 202 (214).
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362
Normenkontrollen – Teil 3
diesem Wege die Gelegenheit, auch die unionalen Grundrechte der Grundrechte-Charta zum Ansatz zu bringen und
gegebenenfalls eine Entscheidung nach Art. 100 Abs. 1 GG
entbehrlich zu machen. Es handelt sich um eine Frage der
insoweit lediglich subsidiären Zulässigkeit einer Vorlage nach
Art. 100 Abs. 1 GG. Das BVerfG fordert von dem vorlegenden Fachgericht, dass es „geklärt hat, ob das von ihm als
verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung eines dem
nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden
Gestaltungsspielraums ergangen ist.“57 Ob ein solcher Spielraum vorliegt, muss das Fachgericht gegebenenfalls im Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH nach Art. 267 AEUV
klären lassen. Daraus ergibt sich zudem, dass Art. 100 Abs. 1
GG mittelbar auch eine verfassungsrechtliche (!) Vorlagepflicht an den EuGH begründen kann.58 Art. 100 Abs. 1 GG
tritt damit neben Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG als verfassungsprozessualer Hebel zur Durchsetzung der Vorlagepflicht an den
EuGH. Zu beachten ist aber, dass die Subsidiarität der Vorlage zum BVerfG gegenüber einer Vorlage an den EuGH ausschließlich in der Sonderkonstellation greift, dass es die Frage
eines unionsrechtlichen Spielraums zu klären gilt. Das kommt
vor allem dann in Betracht, wenn das vom Fachgericht bezweifelte nationale Gesetz eine Richtlinie der Union umsetzt.
f) Zum Verständnis: Hintergründe der restriktiven Rechtsprechung
Dass das BVerfG die Zulässigkeitsvoraussetzungen der konkreten Normenkontrolle streng handhabt, hat zwei Funktionen:
Zum einen wird verhindert, dass unnötige Vorlageverfahren
den Ausgangsrechtsstreit verzögern. Die Parteien sollen nicht
länger auf die Entscheidung ihres Rechtsstreits warten müssen, weil das Gericht das Verfahren zum Anlass nimmt, eine
Frage von abstrakter, objektiver und grundsätzlicher Bedeutung klären zu lassen. Eine restriktive Auslegung des Art. 100
Abs. 1 GG kann deshalb insgesamt als Vorrang des effektiven, subjektiven Rechtsschutzes vor dem objektiv-rechtlichen
Klärungsinteresse gedeutet werden. Normativ lässt sich diese
Tendenz mit Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (Gebot der „Entscheidung in angemessener Frist“) sowie mit Art. 19 Abs. 4 GG
bzw. dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch i.V.m. den
Grundrechten untermauern.59 Das zeigt sich bei verschiedenen Zulässigkeitsstationen: Untergesetzliche und vorkonstitutionelle Normen können grundsätzlich60 nicht vorgelegt werden; Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm reichen
nicht; eine verfassungskonforme Auslegung muss ausgeschlossen werden, die Entscheidungserheblichkeit ist streng zu prüfen. All diese Hürden verweisen im Ergebnis auf die vorran-
57
BVerfGE 129, 186 (Ls. 1) – Investitionszulagengesetz;
dazu die ausführliche Besprechung von Michael, ZJS 2012,
376.
58
BVerfGE 129, 186 (203) – Investitionszulagengesetz.
59
Vgl. BVerfGE 86, 71 (76 f.); kritisch Pieroth, in: Jarass/
Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 12. Aufl. 2012,
Art. 100 Rn. 11.
60
Zu den Sonderfällen, dass der Gesetzgeber diese in seinen
Willen aufgenommen hat, s.o. unter 3. c).
ÖFFENTLICHES RECHT
gige Erschöpfung alternativer Möglichkeiten des Ausgangsgerichts, den Fall selbst ohne Vorlage zu entscheiden.
Zum anderen wird auch das BVerfG entlastet – und nicht
etwa die Fachgerichte durch die vermeintliche Chance, sich
der Beantwortung schwieriger verfassungsrechtlicher Fragen
entledigen zu können.61 Mit Entlastung des BVerfG ist weniger gemeint, dass Ablehnungen wegen Unzulässigkeit weniger
aufwändig als Entscheidungen in der Sache wären. Bedenkt
man nämlich, dass dieselbe Norm auf dem Wege einer abstrakten Normenkontrolle und vor allem der Verfassungsbeschwerde doch noch auf den Prüfstand des BVerfG kommen
kann, droht gegebenenfalls sogar ein Bumerang-Effekt. Entlastung tritt vielmehr vor allem ein, soweit die Fachgerichte
die aufgeworfenen Probleme durch verfassungskonforme Auslegung selbst lösen können. Schließlich führen die strengen
Begründungsanforderungen zu einer Entlastung des BVerfG
auch in den Fällen, in denen die Vorlage zulässigerweise
erfolgt. Die Richtervorlage ist nämlich so aufzubereiten, dass
sie aus sich heraus nachvollziehbar ist und eine ausführliche
und eigenständige Begründung enthält. Das BVerfG erhält
zwar auch die Gerichtsakten, soll sich aber auf eine Plausibilitätskontrolle der Entscheidungserheblichkeit beschränken
können. Auch die umfassende Aufbereitung der fachgerichtlichen Auslegung der Norm einschließlich der in der Literatur
und Rechtsprechung hierzu vertretenen Auffassungen soll es
dem BVerfG erleichtern, selbst die Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung nachvollziehen und beurteilen
zu können. Schließlich soll auch die verfassungsrechtliche
Begründung des vorlegenden Gerichts im Idealfall einen
brauchbaren Entwurf für die vom BVerfG zu verantwortende
Entscheidungsbegründung liefern. Die „Richtervorlage“ nach
Art. 100 Abs. 1 GG hat also nicht den Charakter einer „Frage“,
die das Fachgericht mangels verfassungsrechtlicher Kenntnisse nicht beantworten kann und sie deshalb an das BVerfG
richtet. Vielmehr ist sie im Gegenteil eher eine vom Fachgericht zu erstellende „Entscheidungsvorlage“ für eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, bei der sich das Fachgericht
bis in die Einzelheiten auf verfassungsrechtliche Probleme
einlassen muss. Salopp gesagt: Das Fachgericht soll bei der
Richtervorlage ausnahmsweise „Verfassungsgericht spielen“
ohne freilich selbst „Verfassungsgericht sein“ zu dürfen –
und wehe ihm, wenn es bei diesem „Spiel“ die „Spielregeln
der Zulässigkeit“ nicht kennt. Im Ernst: Jedes Gericht ist ein
Verfassungsgericht i.w.S. (Peter Häberle).62 Denn es ist verfassungsgebunden und es hat gegenüber Normen die Prüfungs(wenn auch nicht die uneingeschränkte Verwerfungs-)kompetenz und Prüfungspflicht. Und das Verfassungsprozessrecht
hat eine doppelt „erzieherische“ Wirkung gegenüber den verfassungsgebundenen Fachgerichten: Auf der einen Seite stehen Art. 100 Abs. 1 GG und dessen strenge Auslegung durch
das BVerfG und auf der anderen Seite können die Parteien
mit der Verfassungsbeschwerde drohen für den Fall, dass das
Gericht vorgebrachten grundrechtlichen Bedenken nicht Rechnung trägt. Dabei ist klarzustellen, dass es keinen subjektiven
Anspruch darauf gibt, dass ein Fachgericht von Art. 100 Abs. 1
61
62
Pestalozza (Fn. 18), § 13 Rn. 6.
Vgl. Häberle, VVDStRL 61 (2002), 185 (186).
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363
AUFSÄTZE
Lothar Michael
GG Gebrauch macht. Während bei Nichtvorlage an den EuGH
eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des gesetzlichen Richters in Betracht kommt, steht bei einer Nichtvorlage
nach Art. 100 Abs. 1 GG der unterlegenen Partei gegebenenfalls die Verfassungsbeschwerde gestützt auf die materiellen
Grundrechte zur Verfügung.
Die beiden Aspekte der Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens und der Entlastung des BVerfG stehen freilich auch in einem gewissen Spannungsverhältnis. Werden
die Hürden einer zulässigen Richtervorlage unangemessen
hoch gelegt, kann dies in eine verzögernde Belastung der
Fachgerichte umschlagen. Eine ökonomische Analyse müsste
danach fragen, wie lange Fachgerichte für solche Vorlagen
brauchen, wie viele Verfahren sie stattdessen liegen lassen
usf. Vor allem kommt es aber darauf an, die Zulässigkeitsanforderungen klar und praktisch handhabbar zu erfassen. Das
BVerfG ist auch deshalb um Kontinuität und Detailschärfe
seiner rigiden Rechtsprechung bemüht. Andererseits ist die
Rechtsprechung auch zu Recht in Einzelfällen großzügiger
gewesen. So hat das BVerfG die Begründungsanforderungen
abgemildert, wenn das vorlegende Gericht rechtlich daran gehindert ist, die an sich gebotenen Ermittlungen durchzuführen.63 Auch hat es vom Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit abgesehen, wenn „die Vorlagefrage von allgemeiner
und (!) grundsätzlicher Bedeutung für das Gemeinwohl und
(!) deshalb ihre Entscheidung dringlich ist“64.
63
64
BVerfGE 58, 300 (327).
BVerfGE 47, 146 (157).
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ZJS 4/2014
364
Einführung in das Kostenrecht der ZPO
Von Wiss. Mitarbeiter Felix M. Wilke, LL.M. (Michigan), Bayreuth
Auch Laien ist häufig die Grundregel des § 91 ZPO bekannt:
„Wer verliert, zahlt.“ Viele Jurastudenten wissen vor dem
ersten Examen wenig mehr. Es ist auch nicht Anliegen dieses
Beitrags, die Bedeutung der Prozesskosten im Studium aufzubauschen. Vielmehr soll es überblicksweise um die Grundlinien des Kostenrechts gehen, damit examensrelevante ZPONormen mit kostenrechtlichen Bezügen keine Stolpersteine
bilden. Angehenden Referendaren mögen die Ausführungen
als Einstieg dienen. Letztlich geht es um juristische Allgemeinbildung.
I. Einführung
Prozesskosten spielen im ersten Examen typischerweise keine
Rolle. Doch stößt der Examenskandidat im Kontext anderer
prozessualer Fragen immer wieder auf Kostenvorschriften,
etwa bei der Klagerücknahme gem. § 269 ZPO und beim
Versäumnisurteil gem. §§ 330 ff. ZPO. Für die übereinstimmende Erledigungserklärung findet sich überhaupt nur eine
Kostenvorschrift (§ 91a ZPO). Dieser Beitrag setzt sich mit
den Grundzügen der Kosten des Erkenntnisverfahrens auseinander.1 Außen vor bleiben sonstige Anspruchsgrundlagen
für eine Kostenerstattung. Auch wenn das materielle Recht
keinen allgemeinen Kostenerstattungsanspruch kennt, können
diverse Anspruchsgrundlagen der Sache nach Prozesskosten
erfassen, etwa §§ 280 Abs. 1, 2, 286 oder § 823 BGB.2 Für
deren klageweise Durchsetzung fehlt allerdings das Rechtsschutzbedürfnis, soweit (!) das unten darzustellende Kostenfestsetzungsverfahren reicht.3
II. Verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Rahmen
Der Gesetzgeber befindet sich in einer Zwickmühle. Auf der
einen Seite beansprucht der Staat das Gewaltmonopol für
sich. Die Bürger dürfen ihre Rechte nicht selbst durchsetzen,
sondern müssen sich an die staatlichen Einrichtungen wenden.4 Der aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitete Justizgewährleistungsanspruch verlangt, dass der Zugang zu den
Gerichten nicht unzumutbar erschwert ist.5 Dazu gehört, dass
das Kostenrisiko eines Prozesses nicht außer Verhältnis zum
damit angestrebten Erfolg stehen darf.6 Auch die EMRK ver1
Einführungen anderen Zuschnitts finden sich bei Breidenstein, JA 2011, 771; Stoffregen, JuS 2010, 401; kostenrechtliche Probleme für das Assessorexamen bei Fischinger, JA
2009, 49.
2
Lackmann, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 10. Aufl.
2013, Vorbemerkung vor § 91 Rn. 15.
3
Loritz, Die Konkurrenz materiellrechtlicher und prozessualer Kostenerstattung, 1981, S. 99 f.; BGHZ 111, 168 (171).
4
Vgl. nur Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum
Grundgesetz, 51. Ergänzungslieferung 2007, Art. 92 Rn. 11;
BVerfGE 54, 277 (292) – Plenum.
5
Schulze-Fielitz, in: Dreier, Kommentar zum Grundgesetz,
2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 211 f.; BVerfGE 85, 337 (345347).
6
Siehe nur BVerfG NJW 2006, 136 (137).
langt einen individuellen Zugang zu staatlichen Gerichtsverfahren, unabhängig von der persönlichen finanziellen Leistungsfähigkeit.7 Nicht wenige Zivilprozesse dienen nicht
allein einem Privatinteresse, sondern auch Allgemeininteressen, etwa solchen an der Klärung offener Rechtsfragen und
an der Rechtsfortbildung.8 Dies alles legt nahe, dass der Staat
sein Justizsystem kostenlos zur Verfügung stellen sollte.
Auf der anderen Seite steht zu befürchten, dass es bei
„Justiz zum Nulltarif“ zu einer unnötigen und grundlosen Belastung der Gerichte kommt. Auch aussichtslose Fälle würden, so die Schreckensvorstellung, durch alle Instanzen ausgefochten. Diese Sorgen lassen sich zum Teil empirisch belegen:9 Jedenfalls in bestimmten Rechtsgebieten prozessieren
Parteien, die über eine Rechtsschutzversicherung verfügen,
häufiger und hartnäckiger, doch weniger erfolgreich. Und
überhaupt: Angesichts der Finanzierungsfrage ist ein justizieller Nulltarif wohl utopisch.
Vor diesem Hintergrund gilt es, einen Mittelweg zu finden. Insbesondere seit Ende der 60er Jahre wurden und werden in Deutschland viele Lösungen diskutiert, etwa: Kostenbefreiung in besonders sozial relevanten Materien; Kostenübernahme durch den Staat in Revisionsverfahren; Ausdehnung der Prozesskostenhilfe; Kostenbefreiung bei „echter“
Unklarheit über die Rechtslage; eine allgemeine Rechtsschutzpflichtversicherung.10 Auch nach zwei umfangreichen Reformgesetzen in den letzten zehn Jahren11 verlangen jedoch die
Zivilgerichte für ihr Tätigwerden Gebühren, ganz gleich, ob
in erster oder letzter Instanz. Soziale Erwägungen spielen in
Einzelfällen eine Rolle; die „Unklarheit“ einer Rechtsfrage
oder das Allgemeininteresse an Rechtsfortbildung machen
Prozesse nicht kostenlos. Der Abschluss einer Rechtsschutzversicherung ist freiwillig. Und unverrückt steht der Grundsatz: „Wer verliert, zahlt.“
III. Die Kosten eines Zivilprozesses
Es lassen sich in einem Zivilprozess vier kostenrelevante
Beziehungen unterscheiden: Das Verhältnis von Gericht zu
Personen, die nicht Partei sind, also z.B. zu Zeugen und
Sachverständigen; das Verhältnis zwischen Gericht und den
7
Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention,
3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 40; Valerius, in: Beck’scher OnlineKommentar zur StPO, Ed. 18, Stand: 24.3.2014, Art. 6
EMRK Rn. 5.
8
Vgl. Bork, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl.
2004, vor § 91 Rn. 5.
9
Jagodzinski/Raiser/Riehl, Rechtsschutzversicherung und
Rechtsverfolgung, 1994 = Beilage Nr. 59a zum Bundesanzeiger 1994.
10
Zur historischen Debatte Bokelmann, ZRP 1973, 164;
Pawlowski, JZ 1975, 197; Rehbinder, in: Jahrbuch für
Rechtssoziologie und Rechtstheorie 4, 1975, S. 395-413.
11
Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (KostRMoG)
v. 5.5.2004; Zweites Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (2. KostRMoG) v. 23.7.2013.
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365
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Felix M. Wilke
Parteien; das der Parteien zu ihren Rechtsanwälten (wenn sie
denn einen Rechtsanwalt mandatieren); und schließlich das
Verhältnis der Parteien untereinander. Kosten entstehen in
den ersten drei Verhältnissen und werden im vierten verteilt.
Um das Verhältnis zwischen den Parteien geht es in §§ 91
ff. ZPO. Es bildet die „Schnittstelle“12 für alle zuvor genannten Verhältnisse. Das Gericht verlangt von den Parteien die
Zahlung von Gerichtsgebühren13 und für Auslagen (etwa für
Zeugen und Sachverständige14 oder für die Klagezustellung15).
Zusammen ergeben diese Gebühren und Auslagen die Gerichtskosten (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 a.E. GKG).16 Die Parteien
haben im Übrigen sogenannte „außergerichtliche Kosten“.17
Hier sind Auslagen der Parteien zu nennen, wie z.B. Reisekosten.18 Insbesondere geht es indes um Gebühren und Auslagen der Rechtsanwälte. Diese richten sich grundsätzlich
nach dem RVG. Partei und Rechtsbeistand können aber auch
in den gesetzlichen Grenzen eine Vergütung vereinbaren,
unter bestimmten Voraussetzungen sogar ein Erfolgshonorar
(§§ 49b BRAO, 4a RVG).19 Gerichtskosten und außergerichtliche Kosten bilden zusammen die Prozesskosten, oder, um
mit dem RG zu sprechen, „die unmittelbaren Aufwendungen
zur Führung eines Prozesses“.20
IV. Die Verteilung der Kosten
1. Unterlegenenhaftung
Die Parteien müssen ihre Kosten zunächst selbst tragen. Wer
aber kann am Ende des Prozesses Erstattung von wem verlangen? § 91 Abs. 1 S. 1, 1. Hs. ZPO sieht den schon mehrfach angesprochenen Grundsatz vor: „Wer verliert, zahlt.“
Dem Modell liegt in etwa folgende Vorstellung zugrunde:
„Wenn die Rechtsordnung dem Einzelnen ein Recht zuspricht, so spricht sie es ihm ganz zu und nicht abzüglich der
Kosten einer eventuellen gerichtlichen Durchsetzung.“21
Ganz „kosten“frei erhält der Einzelne sein Recht freilich so
gut wie nie, denn sehr wohl entgeht ihm Freizeit und entsteht
ihm Ärger. Damit ist das deutsche Kostenrecht grundlegend
anders als etwa die American Rule, nach der prinzipiell jede
Partei die eigenen Kosten zu tragen hat. Ein Gericht kann nur
unter einer gesonderten Ermächtigung einer Partei die Kosten
der anderen auferlegen.
Die Unterlegenenhaftung ist keine Strafe für unbegründetes
Prozessieren;22 es kommt insbesondere nicht auf irgendeine
12
Schulz, in: Münchener Kommentar zu ZPO, 4. Aufl. 2013,
Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 4.
13
Maßgeblich ist insbesondere das GKG.
14
Siehe hierzu §§ 8 ff., 19 ff. JVEG; Nr. 9005 KV GKG.
15
Nr. 9002 KV GKG.
16
Lackmann (Fn. 2), vor § 91 Rn. 4.
17
Zur Missverständlichkeit des Begriffs Schulz (Fn. 12),
Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 7.
18
Lackmann (Fn. 2), vor § 91 Rn. 5.
19
Damit ist nichts über die eventuelle Erstattungspflicht der
anderen Seite gesagt, hierzu unter IV. 3.
20
RGZ 150, 37 (40).
21
Rehbinder (Fn. 10), S. 395 (405).
22
Bork (Fn. 8), vor § 91 Rn. 6.
Form von Verschulden an.23 Vielmehr ist sie letztlich Haftung für die grundlose Verursachung eines Prozesses.24 Es
besteht eine Art Vermutung, dass derjenige den Rechtsstreit
grundlos veranlasst hat, der unterliegt. Ein Kläger muss wegen des staatlichen Gewaltmonopols das Gericht einschalten.
Ein Beklagter muss sich, etwa vor dem Hintergrund eines
möglichen Versäumnisurteils, meist auch dann wehren, wenn
er einer inhaltlich aussichtslosen Klage ausgesetzt wird. Bestimmte Kosten sind damit für die Parteien eines Prozesses
einfach nicht zu vermeiden. Die obsiegende Partei auf derart
unabwendbaren eigenen Kosten sitzen zu lassen, entspricht
nicht den deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen.
Diese Verursachungshaftung ist außerdem eine einfache
Lösung, sodass ein Erstattungsanspruch im Idealfall schnell
zu verwirklichen ist.25 Freilich vermag der Gesichtspunkt der
Einfachheit per se diese Kostenverteilung nicht zu rechtfertigen: eine Regel, nach der jede Partei ihre eigenen außergerichtlichen Kosten trüge, wäre kaum komplizierter26 – und ist
dem Prozessrecht nicht schlechterdings unbekannt, siehe
§ 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG fürs arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren erster Instanz.
Die Unterlegenenhaftung trägt nicht unbedingt zur Vermeidung von Prozessen bei. Wer siegesgewiss ist, hat keinen
Anreiz, sich mit dem Gegner im Vorfeld des Prozesses zu
einigen.27 Vereinfachend gesprochen werden lediglich diejenigen Prozesse vermieden, bei denen eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass das Gericht eine Haftung
dem Grunde nach bejahen wird.28
2. Völliges und teilweises Unterliegen
Eine Partei ist unterlegen, soweit das letztinstanzliche Urteil
nicht ihrem Sachantrag in der Hauptsache entspricht.29 Ein
einfaches Beispiel: Der Kläger verlangt die Zahlung von
10.000 €. Seine Klage wird vollumfänglich abgewiesen. Er
ist unterlegen und wird grundsätzlich sämtliche Prozesskosten
tragen müssen. Umgekehrt: Bekommt der Kläger in voller
Höhe Recht, ist der Beklagte, der Abweisung beantragte,
unterlegen. Die Kosten werden dem Beklagten auferlegt.
Dies gilt auch, wenn die schlussendlich unterlegene Partei in
den unteren Instanzen den Prozess gewann: Sie muss die
Kosten des gesamten Verfahrens tragen.30
Nun kann es geschehen, dass beide Seiten teilweise obsiegen, teilweise unterliegen. So könnte im Beispiel der Kläger, der 10.000 € verlangt, nur 2.500 € zugesprochen bekommen. In diesen Fällen sieht § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO eine
Verteilung der Kosten vor. Das Gericht wird quoteln und aus-
23
Schulz (Fn. 12), Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 26.
Bork (Fn. 8), vor § 91 Rn. 6; Schulz (Fn. 12), Vorbem. zu
den §§ 91 ff. Rn. 26.
25
Schulz (Fn. 12), Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 26.
26
Siehe schon Bokelmann, ZRP 1973, 164 (169).
27
Ausführlich Wagner/Harbst, ZZP 120 (2007), 269.
28
Cooter/Ulen, Law & Economics, 6. Aufl. 2012, S. 408 f.
29
Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 15.
30
Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl.
2010, § 84 Rn. 14; Lackmann (Fn. 2), § 91 Rn. 5.
24
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366
Einführung in das Kostenrecht der ZPO
sprechen: „Von den Kosten trägt der Kläger 3/4, der Beklagte
1
/4.“
Eine besondere Situation ergibt sich, wenn das Unterliegen bzw. Obsiegen etwa die Hälfte beträgt. Hier könnte das
Gericht nach § 92 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 ZPO die Kosten hälftig
quoteln: „Von den Kosten des Rechtsstreits trägt jede Partei
1
/2.“ Es kann auch nach § 92 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. ZPO vorgehen und die Kosten gegeneinander aufheben. Die Gerichtskosten werden dann hälftig geteilt, während die außergerichtlichen Kosten von jeder Partei für sich zu tragen sind (§ 92
Abs. 1 S. 2 ZPO).
Fraglich ist, wie zu verfahren ist, wenn eine ungefähr zur
Hälfte obsiegende Partei deutlich geringere außergerichtliche
Kosten als die andere hatte, insbesondere, wenn und weil sie
sich nicht anwaltlich vertreten lassen hat. Würden die Gesamtkosten nun hälftig geteilt, müsste die sparsame Partei die
Mehrausgaben der weniger sparsamen Partei zum Teil mittragen. Plausibel erscheint daher zunächst die Aufhebung der
Kosten.31 Die sparsame Partei würde so von den außergerichtlichen Kosten der anderen Seite komplett entlastet. Dieser Weg wird indessen auf den zweiten Blick zweifelhaft.
Warum soll einer Partei die sparsame Prozessführung dann
und nur dann in vollem Umfang zugutekommen, wenn sie
gerade zu (knapp) 50 % gewinnt? Diese Unstimmigkeit wird
noch augenfälliger, wenn man vergleichsweise die Situation
betrachtet, in der die sparsame Partei zu mehr als 50 % obsiegt. Nimmt man an, dass hierbei eine Aufhebung der Kosten zwar nicht dem Wortlaut nach, aber aufgrund des Prinzips
der Unterlegenenhaftung ausscheidet,32 ist eine Quotelung
unumgänglich. Betragsmäßig kann sich für die sparsame
Partei dann eine höhere Kostenbelastung ergeben, als wenn
sie lediglich zur Hälfte obsiegt und eine Aufhebung der Kosten stattgefunden hätte! Einige Stimmen fordern daher, bei
stark abweichenden außergerichtlichen Kosten auch bei hälftigem Obsiegen keine Aufhebung der Kosten auszusprechen.33
Im Ergebnis hätte sich die sparsame Prozessführung dann
immer noch gelohnt, weil die Gesamtkosten geringer sind,
von denen die sparsame Partei die Hälfte zu tragen hat. Das
erscheint nicht gerade befriedigend, doch derzeit sind keine
Lösungsvorschläge in Sicht, die nicht gravierende Friktionen
mit Wortlaut oder Systematik verursachen.34
3. Umfang der Erstattung
Selbst die vollkommen unterlegene Partei trägt aber nicht
unbedingt alle Kosten. § 91 Abs. 1 S. 1, 2. Hs. ZPO ordnet
im selben Atemzug mit der Kostentragungspflicht an, dass
31
So die h.M.: Herget, in Zöller, Kommentar zur ZPO,
30. Aufl. 2014, § 92 Rn. 1; Schilken, Zivilprozessrecht,
6. Aufl. 2010, Rn. 1087; Zimmermann, ZPO – Fallrepetitorium, 9. Aufl. 2012, S. 201 (Fall 272); Schneider, Rpfleger
1985, 374 (375); Fischer, DRiZ 1993, 317 (318); LG Berlin
Rpfleger 1992, 175.
32
Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 13.
33
Ausführlich Gemmer, NJW 2012, 3479; Oberheim, Zivilprozessrecht für Referendare, 9. Aufl. 2012, § 10 Rn. 56; LG
Hamburg Rpfleger 1985, 374.
34
Überzeugend Gemmer, NJW 2012, 3479 (3480 f.).
ZIVILRECHT
die Kosten des Gegners nur zu erstatten sind, „soweit sie zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren“. Der Erstattungsanspruch ist immanent beschränkt. Wer eine Erstattung all seiner Kosten
wünscht, ist dazu angehalten, den Prozess ökonomisch zu
führen.35
In Bezug auf die Notwendigkeit kommt es darauf an, „ob
eine verständige und wirtschaftlich vernünftige Partei die
Kosten auslösende Maßnahme [...] als sachdienlich ansehen
durfte“.36 Wichtig ist die Vergangenheitsform, denn es handelt sich um einen ex ante-Maßstab. Ob eine Maßnahme den
Prozessausgang tatsächlich beeinflusst hat, spielt keine Rolle.37
§ 91 Abs. 2 S. 1, 1. Hs. ZPO legt fest, dass die „gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei“ „in allen Prozessen zu erstatten [sind]“. Das
ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens ist von „allen Prozessen“ die Rede, also nicht etwa nur denjenigen, in
denen eine anwaltliche Vertretung vorgeschrieben ist. Es ist
demnach die gesetzliche Wertung, dass man sich in jedem
Prozess eines Anwalts bedienen darf. Ohne Bedeutung ist es,
ob man selbst rechtskundig ist oder eine Rechtsabteilung zur
Verfügung hat.38
Zweitens ist die Erstattung der „gesetzlichen“ Gebühren
und Auslagen der Rechtsanwälte angeordnet. Dies hat nun
wiederum zweierlei Bedeutung. Zum einen wird diese Vorschrift verbreitet so verstanden, dass eine Prüfung der „Notwendigkeit“ in Bezug auf die anwaltlichen Maßnahmen unterbleibt.39 Zur selten gegebenen Begründung erscheint ein
Umkehrschluss aus § 91 Abs. 2 S. 1, 2. Hs. ZPO möglich.
Zum anderen sind aber auch nur die gesetzlichen Gebühren
und Auslagen erstattungsfähig. Hat die obsiegende Partei mit
ihrem Anwalt eine höhere Vergütung vertraglich vereinbart,
ist der überschießende Teil nicht zu erstatten. Ansonsten wäre
das Prozesskostenrisiko auch überhaupt nicht überschaubar.40
4. Erste Abweichungen
Auch eine nur teilweise unterlegene Partei muss manchmal
die gesamten Kosten des Prozesses tragen. Auch eine an sich
komplett obsiegende Partei muss unter Umständen für alle
Prozesskosten aufkommen.
Ein Beispiel: Ein Kläger klagt auf Zahlung von 10.000 €
und ihm werden 9.750 € zugesprochen. Für Fälle, in denen
die Zuvielforderung einer Partei verhältnismäßig gering war,
stellt es § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in das Ermessen des Gerichts,
der unterlegenen Partei die gesamten Prozesskosten aufzuerlegen. Voraussetzung ist, dass der zu viel geforderte Teil zu
keinen oder nur geringfügigen höheren Kosten geführt hat
35
Vgl. Lackmann (Fn. 2), § 91 Rn. 8; Schulz (Fn. 12), § 91
Rn. 2.
36
BGH NJW 2003, 898 (900).
37
Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 51; Lackmann (Fn. 2), § 91 Rn. 8.
38
Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 57.
39
Bork (Fn. 8), § 91 Rn. 125; Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 59;
BGH NJW 2003, 1532; a.A. wohl Lackmann (Fn. 2), § 91
Rn. 11.
40
Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 61.
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Felix M. Wilke
(Faustregel: je bis zu 10 %)41. Solche höheren Kosten könnten selbst im Beispiel entstanden sein, wenn etwa gerade für
die im Ergebnis „fehlenden“ 250 € ein besonderer Zeuge
erforderlich war.42 Entscheidender noch: Gerichtskosten bestimmen sich nach dem Streitwert in einem gestuften System.
So ist für Fälle „bis 500 €“ eine Gebühr von 35 €vorgesehen,
für Fälle „bis 1.000 €“ eine Gebühr von 53 € und so fort.43
Eine geringe Summe kann also, anders als im Beispiel, zu
einem Gebührensprung und so unter Umständen zu nicht nur
geringfügig höheren Gerichtskosten führen. Dasselbe Resultat kann über § 92 Abs. 2 Nr. 2, 1. und 2. Var. ZPO bei Ansprüchen erreicht werden, die vom richterlichen Ermessen
abhängen.
Im nächsten Beispiel möge ein Kläger erneut auf Zahlung
von 10.000 € klagen. Der Beklagte, der die Zahlung nie verweigert hatte, erkennt den Anspruch im Verfahren sofort an.
Formal betrachtet hat der Kläger damit auf ganzer Linie gewonnen. Es scheint, als müsste der Beklagte nun die Prozesskosten tragen. Doch geht es, wie bereits ausgeführt, darum,
denjenigen mit den Kosten zu belasten, der einen Rechtsstreit
grundlos verursacht hat. Im Falle eines Beklagten, der vor
dem Prozess keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat
und im Prozess sofort den Anspruch anerkennt, ist dieser
Verursacher aber der Kläger. Folgerichtig sind unter diesen
Voraussetzungen gem. § 93 ZPO auch dem Kläger die Prozesskosten aufzuerlegen. Unter seinen engen Voraussetzungen bietet § 93 ZPO einen Anreiz zur Prozessvermeidung.44
5. Durchbrechung der Kosteneinheit
Es ist außerdem möglich, dass der obsiegenden Partei immerhin ein Teil der Prozesskosten aufzuerlegen ist. Es handelt
sich um Situationen, in denen eine Partei durch unsachgemäße Prozessführung verantwortlich für klar abgrenzbare Mehrkosten ist. Dahinter steht erneut der Verursachungsgedanke.
Damit wird zugleich das Prinzip der Kosteneinheit45 durchbrochen, wonach an sich über alle in einem Prozess anfallenden Kosten einheitlich zu entscheiden ist.
Dabei kann es sich um einen Kläger handeln, der zwar zu
Recht einen Anspruch geltend macht, doch ein unzuständiges
Gericht anruft. Die durch die dann nötige Verweisung entstandenen Mehrkosten muss er nach § 281 Abs. 3 S. 2 ZPO
tragen. Es kann sich auch um einen Beklagten handeln, der
trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zum Termin erscheint.
Der erschienene Kläger trägt schlüssig vor, ihm stehe der
geltend gemachte Anspruch tatsächlich zu, woraufhin das
Gericht ein Versäumnisurteil zugunsten des Klägers erlässt.
Wird der Prozess nun nach Einspruch des Beklagten fortgesetzt und gewinnt der Beklagte in der Folge, hat er gem.
§ 344 ZPO dennoch diejenigen Kosten zu tragen, die durch
seine Säumnis entstanden sind. Dabei könnte es sich um die
41
Lackmann (Fn. 2), § 92 Rn. 6a; Schulz (Fn. 12), § 92
Rn. 19/21.
42
Zimmermann (Fn. 31), S. 202 (Fall 273).
43
Anlage 2 (zu § 34 Abs. 1 S. 3) zum GKG.
44
Wagner/Harbst, ZZP 120 (2007), 269 (271); Lackmann
(Fn. 2), § 93 Rn. 1.
45
Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 84 Rn. 46.
Kosten für eine nochmalige Ladung von Zeugen oder zusätzliche Reisekosten für die andere Partei handeln.46
6. Kosten bei Klagerücknahme und Erledigung
Der Verursachungsgedanke erklärt auch folgendes Beispiel:47
Ein Kläger verlangt vom Beklagten 10.000 €. Dem Beklagten
wird die Klage zugestellt und er zahlt noch vor der mündlichen Verhandlung. Der Kläger nimmt die Klage daraufhin
zurück. Zwar hat der Kläger sein wirtschaftliches Ziel erreicht.
Er hätte den Prozess offenbar auch gewonnen. Für das Gericht ist indes nicht ersichtlich, welche Partei in welchem
Maße obsiegt hätte. Damit verbleibt die Kostenlast laut § 269
Abs. 3 S. 2 ZPO beim prozessverursachenden Kläger.
Hätte der Kläger diese Kostenlast vermeiden können –
abgesehen davon, dass in diesem Fall eine außergerichtliche
Streitbeilegung vielleicht die vernünftigere Lösung gewesen
wäre?
Relativ eindeutig verhält es sich, wenn die Parteien gemeinsam die Hauptsache für erledigt erklären. Das Gericht
entscheidet dann gem. § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO über die Kosten
„unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen“. Die Praxis erlegt häufig demjenigen die Kosten auf, der den Prozess verloren hätte, wenn
die Erledigung nicht eingetreten wäre.48 Auf Grundlage des
bisher Gesagten steht jedoch fest, dass es für die Kostenverteilung nicht immer auf das Unterliegen ankommt. Präziser
ist daher die Frage, wer die Kosten hätte tragen müssen,
wenn die Erledigung nicht eingetreten wäre.49 Da das Gericht
Ermessen hat, kommt auch eine abweichende Aufteilung in
Betracht, insbesondere, wenn der hypothetische Prozessausgang nicht zu bestimmen ist.50
Der Gesetzgeber hat den Fall, in dem der Kläger einseitig
die Hauptsache für erledigt erklärt, nicht geregelt. Die h.M.
sieht hierin eine Klageänderung:51 Der Kläger verlange nunmehr die Feststellung, dass seine ursprünglich zulässige und
begründete Klage jetzt unzulässig oder unbegründet ist.
Wenn das Gericht diese Feststellung trifft, wendet die wohl
h.M. für die Kosten schlicht § 91 (bzw. § 92) ZPO an.52
Schließlich ist es möglich, dass der Kläger die Klage nach
Erhebung, aber vor Zustellung zurücknimmt. Hier sieht § 269
Abs. 3 S. 3 ZPO seit 2002 eine dem Wortlaut nach identische
Regelung wie bei der übereinstimmenden Erledigungserklärung vor. Kritiker sehen hier einen rechtspolitisch höchst
fragwürdigen Widerspruch; nicht wenige nehmen sogar die
46
Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl.
2013, § 344 Rn. 13.
47
Beispiel nach Breidenstein, JuS 2011, 771 (777).
48
Nachweise bei Bork (Fn. 8), § 91a Rn. 33.
49
Lindacher, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl.
2013, § 91a Rn. 48.
50
Bork (Fn. 8), § 91a Rn. 33.
51
Lackmann (Fn. 2), § 91a Rn. 29; Schilken (Fn. 31),
Rn. 637; BGH NJW 1994, 2363 (2364); a.A. Musielak,
Grundkurs ZPO, 11. Aufl. 2012, Rn. 273; Rosenberg/Schwab/
Gottwald (Fn. 30), § 131 Rn. 34-45.
52
Lackmann (Fn. 2), § 91a Rn. 45; Schilken (Fn. 31),
Rn. 640; BGHZ 83, 12 (15).
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Einführung in das Kostenrecht der ZPO
Verfassungswidrigkeit der Vorschrift an.53 In Skizzenform
geht es dabei um Folgendes: Im Rahmen der beiderseitigen
Erledigungserklärung hat es der Beklagte in der Hand, ob es
zu der Entscheidung des Gerichts über die Kosten nach billigem Ermessen kommt. Er kann ja der Erledigungserklärung
des Klägers zustimmen oder nicht. Ohne seine Beteiligung
und gegen seinen Willen kommt es aber über § 269 Abs. 3
S. 3 ZPO zu derselben Folge, wenn der Kläger die Klage –
naturgemäß einseitig – zurücknimmt.
7. Einfluss sozialer Gesichtspunkte
Das Kostenrecht der ZPO kennt mit § 93b ZPO auch eine
Vorschrift, in der soziale Gesichtspunkte durchscheinen.54
Nach §§ 574, 574a BGB kann ein Mieter einer an sich wirksamen Kündigung des Vermieters widersprechen und eine
Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Kündigung eine nicht zu rechtfertigende Härte bedeutet. Hiermit
korrespondiert eine prozessuale Sonderregel. Unter engen
Voraussetzungen, insbesondere der nachträglichen Entstehung der Obsiegensgründe, kann das Gericht gem. § 93b
Abs. 1 S. 1 ZPO dem auf Räumung klagenden Vermieter
auch dann die Kosten auferlegen, wenn er obsiegt. Hat der
Mieter auf Fortsetzung geklagt und verliert er den Rechtstreit,
so können nach § 93b Abs. 1 S. 2 ZPO wiederum dem Vermieter die Kosten auferlegt werden. Es finden sich in § 93b
ZPO aber auch Verursachungsaspekte. Dem einer Räumungsklage ausgesetzten Mieter können nach § 93b Abs. 2 ZPO
auch im Falle seines Obsiegens die Kosten auferlegt werden,
wenn er dem kündigenden Vermieter nicht unverzüglich eine
Begründung seines Widerspruchs geliefert hat (§ 574b Abs. 1
S. 2 BGB). Ähnlich wie § 93 ZPO bietet die Vorschrift gewisse Anreize zur Prozessvermeidung.
V. Das Kostenfestsetzungsverfahren
Das Gericht wird im Urteil (in aller Regel von Amts wegen,
§ 308 Abs. 2 ZPO55) nur feststellen, welche Partei in welchem Verhältnis die Kosten zu tragen hat. Dies ist die Kostengrundentscheidung. Sie ist grundsätzlich nicht isoliert, sondern gem. § 99 Abs. 1 ZPO nur mit der Entscheidung in der
Hauptsache anfechtbar. Dahinter stehen Erwägungen der
Verfahrensökonomie und der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen.56 Es könnte ja sonst geschehen,
dass das Rechtsmittelgericht zur Bestimmung der Kostenverteilung eine andere Bewertung der Hauptsache als das Ausgangsgericht vornimmt.
Die betragsmäßige Festlegung der Kosten und die Durchsetzung des Kostenerstattungsanspruchs ist einem zweiten
Schritt vorbehalten, dem Kostenfestsetzungsverfahren gem.
§§ 103 ff. ZPO. Örtlich und instanziell ist gem. § 104 Abs. 1
53
Zum Ganzen Becker-Eberhard, in: Münchener Kommentar
zur ZPO, 4. Auflage 2013, § 269 Rn. 55-57 m.w.N.
54
Sonderregeln aufgrund besonderer familienrechtlicher
Rücksichts- und Kostenausgleichspflichten finden sich nun in
§§ 132, 150, 183 und 243 FamFG.
55
Siehe aber § 269 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 ZPO.
56
Schulz (Fn. 12), § 99 Rn. 1.
ZIVILRECHT
ZPO grundsätzlich das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig, funktionell gem. § 21 Nr. 1 RPflG der Rechtspfleger.
Dieser prüft, ob der Antrag auf Festsetzung des konkreten
Betrags zulässig ist, sowie die Notwendigkeit, Höhe und
tatsächliche Aufwendung der geltend gemachten Kosten.57
Am Ende des Verfahrens ergeht der Kostenfestsetzungsbeschluss, der gem. § 794 Abs. 1 Nr. 2 ZPO Vollstreckungstitel
ist. Der Beschluss kann auch auf das Urteil gesetzt werden,
was wegen §§ 105 Abs. 2 S. 1, 795a ZPO Zustellung und
Vollstreckung vereinfacht. Da sowohl das Gericht als auch
Anwälte tätig werden, stellt sich im Prinzip erneut die Kostenfrage. Die einfache Antwort lautet jedoch: es werden grundsätzlich keine zusätzlichen Gerichtskosten erhoben, und auch
die Anwälte erhalten im Kostenfestsetzungsverfahren keine
gesonderte Vergütung (§ 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 14 n.F. RVG).58
VI. Annex: Prozesskostenhilfe59,60
Der Gleichheitssatz und das Prinzip des sozialen Rechtsstaates gebieten, dass auch Parteien mit geringen finanziellen
Mitteln Zugang zu den Gerichten haben.61 Die Europäische
Menschenrechtskonvention verlangt im Grundsatz ebenfalls,
dass der Zugang zum Gericht nicht von der persönlichen
finanziellen Leistungsfähigkeit, Gerichts- und Anwaltskosten
bezahlen zu können, abhängen darf.62 Diesen Zielen dient die
Prozesskostenhilfe. Es handelt sich um eine Form der Sozialhilfe,63 die aufgrund des engen Sachzusammenhangs nicht bei
der Verwaltung, sondern bei den Gerichten angesiedelt ist.64
Man erhält gem. §§ 114, 115 ZPO Prozesskostenhilfe,
wenn insbesondere das eigene Einkommen und Vermögen
zur Prozessführung nicht genügen und die Rechtsverfolgung/
-verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet sowie
nicht mutwillig ist. Von der komplexen und mit dem Sozialhilferecht verzahnten Bestimmung ausreichenden Einkommens bzw. Vermögens abgesehen, wird demnach geprüft, ob
der Vortrag der hilfsbedürftigen Partei schlüssig und in tatsächlicher Hinsicht glaubhaft ist.65 „Nicht mutwillig“ ist ein
Prozess, wenn eine hypothetische Partei, die ihre eigenen
57
Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 85 Rn. 23.
Lackmann (Fn. 2), § 104 Rn. 45 f.
59
Für detaillierte Einführungen in das Recht der Prozesskostenhilfe siehe Stackmann, JuS 2006, 233; Fischer, JuS 2004,
1068.
60
Von der Prozesskostenhilfe zu trennen ist die Beratungshilfe, die gem. § 1 Abs. 1 BerHG (unter ähnlichen Voraussetzungen wie die Prozesskostenhilfe) zur Rechtswahrnehmung
„außerhalb des gerichtlichen Verfahrens“ gewährt wird.
61
Siehe nur BVerfGE 81, 347 (356 f.); Rosenberg/Schwab/
Gottwald (Fn. 30), § 87 Rn. 1.
62
Sie spricht jedoch keine Garantie für Prozesskostenhilfe in
Zivilsachen aus, Meyer-Ladewig (Fn. 7), Art. 6 Rn. 43 f.
63
Grundlegend BVerfGE 9, 256 (258); Bork (Fn. 8), vor
§ 114 Rn. 10.
64
Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 87 Rn. 1.
65
Motzer, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013,
§ 114 Rn. 63.
58
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369
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Felix M. Wilke
Mittel einsetzt, die entsprechenden Schritte ebenfalls unternehmen würde.66
Erhält eine Partei Prozesskostenhilfe, so ist sie nach § 122
Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Nr. 3 ZPO insbesondere von den Gerichtskosten und den Kosten eines beigeordneten Anwalts befreit.67
Die Ansprüche sind zwar nicht erloschen, aber – ggf. dauerhaft – gestundet.68 Ein Anwalt ist der hilfsbedürftigen Partei
gem. § 121 Abs. 1 ZPO auf jeden Fall beizuordnen, wenn im
Prozess Anwaltszwang herrscht. Aber auch, wenn die Parteien
nicht von Gesetzes wegen eine anwaltliche Vertretung benötigen, ist unter bestimmten Voraussetzungen der hilfsbedürftigen Partei ein Anwalt beizuordnen: nämlich nach § 121
Abs. 2, 2. Alt. ZPO aus Gründen der Waffengleichheit69, wenn
die andere Partei einen Anwalt hat, oder wenn der Rechtsstreit in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht schwierig ist
(§ 121 Abs. 2, 1. Alt. ZPO). Im hiesigen Zusammenhang
besonders wichtig: Aus § 123 ZPO folgt, dass auch einer
Partei, der Prozesskostenhilfe gewährt wurde, die Kosten des
Prozessgegners auferlegt werden können. Die Prozesskostenhilfe nimmt also einer Partei nicht das Kostenrisiko, etwa im
Falle des Unterliegens die außergerichtlichen Kosten der anderen Seite tragen zu müssen.70
66
Motzer (Fn. 65), § 114 Rn. 86.
Ein beigeordneter Anwalt erhält gem. § 45 ff. RVG Zahlungen aus der Staatskasse, während seine Ansprüche gegen
die Partei gem. § 59 RVG auf die Staatskasse übergehen: dies
ist der Hintergrund von § 122 Abs. 1 Nr. 1 lit. b ZPO.
68
Motzer (Fn. 65), § 122 Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald
(Fn. 30), § 87 Rn. 57.
69
Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 87 Rn. 63.
70
Zu den von einem obsiegenden Kläger vorgeschossenen
Gerichtsgebühren siehe aber § 31 Abs. 3 GKG; näher Motzer
(Fn. 65), § 123 Rn. 4.
67
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370
Die Zeitweiligkeit des Rechts – Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot und
die lex mitior-Regel (Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 3, 4 OWiG bzw. §§ 1, 2 StGB)
Von Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle-Wittenberg*
I. Einleitung
Das Rechtsstaatsprinzip mit seinen einzelnen Ausprägungen
ist für Jurastudenten im Verlaufe des Studiums vor allem bei
Klausuren im Staatsrecht präsent. Oft lassen sich die Studierenden von den vielen Facetten dieses Themas abschrecken.
Vor allem im Bereich des Vertrauensschutzes entfaltet das
Rechtsstaatsprinzip seine Wirkung und strahlt damit auch auf
andere Rechtsgebiete aus.1
Als besondere Ausprägung ist hier vor allem das Rückwirkungsverbot zu nennen. Im Bereich des Staats- und Verwaltungsrechts erlangt dieses insbesondere bei der Differenzierung von echter und unechter Rückwirkung Bedeutung.2
Doch auch im Strafrecht spielt das Rückwirkungsverbot eine
erhebliche Rolle. Im Bereich des Strafrechts bewegt sich der
Jurastudent oft in vertrauten Gewässern, was im Folgenden
zum Anlass genommen werden soll, die Problematik des
Rückwirkungsverbots näher zu beleuchten. Die Probleme
werden im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts, welches
dem Strafrecht sehr nahe steht, erörtert, um dem Studierenden aufzuzeigen, dass sich die Grundsätze des Strafrechts
auch hier wiederfinden. Hierbei soll insbesondere auf die
einfachgesetzliche Normierung des verfassungsrechtlichen
Rückwirkungsverbotes des Art. 103 Abs. 2 GG durch die
§§ 3, 4 Abs. 1 OWiG eingegangen werden. Besonders berücksichtigt werden dabei die beispielhafte Veranschaulichung und die schematische Darstellung. Im letzten Abschnitt
soll auf die Besonderheit der Bußgeldblanketttatbestände
eingegangen werden, welche die Bußgeldpraxis mit Problemen konfrontiert.
II. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bzw.
der §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG
Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103
Abs. 2 GG normiert der Gesetzgeber durch die §§ 3, 4 Abs. 1
OWiG einfachgesetzlich. Diese stellen die den §§ 1, 2 StGB
entsprechenden Vorschriften im Ordnungswidrigkeitenrecht
dar.3 Damit ist die rückwirkende Begründung und Schärfung
von Bußgeldvorschriften untersagt. Ein Verhalten kann nicht
aufgrund eines Gesetzes geahndet werden, das dem Täter zur
Zeit der Handlung noch gar nicht bekannt war, da es noch
nicht in Kraft getreten ist.4 Abgedeckt wird der gesamte Bereich des Ob und Wie der Ahndbarkeit.5 Aus der Ratio ergibt
sich aber, dass dem Täter begünstigende Änderungen nicht
versagt sind.6 Ihrem Wortlaut nach umfassen §§ 3, 4 Abs. 1
OWiG nur den Geltungszeitpunkt des Gesetzes, sodass die
Änderung der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung
nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegt, vielmehr können
die Gerichte aufgrund neuer Erkenntnisse bestimmte Sachverhalte als tatbestandsmäßig qualifizieren.7
Von einer Rückwirkung ist dann auszugehen, wenn nach
der Beendigung der Tat ein Bußgeldtatbestand erlassen oder
geändert worden ist.8 Nach dem Rückwirkungsverbot des
Art. 103 Abs. 1 GG, § 4 Abs. 1 OWiG müssen sich sowohl
die Voraussetzungen der Ahndbarkeit, als auch die Höhe des
Bußgeldes auf die Vorschrift beziehen, die zum Zeitpunkt der
Handlung besteht9, sodass das zur Tatzeit geltende Recht
anzuwenden ist. Entscheidend ist, dass sich das nach der Tat
geltende Gesetz nicht zu Lasten des Täters auswirken darf10
(vgl. dazu Graphik 1 auf S. 377). Modifizierungen erfährt das
Rückwirkungsverbot durch die §§ 4 Ab2. 1 bis 5 OWiG,
welche Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung sind.
1. Ergänzungen des Rückwirkungsverbotes durch § 4 Abs. 2
bis 5 OWiG
Angaben zur zeitlichen Geltung der Bußgeldvorschriften sind
§ 4 Abs. 2 bis 5 OWiG zu entnehmen.
a) Änderung der Bußgelddrohung während der Tat
Nach § 4 Abs. 2 OWiG ist bei Taten, bei denen zwischen dem
Beginn und dem rechtlichen Abschluss eine gewisse Zeit liegt,
das Gesetz anzuwenden, welches zum Zeitpunkt der Beendigung der Tat gilt, unabhängig davon, ob es milder oder strenger ist.11 Dies kann bei Dauerordnungswidrigkeiten und fortgesetzten Handlungen der Fall sein. Maßgeblich ist somit die
Beendigung der Tat. Die Entscheidung beruht darauf, dass
ein Teil der Tat während der Geltung des neuen Gesetzes erfolgte; dass freilich der eine Teil unter der Geltung des vorherigen Gesetzes geschah, ist dann bei der Bußgeldzumessung
zu berücksichtigen.12 Im Unterschied zu § 4 Abs. 3 OWiG
stellt § 4 Abs. 2 OWiG auf die Änderung der Bußgelddro4
* Die Autorin ist Wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht,
Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der MartinLuther Universität Halle-Wittenberg bei Prof. Dr. Christian
Schröder.
1
So z.B. beim Dienstvertragsrecht Müller-Glöge, in: Säcker/
Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen
Gesetzbuch, Bd. 4, 6. Aufl. 2012, § 611 Rn. 277; im Familienrecht, AG Hamburg BeckRS 2010, 11093; im Aufenthaltsrecht, BVerfG NJW 1978, 2446.
2
Maurer, Staatsrecht, Bd. 1, 6. Auf. 2010, § 17 Rn. 105 ff.
3
Vgl. Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.),
Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 2 Rn. 8.
Förster, in: Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, 18. Lfg., Stand: März 2013,
§ 3 Rn. 22.
5
Förster (Fn. 4), § 3 Rn. 22.
6
Rogall, in: Senge (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz
über Ordnungswidrigkeiten, 3. Aufl. 2006, § 3 Rn. 9, 40.
7
Förster (Fn. 4), § 3 Rn. 23.
8
Klesczewski, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2010, § 2 Rn. 88.
9
Brenner, Ordnungswidrigkeitenrecht, 1996, Rn. 23.
10
Gürtler, in: Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2012, § 4 Rn. 2.
11
Brenner (Fn. 9), Rn. 24.
12
Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 3.
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371
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Annabell Blaue
hung ab und nicht allgemein auf die Gesetzesänderung. Dies
folgt bereits daraus, dass bei einer Änderung des Tatbestandes
nur solche Handlungsakte in die Ahndung einbezogen werden
dürfen, deren Ahndungsmöglichkeit zur Zeit ihrer Begehung
schon bestimmt war.13 Ändert sich die Bußgelddrohung in
eine Strafdrohung, so greift auch § 4 Abs. 2 OWiG i.V.m. § 2
StGB, sodass dann der Straftatbestand gilt.14 Jedoch muss
auch hier berücksichtigt werden, dass die Strafbarkeit nicht
rückwirkend begründet werden darf. Es liegen nunmehr zwei
Taten vor: die Erste stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, wobei
es sich bei der Zweiten nach Gesetzesänderung um eine Straftat handelt, sodass der erste Teil, welcher vor der Gesetzesänderung als Ordnungswidrigkeit verboten war, nicht mit in
die Strafzumessung der Straftat einbezogen werden darf, welche ja erst nach dem Inkrafttreten des geänderten Gesetzes
konstruiert wurde.15 Nach § 2 Abs. 2 StGB gilt im umgekehrten Falle, dass nur eine Geldbuße verhängt werden kann16
(vgl. Graphik 2 auf S. 377).
b) Änderung des Gesetzes nach Beendigung der Tat
Das Meistbegünstigungsprinzip des § 4 Abs. 3 OWiG statuiert ein „Rückwirkungsgebot“17 für das mildeste, dem Tatzeitrecht nachfolgende Änderungsgesetz. Entscheidung meint
den Zeitpunkt der Ahndung.18 In diesem Fall ist das mildeste
Gesetz anzuwenden (vgl. Graphik 3 auf S. 377).
aa) Änderung der Bußgeldandrohung
Betrifft die Änderung des Gesetzes die Sanktionsfolgen, stellt
sie das Verhalten sanktionsfrei oder entfällt das Gesetz ersatzlos, so ist eindeutig nur die Ahndung aus der mildesten Vorschrift beziehungsweise im zweiten Fall gar keine Ahndung
zulässig.19
Durch eine zeitlich nachfolgende Vorschrift bleibt die
Ahndbarkeit zum Zeitpunkt der Tat jedoch unberührt, diese
wurde vielmehr bereits durch die vorher geltende Vorschrift
begründet.20 § 4 Abs. 3 OWiG verlangt, die Bewertung des
Unrechts dieser Tat nach Beendigung entsprechend der neuen
Vorschrift anzupassen,21 sodass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung das mildeste Gesetz anzuwenden ist. Dies
kann bezüglich der Frage, wie lange eine Tat verfolgt werden
kann, Auswirkungen haben, nicht jedoch bezüglich der Frage,
ob ein Verhalten ahndbar ist.22 Schließlich knüpft die Vorschrift an den Zeitpunkt der Beendigung der Tat an, bestimmt
13
Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 3.
Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 17.
15
Förster (Fn. 4), § 4 Rn. 11.
16
Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 3.
17
Rotberg, in: Kleinewefers/Boujong/Wilts (Hrsg.), Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar, 5. Aufl. 1975, § 4 Rn. 4;
Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 2.
18
Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 9.
19
Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 22.
20
Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in
Blankettstrafgesetzen, 2012, S. 148 f.
21
Schützendübel (Fn. 20), S. 148 f.
22
Schützendübel (Fn. 20), S. 149.
14
mithin das weitere Vorgehen nach Beendigung der Tat, bis
zur gerichtlichen Entscheidung, für den Fall, dass die Vorschriften sich innerhalb dieses Zeitraumes ändern. Entfällt
eine Vorschrift, die zum Zeitpunkt der Tat das entsprechende
Verhalten als ordnungswidrig qualifiziert und mit Bußgeld
ahndet, vor der gerichtlichen Entscheidung, ist es keine Frage,
ob das Verhalten ahndbar war. Das ist unproblematisch der
Fall, da sich dies aus der Geltung der Vorschrift zum Zeitpunkt der Handlung ergibt. Jedoch wirkt sich § 4 Abs. 3
OWiG insofern aus, dass ein entsprechendes Bußgeld nun
nicht mehr verhängt werden darf. Da die Vorschrift nach der
Tat und vor der Entscheidung entfallen ist, ist von der für den
Täter günstigsten Rechtslage auszugehen, sodass ein Bußgeld
nicht mehr verhängt werden kann. Das ändert nichts daran,
dass das Verhalten zum Tatzeitpunkt ordnungswidrig war.23
Ähnlich stellt das BVerfG in seiner Entscheidung vom
26.2.196924 die Begriffe Strafbarkeit und Verfolgbarkeit
einander gegenüber. So ist „die Strafbarkeit einer Tat die
Voraussetzung für deren Verfolgbarkeit“25. Die Sanktionierung einer Handlung ist nur dann mit Art. 103 Abs. 2 GG
vereinbar, wenn die Strafbarkeit (d.h.: die Strafrechtswidrigkeit) bereits vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt war.
Dass eine Handlung, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung ordnungswidrig war, wegen § 4 Abs. 3 OWiG nicht mehr verfolgt werden kann bedeutet lediglich, dass die Sanktionierbarkeit entfällt, nicht jedoch das verwirklichte Unrecht.26
bb) Zwischengesetze und die mit einer Ahndungslücke einhergehenden Probleme der Bußgeldpraxis
Besonders problematisch in der Bußgeldpraxis ist der Fall, in
dem es neben dem Tatzeitrecht und dem Entscheidungsrecht
noch sogenannte Zwischengesetze gibt. Dies ist ein Gesetz,
welches zum Tatzeitpunkt noch nicht existierte und im Entscheidungszeitpunkt seine Geltung bereits wieder verloren
hat.27 Dass dieser Zustand ebenso von § 4 Abs. 3 OWiG erfasst ist, zeigt die Verwendung des Superlativs „mildeste“ im
Gesetzeswortlaut. Hierdurch wird deutlich, dass nicht nur das
Tatzeitrecht und das Entscheidungszeitrecht, sondern vielmehr
auch die Zwischenrechtslage erfasst ist.28 Insoweit verlangt
§ 4 Abs. 3 OWiG die Kontinuität der Ahndbarkeit bis zum
Zeitpunkt der Entscheidung29, um dann einen konkreten Vergleich der Normen anzustellen und die mildeste Rechtlage
herauszufiltern.
Damit einher geht die schwierige Frage, ob das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG die Berücksichtigung
zwischenzeitlicher Sanktionslücken voraussetzt. Entscheidend
für diese Frage ist, ob das Rückwirkungsverbot des Art. 103
Abs. 2 GG allein „dem Tatzeitpunkt zu dienen bestimmt ist“,
sodass in diesem Fall bei der Frage, ob eine rückwirkende
Rechtsetzung und -anwendung zulässig ist, allein darauf ab23
Schützendübel (Fn. 20), S. 148 f.
BVerfGE 25, 269.
25
BVerfGE 25, 269 (287).
26
BVerfGE 25, 269 (287).
27
BT-Drs. IV/650, S. 107.
28
Schützendübel (Fn. 20), S. 79 f.
29
Schröder, ZStW 112 (2000), 44 (49, 53, 56).
24
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ZJS 4/2014
372
Die Zeitweiligkeit des Rechts
zustellen ist; oder ob auch der gesamte Zeitraum zwischen
Beendigung der Tat und gerichtlicher Entscheidung zu berücksichtigen ist.30 Dies bedeutet: War eine Tat nach ihrer Beendigung und vor der Entscheidung zwischenzeitlich nicht ahndbar, sodass diese zwischenzeitliche Ahndungslosigkeit die mildeste Rechtslage für den Täter darstellt, darf nach § 4 Abs. 3
OWiG keine Ahndung erfolgen. Die Verhängung einer Geldbuße trotz der zwischenzeitlich mildesten Rechtsfolge der
Ahndungslosigkeit verletzt jedoch nicht das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, sondern stellt lediglich einen
Verstoß gegen § 4 Abs. 3 OWiG dar.31 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Ahndbarkeit mit der Tatbegehung
bereits zum Zeitpunkt der Geltung der alten Vorschrift wirksam begründet wurde. Art. 103 Abs. 2 GG und §§ 3, 4 Abs. 1
OWiG dienen dazu, dass der Täter vor einer rückwirkenden
Ahndbarkeitsbegründung geschützt wird. Somit könnte
grundsätzlich eine neue Vorschrift auch dann angewendet
werden, wenn der Zwischenzustand Ahndungslosigkeit bedeutete, weil dadurch nicht rückwirkend die Ahndbarkeit begründet wird, sondern nunmehr wieder geahndet wird. Darin
ist jedoch zweifelsfrei zunächst ein Verstoß gegen § 4 Abs. 3
OWiG zu erblicken. Richtigerweise verbietet Art. 103 Abs. 2
GG die rückwirkende Begründung und Schärfung einer Strafe,
besagt aber gerade nichts über die Dauer des Zeitraums, innerhalb dessen eine Tat, deren Strafbarkeit bereits verfassungsrechtlich wirksam begründet wurde, verfolgt werden darf.32
Die einfachgesetzliche Vorschrift des § 4 Abs. 3 OWiG geht
damit weiter als das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Dass § 4 Abs. 3 OWiG die
Ahndbarkeit der Tat unberührt lässt, zeigt auch der vergleichende Blick auf § 4 Abs. 1 OWiG: Demnach ist für die
Ahndbarkeit der Handlung die zur Zeit der Handlung geltende Vorschrift maßgeblich. Somit vermag eine spätere Vorschrift die Ahndbarkeit der Handlung rückwirkend nicht begründen. Dies dient dem Vertrauensschutz des Täters, da er
vorher erkennen können muss, unter welchen Voraussetzungen sein Handeln geahndet werden kann. Daraus folgt im
Umkehrschluss, dass die einmalig, aufgrund der zur Handlungszeit geltenden Vorschrift begründete Ahndbarkeit rückwirkend nicht mehr durch eine spätere Vorschrift entfallen
kann. Kann die Handlung nun nicht mehr unter den Tatbestand der geänderten späteren Vorschrift normiert werden, so
ändert dies nichts daran, dass die Ahndbarkeit zur Tatzeit aufgrund der vorherigen Vorschrift bereits wirksam begründet
wurde. Der Täter scheint im Hinblick auf die Ahndbarkeitsbegründung nicht schutzwürdig, schließlich konnte er zur Zeit
seiner Handlung vorhersehen, unter welchen Voraussetzungen
eben diese geahndet wird. § 4 Abs. 3 OWiG dient nunmehr
dem Schutz bezüglich des wie lange der Verfolgung und
nicht des ab wann an der Verfolgung.33 Mit der Gesetzesänderung verwehrt die Legislative der Exekutive und der Ju30
So auch Schützendübel (Fn. 20), S. 135.
Vgl. hierzu BVerfG NJW 2008, 3769 (3770); Eser/Hecker,
in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29.
Aufl. 2014, § 2 Rn. 14 m.w.N.
32
BVerfGE 25, 269 (286).
33
Ausführlich dazu Schützendübel (Fn. 20), S. 145 ff.
31
STRAFRECHT
dikative die weitere Verfolgung und Ahndung der Tat, deren
Ahnbarkeit wirksam begründet wurde. Ob der Täter in diesem Vertrauen, sein Verhalten sei nun wegen der vorübergehenden Ahndungslosigkeit auch in Zukunft nicht mehr sanktionierbar, schutzwürdig ist, ist im jeweiligen Einzelfall zu
beleuchten und wird in den weiteren Betrachtungen ausgeführt.
Nachfolgend soll der soeben beschriebene Problemkreis,
der Bußgeldbehörden und Gerichte bereits seit Jahrzehnten beschäftigt, anhand eines Beispielfalles veranschaulicht werden.
Das BVerfG hatte 2008 u.a. zu entscheiden, ob § 8 FPersG
mit dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG im Einklang steht.34 Der Beschwerdeführer wurde wegen Überschreitung der Tageslenkzeiten und der Unterschreitung der täglichen Ruhezeit zu einer Geldbuße von 1000 Euro verurteilt.
Ein derartiger Verstoß war bis zum 10.4.2007 als Ordnungswidrigkeit in Art. 6 der VO (EWG) Nr. 3820/8535 i.V.m. der
sie in Bezug nehmenden Bußgeldvorschrift des § 8 Abs. 1
Nr. 1 lit. b FPersG i.V.m. § 22 Abs. 1 Nr. 2 FPersV geregelt.
Am 11.4.2007 wurde die VO (EWG) Nr. 3820/85 durch die
neue Verordnung (EG) Nr. 561/200636 abgelöst.
Bei den Blankettordnungswidrigkeiten wird die Sanktionsnorm durch die Ausfüllungsnorm ergänzt, sodass erst dadurch
eine vollständige Bußgeldnorm entsteht.37 Ohne die Ausfüllung des Tatbestandes der Sanktionsnorm wäre die Bußgeldandrohung dieser Blankettbußgeldvorschrift funktionslos.38
Die Änderung der ausfüllenden Norm bewirkt zugleich das
Erfordernis der Änderung des Bußgeldtatbestandes. Demnach
müssen bei ausfüllungsbedürftigen Blankettvorschriften die
Änderungen der sie ausfüllenden Vorschriften berücksichtigt
werden. Durch die Verknüpfung der tatbestandsmäßigen
Handlung (hier § 8 i.V.m. § 22 FPersV) mit der in Bezug
genommenen Verordnung (hier VO [EWG] Nr. 3820/85) entsteht ein unionsrechtsakzessorischer Tatbestand, bei dem die
Verweisung ausschließlich für den in Bezug genommenen
Rechtsakt, nicht für nachfolgende Rechtsakte gilt, selbst bei
inhaltlicher Identität nicht.39 Ändert sich eine Ausfüllnorm
34
BVerfG NJW 2008, 3769 f.
VO (EWG) Nr. 3820/85 des Rates v. 20.12.1985 über die
Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, ABl. L 370 v. 31.12.1985, S. 1 ff., geändert durch
Richtlinie 2003/59/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates v. 15.7.2003, berichtigt durch Berichtigung ABl. L 206
v. 30.7.1986, S. 36 ff. (3820/85).
36
VO (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und
des Rates v. 15.3.2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der VO
(EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie
zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates,
ABl. L 102 v. 11.4.2006, S. 1 ff., berichtigt durch Berichtigung ABl. L 70 v. 14.3.2009, S. 17 ff., zuletzt geändert durch
VO (EG) Nr. 1073/2009, ABl. L 300 v. 14.11.2009, S. 88 ff.
37
Rosenkötter/Louis, Das Recht der Ordnungswidrigkeiten,
7. Aufl. 2011, Rn. 16.
38
Förster (Fn. 4), § 4 Rn. 3.
39
Dannecker/Bülte, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Teil 2 Kap. 2 Rn. 40.
35
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373
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Annabell Blaue
und versäumt es der Gesetzgeber die Blankettvorschrift daran
zeitgleich anzupassen, so verliert der Blanketttatbestand seine
gesetzliche Bestimmtheit i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 3, 4
Abs. 1 OWiG. Bis zur Anpassung an die geänderte Vorschrift
durch den Gesetzgeber läuft die Blankettvorschrift leer, der
nicht angepasste Verweis ist falsch und verliert seine gesetzliche Bestimmtheit,40 die Ahndung entfällt. Die Beachtung dieser sich daraus ergebenden Ahndungslosigkeit resultiert aus
§ 4 Abs. 3 OWiG, welcher für den Vergleich der Vorschriften
hinsichtlich deren Mildegrad eine durchgängige Ahndbarkeit
vom Tatzeitpunkt bis zum Entscheidungszeitpunkt verlangt,
sodass die einmal eingetretene Ahndungslosigkeit auch durch
eine nachträgliche Anpassung nicht beseitigt werden kann.41
Der nationale Gesetzgeber versäumte die zeitgleiche Anpassung des betreffenden Bußgeldblanketts des § 8 FPersG
an die so geänderte europarechtliche Bezugsnorm. Dadurch
entstand eine Ahndungslücke, § 22 FPersV ging mit seiner
Verweisung auf die nunmehr abgelöste VO (EWG) Nr. 3820/
85 ins Leere. Erst mit der Wirkung vom 14.7.2007 erfolgte
die Anpassung an die neue EG-Verordnung, in deren Rahmen
auch § 8 Abs. 3 FPersG eingeführt wurde.42
„Ordnungswidrigkeiten gemäß § 8 des Fahrpersonalgesetzes, die bis zum 10. April 2007 unter Geltung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 begangen wurden, werden abweichend von § 4 Abs. 3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten nach den zum Zeitpunkt der Tat geltenden Bestimmungen
geahndet.“
Dass die Verfolgung von Taten, die während dem Aufreißen der dreimonatigen Ahndungslücke begangen wurden, gegen das Rückwirkungsverbot verstößt, ist eindeutig. Mit § 8
Abs. 3 FPersG wird versucht, Verstöße vor der geänderten
Rechtslage trotz der Regelung des § 4 Abs. 3 OWiG nachträglich wieder ahndbar zu machen.43
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, dass § 8 Abs. 3 FPersG gegen das in Art. 103 Abs. 2
GG normierte Rückwirkungsverbot verstoße.44 Das BVerfG
entschied, dass der Ausschluss des in § 4 Abs. 3 OWiG normierten Meistbegünstigungsgrundsatzes durch die in § 8
Abs. 3 FPersG geregelte weitere Anwendbarkeit des Tatzeitrechts auf Altfälle keinen Verfassungsverstoß bedeutet, da
das in § 4 Abs. 3 OWiG einfachgesetzlich normierte Prinzip
der Meistbegünstigung nicht von Art. 103 Abs. 2 GG gefordert werde45. Art. 103 Abs. 2 GG besagt demnach „nichts
über die Dauer des Zeitraumes, während dessen eine in verfassungsgemäßer Weise für strafbar erklärte Tat verfolgt werden darf, äußert sich also nur über das „von wann an“, nicht
jedoch über das „wie lange“ der Strafverfolgung“, indem
Art. 103 Abs. 2 GG „nach seinem Wortlaut die rückwirkende
Anwendung neuen materiellen Rechts zu Ungunsten des
40
Schröder, in: Hiebl/Kassebohm/Lilie (Hrsg.), Festschrift für
Volkmar Mehle zum 65. Geburtstag am 11.11.2009, 2009,
S. 597 (602).
41
Schröder, ZStW 112 (2000), 44 (56).
42
Schützendübel (Fn. 20), S. 96.
43
Schröder (Fn. 40), S. 597 (603).
44
BVerfG NJW 2008, 3769.
45
Schützendübel (Fn. 20), S. 97.
Täters“46 verbietet. Der Normunterworfene soll von vornherein wissen, was verboten ist und welche Strafe droht; dass
nach ihrer Begehung eine Tat vorübergehend nicht mit Buße
bedroht war, lässt das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot unberührt.47 In der Begründung zur Zulässigkeit von
§ 8 Abs. 3 FPersG wird ausgeführt, dass der Ausschluss des
Meistbegünstigungsprinzips möglich sei, da es sich auch nach
Auffassung des BVerfG bei § 4 Abs. 3 OWiG um eine einfachgesetzliche Norm handelt.48 Das Verlangen nach Vertrauensschutz vermag hier nicht zu greifen, da die Betroffenen
mit einer Ahndung rechnen mussten, als sie zum Zeitpunkt
ihrer Handlung vor der Ahndungslücke eine solche in zumutbarer Weise einkalkulieren konnten. Da die Ahndbarkeit vor
dem 11.4.2007 bereits verfassungsgemäß wirksam begründet
wurde, konnten die Betroffenen sich somit nicht auf das durch
Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen
auf Ahndungslosigkeit berufen. Unter Verweis auf BVerfGE
81, 132 hat das OLG Stuttgart im Jahr 1998 in seiner Entscheidung zu § 39 Abs. 2 BNatSchG a.F.49 ausgeführt, dass
Bedenken gegen den Ausschluss des disponiblen Meistbegünstigungsprinzips des § 2 Abs. 3 StGB nur dann bestünden,
„wenn im Zeitpunkt der Derogierung durch den Gesetzgeber
beim Angeklagten bereits ein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand in Bezug auf die Straflosigkeit erzeugt worden wäre“.50 Dies sei nicht der Fall, da sich der interessierte Normadressat jederzeit durch Lektüre des Amtsblattes der EG und
des Bundesgesetzblattes über die Rechtslage informieren
kann.51 Darauf, dass nationale Blankettvorschriften der neuen
europarechtlichen Lage nicht angepasst würden, kann und
darf ein Normadressat demnach grundsätzlich nicht vertrauen,
sodass hiernach auch unterhalb der verfassungsrechtlichen
Ebene kein Rückwirkungsschutz bestand.52 Schließlich ist
nach dem Erlass verbindlicher EU-Rechtsakte, die einer Umsetzung beziehungsweise Anpassung des nationalen Rechts
verlangen, mit einer Gesetzgebungsaktivität zu rechnen53, sodass die Vorhersehbarkeit einer innerstaatlichen Neuregelung
gegeben ist.54
Diesem Prozedere stehen durchaus kritische Stimmen entgegen, welche u.a. einwenden, dass dem Betroffenen die
günstigere Rechtslage nicht ohne weiteres entzogen werden
dürfe, jedenfalls stelle ein solches gesetzgeberisches Versäumnis zeitgleicher Anpassung keinen sachlichen Grund dar.55
Entscheidend für den Bezugspunkt des Vertrauensschutzes
sei, dass man dem Regelungsinhalt des § 4 Abs. 3 OWiG vertrauen konnte.56 Zutreffend musste der Normadressat mit
46
BVerfG NJW 2008, 3769 (3770 Rn. 13), unter Bezugnahme
auf BVerfGE 81, 132 (135).
47
Schröder (Fn. 40), S. 597 (603).
48
BT-Drs. 16/5238 unter Verweis auf BVerfGE 81, 132 (135).
49
OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 f.
50
OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 (380).
51
OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 (380).
52
OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 (380).
53
BVerfGE 45, 142 (176).
54
Vgl. BVerfGE 45, 142 (173 ff.).
55
Schröder (Fn. 40), S. 597 (604); Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 2u.
56
Schröder (Fn. 40), S. 597 (606).
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ZJS 4/2014
374
Die Zeitweiligkeit des Rechts
einer Anpassung des nationalen Rechts rechnen, jedoch nicht
damit, dass ein Ausschluss des sich aus § 4 Abs. 3 OWiG
ergebenden Meistbegünstigungsgrundsatzes erfolgt. Auf das
Eingreifen und vor allem den Bestand dieses Grundsatzes und
der daraus folgenden Ahndungslosigkeit musste der Betroffene vertrauen können. Und genau in diesem Vertrauen ist er
auch schutzwürdig. Entscheidet sich der nationale Gesetzgeber für die Technik der Blanketttatbestände, so ist er in der
Pflicht dem Normadressaten die Verfolgung der komplexen
Verweisungsketten jederzeit lückenhaft zu ermöglichen, ein
Versäumnis zeitgleicher Anpassung an geändertes Recht kann
nicht vom Bürger „ausgebügelt“ werden, indem von ihm ein
Studium des Bundesgesetzblattes abverlangt wird. Denn es
ist gerade die Pflicht des Gesetzgebers, die Normen klar und
deutlich zu fassen.
cc) Änderung der Umschreibung des gesetzlichen Tatbestandes
Problematischer kann sich der Fall gestalten, dass die gesetzliche Änderung die Umschreibung des Tatbestandes betrifft.
Fraglich ist, wann die Identität des Tatbestandes noch gewahrt
ist, sodass ein Vergleich der neuen und der alten Vorschrift
noch zulässig ist und die Änderung des Tatbestandes nicht
vielmehr dazu führt, dass die alte Vorschrift ersatzlos weggefallen ist, sodass nunmehr Ahndungslosigkeit die mildeste
Rechtfolge ist und der Anwendung der neuen Vorschrift das
Rückwirkungsverbot entgegensteht. Die h.L. bejaht die eine
zulässige Vergleichbarkeit ermöglichende Identität, wenn das
Wesen des Delikttyps der alten Vorschrift durch die neue
unberührt bleibt, mithin wenn die „Kontinuität des Unrechtstyps“ gewahrt bleibt.57 Da die Änderung den Tatbestand betrifft, müssen die konkreten Sanktionsvoraussetzungen miteinander verglichen werden.58 Liegt nach diesem Vergleich die
Identität beider Vorschriften vor, sind diese dem Vergleich
bezüglich ihres Mildegrades zugänglich. Kommt man dagegen zu dem Ergebnis, dass die neue Vorschrift einen Identitätsbruch mit der alten bedeutet, so gilt die alte Vorschrift als
ersatzlos weggefallen und die neue kann wegen des Rückwirkungsverbotes nicht angewendet werden. Dieses Vorgehen
soll anhand eines sehr vereinfacht dargestellten Beispiels verdeutlicht werden: Die alte Vorschrift normiert, dass das falsche Parken mit roten Autos ordnungswidrig ist und geahndet
werden kann. Die neue Vorschrift normiert nunmehr, dass
generell das falsche Parken mit allen Autos ordnungswidrig
ist. Insofern erweitert sich der Tatbestand der Sanktionsnorm,
wobei die Ordnungswidrigkeit mit roten Autos falsch zu parken, bereits in der Ordnungswidrigkeit mit allen Autos falsch
zu parken, enthalten ist. Mithin liegt in diesem Fall Identität
zwischen beiden Vorschriften vor, sodass sie miteinander bezüglich des Mildegrades zu vergleichen sind. Ändert sich der
Bußgeldrahmen, so ist nunmehr von dem milderen Bußgeldrahmen auszugehen. Gleichzeitig kann die neue Vorschrift
nicht mehr rückwirkend angewendet werden, um die Handlungen zu ahnden, welche vor ihrer Geltung noch nicht ahndbar waren, d.h. alle Autos, die andersfarbig als rot sind und
vor der Geltung der neuen Vorschrift falsch geparkt haben,
STRAFRECHT
können nun rückwirkend nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG.
War nach der alten Vorschrift das Parken mit allen Autos
ordnungswidrig und ahndbar, und lautet die neue Vorschrift
nunmehr, dass nur das falsche Parken mit roten Autos ordnungswidrig und ahndbar ist, so wird die Sanktionsnorm
durch die Änderung beschränkt. War nun der spezifische Tatbestand der neuen Norm implizit in der alten enthalten, so ist
Identität zu bejahen59 und die Vergleichbarkeit gegeben. Das
Verbot, mit roten Autos falsch zu parken war ja hier bereits
in dem Verbot, mit allen Autos falsch zu parken enthalten.
Mithin sind die Normen dem Vergleich zugänglich.
Liegt dagegen ein Austausch sanktionsbegründender Merkmale vor, so geht die Identität verloren.60 Dies ist gegeben,
wenn die neue Vorschrift normiert, dass nur das falsche Parken mit Motorrädern ordnungswidrig ist. In diesem Fall ist
die alte Vorschrift, nach der falsches Parken mit (roten) Autos
verboten war, weggefallen, sodass die mildeste Rechtslage
Ahndungslosigkeit ist. Die neue Vorschrift kann nun nicht
rückwirkend angewendet werden, um das falsche Parken von
Motorrädern vor der Gesetzesänderung zu ahnden.
Ändert sich das Gesetz nach der Tat und vor der Entscheidung mehrfach, sodass währenddessen ein Zustand eintritt, in dem die Ahndungsmöglichkeit komplett entfällt, so ist
im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Norm (Meistbegünstigungsprinzip) dieser Zustand zu berücksichtigen.61
2. Zusammenfassender Vergleich von Art. 103 Abs. 2 GG und
§ 4 Abs. 3 OWiG
Der Unterschied von Art. 103 Abs. 2 GG und § 4 Abs. 3
OWiG wird besonders deutlich, wenn man sich das Verhältnis
beider zueinander spiegelbildlich vorstellt. Art. 103 Abs. 2
GG geht von der Situation aus, dass zum Zeitpunkt der Handlung diese noch nicht ahndbar war, danach jedoch aufgrund
eines geänderten Gesetzes ahndbar wird. Geschützt wird der
Täter vor einer rückwirkenden Ahndbarkeitsbegründung. § 4
Abs. 3 OWiG geht dagegen davon aus, dass die Handlung
zum Zeitpunkt ihrer Begehung ahndbar ist, danach jedoch aufgrund einer Gesetzesänderung nicht mehr geahndet werden
kann. Die Handlung darf nun nicht mehr verfolgt werden, die
einmalig wirksam begründete Ahndbarkeit bleibt davon jedoch unberührt. Art. 103 Abs. 2 GG bezweckt somit den
Schutz des ab wann an der Verfolgung, wohingegen § 4 Abs. 3
OWiG das wie lange der Verfolgung schützt. Der Vertrauensschutz bezieht sich hier darauf, dass eine einmalig aufgetretene
Ahndungslücke die Ahndungslosigkeit des Verhaltens bewirkt.
Auf den Bestand dieser Ahndungslosigkeit muss sich der
Bürger verlassen können, sodass eine rückwirkende Schließung der Ahndungslücke unzulässig ist.
III. Schlussbetrachtung
Ordnungswidrigkeit und Strafe haben gemeinsam den Charakter einer Übelzufügung gegenüber dem Täter als Reaktion
59
57
Förster (Fn. 4), § 4 Rn. 13.
58
Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 26.
Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 26.
Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 26.
61
Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 30.
60
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375
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Annabell Blaue
des Staates auf ein missbilligtes Verhalten. Dem Täter muss
in beiden Fällen ein rechtsstaatliches Verfahren garantiert
werden, um ihn vor staatlicher Willkür zu schützen und damit
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu gewährleisten. Das
Ordnungswidrigkeitenrecht gehört zum Strafrecht im weiteren
Sinne, sodass der Regelungsgehalt des Art. 103 Abs. 2 GG
auch ohne die einfachgesetzliche Regelung des § 3 OWiG zu
beachten wäre.62 Vor allem im Hinblick auf die Tatsache,
dass ein Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren in das Leben und die Rechte des potentiellen Täters eingreifen, verlangt unser Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 3 GG) einen wirksamen
Schutz vor unverhältnismäßigen Eingriffen.63 Nur so kann
gewährleistet werden, dass der Staat und die Behörden die
ihnen durch das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht zur
Verfügung gestellten Machtmittel nicht missbrauchen.64 § 3
OWiG stimmt mit § 1 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG wörtlich
überein.65 Ferner bildet § 4 OWiG die entsprechende Vorschrift zu § 2 StGB. Vor allem durch den europarechtlichen
Einfluss im Bereich der Bußgeldblanketttatbestände werden
die Rechtsprechung und die Behörden mit komplexen Problemen im Zusammenhang mit dem Rückwirkungsverbot konfrontiert. Diese Probleme werden wohl im Hinblick auf den
zunehmenden europarechtlichen Einfluss in ihrer Aktualität
an Bedeutung gewinnen und weiterhin Anlass für wissenschaftliche Betrachtungen sein.
62
BVerfGE 81, 132 (135); 87, 399 (411).
Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rn. 3.
64
Beulke (Fn. 63), Rn. 5.
65
Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 2005,
§ 5 Rn. 6.
63
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376
Die Zeitweiligkeit des Rechts
STRAFRECHT
Graphik 1: §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG
Ein neues Gesetz darf nicht rückwirkend angewendet werden, um die Ahndbarkeit einer Handlung zu begründen, die nach dem
Gesetz, das zur Zeit ihrer Begehung galt, noch nicht ahndbar war.
Die Handlung kann nicht rückwirkend als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, wenn deren Ahndung zum Zeitpunkt ihrer
Begehung noch nicht gesetzlich bestimmt war.
Graphik 2: § 4 Abs. 2 OWiG
Ändert sich das Gesetz nach Beginn der Handlung und vor ihrer Beendigung, so ist das Gesetz anzuwenden, welches zum
Zeitpunkt ihrer Beendung gilt, unabhängig davon, ob es milder oder schärfer ist als jenes, welches zum Zeitpunkt ihres Beginns galt.
Graphik 3
Ändert sich das Gesetz, das zum Zeitpunkt der Beendigung der Handlung galt vor der Entscheidung, so ist das mildeste Gesetz
anzuwenden.
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377
Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie*
Von Ref. jur. Benjamin Hansen, Köln
Sachverhalt
Die A-GmbH (A) mit Sitz in Luxemburg und die B-AG (B)
mit Sitz in Zürich gehören zu dem international tätigen Konzern „Sunshine-TECNO“, der Technologie für den Bau von
Photovoltaikanlagen entwickelt, Dritten zur Verfügung stellt
und auch selbst solche Anlagen baut. Auch die C-GmbH (C)
mit Sitz in Düsseldorf und die D-S.à.r.l. (D) mit Sitz in Paris
möchten von der zunehmenden Nachfrage nach grüner Energie
profitieren und haben sich vor diesem Hintergrund ebenfalls
auf die Entwicklung neuer Technologien auf dem Gebiet der
Solartechnik spezialisiert. Die E-LTDA (E), eine Gesellschaft
brasilianischen Rechts mit Sitz in Brasília, die gelegentlich
mit C und D zusammenarbeitet, hat im November 2008 eine
Photovoltaikanlage im sonnenverwöhnten Rio de Janeiro zur
Energieversorgung des Estádio do Maracanã, dem Austragungsort des Finalspiels der Fußball WM 2014, errichtet, um
so bereits einen ersten Beitrag zu dem von der FIFA angestrebten Ziel zu leisten, das Image einer „grünen“, d.h. umweltfreundlichen WM entstehen zu lassen. A und B behaupten, dass E dabei Technologie verwendet hat, die ihr von C
und D zur Verfügung gestellt wurde, tatsächlich aber von
„Sunshine-TECNO“ stammt. Ihnen sei bereits ein Schaden in
sechsstelliger Höhe entstanden; weitere Schäden in vergleichbarer Höhe seien zu befürchten. Im Februar 2012 erheben sie
Klage vor dem LG Düsseldorf gegen C, D und E auf Unterlassung der Vervielfältigung und der Verbreitung bestimmter
technischer Zeichnungen und Schriftstücke, die für den Bau
der Photovoltaikanlage in Rio als Grundlage gedient haben
sollen. A und B, die ein kollusives Zusammenwirken von C,
D und E vortragen und vor dem LG Düsseldorf ein einheitliches Urteil erreichen wollen, stützen sich dabei auf Ansprüche
aus dem Urheberrecht sowie aus unlauterem Wettbewerbsverhalten. Sie beanspruchen urheberrechtlichen Schutz für
Luxemburg und die Schweiz. C, D und E bestreiten sowohl
das Bestehen der geltend gemachten Ansprüche als auch die
Zuständigkeit des LG Düsseldorf.
Aufgabe 1
Ist das LG Düsseldorf für die Klagen der A und B gegen C, D
und E zuständig?
Aufgabe 2
Welches Recht ist auf die von A und B geltend gemachten
Ansprüche anwendbar?
* Der Sachverhalt und der zweite Teil der Bearbeitung sind
angelehnt an die Entscheidung des OGH (Oberster Gerichtshof, Österreich), Beschl. v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k =
GRUR Int. 2012, 468.
Lösungsvorschlag für Aufgabe 1
I. Klage gegen C1
Das LG Düsseldorf müsste für die Klage von A und B gegen
C zuständig sein.
1. Internationale Zuständigkeit
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte könnte
sich aus der EuGVVO2 ergeben.
a) Anwendbarkeit der EuGVVO
Dazu müsste die EuGVVO zunächst anwendbar sein.
aa) Sachlich
Bei den von A und B geltend gemachten Ansprüchen handelt
es sich um Zivil- und Handelssachen i.S.d. Art. 1 Abs. 1
EuGVVO. Eine Ausnahme gem. Art. 1 Abs. 2 EuGVVO ist
nicht ersichtlich. Mithin ist der sachliche Anwendungsbereich
der EuGVVO eröffnet.
bb) Räumlich-persönlich
C hat seinen Wohnsitz gem. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 60 Abs. 1 lit. a EuGVVO in Düsseldorf, also in Deutschland, sodass auch der räumlich-persönliche Anwendungsbereich gem. Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO eröffnet ist.
cc) Zeitlich
Schließlich ist auch der zeitliche Anwendungsbereich gem.
Art. 66 Abs. 1, 76 EuGVVO eröffnet.
dd) Ergebnis
Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist eröffnet. Vorrangig
anwendbare Regelungswerke sind nicht ersichtlich.
b) Zuständigkeit nach der EuGVVO
aa) Ausschließliche Zuständigkeit
In Betracht kommt eine ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte gem. Art. 22 Nr. 4 EuGVVO. Danach sind für
Streitigkeiten über die Eintragung oder die Gültigkeit von
1
Die getrennte Prüfung der einzelnen Klagen dient der Übersichtlichkeit. Möglich wäre es indes auch, die Klagen gegen
C, D und E gemeinsam abzuhandeln.
2
VO EG/44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO). Am 10.1.
2015 wird eine Neufassung der EuGVVO in Kraft treten, VO
EU/1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit
und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. EU 2012
Nr. L 351/1. Siehe dazu v. Hein, RIW 2013, 97. Für die Bearbeitung dieser Klausur ergeben sich aus der Neufassung der
EuGVO keine inhaltlichen Änderungen.
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ZJS 4/2014
378
Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie
Patenten und weiterer, ähnlicher Rechte die Gerichte des
Mitgliedstaats ausschließlich zuständig, in dessen Hoheitsgebiet die Rechte eingetragen sind. Vorliegend stützen A und B
ihre Klage zwar unter anderem auf die Verletzung von Urheberrechten. Es geht jedoch nicht um die Eintragung oder die
Gültigkeit eines Rechts im Sinne des Art. 22 Nr. 4 EuGVVO,
sodass dieser nicht einschlägig ist.
bb) Rügelose Einlassung
C könnte sich jedoch gem. Art. 24 EuGVVO rügelos auf das
Verfahren vor dem LG Düsseldorf eingelassen und damit die
internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte begründet haben, wenn er den Mangel der internationalen Zuständigkeit
nicht geltend gemacht hat.
C hat die Zuständigkeit des LG Düsseldorf bestritten.
Fraglich ist, ob diese Rüge den Anforderungen des Art. 24
EuGVVO hinsichtlich eines Bestreitens der internationalen
Zuständigkeit gerecht wird.
Der Tatbestand der rügelosen Einlassung i.S.d. Art. 24
EuGVVO ist autonom auszulegen.3 Nach überwiegender Auffassung muss der Mangel der internationalen Zuständigkeit
nicht ausdrücklich als solcher gerügt werden. Vielmehr soll
die Rüge des Mangels der internationalen Zuständigkeit bereits dann wirksam sein, wenn sie dem Vortrag des Beklagten
durch Auslegung entnommen werden kann.4 Dabei kann die
Rüge der örtlichen Zuständigkeit eines Gerichts auch als Rüge
der internationalen Zuständigkeit gedeutet werden.5
C hat ausdrücklich die Zuständigkeit des LG Düsseldorf
bestritten. Dies kann auch als Rüge hinsichtlich des Mangels
der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte verstanden werden. Mithin hat C die internationale Zuständigkeit
deutscher Gerichte hinreichend gerügt, sich also nicht rügelos
auf das Verfahren eingelassen.
cc) Gerichtsstandsvereinbarung
Auch eine Gerichtsstandsvereinbarung i.S.d. Art. 23 EuGVVO
haben die Parteien nicht getroffen.
dd) Allgemeiner Gerichtsstand
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ergibt
sich jedoch aus dem allgemeinen Gerichtsstand des Art. 2
3
Kropholler/v. Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Kommentar zu EuGVO, Lugano-Übereinkommen 2007, EuVTVO,
EuMVVO und EuGFVO, 9. Aufl. 2011, Art. 24 EuGVVO
Rn. 7; Leible/Sommer, IPRax 2006, 568; Stadler, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 11. Aufl. 2014, Art. 24 EuGVVO
Rn. 3.
4
EuGH, Slg. 1981, 1671 (1688 Rn. 15) – Elefanten Schuh =
BeckRS 2004, 71745 (Elefanten Schuh); Gottwald, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, Art. 24 EuGVVO
Rn. 7; a.A. wohl Geimer, in: Zöller, Kommentar zur ZPO,
30. Aufl. 2014, Art. 24 EuGVVO Rn. 3, 5.
5
BGH NJW-RR 2005, 1518 (1519); Gottwald (Fn. 4), Art. 24
EuGVVO Rn. 7; Dörner, in: Saenger, Kommentar zur ZPO,
5. Aufl. 2013, Art. 24 EuGVVO Rn. 8; Stadler (Fn. 3),
Art. 24 EuGVVO Rn. 3.
ZIVILRECHT
Abs. 1 EuGVVO (actor sequitor forum rei), da C als Beklagter
seinen Wohnsitz in Deutschland hat (siehe I. 1. a] bb]).
c) Ergebnis
Mithin sind die deutschen Gerichte für die Klage gegen C
gem. Art. 2 Abs. 1 EuGVVO international zuständig.
2. Örtliche Zuständigkeit
Die örtliche Zuständigkeit des LG Düsseldorf ergibt sich aus
§§ 12, 17 ZPO.
3. Sachliche Zuständigkeit
Gemäß §§ 23, 71 Abs. 1 GVG sind die Landgerichte sachlich
zuständig für Streitigkeiten über Ansprüche, deren Gegenstand an Geld oder Geldeswert die Summe von fünftausend
Euro übersteigt. A und B machen Unterlassungsansprüche geltend. Bei Unterlassungsklagen ist der Wert des Rechtsstreits
i.S.d. § 3 ZPO nach dem Interesse des Rechtsinhabers an der
Vermeidung zukünftiger Rechtsverletzungen zu bestimmen.6
A und B tragen vor, dass neben einem bereits entstandenen
Schaden in sechsstelliger Höhe auch in Zukunft ein vergleichbarer Schaden durch die behaupteten Rechtsverletzungen zu
befürchten sei. Der Wert des Rechtsstreits liegt damit über
fünftausend Euro. Das LG Düsseldorf ist mithin auch sachlich zuständig.
4. Ergebnis
Das LG Düsseldorf ist für die Klage gegen C sowohl international als auch örtlich und sachlich zuständig.
II. Klage gegen D
Zu prüfen ist, ob das LG Düsseldorf für die Klage gegen D
zuständig ist.
1. Internationale Zuständigkeit
Auch für die Klage gegen D ist die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach der EuGVVO zu bestimmen, sofern diese anwendbar ist.
a) Anwendbarkeit der EuGVVO
Die sachliche Anwendbarkeit der EuGVVO ergibt sich – ebenso wie für die Klage gegen C – aus Art. 1 Abs. 1 EuGVVO.
Auch bei diesen Ansprüchen handelt es sich um Zivil- und
Handelssachen i.S.d. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO.
D hat ihren Wohnsitz i.S.d. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 60
Abs. 1 lit. a EuGVVO in Paris/Frankreich und somit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sodass der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuGVVO für die Klage gegen
D gem. Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO eröffnet ist.
Die zeitliche Anwendbarkeit der EuGVVO ergibt sich aus
Art. 66 Abs. 1, 76 EuGVVO.
Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist mithin eröffnet.
6
BGH NJW-RR 1990, 1322; Herget, in: Zöller, Kommentar
zur ZPO, 30. Aufl. 2014, § 3 ZPO Rn. 16; Bendtsen, in: Saenger, Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2013, § 3 ZPO Rn. 15.
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379
ÜBUNGSFÄLLE
Benjamin Hansen
b) Zuständigkeit nach der EuGVVO
Eine ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte gem.
Art. 22 EuGVVO ist nicht ersichtlich. Auch hat D ausdrücklich die Zuständigkeit des LG Düsseldorf gerügt, sodass auch
eine rügelose Einlassung im Sinne des Art. 24 EuGVVO
verneint werden muss (vgl. I. 1. b] bb]). Schließlich haben A
bzw. B und D keine Gerichtstandssvereinbarung i.S.d. Art. 23
EuGVVO abgeschlossen.
aa) Art. 2 Abs. 1 EuGVVO
Für die Klage gegen D kann sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht aus dem allgemeinen Gerichtsstand des Art. 2 Abs. 1 EuGVVO ergeben. So hat D
ihren Wohnsitz nicht im Gerichtsstaat Deutschland, sondern
in Frankreich.
bb) Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte könnte
sich jedoch aus Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ergeben. Danach kann
unter bestimmten Voraussetzungen, wenn mehrere Personen
zusammen verklagt werden, eine Person, die ihren Wohnsitz
im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor dem Gericht
des Ortes verklagt werden, an dem einer der Beklagten seinen
Wohnsitz hat. Ausreichend ist dabei, wenn irgendeiner von
mehreren Beklagten seinen Wohnsitz und damit einen allgemeinen Gerichtsstand im Gerichtsstaat hat.7
C, D und E werden von A und B zusammen verklagt. D
hat ihren Wohnsitz in Frankreich, also im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats. C hat ihren Wohnsitz und damit einen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland. Mithin kann D auch in
Deutschland verklagt werden, sofern die sonstigen Voraussetzungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erfüllt sind.
So müsste zwischen den Klagen gegen C und D eine so
enge Beziehung gegeben sein, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten (sog. Konnexität8). Ziel des Art. 6
Nr. 1 EuGVVO ist dabei die Förderung einer geordneten
Rechtspflege sowie die Vermeidung von Parallelverfahren.9
Als Ausnahme zum allgemeinen Gerichtsstand ist Art. 6 Nr. 1
EuGVVO grundsätzlich restriktiv auszulegen.10 Allerdings
dürfen auch keine zu hohen Anforderungen an die Konnexität
gestellt werden. So hat es der EuGH für Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
bereits ausreichen lassen, wenn ein Klagebegehren gegen einen Beklagten vertraglicher, dasjenige gegen einen anderen
7
Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2011, Kap. 3
VI. 1. a).
8
Stadler (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 2; Gottwald (Fn. 4),
Art. 6 EuGVVO Rn. 23; Dörner (Fn. 5), Art. 6 EuGVVO
Rn. 4.
9
Vgl. die Erwägungsgründe 12 und 15 der EuGVVO.
10
EuGH, Slg. I 2007, 8319 (8352 f. Rn. 35) – Freeport =
NJW 2007, 3702 (3705) m. Anm. Sujecki/Dutilh; EuGH, Urt.
v. 11.4.2013 – C-645/11, Rn. 53 (Sapir) = EuZW 2013, 503
(505) m. Anm. Dietze; EuGH, Urt. v. 17.12.2012 – C-616/12,
Rn. 21 (Solvay) = EuZW 2012, 837 (838).
Beklagten hingegen deliktischer Natur ist.11 Wann der erforderliche Zusammenhang zwischen mehreren Klagen besteht,
ist zwar letztlich eine Frage des Einzelfalls.12 Anerkannt ist
jedoch, dass die Konnexität dann zu bejahen ist, wenn die
Beklagten kollusiv zusammengewirkt haben.13
Vorliegend sollen C und D der E gemeinsam technische
Zeichnungen und Schriftstücke von A und B unbefugt zur
Verfügung gestellt haben. Dabei würde es sich um ein – kollusives – Zusammenwirken der Beklagten handeln. Ob ein
solches tatsächlich stattgefunden hat, ist für die Frage der
internationalen Zuständigkeit jedoch unerheblich und erst im
Rahmen der Begründetheit zu prüfen. Für die Konnexität in
Art. 6 Nr. 1 EuGVVO genügt die schlüssige Behauptung des
Klägers, dass ein solches Zusammenwirken stattgefunden
hat.14 A und B tragen ein solches Zusammenwirken von C
und D schlüssig vor.
Nach teilweise vertretener Ansicht soll der Missbrauchsvorbehalt des Art. 6 Nr. 2 EuGVVO, wonach eine internationale Zuständigkeit zu verneinen ist, wenn die Klage nur erhoben wurde, um eine Person dem für sie zuständigen Gericht
zu entziehen – entgegen dem Wortlaut – auch auf Art. 6 Nr. 1
EuGVVO Anwendung finden.15 Unabhängig davon, ob dieser
Ansicht gefolgt werden kann,16 liegen hier schon die Voraussetzungen des Missbrauchsverbots nicht vor. So haben A und
11
EuGH, Slg. I 2007, 8319 (8359 Rn. 57) – Freeport.
EuGH, Slg. 1988, 5565 (5584 Rn. 12) – Kalfelis = NJW
1988, 3088 (3089) m. Anm. Geimer; EuGH, Slg. I 2011,
12594 (12620 Rn. 83) – Painer = EuZW 2012, 182 (185) m.
Anm. Roth.
13
Vgl. Kropholler/v. Hein (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 10,
mit Verweis auf OGH ÖJZ 2008, 114; siehe auch Stadler
(Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 2a, die Fälle der Gesamtschuldnerschaft als „unproblematisch“ von Art. 6 Nr 1 EuGVVO
erfasst sieht.
14
Simotta, in: Fasching, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, 2. Aufl. 2011, Bd. 5/1, Art. 6 EuGVVO Rn. 23; vgl.
Leible, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht – Kommentar zum EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 6
EuGVVO Rn. 10d; Stadler (Fn. 3), Art 6 EuGVVO Rn 3.
15
OGH GRUR Int. 2013, 569 (572); Wagner, in: Stein/Jonas,
Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2011, Art. 6 EuGVVO Rn. 42
f.; Mäsch, IPRax 2005, 509 (514).
16
Der EuGH hatte im Fall Freeport (EuGH, Slg. I 2007, 8340
[8357 Rn. 51 ff.]) eine Prüfung des Missbrauchsvorbehalts im
Rahmen von Art. 6 Nr. 1 EuGVVO noch ausdrücklich abgelehnt, zustimmend Gottwald (Fn. 4), Art. 6 EuGVVO Rn. 16.
In zwei neueren Entscheidungen hat der EuGH bei der Prüfung
des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO – wohl in Abkehr seiner Rechtsprechung in Freeport – jedoch auch Missbrauchserwägungen
angeführt, siehe Rs. Painer (EuGH, Slg. I 2011, 12594
[12619 Rn. 78]) und Solvay (EuGH, Urt. v. 17.12.2012 –
C-616/12, Rn. 22). Siehe dazu auch schon die früheren Entscheidungen des EuGH, Slg. 1988, 5565 (5583 Rn. 8 f.) –
Kalfelis; EuGH, Slg. I 1998, 6511 (6548 Rn. 47) – Réunion
européenne = EuZW 1999, 59 (62), sowie EuGH, Slg. I 2006,
6840 (6850 f. Rn. 32) – Reisch Montage = EuZW 2006, 667
(669).
12
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ZJS 4/2014
380
Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie
B die D nicht nur deshalb verklagt, um diese ihrem allgemeinen Gerichtsstand zu entziehen, sondern um ein einheitliches
Urteil gegen C, D und E vor dem LG Düsseldorf zu erreichen.
Somit sind die Voraussetzungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
erfüllt, sodass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte auch für die Klage gegen D gegeben ist.
2. Örtliche Zuständigkeit
Neben der internationalen Zuständigkeit regelt Art. 6 Nr. 1
EuGVVO auch die örtliche Zuständigkeit.17 Mithin ist das
LG Düsseldorf gem. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auch für die Klage gegen D örtlich zuständig.
3. Sachliche Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit des LG Düsseldorf ergibt sich
aus den §§ 23, 71 Abs. 1 GVG, § 3 ZPO (vgl. I. 3.).
4. Ergebnis
Das LG Düsseldorf ist für die Klage gegen D international,
örtlich und sachlich zuständig.
III. Klage gegen E
Fraglich ist, ob das LG Düsseldorf auch für die Klage gegen
E zuständig ist.
1. Internationale/örtliche Zuständigkeit
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte könnte
auch für die Klage gegen E nach der EuGVVO zu beurteilen
sein, sofern diese anwendbar ist.
a) Anwendbarkeit der EuGVVO
aa) Sachlich
Hinsichtlich der sachlichen Anwendbarkeit gem. Art. 1 Abs. 1
EuGVVO bestehen – wie schon bei den Klagen gegen C und
D – keine Bedenken.
bb) Räumlich-persönlich
Es müsste auch der räumlich-persönliche Anwendungsbereich
der EuGVVO eröffnet sein.
Dies ist gem. Art. 2 Abs. 1, 3 Abs.1 EuGVVO der Fall,
wenn der Beklagte seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats hat. Die Beklagte E hat ihren Wohnsitz i.S.d.
Art. 60 Abs. 1 EuGVVO jedoch nicht im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaates, sondern in Brasilien, also in einem Drittstaat,
sodass der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuGVVO nicht nach Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO eröffnet
ist. Gemäß Art. 4 Abs. 1 EuGVVO bestimmt sich, vorbehaltlich der Art. 22 und 23 EuGVVO, die Zuständigkeit der Gerichte in einem solchen Fall nach den eigenen, d.h. nationalen
Gesetzen des angerufenen Gerichts.
Eine ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte gem.
Art. 22 EuGVVO ist vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere
17
Kropholler/v. Hein (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 5; Adolphsen (Fn. 7), Kap. 3 § 1 VI. 1.; Gottwald (Fn. 4), Art 6 EuGVVO Rn 2.
ZIVILRECHT
geht es nicht um eine Streitigkeit i.S.d. Art. 22 Nr. 4 EuGVVO. Auch eine Gerichtsstandsvereinbarung i.S.d. Art. 23
EuGVVO haben A, B und E nicht getroffen.
Neben den in Art. 4 Abs. 1 EuGVVO genannten Ausnahmen der Art. 22 und 23 EuGVVO, können auch Art. 9
Abs. 2, 15 Abs. 2, 18 Abs. 2 und Art. 24 EuGVVO zu einer
räumlich-persönlichen Anwendbarkeit der EuGVVO führen,
wenn der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats hat.18 Allerdings ergeben sich auch für die
Voraussetzungen dieser Vorschriften keine Anhaltspunkte; insbesondere hat sich auch E nicht rügelos i.S.d. Art. 24 EuGVVO eingelassen (vgl. I. 1. b] bb]).
Fraglich ist, ob für den besonderen Fall der Streitgenossenschaft neben den bereits angeführten, anerkannten Ausnahmen
von Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO, der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuGVVO auch über Art. 6 Nr. 1
EuGVVO zu eröffnen sein könnte.
Eine direkte Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO kommt
aufgrund des eindeutigen Wortlauts, der einen Wohnsitz des
Beklagten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats voraussetzt,
zwar nicht in Betracht.19 Denkbar erscheint es jedoch, Art. 6
Nr. 1 EuGVVO auf Fälle mit mehreren Beklagten, von denen
einer seinen Wohnsitz in einem Drittstaat hat, analog anzuwenden.
Für eine Analogie bedarf es einer planwidrigen Regelungslücke und einer vergleichbaren Interessenlage.20
Eine vergleichbare Interessenlage wird dabei von vielen
Seiten bejaht. Es sei kaum nachvollziehbar, warum ein Beklagter mit Sitz in einem Drittstaat besser gestellt werden solle,
als ein Beklagter mit Sitz in einem Mitgliedstaat; immerhin
solle die EuGVVO Personen mit Sitz in einem Mitgliedstaat
tendenziell privilegieren und nicht benachteiligen.21
Ferner müsste in der EuGVVO hinsichtlich der Bestimmung des Gerichtsstands für mitbeklagte Streitgenossen mit
Wohnsitz in einem Drittstaat eine planwidrige Regelungslücke bestehen.
Fraglich ist bereits, ob eine Regelungslücke für diesen
Fall bejaht werden kann. Zwar gibt es in der EuGVVO keine
Vorschrift, die den Fall von Streitgenossen mit Wohnsitz in
einem Drittstaat ausdrücklich regelt.22 Allerdings sieht Art. 4
18
Stadler (Fn. 3), Art. 4 EuGVVO Rn. 1; Gottwald (Fn. 4),
Art. 4 EuGVVO Rn. 2; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 35. Aufl. 2014, Art. 4 EuGVVO Rn. 1.
19
Stadler (Fn. 3), Art 6 EuGVVO Rn. 3.
20
Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014,
Einl. vor § 1 Rn. 48; Prütting, in: Prütting/Wegen/Weinreich,
Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2013, Einl. vor § 1 Rn. 43.
21
Kropholler/v. Hein (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 7; Gottwald
(Fn. 4), Art. 6 EuGVVO Rn. 4; Leible (Fn. 14), Art. 6 EuGVVO Rn. 7; Adolphsen (Fn. 7), Kap. 3 VI. 1. a); Geimer, in:
Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl.
2010, Art. 6 Rn. 4 ff.
22
Eine solche Vorschrift wird es auch in der Neufassung der
EuGVVO nicht geben. Zwar war noch im Entwurf zur Reform der EuGVVO eine Ausdehnung der besonderen Gerichtsstände der Art 5 ff. EuGVVO auf Beklagte mit Wohnsitz in
Drittstaaten vorgesehen, vgl. Art. 4 Abs. 2 des Vorschlags der
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381
ÜBUNGSFÄLLE
Benjamin Hansen
Abs. 1 EuGVVO vor, dass sich für Beklagte, die keinen
Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, die
Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Mitgliedstaats – vorbehaltlich der Art. 22 und 23 – nach dessen eigenen Gesetzen,
also nach den nationalen Zuständigkeitsvorschriften, richtet.23
Vor diesem Hintergrund wird bereits das Bestehen einer Regelungslücke verneint; Art. 4 Abs. 1 EuGVO habe abschließenden Charakter.24
Nachdem der Verordnungsgeber im Rahmen der Neufassung der EuGVVO den Anwendungsbereich nicht auf Personen mit Wohnsitz in einem Drittstaat erstreckt hat,25 kann –
unabhängig von der Frage, ob eine Regelungslücke besteht –
jedenfalls nicht mehr von der Planwidrigkeit einer solchen
Lücke ausgegangen werden.26
Eine analoge Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
kommt demnach nicht in Betracht.
cc) Zwischenergebnis
Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist nicht eröffnet.
b) Zuständigkeit nach § 32 ZPO
Die internationale Zuständigkeit ist somit gem. Art. 4 Abs. 1
EuGVO in Verbindung mit den doppelt funktional anwendbaren Vorschriften der ZPO27 zu bestimmen. Dabei indiziert
die örtliche Zuständigkeit auch die internationale Zuständigkeit.28 Vorliegend kommt eine Zuständigkeit gem. § 32 ZPO
in Betracht.
Gemäß § 32 ZPO ist für Klagen aus unerlaubten Handlungen das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Handlung
„begangen“ ist. Begehungsort im Sinne des § 32 ZPO ist
neben dem Handlungsort auch der Erfolgsort (sog. Ubiquitätsprinzip), so dass eine Zuständigkeit wahlweise dort gegeben
ist, wo die Verletzungshandlung begangen oder wo in ein ge-
Europäischen Kommission für die Neufassung der EuGVVO
(KOM [2010] 748 endg.). Diese Pläne wurden letztendlich
aber nicht umgesetzt, dazu von Hein, RIW 2013, 97 (100 f.)
m.w.N.
23
Vgl. auch Erwägungsgrund 9 der EuGVVO.
24
EuGH, Urt. v. 11.4.2013 – C-645/11 Rn. 49 ff. (Sapir). Zuvor bereits Generalanwältin Trstenjak in ihren Schlussanträgen
v. 28.11.2012 in Rn. 118 f. (BeckRS 2012, 82520). Zust.
Wais, LMK 2013, 347220, und Dietze, EuZW 2013, 506; im
Anschluss an die Entscheidung des EuGH jetzt auch der
BGH, Urt. v. 27.9.2013 – V ZR 232/10, Rn. 9 = BeckRS
2013, 21945.
25
Siehe Fn. 22.
26
Wais, LMK 2013, 347220; Stadler (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO
Rn. 3.
27
Dazu Heinrich, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 11. Aufl.
2014, § 12 ZPO Rn. 17; Patzina, in: Münchener Kommentar
zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 12 ZPO Rn. 89 ff.
28
BGHZ 184, 365; Toussaint, in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 12, Stand: 15.3.2014, § 12 ZPO Rn. 16
ff.; Behr, GRUR Int. 1992, 604.
schütztes Rechtsgut eingegriffen wurde.29 Erfasst werden neben Schadensersatzansprüchen auch Unterlassungsansprüche;
für die Begründung der Zuständigkeit genügt die schlüssige
Behauptung von Tatsachen, auf deren Grundlage sich eine im
Gerichtsbezirk begangene unerlaubte Handlung ergibt.30
A und B behaupten, dass E – ggf. als Mittäter von C und
D – ihre Rechte durch Vervielfältigung und Verbreitung bestimmter technischer Zeichnungen und Schriftstücke verletzt
habe.
Als Erfolgsort kommt Düsseldorf nicht in Betracht. Weder A noch B haben ihren Sitz als mutmaßliche Geschädigte
in Deutschland. Düsseldorf könnte jedoch Handlungsort hinsichtlich der behaupteten Rechtsverletzungen sein. E selbst
ist im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Verhalten – soweit ersichtlich – zwar nie in Düsseldorf tätig geworden. Jedoch hat C als eine der mutmaßlichen Schädigerinnen ihren Sitz in Düsseldorf. Die Zuständigkeit des LG
Düsseldorf für die Klage gegen E käme in Betracht, wenn
sich E den Düsseldorfer Handlungsort der C zuständigkeitsbegründend zurechnen lassen müsste. Während der BGH für
§ 32 ZPO eine solche wechselseitige Handlungsortzurechnung
in ständiger Rechtsprechung bejaht,31 hat sich der EuGH für
Art. 5 Nr. 3 EuGVVO gegen eine zuständigkeitsbegründende
Zurechnung des Handelns anderer Beteiligter entschieden.32
Begründet hat der EuGH diese Entscheidung insbesondere mit
der Systematik (restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände) und Zielsetzung (Vorhersehbarkeit der Gerichtsstände) der EuGVVO.33 Vor dem Hintergrund dieser EuGVVO-spezifischen Argumentation muss die Entscheidung des
EuGH in der Rechtssache „Melzer“ nicht auf § 32 ZPO übertragen werden.34 I.R.d. § 32 ZPO ist eine wechselseitige Handlungsortzurechnung gegenüber Personen mit Wohnsitz in einem Drittstaat also weiterhin möglich.35
Mithin können der E als eine in einem Drittstaat (Brasilien)
ansässige Beklagte die Handlungen der in Düsseldorf ansässigen C zuständigkeitsbegründend zugerechnet werden. Somit
29
BGH NJW 2011, 2059 m. Anm. Brand; Toussaint (Fn. 28),
§ 32 ZPO Rn. 8a; Heinrich (Fn. 27), § 32 ZPO Rn. 15. Hingegen kann der bloße Schadensort keine internationale Zuständigkeit von Gerichten begründen, BGH NJW 1980, 1224
(1225); Vollkommer, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl.
2014, § 32 ZPO Rn. 16.
30
BGH NJW 2011, 2059 f.; Vollkommer (Fn. 29), § 32 ZPO
Rn. 14, 16; vgl. Toussaint (Fn. 28), § 32 ZPO Rn. 7.
31
BGH NJW 1995, 1225 (1226); BGH WM 2011, 1028; BGH
NJW-RR 2011, 548; BGH RIW 2011, 406.
32
EuGH NJW 2013, 2099 (2101) – Melzer. Siehe dazu auch
die überwiegend kritischen Anmerkungen in der Literatur:
v. Hein, IPRax 2013, 505; Weller, LMK 2013, 348154; Wagner, EuZW 2013, 546 f. Zustimmend hingegen Müller, NJW
2013, 2101.
33
EuGH, Urt. v. 16.5.2013 – C-228/11 Rn. 23 ff. und 35 f. –
Melzer; dazu Weller, LMK 2013, 348154; v. Hein, IPRax
2013, 505 (507 ff.).
34
v. Hein, IPRax 2013, 505 (514).
35
v. Hein, IPRax 2013, 505 (514).
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ZJS 4/2014
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Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie
ZIVILRECHT
ist das LG Düsseldorf gem. § 32 ZPO sowohl international
als auch örtlich für die Klage gegen E zuständig.
2. Räumlich
Die Rom II-VO ist als loi uniforme nach Art. 1 Abs. 1, 3
Rom II-VO auch räumlich anwendbar.
2. Sachliche Zuständigkeit
Sachlich ist das LG Düsseldorf zuständig gem. §§ 23, 71
Abs. 1 GVG, § 3 ZPO (vgl. I. 3.).
3. Zeitlich
Die Verletzungshandlungen, die den von A und B geltend
gemachten Ansprüchen zu Grunde liegen, ereigneten sich im
November 2008 und früher. Fraglich ist, ob die Rom II-VO
auf diese Ereignisse zeitlich anwendbar ist.
3. Ergebnis
Das LG Düsseldorf ist für die Klage gegen E zuständig.
IV. Gesamtergebnis Aufgabe 1
Das LG Düsseldorf ist sowohl für die Klage gegen C als auch
für die Klagen gegen D und E zuständig.
Lösungsvorschlag für Aufgabe 2
Fraglich ist, welches Recht auf die von A und B geltend gemachten Ansprüche Anwendung findet. A und B stützen ihre
Ansprüche sowohl auf urheberrechtliche als auch auf lauterkeitsrechtliche Vorschriften.
I. Anwendbarkeit der Rom II-VO36
Die Frage, welches Recht auf die von A und B geltend gemachten Ansprüche anwendbar ist, bestimmt sich nach der
Rom II-VO, wenn diese anwendbar ist.
1. Sachlich
Die Rom II-VO ist anwendbar auf außervertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, Art. 1 Abs. 1 Rom
II-VO. Der Begriff „außervertragliche Schuldverhältnisse“ ist
autonom auszulegen.37 Darunter fallen sowohl urheberrechtliche als auch lauterkeitsrechtliche Ansprüche.38 Gem. Art. 2
Abs. 2, Abs. 3 Rom II-VO sind auch Unterlassungsansprüche
vom Anwendungsbereich der Rom II-VO erfasst.39 Eine Ausnahme nach Art. 1 Abs. 2 Rom-VO ist nicht ersichtlich. Mithin ist die Rom II-VO sachlich anwendbar.
36
An dieser Stelle könnte auch ein Prüfungseinstieg über
Art. 3 EGBGB erfolgen. Dies ist allerdings wegen des generellen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (vgl. dazu die
grundlegende Entscheidung des EuGH (Slg. 1964, 1251
[1269] – Costa/E.N.E.L. = BeckEuRS 1964, 5203) nicht erforderlich; Art. 3 EGBGB ist rein deklaratorischer Natur,
siehe dazu auch Rauscher/Pabst, NJW 2009, 3614 (3619).
Aus diesem Grund wird hier direkt mit der Prüfung der Anwendbarkeit der Rom II-VO begonnen.
37
Vgl. Erwägungsgrund 11 der Rom II-VO; Thorn, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, Art. 1 Rom IIVO Rn. 2.
38
Sack, WRP 2008, 845; ders., WRP 2008, 1405.
39
Thorn (Fn. 37), Art. 2 Rom II-VO Rn. 3; Junker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, Art. 2 Rom IIVO Rn. 7; Wurmnest, in: Juris-Praxis-Kommentar, 6. Aufl.
2012, Art. 2 Rom II-VO Rn. 6; von Hein, ZEuP 2009, 6 (13).
a) Maßgebender Zeitpunkt
Nach Art. 31 Rom II-VO wird die Verordnung auf schadensbegründende Ereignisse angewandt, die nach ihrem Inkrafttreten eingetreten sind. Dabei ist nicht auf den Zeitpunkt des
formellen Inkrafttretens i.S.v. Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV,
also auf den zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung im
Amtsblatt der Europäischen Union (hier am 20.8.2007), abzustellen, sondern auf den Wortlaut des Art. 32 Rom II-VO.40
Dieser bestimmt den Geltungsbeginn der Verordnung auf den
11.1.2009 und damit auf einen Zeitpunkt nach November
2008.
b) Besonderheit für Unterlassungsansprüche
Fraglich ist jedoch, ob die Rom II-VO auf Unterlassungsansprüche angewendet werden kann, über die nach dem
11.1.2009 zu entscheiden ist, die aber aus einem vor diesem
Zeitpunkt gesetzten Verhalten abgeleitet werden.
Nach einer Auffassung soll es nicht auf den Zeitpunkt der
Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs ankommen;
maßgeblich sei allein, ob der Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses bereits vor dem 11.1.2009 wahrscheinlich war.
Sei dies der Fall, so sei die Anwendbarkeit der Rom II-VO
auch dann zu verneinen, wenn die Unterlassungsansprüche
erstmals am oder nach dem 11.1.2009 gerichtlich geltend gemacht wurden.41
Die von A und B behaupteten, schadensbegründenden Ereignisse waren bereits im November 2008 und früher eingetreten, d.h. zeitlich vor Geltungsbeginn der Rom II-VO am
11.1.2009. Das auf die Unterlassungsansprüche anwendbare
Recht wäre demnach nicht nach den Kollisionsnormen der
Rom II-VO zu bestimmen, sondern nach nationalen Regelungen des Internationalen Privatrechts.
Nach anderer Auffassung sollen Unterlassungsansprüche,
über die nach Geltungsbeginn der Rom II-VO zu entscheiden
ist, auch nach den Regeln dieser Verordnung zu beurteilen sein
40
EuGH, Slg. I 2011, 11603 (11635 Rn. 37) – Homawoo =
NJW 2012, 441 (442); Pabst, in: Juris-Praxis-Kommentar,
6. Aufl. 2012, Art. 32 Rom II-VO Rn. 1; Spickhoff, in:
Beck‘scher Online Kommentar zum BGB, Ed. 31, Stand: 1.2.
2013, Art. 32 Rom II-VO Rn. 2; Sujecki, EuZW 2011, 815.
41
Junker (Fn. 39), Art. 32 Rom II-VO Rn. 12; v. Hein, ZEuP
2009, 6 (11 f.); Jakob/Picht, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht – Kommentar zum EuZPR/
EuIPR, 2011, Art. 31, 32 Rom II-VO Rn. 4; Spickhoff (Fn. 40),
Art. 32 Rom II-VO Rn. 3.
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383
ÜBUNGSFÄLLE
Benjamin Hansen
und zwar unabhängig davon, ob der Schadenseintritt bereits
vorher wahrscheinlich war oder nicht.42
Nach dieser Ansicht wäre das – auf die von A und B geltend gemachten Ansprüche – anwendbare Recht nach der
Rom II-VO zu beurteilen, da A und B die Unterlassungsansprüche erst nach dem 11.1.2009, nämlich im Februar 2012
gerichtlich geltend gemacht haben.
Da beide Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, bedarf es einer Entscheidung, welcher Auffassung gefolgt
werden soll.
Für die erste Ansicht spricht zwar, dass Art. 31 Rom IIVO für die zeitliche Anwendbarkeit der Verordnung auf den
Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses und nicht auf
die Geltendmachung von Ansprüchen abstellt.43
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Unterlassungsansprüche stets auf den – wahrscheinlichen – Eintritt zukünftiger Ereignisse gerichtet sind, es bei diesen Ansprüchen also
um ein zukünftiges Verhalten des Anspruchsgegners geht. Vor
diesem Hintergrund erscheint es sachgerechter, die Rom IIVO auf Unterlassungsansprüche anzuwenden, die aus einem
Verhalten abgeleitet werden, welches sich vor dem 11.1.2009
ereignet hat, über die aber erst nach dem diesem Datum entschieden wird.44
c) Zwischenergebnis
Mithin ist die Rom II-VO auch zeitlich auf die von A und B
geltend gemachten Unterlassungsansprüche anwendbar.
4. Zwischenergebnis
Der Anwendungsbereich der Rom II-VO ist eröffnet. Vorrangig anwendbare Rechtsakte i.S.d. Art. 27, 28 Rom II-VO
sind nicht ersichtlich.
II. Anwendbares Recht nach der Rom II-VO
A und B machen urheberrechtliche und lauterkeitsrechtliche
Ansprüche geltend.
1. Urheberrechtliche Ansprüche
Fraglich ist, nach welcher Vorschrift das auf die urheberrechtlichen Ansprüche anwendbare Recht zu bestimmen ist.
a) Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO
Die Parteien haben keine Rechtswahl gemäß Art. 14 Abs. 1
Rom II-VO getroffen. Eine solche Rechtswahl wäre für urheberrechtliche Ansprüche ohnehin gem. Art. 8 Abs. 3 Rom IIVO unbeachtlich.
b) Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO
42
In Betracht kommt somit die Bestimmung des anwendbaren
Rechts nach Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO.
Danach ist auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus
einer Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums nach
dem Grundsatz der lex loci protectionis das Recht des Staates
anzuwenden, für den der Schutz beansprucht wird (sog.
Schutzlandprinzip45). A und B stützen die geltend gemachten
Unterlassungsansprüche unter anderem auf die Verletzung
von Urheberrechten. Urheberrechte sind Rechte des geistigen
Eigentums i.S.d. Art. 8 Rom II-VO.46 Dabei beanspruchen
die Klägerinnen urheberrechtlichen Schutz für Luxemburg und
die Schweiz, also für mehrere Rechtsordnungen. In einem
solchen Fall, wenn also immaterialgüterrechtlicher Schutz für
verschiedene Rechtsordnungen beansprucht wird, ist eine
Mosaikbeurteilung vorzunehmen.47 Danach findet auf die von
A und B geltend gemachten – urheberrechtlichen – Ansprüche
sowohl luxemburgisches als auch schweizerisches Recht Anwendung.
c) Zwischenergebnis
Nach Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO ist auf die von A und B geltend gemachten, auf Urheberrecht beruhenden Ansprüche, sowohl luxemburgisches (hinsichtlich der von A geltend gemachten Ansprüche) als auch schweizerisches Recht (hinsichtlich der von B geltend gemachten Ansprüche) anwendbar.
Unter dem gemäß Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO anzuwendenden
Recht sind gemäß Art. 24 Rom II-VO die Sachnormen des
jeweiligen Staates zu verstehen; eine Rück- oder Weiterverweisung auf eine andere Rechtsordnung kommt somit nicht
in Betracht.
2. Lauterkeitsrechtliche Ansprüche
Zu prüfen ist, welches Recht auf die von A und B geltend
gemachten lauterkeitsrechtlichen Ansprüche anwendbar ist.
a) Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO
Die Parteien haben keine Rechtswahl im Sinne des Art. 14
Abs. 1 Rom II-VO getroffen. Zwar wird für bilaterale Wettbewerbsverletzungen die Möglichkeit einer Rechtswahl trotz
des eindeutigen Ausschlusses in Art. 6 Abs. 4 Rom II-VO teilweise bejaht.48 Unabhängig davon, ob vorliegend die Voraussetzungen einer bilateralen Wettbewerbsverletzung erfüllt sind
(dazu sogleich) und ob dieser Ansicht gefolgt werden kann,
bestehen im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für eine
solche Vereinbarung.
45
BGH NJW 2009, 3371 (3372); OGH GRUR Int. 2012, 468
(471).
43
Vgl. Junker (Fn. 39), Art. 32 Rom II-VO Rn. 12; v. Hein,
ZEuP 2009, 6 (11).
44
OGH GRUR Int. 2012, 468 (471); vgl. BGH NJW 2009,
3371 (3372).
Thorn (Fn. 37), Art. 8 Rom II-VO Rn. 1; Spickhoff (Fn. 40),
Art. 8 Rom II-VO Rn. 4.
46
Vgl. Erwägungsgrund 26 der Rom II-VO.
47
Siehe dazu OGH GRUR Int. 2013, 668 (670); OGH GRUR
Int. 2012, 468 (472); Thorn (Fn. 37), Art. 8 Rom II-VO Rn. 7;
Sack, WRP 2008, 1405 (1414).
48
Spickhoff (Fn. 40), Art. 6 Rom II-VO Rn. 8; Thorn (Fn. 37),
Art. 6 Rom II-VO Rn. 19; a.A. v. Hein, RabelsZ 73 (2009),
461 (500); Sack, GRUR Int. 2013, 601 (603); ders., WRP
2008, 845 (851).
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ZJS 4/2014
384
Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie
b) Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO
Das auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche anwendbare
Recht könnte jedoch nach Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO zu beurteilen sein.
Art. 6 Rom II-VO enthält sowohl Kollisionsnormen für
das Lauterkeitsrecht (Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Rom II-VO)
als auch für das Kartellprivatrecht (Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO).
Zur Abgrenzung der beiden Rechtsgebiete kommt es darauf
an, ob Gegenstand des Verfahrens die Regulierung eines bestimmten Verhaltens von Mitbewerbern auf einem Wettbewerbsmarkt ist (Lauterkeitsrecht) oder ob ein solcher Markt
erst hergestellt bzw. erhalten werden soll (Kartellprivatrecht).49
A und B wehren sich gegen ein bestimmtes Verhalten seitens ihrer Mitbewerber C, D und E auf dem Markt der Solartechnik, nämlich gegen die Vervielfältigung und die Verbreitung von technischen Zeichnungen und Schriftstücken. Mit
den geltend gemachten Unterlassungsansprüchen verfolgen A
und B also das Ziel, das Verhalten auf dem Markt zu regulieren. Ihnen geht es nicht darum, einen solchen Markt herzustellen oder zu erhalten, d.h. nicht um kartellrechtliche Ziele
im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO.
Eine weitere Abgrenzung ist zwischen Art. 6 Abs. 1 Rom
II-VO und Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO vorzunehmen. Während
Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO eine allgemeine Regelung für unlauteres Wettbewerbsverhalten enthält, betrifft Art. 6 Abs. 2
Rom II-VO nur solche Wettbewerbshandlungen, die ausschließlich die Interessen eines bestimmten Wettbewerbers
beeinträchtigen (sog. bilaterales unlauteres Wettbewerbsverhalten).50 Dabei ist Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO ebenfalls einschlägig, wenn sich das wettbewerbswidrige Verhalten gegen
zwei – bestimmte – Konkurrenten eines Konzerns richtet.51
Die von A und B behauptete Vervielfältigung und Verbreitung von technischen Zeichnungen und Schriftstücken stellt
ein ausschließlich gegen ihre Interessen gerichtetes Verhalten
der Beklagten da. Auswirkungen auf den Markt der Solartechnik sind allenfalls mittelbar. Dies steht einer Einordnung
als rein betriebsbezogene, bilaterale Wettbewerbshandlung jedoch nicht entgegen. Der Anwendungsbereich des Art. 6
Abs. 2 Rom II-VO umfasst auch gezielt gegen einen Konkurrenten gerichtete Wettbewerbshandlungen mit mittelbarem
„Auch-Marktbezug“.52
Das auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche anwendbare
Recht richtet sich demnach nicht nach dem Marktortprinzip
des Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO, sondern gemäß Art. 6 Abs. 2
Rom II-VO nach dem allgemeinen Deliktsstatut des Art. 4
Rom II-VO.
49
Vgl. Thorn (Fn. 37), Art. 6 Rom II-VO Rn. 5; vgl. Spickhoff
(Fn. 40), Art 6. Rom II-VO Rn. 3.
50
Sack, WRP 2008, 845, 846; Spickhoff (Fn. 40), Art. 6 Rom
II-VO Rn. 4 ff.
51
OGH GRUR Int. 2012, 468 (472).
52
BGH GRUR Int. 2010, 882 (884); Thorn (Fn. 37), Art. 6
Rom II-VO Rn. 17; Sack, GRUR Int. 2012, 601 (605); Lindacher, GRUR Int. 2008, 453 (457).
ZIVILRECHT
Innerhalb der allgemeinen Kollisionsnorm des Art. 4 Rom
II-VO ist vorrangig Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO zu prüfen.53
Diese Vorschrift bestimmt das anwendbare Recht für die
Fälle, in denen der Geschädigte und der (mutmaßliche) Schädiger ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt des Schadenseintritts in demselben Staat haben. Alle Beteiligten des
Rechtsstreits haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne
des Art. 23 Abs. 1 Rom II-VO in unterschiedlichen Staaten.
Eine Anknüpfung nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO scheidet
demnach aus.
Folglich ist das auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche
anwendbare Recht nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO zu bestimmen. Gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder
indirekte Schadensfolgen eingetreten sind. Maßgeblich ist
also allein der Erfolgsort.54
Fraglich ist, wie der Erfolgsort im Rahmen von Art. 6
Abs. 2 Rom II-VO zu bestimmen ist.
Denkbar erscheint, als Erfolgsort i.S.d. Art. 6 Abs. 2 i.V.m.
Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO – wie für Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO
– den Marktort zu verstehen.55
Für diese Ansicht spricht, dass Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO
nach Erwägungsgrund 21 der Rom II-VO keine Ausnahme
von der allgemeinen Regel nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO
darstellen, sondern diese lediglich konkretisieren soll.56
Die überwiegende Auffassung geht hingegen davon aus,
dass der Erfolgsort des Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1
Rom II-VO am Ort der Niederlassung der betroffenen Geschädigten zu lokalisieren ist.57
Folgte man der ersten Auffassung, liefe die umfassende
Verweisung auf Art. 4 Rom II-VO in Art. 6 Abs. 2 Rom IIVO teilweise ins Leere. So verweist diese Vorschrift auch auf
Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO. Sollte der Erfolgsort im Rahmen
des Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO
ebenso verstanden werden, wie für Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO,
so hätte Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO nur auf Art. 4 Abs. 2 und
Abs. 3 Rom II-VO verweisen können. Dies zeigt, dass der
Erfolgsort für bilaterale Wettbewerbsverletzungen abweichend
vom Marktortprinzip zu bestimmen sein sollte.58
53
Junker (Fn. 39), Art. 4 Rom II-VO Rn. 7 f.; Thorn (Fn. 37),
Art. 4 Rom II-VO Rn. 4.
54
Spickhoff (Fn. 40), Art. 4 Rom II-VO Rn. 6; Junker (Fn. 39),
Art. 4 Rom II-VO Rn. 18; ders., NJW 2007, 3675 (3678).
55
Fezer/Koos, in: Staudinger, Internationales Wirtschaftsrecht,
2010, Rn. 662; ähnlich Spickhoff (Fn. 40), Art. 6 Rom II-VO
Rn. 6.
56
Fezer/Koos (Fn. 55), Rn. 662.
57
OGH GRUR Int. 2012, 468 (472); Drexl, in: Münchener
Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, Internationales Recht
gegen den unlauteren Wettbewerb Rn. 157; Sack, WRP 2008,
845 (850); wohl auch Dörner, in: Schulze u.a., Handkommentar zum BGB, 7. Aufl. 2012, Art. 6 Rom II-VO Rn. 7.
58
Vgl. OGH GRUR Int. 2012, 468 (472); Unberath/Cziupka,
in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht
– Kommentar zum EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 6 Rom II-VO
Rn. 46.
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385
ÜBUNGSFÄLLE
Benjamin Hansen
Damit streiten die besseren Argumente dafür, den Erfolgsort im Sinne des Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1
Rom II-VO am Ort der Niederlassung der betroffenen Wettbewerber zu lokalisieren.
A hat ihren Sitz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Rom II-VO
und damit die für Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Rom IIVO relevante Niederlassung in Luxemburg, B in Zürich.
Daraus ergibt sich, dass auf die von A geltend gemachten
lauterkeitsrechtlichen Ansprüche luxemburgisches Recht Anwendung findet; die von B geltend gemachten Ansprüche sind
hingegen nach schweizerischem Recht zu beurteilen.
Eine offensichtlich engere Verbindung gemäß Art. 6 Abs. 2
in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO ist nicht ersichtlich.
Somit bleibt es dabei, dass auf die von A geltend gemachten lauterkeitsrechtlichen Ansprüche luxemburgisches Recht
Anwendung findet und auf die von B wegen unlauteren Wettbewerbsverhaltens geltend gemachten Ansprüche schweizerisches Recht. Anwendbar ist gem. Art. 24 Rom II-VO das jeweilige Sachrecht.
III. Gesamtergebnis Aufgabe 2
Die von A und B geltend gemachten urheberrechtlichen Ansprüche sind nach luxemburgischem bzw. schweizerischem
Recht zu beurteilen. Auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche
der A ist luxemburgisches Recht anwendbar, auf die der B
schweizerisches Recht.
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ZJS 4/2014
386
Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen natürlicher Personen*
Von Prof. Dr. Markus Ludwigs, Wiss. Mit. Richard Lauer, Würzburg**
Konkrete Normenkontrolle – Allgemeiner Gleichheitssatz –
Garantie effektiven Rechtsschutzes – Unschuldsvermutung –
Grundsatz des ne bis in idem
Sachverhalt
Ende Januar 2013 trat eine Neufassung von § 81 Abs. 6 des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in Kraft,
mit der die Verzinsungspflicht von Kartellgeldbußen auch auf
natürliche Personen erstreckt wurde. Die Regelung lautet wie
folgt (Änderungen kursiv):
„(6) Im Bußgeldbescheid festgesetzte Geldbußen gegen
natürliche Personen sowie juristische Personen und Personenvereinigungen sind zu verzinsen; die Verzinsung beginnt zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheides. § 288 Absatz 1 Satz 2 und § 289 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind entsprechend anzuwenden.“
Zur Begründung heißt es im Gesetzesentwurf:
„Wer gegen Kartellrecht verstößt, muss mit empfindlichen
Geldbußen rechnen. Werden die kartellbehördlich verhängten Geldbußen nicht zeitnah beglichen, wird der Bußgeldschuldner mit einer Verzinsungspflicht gemäß § 81 Abs. 6
GWB belastet. Hiermit soll der verbreiteten Praxis entgegengewirkt werden, Einspruch gegen den Bußgeldbescheid
einzulegen, nur um ihn kurz vor der gerichtlichen Entscheidung zurückzunehmen. Durch ein solches Vorgehen
wird die Zahlung der Geldbuße hinausgezögert, wobei der
Zeitgewinn regelmäßig zu erheblichen Zinsvorteilen führt.
Die Verzinsungspflicht entfaltet somit erstens eine Abschreckungswirkung vor dieser missbräuchlichen Einlegung von Rechtsbehelfen. Zweitens werden entstandene
Zinsvorteile abgeschöpft. Die Regelung des § 81 Abs. 6
GWB muss auch gegenüber natürlichen Personen gelten,
da auch bei ihnen ein Anreiz bestehen könnte, die Zahlung
der Geldbuße hinauszuzögern.“
Im April 2013 fielen dem zuständigen Bundeskartellamt (BKartA) nach einem anonymen Hinweis ungewöhnliche Preisänderungen bei den Produkten Fass- und Flaschenbier in der
Bierbrauerei des Einzelkaufmannes Gorandy (G) auf. Nach
Durchsuchen der Büroräume des G ergab sich, dass dieser mit
anderen Bierbrauereien seit Februar 2013 Absprachen über
beabsichtigte Preiserhöhungen getroffen hatte.
Das BKartA setzte daraufhin mit Bescheid vom 25.4.2013
gegen G eine Geldbuße in Höhe von 27.500 Euro wegen vor* Die Hausarbeit wurde im Sommersemester 2014 an der
Universität Würzburg gestellt. Für wertvolle Diskussionen
danken die Verf. Herrn Wiss. Mitarbeiter Johannes Grell.
** Prof. Dr. Markus Ludwigs ist Inhaber des Lehrstuhls für
Öffentliches Recht und Europarecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Richard Lauer ist Wiss. Mitarbeiter und Doktorand an diesem Lehrstuhl.
sätzlichen Verstoßes gegen das Kartellverbot fest. Hiergegen
legte G Einspruch ein. Bevor es aber zu einer Entscheidung
des zuständigen Kartellgerichts kommen konnte, nahm G den
Einspruch aus Angst vor einer gerichtlichen Erhöhung des
Bußgeldes zurück und zahlte in der Folgezeit das Bußgeld in
Höhe von 27.500 Euro.
Am 18.12.2013 forderte das BKartA sodann G auf, die –
korrekt berechneten – Zinsen in Höhe von 750 Euro auf das
festgesetzte Bußgeld gemäß § 81 Abs. 6 GWB n.F. zu bezahlen. Hiergegen erhob G am 27.12.2013 Einwendungen vor
dem zuständigen Oberlandesgericht (OLG). Das OLG setzte
das Verfahren aus, da es die Neufassung von § 81 Abs. 6 GWB
für unvereinbar mit dem Grundgesetz hielt, und legte dem
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage am 31.1.2014
zur Entscheidung vor.
Das OLG sieht vor allem den Gleichheitssatz in mehrfacher
Hinsicht verletzt. Erstens sei es unzulässig, natürliche Personen
mit juristischen Personen und Personenvereinigungen gleichzusetzen. Hierbei handele es sich um eine nicht zu rechtfertigende Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem. Insoweit
weist das Gericht wahrheitsgemäß darauf hin, dass in der Praxis die gegen natürliche Personen verhängten Geldbußen in
der Höhe nicht annähernd das Niveau erreichen, wie gegenüber juristischen Personen und Personenvereinigungen. Zweitens resultiert nach Ansicht des OLG ein Verstoß daraus, dass
– was in der Sache zutrifft – natürliche Personen als Schuldner
einer Geldbuße in anderen Rechtsgebieten (d.h. außerhalb des
Kartellrechts) keine Verzinsungspflicht trifft. Bei § 81 Abs. 6
GWB n.F. handele es sich um eine nicht zu rechtfertigende
Sondernorm.
Neben der gleichheitsrechtlichen Argumentation rekurriert
das OLG darauf, dass § 81 Abs. 6 GWB n.F. eine unzumutbare Erschwerung des Rechtsschutzes für natürliche Personen
zur Folge habe. Es bestehe die Gefahr, dass von der Einlegung eines Einspruchs aus Furcht vor einer drohenden Zinsbelastung abgesehen werde. Im Übrigen müsse die von einer
Kartellgeldbuße betroffene natürliche Person in Erwägung ziehen, dass sie nach Einspruchserhebung einer möglicherweise
drohenden gerichtlichen Erhöhung des Bußgeldes nur auf Kosten einer Verzinsung der angegriffenen Geldbuße zu entgehen vermag. Einzelne Betroffene könnten hierdurch von der
Inanspruchnahme von Rechtsschutz abgehalten werden.
Des Weiteren nimmt das OLG auch eine Verletzung der
Unschuldsvermutung an, weil die Verzinsungspflicht bei Einspruchserhebung zwei Wochen nach Zustellung des Bescheids
zu laufen beginne, obwohl die Geldbuße infolge der Einspruchserhebung gerade nicht bestandskräftig werde. Außerdem sei auch der Art. 103 Abs. 3 GG verletzt, da für die natürliche Person durch die Verzinsungspflicht neben der Geldbuße eine zusätzliche Sanktion entstünde.
Schließlich weist das Gericht darauf hin, dass das Gesetz
auch formell verfassungswidrig sei, weil der Gesetzentwurf –
was in der Sache zutrifft – zwar von der Bundesregierung ausgearbeitet, zur Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens
aber von einer der Regierungsfraktionen in den Bundestag eingebracht wurde.
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387
ÜBUNGSFALL
Markus Ludwigs/Richard Lauer
Wie wird das Bundesverfassungsgericht über die Vorlage
des Oberlandesgerichts vom 31.1.2014 entscheiden?
den Antrag nach Art. 100 Abs. 1 GG beim BVerfG, so dass
die Vorlageberechtigung zu bejahen ist.
Bearbeitervermerk
In einem Rechtsgutachten ist auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Probleme einzugehen, notfalls hilfsgutachtlich. Andere als die vom OLG vorgetragenen Gründe sind nicht zu
erörtern. Für den vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass
das Urteil des BVerfG v. 19.12.2012 – 1 BvL 18/11 zu § 81
Abs. 6 GWB a.F. in keiner Hinsicht entgegenstehende Rechtsoder Gesetzeskraft entfaltet.
III. Vorlagegegenstand
Als vorlagefähige Norm kommen nur formelle, nachkonstitutionelle Bundes- oder Landesgesetze in Betracht. Bei § 81
Abs. 6 GWB n.F. handelt es sich um ein vom Bundestag (unter Mitwirkung des Bundesrats) erlassenes formelles Bundesgesetz. Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB erfolgte laut
Sachverhalt Ende Januar 2013 und hat daher – ebenso wie die
am 1.1.1958 in Kraft getretene Urfassung des GWB – nachkonstitutionellen Charakter (vgl. Art. 145 Abs. 2 GG). Es handelt sich damit um eine vorlagefähige Norm.
Schwerpunkte und Bewertung der Klausur
Die Schwerpunkte der prozessual in eine konkrete Normenkontrolle eingekleideten staatsrechtlichen Anfängerhausarbeit
liegen in der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes und
der Garantie effektiven Rechtsschutzes. Mit Blick auf Art. 3
Abs. 1 GG gilt es präzise zwischen der Ungleichbehandlung
vergleichbarer Sachverhalte und der Gleichbehandlung nicht
vergleichbarer Sachverhalte zu differenzieren. Darüber hinaus ist auf Rechtfertigungsebene der jeweils einschlägige
Prüfungsmaßstab zu bestimmen. Die Schwierigkeit bei Art. 19
Abs. 4 GG besteht in der Frage, ob ein Eingriff oder eine
gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsweges vorliegt. Abgerundet wird die Klausur durch eine Prüfung der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung und des Verbots der
Doppelbestrafung (ne bis in idem) aus Art. 103 Abs. 3 GG.
Von den Studierenden wurde eine Verarbeitung des Sachverhalts, die reflektierte Berücksichtigung der BVerfG-Entscheidung zu juristischen Personen und Personenvereinigungen (Beschl. v. 19.12.2012 – 1 BvL 18/11 = NJW 2013, 1418),
eine problembewusste Argumentation und ein sauberer Gutachtenstil erwartet. In der Hausarbeit wurde ein Durchschnitt
von 6,85 Punkten erreicht. Die Durchfallquote lag bei 11,5 %.
Lösung
Das BVerfG wird die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB
gemäß § 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 BVerfGG für nichtig erklären,
wenn die Vorlage des OLG vom 31.1.2014 als konkrete
Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11,
80 ff. BVerfGG zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit
Die Zuständigkeit des BVerfG für konkrete Normenkontrollen
folgt aus Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG.
II. Vorlageberechtigung
Den Antrag nach Art. 100 Abs. 1 GG können nur Gerichte
stellen. Darunter fallen alle Spruchstellen, die sachlich unabhängig in einem formell gültigen Gesetz mit den Aufgaben
eines Gerichts betraut und als Gerichte (vgl. Art. 92 GG) bezeichnet sind.1 Vorliegend stellt ein OLG (§§ 115 ff. GVG)
1
BVerfGE 6, 55 (63); 30, 170 (171 f.); aus der Literatur statt
vieler Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011,
IV. Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes
Das OLG muss gemäß Art. 100 Abs. 1 GG von der Verfassungswidrigkeit des vorzulegenden Gesetzes überzeugt sein.
Bloße Zweifel oder Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit reichen nicht aus.2 Laut Sachverhalt hielt das OLG
die Neufassung von § 81 Abs. 6 GWB für unvereinbar mit
dem Grundgesetz, so dass auch diese Voraussetzung erfüllt ist.
V. Entscheidungserheblichkeit des Gesetzes
Art. 100 Abs. 1 GG setzt weiterhin voraus, dass es auf die
„Gültigkeit“ des Gesetzes bei der Entscheidung ankommt.
Hiervon ist auszugehen, wenn sich bei Anwendung des § 81
Abs. 6 GWB n.F. ein anderes Ergebnis ergibt als bei dessen
Nichtanwendung.3
Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen des § 81
Abs. 6 GWB n.F. gegeben. G ist als Einzelkaufmann (§ 1
Abs. 1 HGB) eine natürliche Person, die ein Handelsgewerbe
(§ 1 Abs. 2 HGB) und damit ein Unternehmen betreibt. Er
wurde ursprünglich wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das
Kartellverbot (§ 1 GWB) durch Bescheid vom 25.4.2013 mit
einer Geldbuße in Höhe von 27.500 Euro belastet. G erhob
Einspruch, nahm diesen aber im Laufe des gerichtlichen Verfahrens zurück und zahlte die Geldbuße. Für die Zeit von der
Einspruchserhebung bis zur Zahlung der Geldbuße unterliegt
G damit der Zinszahlungspflicht nach § 81 Abs. 6 GWB in
seiner Neufassung. Wäre § 81 Abs. 6 GWB n.F. verfassungswidrig und nichtig, unterläge G dagegen keiner Zinszahlungspflicht in Höhe von 750 Euro. Die Entscheidung des Gerichtes würde anders ausfallen. Für die fachgerichtliche Entscheidung kommt es mithin gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auf die
Gültigkeit des § 81 Abs. 6 GWB n.F. an.
Rn. 579; Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für
die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 13. Aufl. 2014,
Art. 100 Rn. 5.
2
St. Rspr.; vgl. z.B. BVerfGE 78, 104 (117); 86, 52 (57);
107, 218 (232); Ipsen, Staatsrecht I, 25. Aufl. 2013, Rn. 945;
Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Stellung,
Verfahren, Entscheidungen, 9. Aufl. 2012, Rn. 145.
3
BVerfGE 22, 175 (176 f.); 91, 118 (121); Hillgruber/Goos
(Fn. 1), Rn. 602.
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ZJS 4/2014
388
Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen
VI. Form
Die Form der Vorlage zum BVerfG richtet sich nach §§ 80
Abs. 2 S. 1, 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG. Das vorlegende Gericht
hat (schriftlich) zu begründen, inwiefern seine Entscheidung
von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängig und mit welchen übergeordneten Rechtsnormen sie unvereinbar ist.4 Der
Vorlagebeschluss muss zudem aus sich heraus ohne Bezugnahme auf die Akten (§ 80 Abs. 2 S. 2 BVerfGG) verständlich sein.5
Im Fall führt das OLG zur Begründung aus, mit welchen
übergeordneten Rechtsnormen es die Neufassung des § 81
Abs. 6 GWB für unvereinbar hält. Von einer Darlegung der
Entscheidungserheblichkeit des Gesetzes und der Verständlichkeit des Vorlagebeschlusses ist mangels gegenteiliger Angaben
im Sachverhalt auszugehen. Der Antrag des OLG auf konkrete
Normenkontrolle ist damit zulässig.
B. Begründetheit
Die konkrete Normenkontrolle des OLG ist begründet, wenn
§ 81 Abs. 6 GWB n.F. formell und/oder materiell mit dem
Grundgesetz unvereinbar ist, Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG. Laut
Bearbeitervermerk ist die Prüfung auf die im Sachverhalt vom
OLG vorgetragenen Gründe zu beschränken.6
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Fraglich ist zunächst, ob die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB
formell verfassungsmäßig ist. Dafür müsste der Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz gehabt haben und die
Norm müsste in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande
gekommen sein.
1. Gesetzgebungskompetenz
In Betracht kommt eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes gemäß Art. 72, 74 GG. Für die kartellrechtliche Norm des § 81 Abs. 6 GWB müsste dann ein
Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 GG einschlägig sein.
Denkbar erscheint hier insbesondere eine Subsumtion unter
die „Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG. Als problematisch
könnte sich aber insoweit erweisen, dass die Verzinsungspflicht an den Bußgeldbescheid anknüpft, der eine repressive
Maßnahme darstellt.
Im Schrifttum ist umstritten, ob Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG
neben der Vorbeugung, Prävention und Gefahrenabwehr auch
die Schadensbeseitigung und Repression umfasst.7 Für ein
enges Verständnis lässt sich auf den ersten Blick der Wortlaut
4
BVerfGE 68, 311 (316); 83, 111 (116).
Vgl. BVerfGE 69, 185 (187); 93, 121 (132); Pieroth (Fn. 1),
Art. 100 Rn. 16.
6
Zur grundsätzlich fehlenden Bindung des BVerfG an die
vom vorlegenden Gericht geltend gemachten Nichtigkeitsgründe vgl. BVerfGE 67, 1 (11); 93, 121 (133); 120, 125
(144); Schlaich/Korioth (Fn. 2), Rn. 163.
7
Näher insb. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.),
Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 74
Rn. 116 m.w.N.
5
ÖFFENTLICHES RECHT
der Vorschrift („Verhütung“) anführen. Andererseits spricht
die teleologische Auslegung für eine Einbeziehung auch der
Beseitigung bzw. Ahndung des Missbrauchs wirtschaftlicher
Machtstellungen in den Kompetenztitel.8 Der Grund hierfür
ist, dass „die Verfassung nicht das eine bekämpfen, das andere aber tolerieren will“.9
Selbst wenn man hier also unter Rekurs auf die Verknüpfung der – für sich betrachtet präventiven (weil auf Abschreckung vor missbräuchlicher Rechtsbehelfseinlegung bzw. auf
Vorteilsabschöpfung ausgerichteten) – Zinszahlungspflicht mit
dem Bußgeldbescheid von einer repressiven Maßnahme ausgehen wollte, würde dies an der Einschlägigkeit des Art. 74
Abs. 1 Nr. 16 GG nichts ändern. Der Bund hat somit im
Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz gehandelt.10
2. Gesetzgebungsverfahren
Im Weiteren ist fraglich, ob das Gesetzgebungsverfahren i.S.d.
Art. 76 ff. GG ordnungsgemäß durchlaufen wurde. Das OLG
macht insoweit geltend, dass die Neufassung des § 81 Abs. 6
GWB zwar von der Bundesregierung ausgearbeitet, dann aber
zu Beschleunigungszwecken von einer Regierungsfraktion
„aus der Mitte des Bundestages“ gemäß Art. 76 Abs. 1 Alt. 2
GG eingebracht wurde. Die Konsequenzen einer solchen „verkappten“ Regierungsvorlage, die eine vorherige Zuleitung des
Gesetzentwurfs an den Bundesrat nach Art. 76 Abs. 2 S. 1
GG entbehrlich macht, sind im Schrifttum umstritten.
Nach einer Ansicht ist ein solches Vorgehen als unzulässige Umgehung des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG zu qualifizieren.
Die Regelung soll daher analog angewendet werden.11 Für
diese Sichtweise wird vorgebracht, dass Zweck des Art. 76
Abs. 2 S. 1 GG die Ermöglichung einer frühzeitigen sachverständigen Kontrolle durch den Bundesrat sei. Für den Fall
einer besonderen Eilbedürftigkeit treffe bereits Art. 76 Abs. 2
S. 4 GG hinreichend Vorsorge.
Eine differenzierende Ansicht will demgegenüber danach
unterscheiden, ob die Einbringung der Vorlage von der Regie8
In diese Richtung BGH NJW 1987, 266 (267); Oeter (Fn. 7),
Art. 74 Rn. 116; Pieroth (Fn. 1), Art. 74 Rn. 40; Seiler, in:
Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck‘scher Online-Kommentar
GG, Edition 21 (Stand: 1.6.2014), Art. 74 Rn. 57; a.A. Maunz,
in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, 69. EL
2013, Art. 74 Rn. 192.
9
Stettner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2,
2006, Art. 74 Rn. 78.
10
Vertretbar wäre es hier auch, die Einschlägigkeit des Art. 74
Abs. 1 Nr. 16 GG mit der Begründung zu verneinen, dass es
beim Kartellverbot des § 1 GWB (dessen Verletzung zum
Bußgeldbescheid und damit letztlich auch zur Zinszahlungspflicht geführt hat) nicht auf das Vorliegen einer „wirtschaftlichen Machtstellung“ ankommt. Dann wäre aber an Art. 74
Abs. 1 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft) zu denken, wobei
zusätzlich eine Prüfung des Art. 72 Abs. 2 GG (dessen Voraussetzungen hier vorliegen) erfolgen müsste.
11
Vgl. Dietlein, in: Epping/Hillgruber (Fn. 8), Art. 76 GG
Rn. 31; Hömig, in: Hömig (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2010,
Art. 76 Rn. 6; Masing, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 7),
Art. 76 Rn. 97 ff.
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389
ÜBUNGSFALL
Markus Ludwigs/Richard Lauer
rungsfraktion aus sachlichen Gründen oder gezielt zur Umgehung des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG erfolgt.12 Nur im letztgenannten (Umgehungs-)Fall sei eine analoge Anwendung des
Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG angezeigt. Eine derartige Differenzierung erscheint in der Praxis allerdings kaum durchführbar
und kann daher nicht überzeugen.13
Die herrschende Meinung sieht in einer „verkappten“ Regierungsvorlage keine unzulässige Umgehung.14 Ein Bedürfnis
nach analoger Anwendung von Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG wird
folgerichtig verneint. Hierfür spricht im Ausgangspunkt bereits
der formal an „Vorlagen der Bundesregierung“ anknüpfende
Wortlaut des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG. Indem sich die einzelnen Abgeordneten eine von der Regierung erarbeitete Vorlage
zu eigen machen, übernehmen sie die politische Verantwortung. Dies stellt einen zulässigen Gebrauch vom Gesetzesinitiativrecht der Abgeordneten nach Art. 76 Abs. 1 Alt. 2 GG
dar. Im Übrigen werden die Rechte des Bundesrates im weiteren Gesetzgebungsverfahren ausreichend gewahrt. Zudem
verfügt dieser im Rahmen des Art. 43 Abs. 2 GG über eine
weitere Mitwirkungsmöglichkeit. Schließlich bleiben die Einspruchs- und Zustimmungsrechte des Bundesrates unberührt,
Art. 77 GG.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Gesetzgebungsverfahren i.S.d. Art. 76 ff. GG ordnungsgemäß durchlaufen wurde. Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB ist formell verfassungsmäßig.15
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Klärungsbedürftig ist sodann, ob § 81 Abs. 6 GWB n.F. auch
materiell verfassungsmäßig ist. Dies setzt voraus, dass die
12
Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2013, § 17 Rn. 62 f.; Mann,
in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011,
Art. 76 Rn. 24 ff.; Stettner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz,
Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 76 Rn. 13.
13
Vgl. Kersten, in: Maunz/Dürig (Fn. 8), Art. 76 Rn. 113.
14
BVerfGE 30, 250 (260 f.); Degenhart, Staatsrecht I, 29.
Aufl. 2013, Rn. 219; Ipsen (Fn. 2), Rn. 226; Kersten (Fn. 13),
Art. 76 Rn. 113; Pieroth (Fn. 1), Art. 76 Rn. 3; Sannwald, in:
Schmidt-Bleibtreu/Klein/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 12. Aufl. 2011, Art. 76 Rn. 39, 45.
15
Geht ein Bearbeiter/eine Bearbeiterin (mit entsprechender
Begründung vertretbar) von einer Unzulässigkeit der „verkappten“ Regierungsvorlage aus, ist anschließend die Schwere
des Verfahrensmangels anzusprechen. Das Gesetz ist bei einem Verstoß gegen Vorgaben des Art. 76 GG nur dann nichtig,
wenn es sich um eine verfassungsrechtlich zwingende Regelung handelt und der Gesetzesbeschluss auf dem Verstoß
hiergegen beruht, BVerfGE 44, 308 (313); Kersten (Fn. 13),
Art. 76 Rn. 117. Vorliegend ist insoweit zu beachten, dass die
Stellungnahme des Bundesrates gemäß Art. 76 Abs. 2 S. 1, 2
GG nur vorläufig ist und keine anderen Organe bindet, vgl.
Pieroth (Fn. 1), Art. 76 Rn. 7. Somit stellt die Umgehung des
Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG keinen substantiellen Verfahrensmangel und damit auch keinen zur Ungültigkeit des Gesetzes
führenden Verstoß gegen eine verfassungsrechtlich zwingende
Regelung dar, siehe Dietlein (Fn. 11), Art. 76 Rn. 32; Masing
(Fn. 11), Art. 76 Rn. 102.
Regelung in inhaltlicher Hinsicht nicht gegen das Grundgesetz
verstößt.
1. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG
Vorliegend kommt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowohl im Hinblick auf eine unzulässige Gleichbehandlung als
auch wegen einer unzulässigen Ungleichbehandlung in Betracht. Die Einschlägigkeit vorrangiger spezieller Gleichheitssätze ist nicht ersichtlich.
a) Unzulässige Gleichbehandlung
Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz könnte zunächst
im Hinblick auf die Gleichstellung natürlicher Personen mit
juristischen Personen und Personenvereinigungen gegeben
sein. Der Gleichheitssatz gebietet, „Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln“16. Vorliegend könnte mithin eine unzulässige Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte vorliegen.
aa) Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte
In einem ersten Schritt ist zu klären, ob eine Gleichbehandlung
nicht vergleichbarer Sachverhalte vorliegt.
(1) Gleichbehandlung
Von einer Gleichbehandlung ist auszugehen, wenn für die
beiden zu vergleichenden Gruppen eine gleiche Rechtsfolge
eintritt.17
Für natürliche Personen und juristische Personen bzw.
Personenvereinigungen kann in ihrer jeweiligen Eigenschaft
als Bußgeldschuldner dieselbe Rechtsfolge, nämlich die Pflicht
zur Verzinsung des Bußgeldes entstehen. Infolge der Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB trifft diese Pflicht auch natürliche
Personen. Die Verzinsungspflicht des Bußgeldes beginnt zwei
Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheids und läuft bis
zur endgültigen Zahlung des Bußgeldes bzw. bei Einspruchserhebung bis zum Ergehen eines rechtskräftigen Urteils des
Kartellgerichts. Für beide Gruppen entsteht mithin die gleiche
Rechtsfolge, nämlich die Zinszahlungspflicht. Es liegt folglich
eine rechtliche Gleichbehandlung natürlicher Personen einerseits sowie juristischer Personen und Personenvereinigungen
andererseits vor.
(2) Nicht vergleichbare Sachverhalte
Des Weiteren müsste es sich um zwei nicht vergleichbare
Sachverhalte handeln.18 Dagegen könnte sprechen, dass jeweils
16
BVerfGE 3, 58 (135); 42, 64 (72); Epping, Grundrechte,
5. Aufl. 2012, Rn. 777.
17
Vgl. Epping (Fn. 16), Rn. 784 f.; Englisch, in: Stern/Becker,
Grundrechte-Kommentar, 2009, Art. 3 Rn. 41.
18
Teilweise wird vertreten, dass an dieser Stelle noch näher
zu prüfen ist, ob es sich auch um wesentlich ungleiche Sachverhalte handelt (vgl. z.B. Michael/Morlok, Grundrechte,
3. Aufl. 2012, Rn. 791). Nach wohl herrschender Meinung
(Heun, in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1,
3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 24; Jarass, in: Jarass/Pieroth [Fn. 1],
Art. 3 Rn. 7; Osterloh, in: Sachs [Fn. 12], Art. 3 Rn. 82;
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ZJS 4/2014
390
Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen
dieselbe Fallgestaltung in Rede steht.19 Die Verzinsungspflicht
knüpft an ein bußgeldbewehrtes kartellrechtswidriges Verhalten natürlicher Personen wie auch juristischer Personen und
Personenvereinigungen an. Auch bei natürlichen Personen besteht zumindest die theoretische Möglichkeit, dass die Geldbuße eine Höhe erreicht, bei der es sich lohnt, missbräuchlich
einen Rechtsbehelf einzulegen, um durch den entstehenden
Zeitgewinn Zinsvorteile zu erzielen.
Gegen diese Argumentation und für das Vorliegen eines
ungleichen Sachverhalts lässt sich aber vor allem die Praxis
der Verhängung von Kartellgeldbußen anführen. Laut Sachverhalt erreichen diese gegenüber natürlichen Personen nicht
annähernd das Niveau, wie bei juristischen Personen und
Personenvereinigungen. Infolge der deutlich geringeren Höhe
der Geldbußen bleiben auch die durch eine Verzögerung des
Eintritts der Bestandskraft erzielbaren finanziellen Vorteile begrenzt. Außerdem können bei der Durchführung eines Einspruchsverfahrens durch die Pflicht zum Erscheinen in der
Hauptverhandlung (vgl. § 73 Abs. 1 OWiG) erhebliche persönliche Belastungen für natürliche Personen entstehen.20 Juristische Personen und Personenvereinigungen sind nicht in
gleichem Maße von persönlichen Anschuldigungen, dem öffentlichen Interesse und eventuell auch einer Berichterstattung
in den Medien belastet.21
Zusammenfassend ergibt sich, dass für natürliche Personen
erkennbar kein vergleichbarer Anreiz zur missbräuchlichen
Einspruchseinlegung besteht. Vor diesem Hintergrund spricht
mehr dafür, vom Vorliegen ungleicher Sachverhalte auszugehen.22
Scherzberg, in: Ehlers/Schoch [Hrsg.], Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 13 Rn. 176) wird das Merkmal der
„Wesentlichkeit“ dagegen durch die Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung inzident festgestellt; nach einem
dritten Ansatz fallen die Prüfung des Vorliegens vergleichbarer Sachverhalte einerseits und der „wesentlichen Gleichheit“
andererseits zusammen (in diese Richtung Pieroth/Schlink/
Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, 29. Aufl. 2013, Rn. 463;
BVerfG NJW 2013, 1418 [1421 Rn. 63]).
19
Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11
(OWi), Rn. 38 (juris); Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart
2013, 104 (107); Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Bd. 2, 4. Aufl. 2007, § 81
GWB Rn. 465; Vollmer, wistra 2013, 289 (294).
20
BVerfG NJW 2013, 1418 (Rn. 57, 62).
21
In seiner Entscheidung vom 19.12.2012 (zur Verfassungskonformität einer Verzinsungspflicht für juristische Personen
und Personenvereinigungen) unterscheidet das BVerfG weiter
zwischen natürlichen Personen mit und ohne Unternehmenseigenschaft (NJW 2013, 1418 [1420 f. Rn. 49 ff., 58 ff.]). Ein
Eingehen hierauf wurde von den Bearbeiterinnen und Bearbeitern nicht erwartet, zumal sich hieraus für den vorliegenden Fall nichts Abweichendes ergibt.
22
A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.
ÖFFENTLICHES RECHT
bb) Rechtfertigung der Gleichbehandlung
Zu klären bleibt, ob die festgestellte Gleichbehandlung von
Ungleichem gerechtfertigt ist. Hier gilt es zunächst, den einschlägigen Prüfungsmaßstab zu bestimmen.
Im Rahmen der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung
trotz gleicher Sachverhalte wird regelmäßig zwischen der auf
das Vorliegen eines vernünftigen, sachlich einleuchtenden
Grundes abstellenden „Willkürformel“23 und der am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichteten „Neuen Formel“24 differenziert.25 Zu beachten ist freilich, dass die Willkür- und
Verhältnismäßigkeitsprüfung in der jüngeren Rechtsprechung
des BVerfG nicht mehr als Gegensätze, sondern als Teile eines
einheitlichen Rechtfertigungsmaßstabs begriffen werden.26 Danach ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz „je
nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen
unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die stufenlos
von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen
reichen können.“27
Ungeklärt ist, ob die Unterscheidung zwischen Willkürprüfung und strenger Verhältnismäßigkeitsprüfung (im Rahmen eines einheitlichen, stufenlosen Prüfungsmaßstabs) auch
in den Fällen der Gleichbehandlung trotz Ungleichheit relevant
ist. Hiergegen spricht indes der Umstand, dass der primäre
Fokus des Art. 3 Abs. 1 GG auf der Verhinderung und Beseitigung von Ungleichbehandlungen liegt. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass bei einer Gleichbehandlung trotz
ungleicher Sachverhalte typischerweise (und so auch hier) die
großzügigeren Anforderungen der Willkürformel anzulegen
sind.28
Zu fragen ist damit nach dem Vorliegen eines vernünftigen Grundes für die Gleichbehandlung. Ein sachlich einleuchtender Grund könnte der im Gesetzesentwurf angeführte
mögliche Anreiz bei natürlichen Personen sein, die Zahlung
der Geldbuße durch Erhebung eines Rechtsbehelfs möglichst
lange hinauszuzögern. Die Verzinsungspflicht soll insoweit
eine Abschreckungs- und Abschöpfungswirkung entfalten. Zu
bedenken ist indes, dass dabei lediglich mit der Möglichkeit
(„da auch bei ihnen ein Anreiz bestehen könnte“) der missbräuchlichen Einspruchserhebung durch natürliche Personen
argumentiert wird. In der Praxis schwindet diese Möglichkeit
dagegen, insbesondere wegen der wesentlich niedrigeren Höhe
der Geldbußen (s.o.), signifikant.29 Der Anreiz für natürliche
Personen zur Zinsersparnis kommt daher – auch unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Prognosespielraums –
nicht als sachlicher Grund in Betracht.
23
Erstmalig BVerfGE 1, 14 (52).
Grundlegend BVerfGE 55, 72 (88).
25
siehe noch näher unter b) bb) m.w.N.
26
Instruktiv Kischel, in: Epping/Hillgruber (Fn. 8), Art. 3
Rn. 24 ff., 28 f., 30 ff.; vgl. auch Britz, NJW 2014, 346 (347).
27
BVerfGE 129, 49 (Ls. 1); BVerfG, NJW 2013, 1418 (1419
Rn. 45).
28
In diese Richtung auch Jarass (Fn. 18), Art. 3 Rn. 28;
Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 59 Rn. 95; a.A. mit
entsprechender Begründung vertretbar.
29
Vgl. BVerfG, NJW 2013, 1418 (1420 f. Rn. 51 ff., 59 ff.).
24
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391
ÜBUNGSFALL
Markus Ludwigs/Richard Lauer
Sonstige sachliche Gründe für die Gleichbehandlung natürlicher Personen mit juristischen Personen und Personenvereinigungen sind nicht ersichtlich. Die in § 81 Abs. 6 GWB
n.F. angeordnete Einbeziehung natürlicher Personen in die
Zinspflicht stellt damit eine nicht zu rechtfertigende Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem dar. Hieraus resultiert ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
b) Unzulässige Ungleichbehandlung
Daneben kommt ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz auch mit Blick darauf in Betracht, dass in keinem
anderen Rechtsgebiet natürliche Personen einer Verzinsungspflicht ihrer Geldbußen unterliegen. Hierin könnte eine unzulässige Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem liegen.
aa) Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte
(1) Ungleichbehandlung
Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn für bestimmte Vergleichsgruppen unterschiedliche Rechtsfolgen eintreten.30
Die Vergleichsgruppen sind vorliegend natürliche Personen
in ihrer Eigenschaft als Kartellbußgeldschuldner einerseits und
als Bußgeldschuldner in einem anderen Rechtsgebiet (z.B. im
Umweltrecht) andererseits. Der gemeinsame Oberbegriff ist
somit die natürliche Person in ihrer Eigenschaft als Bußgeldschuldner.
Nach § 81 Abs. 6 GWB n.F. unterliegen natürliche Personen in ihrer Eigenschaft als kartellrechtliche Bußgeldschuldner
der Verzinsungspflicht. Dabei handelt es sich um eine dem
deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht ansonsten nicht bekannte Sondernorm. In anderen Rechtsgebieten wird bei Bußgeldschulden für begangene Ordnungswidrigkeiten keine Verzinsungspflicht auferlegt.31 Demnach liegt eine unterschiedliche
Rechtsfolge und folglich eine Ungleichbehandlung vor.
(2) Vergleichbare Sachverhalte
Weitergehend müsste es sich um eine Ungleichbehandlung
vergleichbarer Sachverhalte handeln.
Gegen das Vorliegen eines gleichen Sachverhalts könnte
vorgebracht werden, dass es an einem zusammenhängenden
rechtlichen Ordnungssystem fehlt.32 Die jeweiligen Geldbußen
gehören unterschiedlichen rechtlichen Ordnungsbereichen an,
die in keinem systematischen Zusammenhang stehen. Die jeweiligen Ordnungswidrigkeitstatbestände bilden nur einen Annex des jeweiligen Fachrechts. Die unterschiedlichen Rechtsgebiete sind aber gerade nicht vergleichbar.
Gegen diese Argumentation und für das Vorliegen gleicher
Sachverhalte spricht aber, dass die Verzinsung der Geldbuße
gerade nicht (wie es das BVerfG annimmt33) die Tatbestandsebene, sondern die Rechtsfolgen von Ordnungswidrigkeiten
30
Vgl. Epping (Fn. 16), Rn. 781 ff.
BVerfG NJW 2013, 1418 (1421 Rn. 63).
32
Vgl. BVerfG NJW 2013, 1418 (1421 Rn. 63 f., im Kontext
der Verzinsungspflicht für juristische Personen und Personenvereinigungen).
33
Vgl. BVerfG NJW 2013, 1418 (1421 Rn. 63 f.).
31
betrifft.34 In beiden Fällen handelt es sich um denselben Sachverhalt: eine Geldbuße auf der Rechtsfolgenseite als Sanktion
für auf der Tatbestandsebene vorangegangenes rechtswidriges
Verhalten. Nach hier zugrunde gelegter Auffassung ist demnach eine Ungleichbehandlung trotz vergleichbarer Sachverhalte gegeben.35
bb) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung
Zu klären bleibt damit, ob diese Ungleichbehandlung trotz vergleichbarer Sachverhalte gerechtfertigt ist.
(1) Prüfungsmaßstab
Auch hier gilt es zunächst, den Prüfungsmaßstab für die
Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu bestimmen. Wie
bereits ausgeführt wurde, reicht die Kontrolldichte stufenlos
von gelockerten, auf ein Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen.
Bei der Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte
bestimmt sich die Frage, welche Kontrolldichte anzulegen ist,
nach der Intensität der Ungleichbehandlung.36 Bei geringer Intensität findet eine Willkürprüfung statt, bei hoher Intensität
kommt eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Anwendung. Die Intensität der Ungleichbehandlung wird anhand verschiedener Kriterien ermittelt.37 Für eine strengere Bindung
des Gesetzgebers spricht es z.B., wenn die Ungleichbehandlung der beiden Gruppen an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft
oder wenn Freiheitsrechte betroffen sind. Die Intensität ist
dagegen geringer, je mehr der Betroffene das Kriterium der
Ungleichbehandlung beeinflussen kann oder je weniger es
einem der Kriterien in Art. 3 Abs. 3 GG entspricht.
Im vorliegenden Fall könnte zugunsten einer größeren Intensität der Ungleichbehandlung und für eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung geltend gemacht werden, dass eine
mittelbar personenbezogene Ungleichbehandlung in Rede steht
(Kartellbußgeldschuldner, sonstige Bußgeldschuldner).38 Des
Weiteren lässt sich für eine strengere Kontrolle vorbringen,
34
Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11
(OWi), Rn. 41 (juris); siehe auch Dannecker/Biermann
(Fn. 19), § 81 GWB Rn. 465; Heinichen, EWiR 2013, 149
(150); König, in: Göhler (Hrsg.), Ordnungswidrigkeitengesetz,
16. Aufl. 2012, § 17 Rn. 48d; Sachs, JuS 2013, 856 (857);
Vollmer, wistra 2013, 289 (294 f.).
35
A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.
36
Vgl. BVerfGE 103, 310 (318 f.); 118, 79 (100); Jarass
(Fn. 18), Art. 3 GG Rn. 20 ff.; instruktiv: Kischel, in: Epping/
Hillgruber (Fn. 8), Art. 3 Rn. 14-14.4 m.w.N., der auch auf
alternative Abgrenzungskonzepte im Schrifttum eingeht.
37
Vgl. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 470 ff.;
ausführlich zuletzt Britz, NJW 2014, 346 (349 f.); siehe auch
BVerfG NJW 2013, 1418 (1419 Rn. 45).
38
Vgl. (im Kontext der Ungleichbehandlung von juristischen
Personen und Personenvereinigungen) OLG Düsseldorf,
Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 42 (juris);
Vollmer, wistra 2013, 289 (294 f.); Meinhold-Herrlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107).
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ZJS 4/2014
392
Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen
dass durch die Verzinsungspflicht für natürliche Personen auch
Freiheitsrechte (zumindest Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen sind.
Gegen diese Ansicht und für die Annahme einer geringeren Intensität der Ungleichbehandlung mit daraus resultierender Vornahme einer Willkürprüfung spricht indes vor allem
der Umstand, dass das Unterscheidungskriterium gerade nicht
personenbezogen ist. Angeknüpft wird vielmehr stets an ein
rechtswidriges Verhalten, das von dem Betroffenen beeinflussbar ist. Bei der Anknüpfung an das rechtwidrige Verhalten einer natürlichen Person in einem bestimmten Rechtsgebiet
handelt es sich gerade nicht um ein Persönlichkeitsmerkmal.
Hinzu kommt, dass das Unterscheidungskriterium vorliegend
auch nicht den Kriterien aus Art. 3 Abs. 3 GG entspricht. Es
spricht daher mehr dafür, nur von einer Ungleichbehandlung
geringerer Intensität auszugehen. Die Kontrolldichte im Rahmen der Rechtfertigung bleibt auf eine Willkürprüfung beschränkt.39
(2) Vorliegen eines sachlichen Grundes
Klärungsbedürftig ist somit, ob ein vernünftiger, sachlich einleuchtender Rechtfertigungsgrund vorliegt. Dieser könnte in
dem – durch den Gesetzentwurf zum Ausdruck gebrachten –
Sinn und Zweck der kartellrechtlichen Verzinsungspflicht bestehen, entstandene Zinsvorteile abzuschöpfen. Dem lässt sich
aber schon entgegenhalten, dass auch bei Bußgeldern aus anderen Rechtsgebieten Zinsvorteile (in ähnlich geringer Höhe)
durch eine Verzögerung des Eintritts der Bestandskraft entstehen könnten.40 Der Abschöpfungszweck kann somit nicht
als vernünftiger, sachlich einleuchtender Differenzierungsgrund angeführt werden.
Als hinreichender Grund kommt ferner die – ebenfalls im
Gesetzentwurf adressierte – Abschreckungswirkung wegen
eines möglichen Anreizes zur missbräuchlichen Rechtsbehelfseinlegung durch natürliche Personen in Betracht. Dagegen
spricht jedoch, dass auch außerhalb des Kartellrechts ähnliche
Bußgeldandrohungen bestehen und demnach auch dort ein
solcher Anreiz theoretisch in Betracht käme.41 Im Übrigen
werden in der Praxis gegen natürliche Personen im Kartellrecht typischerweise gerade keine besonders hohen Bußgelder verhängt (s.o.), folglich entfällt ein substantieller Anreiz
zur missbräuchlichen Rechtsbehelfseinlegung.42 Es besteht
mithin bei natürlichen Personen kein Grund, kartellrechtliche
Bußgeldschuldner von der Einspruchseinlegung abzuschrecken, Bußgeldschuldner in anderen Rechtsbereichen dagegen
nicht.43
39
A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11
(OWi), Rn. 44 f. (juris); Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107).
41
OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11
(OWi), Rn. 44 f. (juris).
42
Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11
(OWi), Rn. 44 f. (juris); Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107).
43
Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11
(OWi), Rn. 44 f. (juris).
40
ÖFFENTLICHES RECHT
Es liegen folglich keine Gründe vor, die die ungleichen
Rechtsfolgen rechtfertigen könnten. Die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung natürlicher Personen als kartellrechtliche
Bußgeldschuldner einerseits und als Bußgeldschuldner in anderen Rechtsgebieten andererseits bedeutet einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
c) Ergebnis zu Art. 3 Abs. 1 GG
Durch die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB wird in zweifacher Hinsicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Zum einen
liegt eine ungerechtfertigte Gleichbehandlung natürlicher Personen mit juristischen Personen und Personenvereinigungen,
zum anderen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung
natürlicher Personen als kartellrechtliche Bußgeldschuldner
mit natürlichen Personen als Bußgeldschuldner aus anderen
Rechtsgebieten vor.
2. Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG
Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB könnte ferner gegen
die Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen.
a) Schutzbereich44
Art. 19 Abs. 4 GG schützt die Gewährleistung des Rechtsweges bei (möglichen) Verletzungen subjektiver Rechte durch
die öffentliche Gewalt. Vorliegend ist hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Verletzung durch die öffentliche Gewalt
i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG auf den kartellbehördlichen Bußgeldbescheid abzustellen. Bei einem rechtwidrigen Bescheid muss
dem Bußgeldschuldner der Rechtsweg offen stehen. Der
Bußgeldbescheid wird durch die Exekutive erlassen, die unstreitig unter das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Gewalt
i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG fällt.45 Ein etwaiger rechtswidriger
Bußgeldbescheid stellt folglich eine Verletzung durch die öffentliche Gewalt dar.46 Der Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4
GG ist eröffnet.
b) Eingriff oder Ausgestaltung
Das normale Eingriffsschema findet im Rahmen von Art. 19
Abs. 4 GG keine Anwendung.47 Zu prüfen ist vielmehr, ob es
44
Möglich ist hier auch die Prüfung des Art. 19 Abs. 4 GG in
Form eines Leistungsgrundrechts (Anspruchsvoraussetzungen,
Anspruchsinhalt); vgl. z.B. bei Manssen, Staatsrecht II,
11. Aufl. 2014, Rn. 763 ff.; wie hier Hufen, Staatsrecht II,
4. Aufl. 2014, § 44 Rn. 3 ff., 7, 8; Pieroth/Schlink/Kingreen/
Poscher (Fn. 18), Rn. 1098 ff., 1113 f., 1115 f.; instruktiv zu
den unterschiedlichen Schutzrichtungen des Art. 19 Abs. 4
GG Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 18), Art. 19 Abs. 4 Rn. 84
m.w.N.
45
Zum Begriff der öffentlichen Gewalt statt vieler Ipsen,
Staatsrecht II, 16. Aufl. 2013, Rn. 879 ff.
46
Dagegen war hier nicht auf § 81 Abs. 6 GWB bzw. auf den
Verzinsungsbescheid abzustellen. Die Verzinsungspflicht ist
erst als möglicher Eingriff in Art. 19 Abs. 4 GG anzusprechen, da sie den Bußgeldschuldner evtl. in seinem Rechtsschutz gegen den Bußgeldbescheid beeinträchtigt.
47
Hufen (Fn. 44), § 44 Rn. 7.
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393
ÜBUNGSFALL
Markus Ludwigs/Richard Lauer
sich bei der Neufassung des § 81 Abs. 6 GG um einen Eingriff oder um eine gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsweges
handelt.48
Zwar wird die Abgrenzung zwischen Eingriff und Ausgestaltung kontrovers diskutiert49; abwehrrechtlich formuliert50
lässt sich aber davon sprechen, dass jedenfalls dann ein Eingriff vorliegt, wenn die Grenzen der Ausgestaltung durch den
Gesetzgeber überschritten sind.51 Dies ist der Fall, wenn eine
unangemessene, dem Rechtsschutzsuchenden unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten bzw. des Verfahrens vorliegt.52
Klärungsbedürftig ist demnach, ob die Neufassung des § 81
Abs. 6 GWB eine Beeinträchtigung des effektiven Rechtsschutzes in Form einer unangemessenen und unzumutbaren
Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten darstellt. Insoweit ist zwischen zwei Fallvarianten zu differenzieren.
aa) Fallvariante 1: Befürchtung der zusätzlichen Belastung
mit Zinsen
Die Verzinsungspflicht könnte zunächst eine (unzumutbare)
Beeinträchtigung des Art. 19 Abs. 4 GG darstellen, weil der
Bußgeldschuldner aus Angst vor der zusätzlichen finanziellen
Belastung mit Zinsen eine Einspruchseinlegung unterlässt.
Gegen das Vorliegen einer unzumutbaren Erschwerung des
Zugangs zu den Gerichten (und eines hieraus resultierenden
Eingriffs in Art. 19 Abs. 4 GG) spricht jedoch, dass im Falle
der Rechtswegbeschreitung bis zu einem kartellgerichtlichen
Urteil eine Verzinsungspflicht gerade nicht existiert. Zum
einen entstehen die Zinsen auf das kartellbehördliche Bußgeld
nur bei vorheriger Einspruchsrücknahme. Zum anderen unterliegt die kartellgerichtlich verhängte Geldbuße mit Blick auf
den eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 81 Abs. 6 GWB keiner Verzinsungspflicht.53 Bei Aufrechterhaltung des eingelegten Einspruchs bis zum Ergehen eines kartellgerichtlichen Ur48
Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1113.
Vgl. für einen Überblick z.B. Hecker, Marktoptimierende
Wirtschaftsaufsicht, 2007, S. 191 ff.; Kroll-Ludwigs, Die Rolle
der Parteiautonomie im Europäischen Kollisionsrecht, 2013,
S. 226 ff.; eingehende Kritik an der These strikter Exklusivität
von Eingriff und Ausgestaltung bei Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 666 ff.
50
Vgl. insoweit auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 18),
Art. 19 Abs. 4 Rn. 84; kritisch Cornils (Fn. 49), S. 465 ff.,
487 f.
51
BVerfGE 60, 253 (269); 109, 279 (364); Burrichter, in: FS
Bechtold, 2006, S. 97 (103); Hufen (Fn. 44), § 44 Rn. 7;
Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1113; pointiert Cornils (Fn. 49), S. 464, der – in kritischer Perspektive –
von Fällen „umschlagender“ Ausgestaltungen spricht.
52
BVerfGE 60, 253 (269); 69, 381 (385 f.); 77, 275 (284);
109, 279 (364); Jarass (Fn. 18), Art. 19 Rn. 50; Pieroth/
Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1113; Schulze-Fielitz
(Fn. 50), Art. 19 Abs. 4 Rn. 84.
53
Ausführlich OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1
Kart 1/11 (OWi), Rn. 17 ff. (juris); siehe auch BVerfG NJW
2013, 1418 (1421 f. Rn. 65, 74), unter Verweis auf die überwiegende Meinung im kartellrechtlichen Schrifttum.
49
teiles ist eine zusätzliche finanzielle Belastung mit Zinsen somit nicht zu erwarten.
Die Verzinsungspflicht stellt folglich für den Fall, dass
der Bußgeldschuldner aus Angst vor einer zusätzlichen finanziellen Belastung eine Einspruchseinlegung von vornherein
unterlässt, keinen Eingriff in Art. 19 Abs. 4 GG dar.
bb) Fallvariante 2: Risiko einer sich abzeichnenden kartellgerichtlichen Verböserung
Fraglich ist aber weiterhin, ob die Verzinsungspflicht bei einer
sich abzeichnenden kartellgerichtlichen Verböserung (reformatio in peius) während des anhängigen Einspruchsverfahrens
eine (unzumutbare) Beeinträchtigung des Art. 19 Abs. 4 GG
darstellt.
Die von einer Kartellgeldbuße betroffene natürliche Person
kann nach Einspruchserhebung einer möglicherweise drohenden kartellgerichtlichen Erhöhung des Bußgeldes (vgl. § 71
Abs. 1 OWiG) nur auf Kosten einer Verzinsung der Geldbuße
entgehen. Eine Einspruchsrücknahme wegen der absehbaren
Verböserung durch das Kartellgericht führt zum Eintritt der
Bestandskraft der Geldbuße und somit zu einer rückwirkenden Verzinsung nach § 81 Abs. 6 GWB n.F. Einzelne natürliche Personen könnten deshalb von der Inanspruchnahme von
Rechtsschutz abgehalten werden. Die Verzinsungspflicht aus
§ 81 Abs. 6 GWB entfaltet mithin eine rechtsschutzhemmende Wirkung.54 Hierin liegt eine Beeinträchtigung der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG.
Um festzustellen, dass ein Eingriff und keine bloße Ausgestaltung vorliegt (s.o.), müsste sich die Verzinsungspflicht
mit ihrer rechtsschutzhemmenden Wirkung allerdings weitergehend als unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu den
Gerichten darstellen.55
Für die Einordnung der Verzinsungspflicht als zumutbare
Erschwerung des Rechtsschutzes könnte argumentiert werden,
dass die Höhe der möglicherweise anfallenden Zinsen – zumindest abstrakt betrachtet – grundsätzlich im Voraus für den
Bußgeldschuldner überschaubar ist.56 Zudem lässt sich vorbringen, dass die zu zahlenden Bußgelder bei natürlichen Personen deutlich geringer ausfallen als bei juristischen Personen und Personenvereinigungen. Sie erreichen keine Größenordnung, die den Rechtsweg für natürliche Personen spürbar
erschweren würde. Außerdem könnten die durch den Zeitgewinn erzielten Zinsgewinne die später zu zahlenden Zinsen
ausgleichen. Im Übrigen besteht für den Bußgeldschuldner
die Möglichkeit, der Zinszahlungspflicht zu entgehen, indem
er die geforderte Bußgeldsumme sofort im Vorhinein nach Erhalt des Bescheides zahlt und nach Erfolg seines Einspruchs
zurückfordert.
Für das Vorliegen einer unzumutbaren Erschwerung des
Rechtsschutzes durch die Verzinsungspflicht spricht indes,
dass der Betroffene gerade keinen Einfluss auf die genaue
54
BVerfG NJW 2013, 1418 (1423 Rn. 79).
Siehe insoweit auch BVerfG NJW 1976, 141; BVerfG
NJW 2013, 1418 (1423 Rn. 79).
56
Vgl. (für juristische Personen und Personenvereinigungen):
BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 Rn. 84); OLG Düsseldorf,
Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 27 (juris).
55
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ZJS 4/2014
394
Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen
Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens und somit auch nicht auf
die konkrete Höhe seiner Zinsschuld hat.57 Hinzu kommt, dass
der Sinn und Zweck der Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB
bei natürlichen Personen gerade nicht erreicht wird (s.o.). Die
Abschreckungs- und die Abschöpfungswirkung der Verzinsungspflicht für natürliche Personen laufen wegen der in der
Praxis festzustellenden niedrigen Bußgelder gegen natürliche
Personen vielmehr weitgehend ins Leere. Dies zugrunde gelegt, muss aber jede mit der Zinszahlungspflicht einhergehende Erschwerung des Rechtsschutzes als unzumutbar erscheinen.
Da die Neufassung ihren Sinn und Zweck verfehlt, ist sie
als Beschränkung des Zugangs zu den Gerichten nicht zumutbar. Folglich liegt nicht nur eine bloße Ausgestaltung, sondern
ein Eingriff in die Rechtsschutzgarantie vor.58
c) Rechtfertigung
Art. 19 Abs. 4 GG ist ein vorbehaltslos gewährtes Grundrecht. Eingriffe können ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung nur in kollidierendem Verfassungsrecht, z.B. in der
Rechtspflege oder im Grundsatz der Rechtssicherheit, finden.59
Zweifelhaft erscheint allerdings schon, ob trotz der festgestellten unzumutbaren Erschwerung des Rechtsweges (s.o.)
überhaupt noch eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung in
Betracht kommt. In Teilen des Schrifttums wird insoweit die
These propagiert60, wonach jeder Eingriff in die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zugleich eine verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Verletzung bedeutet. Dem
ist hier insofern zuzustimmen, als bereits die Unzumutbarkeit
der Beschränkung des Zugangs zu den Gerichten festgestellt
wurde (s.o.). Daher kann die Frage, ob vorliegend überhaupt
kollidierendes Verfassungsrecht als Anknüpfungspunkt für
eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Betracht käme,
dahinstehen.
d) Ergebnis zu Art. 19 Abs. 4 GG
Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB verstößt nach alledem
auch gegen die Rechtschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG.
3. Verstoß gegen die Unschuldsvermutung
Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB könnte darüber hinaus
die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung ver57
So, im Kontext der Verzinsungspflicht für juristische Personen und Personenvereinigungen, z.B. Achenbach, in: Frankfurter Kommentar Kartellrecht, 79. EL 2013, § 81 GWB
Rn. 327; Burrichter (Fn. 51), S. 105 f.; Cramer/Pananis, in:
Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Kommentar, 2. Aufl. 2009, § 81 GWB Rn. 76; Dannecker/Biermann
(Fn. 19), § 81 GWB Rn. 462; König (Fn. 34), § 17 Rn. 48d;
Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107 f.);
Vollmer, wistra 2013, 289 (295 f.).
58
A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.
59
Vgl. Jarass (Fn. 18), Art. 19 Rn. 53; Schulze-Fielitz (Fn. 50),
Art. 19 Abs. 4 Rn. 140; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher
(Fn. 18), Rn. 1115.
60
Vgl. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1115.
ÖFFENTLICHES RECHT
letzen. Die Unschuldsvermutung ist als solche zwar nicht explizit im Grundgesetz normiert, wird aber aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG) hergeleitet.61
a) Schutzbereich
Die Unschuldsvermutung schützt den Betroffenen vor Nachteilen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe entsprechen,
ohne dass ein Schuldnachweis durch ein vorausgegangenes
prozessordnungsgemäßes Verfahren vorliegt.62 Zugleich verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Tat und der Schuld
des Betroffenen.63 Die Unschuldsvermutung gilt dabei auch
für die jeweilige natürliche Person in ihrer Eigenschaft als
(Kartell-)Bußgeldschuldner.64
b) Beeinträchtigung
Fraglich ist, ob die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB auch
zu einer Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung führt. Dies
wäre dann der Fall, wenn hieraus ein Nachteil für natürliche
Personen als Bußgeldschuldner resultiert, obwohl der gesetzliche Nachweis der Schuld noch nicht erbracht wurde.
Nach zum Teil vertretener Ansicht stellt die Verzinsungspflicht eine zur Geldbuße hinzutretende Sanktion und somit
einen eigenständigen Nachteil dar.65 Da die Verzinsungspflicht
bereits zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheids
beginne und somit eine noch nicht bestandskräftig geahndete
Ordnungswidrigkeit erfasse, sei der gesetzliche Nachweis der
Schuld nicht erbracht. Hierdurch werde die Unschuldsvermutung beeinträchtigt.
Nach anderer Ansicht ist indes bereits der Sanktionscharakter der Verzinsungspflicht fraglich.66 Insoweit kann im vorliegenden Fall auch auf den Gesetzentwurf verwiesen werden,
wonach die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB eine Abschreckungs- und Abschöpfungswirkung entfalten und folglich gerade keine zusätzliche Sanktion begründen soll. Jedenfalls ist
die Unschuldsvermutung aber deshalb nicht beeinträchtigt,
weil die Fälligkeit der zu zahlenden Zinsen erst mit Bestandskraft des Bußgeldbescheids eintritt. Bei Erfolg der Rechtswegbeschreitung entfällt die Zinspflicht mithin rückwirkend,
von Anfang an sind somit keine Zinsen geschuldet.67
61
BVerfGE 38, 105 (115); Jarass (Fn. 18), Art. 20 Rn. 108;
siehe daneben noch Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 Abs. 1
GRCh.
62
Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Fn. 14),
Art. 20 Rn. 63.
63
BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 Rn. 90); Jarass (Fn. 18),
Art. 20 Rn. 108.
64
Vgl. BVerfGE 9, 167 (170); BVerfG NJW 2013, 1418
(1424 Rn. 90).
65
Siehe insb. (im Kontext der Verzinsungspflicht für juristische
Personen und Personenvereinigungen) Achenbach (Fn. 57),
§ 81 GWB Rn. 327; ähnlich auch Dannecker/Biermann
(Fn. 19), § 81 GWB Rn. 463; König (Fn. 34), § 17 Rn. 48d.
66
Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107);
zweifelnd auch BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 f. Rn. 91).
67
Vgl. BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 f. Rn. 91).
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395
ÜBUNGSFALL
Markus Ludwigs/Richard Lauer
Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB führt damit zu keiner Verletzung der verfassungsrechtlich garantierten Unschuldsvermutung.68
4. Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG bzw. gegen rechtsstaatliche Grundsätze
Schließlich könnte § 81 Abs. 6 GWB n.F. den verfassungsrechtlichen Grundsatz des „ne bis in idem“ verletzen. Art. 103
Abs. 3 GG verbietet eine mehrmalige Bestrafung wegen derselben Tat. Unter die „allgemeinen Strafgesetze“ des Art. 103
Abs. 3 GG fallen indes nur Kriminalstrafen, nicht aber Ordnungswidrigkeitentatbestände.69 Ein solcher steht vorliegend
in Form des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB (vorsätzlicher Verstoß
gegen das Kartellverbot des § 1 GWB) in Rede. Auch im Bereich der Ordnungswidrigkeiten können sich jedoch aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen (z.B. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) Beschränkungen einer erneuten oder
doppelten Sanktionierung ergeben.70 Zum Teil wird sogar für
eine analoge Anwendung von Art. 103 Abs. 3 GG plädiert.71
Klärungsbedürftig ist insoweit aber zunächst, ob der Verzinsungspflicht aus § 81 Abs. 6 GWB n.F. für natürliche Personen überhaupt ein selbständiger, zur verhängten Geldbuße
hinzutretender Sanktionscharakter zukommt. Dagegen spricht,
dass die Verzinsungspflicht keine zusätzliche Ahndungswirkung entfalten soll. Ziel ist es vielmehr, „die Angemessenheit
der Sanktion, deren Vollstreckbarkeit durch den Einspruch
hinausgeschoben wird, trotz der eingetretenen Verzögerung
aufrechtzuerhalten, um auf diese Weise von der rechtsmissbräuchlichen Einlegung des Rechtsbehelfs abzuhalten“.72
Hieraus wird deutlich, dass mit der Verzinsungspflicht nur eine
Abschreckungs- und eine Abschöpfungswirkung angestrebt
werden. Mangels Sanktionscharakters können sich damit aber
auch aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen (bzw. aus
einer analogen Anwendung von Art. 103 Abs. 3 GG) keine
Beschränkungen unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen
Doppelbestrafung ergeben.
C. Entscheidung des BVerfG
Aufgrund der dargelegten Verfassungsverstöße wird das
BVerfG die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB nach § 82
Abs. 1 i.V.m. § 78 BVerfGG für nichtig erklären. Das vorlegende OLG ist gemäß § 31 Abs. 1, 2 BVerfGG an die – Gesetzeskraft entfaltende – Entscheidung des BVerfG über die
Nichtigkeit der Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB gebunden.
5. Ergebnis zur materiellen Verfassungsmäßigkeit
Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB verstößt in zweifacher
Hinsicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie darüber hinaus gegen
Art. 19 Abs. 4 GG. Sie ist folglich materiell verfassungswidrig.
II. Ergebnis der Begründetheit
§ 81 Abs. 6 GWB n.F. ist zwar formell, nicht aber materiell
verfassungskonform. Die zulässige Vorlage des OLG ist daher auch begründet.
68
A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.
BVerfGE 43, 101 (105); OLG Jena NStZ 2006, 319;
Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Fn. 8), Art. 103 Abs. 3
Rn. 289; a.A. unter Rekurs auf die kompetenzrechtliche Systematik des Grundgesetzes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) Pieroth/
Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1212.
70
Schmidt-Aßmann (Fn. 69), Art. 103 Abs. 3 Rn. 276, 289.
71
Einschränkend Schmidt-Aßmann (Fn. 69), Art. 103 Abs. 3
Rn. 289.
72
BVerfG NJW 2013, 1418 (1425 Rn. 94).
69
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ZJS 4/2014
396
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“*
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Marcus Bergmann, Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle (Saale)**
Sachverhalt
A und B treffen sich nach Feierabend in ihrer Stammkneipe,
um etwas zu trinken. A kam mit seinem neuen BMW, B mit
seinem neuen hochwertigen Rennrad, das er am Morgen für
2.300 € gekauft hatte. Als A schließlich am späten Abend
aufbrechen will, rät B ihm davon ab, noch Auto zu fahren.
Schließlich habe A viel mehr getrunken als B. A ist sich
daraufhin auch nicht sicher, noch Auto fahren zu können. B
hingegen fühlt sich durch den Alkohol völlig unbeeinträchtigt. Daher kommen beide überein, vorsichtshalber die Fahrzeuge zu tauschen. Tatsächlich beträgt der Blutalkoholgehalt
des A 1,5 ‰, der Blutalkoholgehalt des B aber nur 1,2 ‰.
Diese konkreten Werte kennen die beiden aber nicht.
A radelt also mit dem Fahrrad des B nach Hause. Unterwegs fährt er auf dem Radweg mit zügiger Geschwindigkeit
an einer dichten Hecke entlang. In dieser Hecke versteckt
sich der elfjährige K. Als er den A näher kommen hört, bekommt er Angst und will die Hecke verlassen. Dabei verschätzt sich K aber in der Entfernung zu A. Als K aus der
Hecke auf den Radweg springt, landet er unmittelbar vor dem
Fahrrad. Deshalb kann A, der langsam und aufmerksam fährt,
nicht mehr bremsen und nicht mehr ausweichen. Infolgedessen
fährt er K über den linken Fuß. Vor Schmerzen schreit K
protestierend auf.
A reagiert voller Schrecken auf das jähe Auftauchen des
K, indem er den Lenker herumreißt und dadurch auf die Straße
fährt. Von dem Vorfall und dem Schrei ist A derartig erschrocken, dass er einige Sekunden lang wie erstarrt ist und das
Fahrrad einfach weiter rollen lässt. Deshalb nimmt er wenige
Meter weiter bei einem Zebrastreifen den Passanten P gar
nicht wahr, der auf diesem die Straße überquert. Hier wäre es
zu einem Zusammenstoß gekommen, wenn nicht P im letzten
Augenblick zur Seite gesprungen wäre.
Inzwischen hat B das Auto gestartet. Noch auf dem Parkplatz kommt es allerdings zu einer brenzligen Situation: Versehentlich legt B statt des Rückwärtsganges einen Vorwärtsgang ein. Als er dann auch noch infolge verringerter Koordinationsfähigkeit das Gaspedal voll durchtritt, schießt der Wagen statt nach hinten nach vorn. Nur mit knapper Not kann B
einen Zusammenstoß mit dem alten, verrosteten Fahrrad des
Gastwirtes W vermeiden, das an einen Holzpfahl auf dem
Parkplatz angekettet ist, und biegt schwungvoll auf die Straße
ein.
* Der Fall wurde im Sommersemester 2013 an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg als Probeklausur im
Examensklausurenkurs gestellt. 26 % der Teilnehmer erreichten ein „Ausreichend“, 28 % ein „Befriedigend“, 10 % ein
„Vollbefriedigend“ und 5,1 % ein „Gut“. Die Durchfallquote
lag bei 31 %, die erzielte Durchschnittsnote lag bei 6,15
Punkten.
** Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht
und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Christian Schröder an
der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Autorin
arbeitet als Wiss. Hilfskraft an diesem Lehrstuhl.
Kurz darauf kommt B auf seinem Heimweg am Haus des
A vorbei. Er will sehen, ob noch Licht brennt. Dies nimmt
seine Konzentration so in Anspruch, dass er aufgrund seines
alkoholisierten Zustands nicht mehr in der Lage ist, auf den
Fahrbahnrand zu achten. Infolgedessen fährt er über den
Bordstein und erfasst mit dem Auto das Rennrad, das A am
von einer nahen Straßenlaterne beleuchteten Grundstücksrand
abgestellt hatte. Das Rennrad zerbricht. Ein Bruchstück lässt
den rechten Außenspiegel zersplittern. Nur durch Zufall bleiben der Lack des Autos und der Motor unbeschädigt, die
übrigen Fahrradbruchstücke fliegen um Haaresbreite vorbei
und verteilen sich auf dem Fußweg. B merkt von alledem
nichts, weil er zu alkoholisiert ist, und fährt ahnungslos weiter
nach Hause.
K, der kurze Zeit später ebenfalls vorüber kommt, achtet
nicht sehr auf den Fußweg, weil er sich darauf konzentriert,
den linken Fuß nicht zu belasten, der ansonsten stark schmerzt.
Daher ist er sehr überrascht, als es im Licht der Laterne plötzlich die Fahrradteile bemerkt, bleibt stehen und sieht sich um.
Inzwischen hat A, der das Scheppern der Metallteile bei
der Kollision mit dem Auto gehört hatte, sein Haus verlassen,
um nachzusehen. Er entdeckt den K, der inmitten der Fahrradtrümmer hockt und diese gerade untersucht. A vermutet daraufhin, K habe das Fahrrad aus Rache zertrümmert. Erregt
zieht A den K an den Haaren in die Höhe, um ihn zur Rede
zu stellen. Dabei geht A davon aus, dass K weder fliehen
noch die Feststellung seiner Identität verhindern will. Das
Haareziehen schmerzt K – wie von A vorausgesehen – heftig,
aber nur kurzzeitig. Durch den Vorgang ist K jedoch so erschrocken, dass er den linken Fuß belastet, vor Schmerzen
aufschreit, reflexartig das Gewicht auf den rechten Fuß verlagert, dadurch das Gleichgewicht verliert und rückwärts zu
Boden stürzt. Dabei landet er auf einem spitzen Metallteil des
Fahrrads, das sich in seinen Leib bohrt. A läuft schockiert ins
Haus, um den Notruf zu wählen. Noch während A mit der
Notrufzentrale spricht, verstirbt K.
Wie haben A und B sich nach dem StGB strafbar gemacht?
Ggf. erforderliche Strafanträge sind gestellt, §§ 142, 211, 212
StGB und Unterlassungsstraftaten sind nicht zu prüfen.
Weil B leichte Schlangenlinien fährt, wird er kurz darauf von
Polizeihauptkommissar S angehalten. S vermutet eine zumindest leichte Alkoholisierung. Weil es nach 22:00 Uhr ist und
bis 7:00 Uhr weder ein Staatsanwalt noch ein Richter erreicht
werden kann, will S die Beweislage sichern und die Alkoholkonzentration im Atem des B messen. B weigert sich aber, in
das Gerät zu pusten.
Kann S die Atemalkoholkonzentrationsmessung erzwingen? Was kann S alternativ anordnen? Nennen Sie die etwaige
Rechtsgrundlage und prüfen Sie die Voraussetzungen.
Lösung mit Hinweisen
A. Einleitende Hinweise
Die Klausur ist zum einen in Umfang und Schwierigkeitsgrad
nicht als sonderlich schwer einzustufen. Streitstände werden
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397
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
nur in gewissem Umfang abgefragt, es handelt sich dabei
größtenteils um Standardfragen.
Auf der anderen Seite ist sorgfältiges Subsumieren erforderlich, da zahlreiche Tatbestände letztlich gerade nicht erfüllt
sind. Dies ist den Bearbeitern entgangen, die zu oberflächlich
prüften. Des Weiteren sind mehrfach Fahrlässigkeitsdelikte
zu prüfen, was den meisten Bearbeitern schwer gefallen ist.
Straßenverkehrsdelikte, die den Schwerpunkt des Falles bilden, sind zudem eine Materie, die oft bei der Prüfungsvorbereitung etwas stiefmütterlich behandelt werden.
In der Summe ist der Fall daher als durchaus anspruchsvoll einzustufen. Die bloße Beantwortung der prozessualen Zusatzfrage allein reichte zum Bestehen nicht aus. Eine sehr gute
und sorgfältige Antwort wurde aber mit bis zu zwei Notenpunkten (zusätzlich zu denen für die Falllösung) honoriert.
Vorab noch einige Hinweise zur Prüfung von Fahrlässigkeitsdelikten der gutachterlichen Lösung vorangestellt werden.
Dies soll dem Leser die Möglichkeit eröffnen, diese Prüfung
noch einmal im Zusammenhang zu rekapitulieren. Außerdem
sollen auf diesem Wege strukturelle Zusammenhänge zwischen dem allgemeinen Fahrlässigkeitsdelikt und den Straßenverkehrsdelikten – vor allem mit Blick auf die Fragen der
objektiven Zurechnung – aufgezeigt werden, die in der Einzelprüfung nicht deutlich genug zum Vorschein kämen. Im
Rahmen des Gutachtens wird aber auf diese vorangestellten
Hinweise verwiesen, um die Prüfung zu erläutern.
I. Hinweis zum Aufbau
1. Hier wurde ein klassischer Aufbau zugrunde gelegt, der im
Tatbestand keine Einteilung in objektiv und subjektiv vornimmt, sondern nur nach der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung fragt.1 Die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung wird
im Rahmen der Schuld geprüft. Dies ergibt das folgende allgemeine Prüfungsschema für ein fahrlässiges Erfolgsdelikt2
(z.B. die fahrlässige Körperverletzung, § 229 StGB):
I. Tatbestandsmäßigkeit
Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges
Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver
Vorhersehbarkeit des Erfolges
Weitere objektive Zurechnung
Pflichtwidrigkeitszusammenhang
Ggf. Schutzzweckzusammenhang
Ggf. weitere Gründe, die die objektive Zurechnung
ausschließen
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver
Vorhersehbarkeit des Erfolges
Ggf. Vorliegen von Entschuldigungsgründen, insb. Unzumutbarkeit pflichtgemäßen Verhaltens
IV. Ggf. Strafantragserfordernis
V. Ergebnis
1
Einen solchen Aufbau empfiehlt auch Rengier, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2014, § 52 Rn. 11 f.
2
Vgl. Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 12.
2. Gut vertretbar ist allerdings auch ein alternativer Aufbau,
der einen objektiven vom subjektiven Tatbestand trennt und
im objektiven Tatbestand nach der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung fragt, im subjektiven aber nach der subjektiven.3
Die Bearbeiter müssen aber konsequent bleiben und den
einmal gewählten Aufbau jeder Fahrlässigkeitsprüfung zugrunde legen.
II. Hinweis zur Bestimmung der Sorgfaltspflichtverletzung
1. Welche Sorgfalt anzuwenden ist, kann sich zum einen
daraus ergeben, dass eine sogenannte „Sondernorm“ außerhalb
des StGB existiert, aus der sich die anzuwendende Sorgfalt
im konkreten Fall ergibt,4 so z.B. § 26 StVO. Allein der Verstoß gegen diese Sondernorm genügt jedoch noch nicht für die
Strafbarkeit. Vielmehr muss auch ein so genannter Schutzzweckzusammenhang bestehen, d.h. die Sondernorm muss
auch gerade dazu dienen, Erfolge wie den eingetretenen zu
verhindern.5 So soll § 26 Abs. 1 StVO z.B. dazu dienen, dass
Passanten einen Fußgängerüberweg überqueren können, ohne
von Fahrzeugen verletzt oder gar getötet zu werden.6 Nur
wenn ein solcher Schutzzweckzusammenhang besteht und der
Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen vorhersehbar war, kann weiter geprüft werden.
2. Ein anderer Weg besteht darin, aus der Verbotsnorm
selbst das Gebot zu bestimmen, wie sich ein gewissenhaft
handelnder und besonnener Dritter in der Lage des Täters
verhalten hätte (z.B.: § 229 StGB: „Verhalte dich so sorgfältig,
dass du niemanden verletzt!“; § 222 StGB: „Verhalte dich so
sorgfältig, dass niemand zu Tode kommt!“).7 Dieses Verhalten des besonnenen Dritten ist dann maßstäblich und gibt die
objektive Sorgfaltspflicht vor. Bei einer solchen Prüfung muss
zunächst überlegt werden, wie sich ein besonnener Dritter in
der konkreten Lage des Täters verhalten hätte.8 Ferner muss
berücksichtigt werden, inwieweit der Kausalverlauf in seinen
wesentlichen Grundzügen vorhersehbar war, denn danach bestimmt sich, welche Sorgfalt überhaupt erwartet werden kann.9
Dabei reicht jedoch die generelle Vorhersehbarkeit theoretischer Kausalverläufe nicht aus. Vielmehr darf man grundsätzlich darauf vertrauen, dass sich andere Personen verkehrsgerecht verhalten.10
3
So etwa Gaede, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 15 Rn. 34.
4
Vgl. Schröder, NStZ 2006, 669.
5
Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 37 ff.; vgl. Schröder, NStZ 2006,
669 (670).
6
Krumm, in: Haus/Krumm/Quarch (Hrsg.), Nomos Kommentar, Gesamtes Verkehrsrecht, 2014, § 26 Rn. 3 und Rn. 13.
7
Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 43.
Aufl. 2013, Rn. 667.
8
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 669.
9
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 667a.
10
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 671 ff.
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ZJS 4/2014
398
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
III. Hinweis zur Bestimmung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs
Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang steht für die QuasiKausalität der Sorgfaltspflichtverletzung für den eingetretenen Erfolg.11 In der Prüfung ist zu fragen, ob der Erfolg auch
eingetreten (oder vermeidbar gewesen) wäre, wenn man das
pflichtgemäße Verhalten hinzu denkt.12
IV. Hinweis zum gefahrspezifischen Zurechnungszusammenhang
1. Die Straßenverkehrsdelikte stellen zwar auch auf einen
Erfolgseintritt ab, und zwar die konkrete Gefahr für Leib oder
Leben oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert.13 Zusätzlich beschreiben sie aber auch das Verhalten, durch das
dieser Erfolg herbeigeführt wird, etwa indem § 315c Abs. 1
Nr. 1 StGB darauf abstellt, dass jemand ein Fahrzeug im
Straßenverkehr führt, obwohl er nicht in der Lage ist, es sicher zu führen. Das Gesetz selbst beschreibt auf diese Weise
das pflichtwidrige Verhalten. Auch in diesen Fällen ist zu
prüfen, ob gerade die Pflichtverletzung quasi kausal für den
eingetretenen Erfolg war – also ob der Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestand.14
2. Zudem muss das in § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB enthaltene Verbot, ein Fahrzeug nicht zu führen, wenn man zum
sicheren Führen nicht in der Lage ist, gerade dazu dienen,
Erfolge wie den eingetretenen zu verhindern – sodass ein
Schutzzweckzusammenhang bestehen muss.15
3. Im Ergebnis ist hier also keine andere Prüfung anzustellen als bei einem fahrlässigen Erfolgsdelikt, sofern auf
eine Sondernormverletzung abgestellt wird. Das liegt daran,
dass § 315c StGB die Sondernorm gewissermaßen selbst enthält, indem das Gesetz das pflichtwidrige Verhalten selbst
umschreibt. Trotzdem wird dieser Zusammenhang zwischen
pflichtwidrigem Verhalten und Erfolg hier anders bezeichnet,
und zwar als Zurechnungszusammenhang16 oder als Ursachenzusammenhang17.
4. Diese Prüfung ist keine Besonderheit des § 315c StGB.
Immer dann, wenn das Gesetz eine pflichtwidrige Handlung
und einen dadurch herbeigeführten Erfolg beschreibt, müssen
Pflichtwidrigkeitszusammenhang und Schutzzweckzusammenhang geprüft werden. Dies gilt etwa auch für die Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB),
nur wird hier vom spezifischen Gefahrverwirklichungszusammenhang18 oder vom Unmittelbarkeitszusammenhang19 ge11
STRAFRECHT
sprochen. Im Ausgangspunkt sind damit die oben angesprochenen Regeln der objektiven Zurechnung gemeint, umstritten ist nur, ob diese für erfolgsqualifizierte Delikte noch weiter zugespitzt werden müssen.20
B. Tatkomplex 1: Über den Fuß des K
Hinweis 1: Die Einteilung in Tatkomplexe bietet sich zwar
an, ist aber nicht zwingend.
I. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Gefährdung des
Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1,
Abs. 3 Nr. 2 StGB
Hinweis 2: Es ist kein Fehler, wenn zunächst nur das Vorsatzdelikt des § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1 StGB geprüft wird. Wer dies prüft, muss es im objektiven Tatbestand scheitern lassen. Da das Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Delikt an derselben Stelle scheitern muss, muss dieses danach nicht auch noch geprüft werden.
A könnte sich gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3
Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Fahrrad des B betrunken nach Hause fuhr und dabei dem K über
den Fuß fuhr.
1. Tatbestand
Mit dem Fahrrad führte A ein Fahrzeug im Straßenverkehr.
Hinweis 3: Eine ausführliche Prüfung mit Subsumtion ist
angesichts des klaren Sachverhalts entbehrlich. Eine sorgfältige Subsumtion ist daher kein Fehler, aber möglicherweise ein Zeichen ungünstiger Schwerpunktsetzung. Hierdurch können Bearbeiter gegen Ende der Klausur in unnötigen Zeitdruck geraten.
Sodann müsste A infolge des Genusses alkoholischer Getränke
nicht mehr in der Lage gewesen sein, sein Fahrrad sicher zu
führen.
Hinweis 4: Dies wird abgekürzt als „Fahruntüchtigkeit“21
oder „Fahrunsicherheit“22 bezeichnet. Beides meint dasselbe, die Begriffe sind gleichwertig.
Fahrunsicherheit liegt vor, wenn die Gesamtleistungsfähigkeit
des Fahrers durch Enthemmung sowie infolge geistig-seeli-
Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 31 ff.
Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 26 ff.
13
Dazu, dass dies ein Erfolg ist, vgl. Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 15. Aufl. 2014, § 44 Rn. 1 und Rn. 10.
14
Vgl. Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 23 f.
15
Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 23.
16
Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 23.
17
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
61. Aufl. 2014, § 315c Rn. 16.
18
Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 5.
19
Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar,
5. Aufl. 2013, § 227 Rn. 6.
12
20
Vgl. dazu Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 6 und Rn. 9 ff.
Vgl. Kindhäuser (Fn. 19), § 315c Rn. 3.
22
Vgl. König, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 11, 12.
Aufl. 2008, § 316 Rn. 11; Kroke/Bergmann, Rauschmittel im
Straf- und Strafprozessrecht, 2013, S. 8, abrufbar im Internet:
http://www.fh¬polizei.sachsen¬anhalt.de/fileadmin/Bibliothe
k/Politik_und_Verwaltung/MI/Polizei/fhs/Publikationen/wiss
ensch._Schriften/Asl_Manuskript_Rauschmittel_Kroke_Berg
mann__2_.pdf.
21
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399
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
scher oder körperlicher Leistungsausfälle so weit herabgesetzt
ist, dass er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug über eine längere Strecke sicher zu führen.23 A hat in seiner Stammkneipe
Alkohol getrunken, sodass sein Blutalkoholgehalt 1,5 ‰ beträgt. Die absolute unwiderlegliche Fahrunsicherheit bei Radfahrern ist ab einem Grenzwert von 1,6 ‰ gegeben.24 Diesen
Grenzwert erreicht A nicht, sodass nur noch relative Fahruntüchtigkeit in Betracht kommt. Dazu müssten zusätzliche Beweiszeichen vorliegen, die auf eine Fahrunsicherheit schließen lassen.25 Indiz ist hier die den Grenzwert von 0,3 ‰26
überschreitende BAK von 1,5 ‰. Etwaige Ausfallerscheinungen wie z.B. eine auffällige Fahrweise oder ungewöhnliche Fahrfehler sind bei A nicht erkennbar. Zwar kann A nicht
mehr rechtzeitig bremsen oder ausweichen, sodass er dem K
über die Füße fährt. Dies müsste jedoch auch rauschbedingt
erfolgt sein. K landete so dicht vor dem Rad des A, dass
dieser weder bremsen noch ausweichen konnte. Dass seine
Alkoholisierung Einfluss darauf hatte, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. Vielmehr fuhr er langsam und aufmerksam. Demzufolge wäre auch einem nüchternen Fahrer ein
rechtzeitiges Ausweichen oder Bremsen nicht möglich gewesen wäre. Dass A dem K über den Fuß fuhr, ist somit kein
Beweiszeichen dafür, dass sein Reaktionsvermögen rauschbedingt beeinträchtigt war.
Falsch fährt demnach, wer das Vorrecht des Fußgängers nicht
beachtet. A nahm P gar nicht wahr, welcher gerade über den
Zebrastreifen lief, und rollte geradewegs auf diesen zu, sodass P zur Seite springen musste. Somit beachtet A das Vorrecht des Fußgängers nicht, sodass er einen Fahrfehler beging. Allerdings geriet A auf die Straße, nachdem er K über
den Fuß gefahren war. Infolgedessen war A erschrocken und
kurzzeitig wie erstarrt, sodass er P gar nicht wahrnahm. Sein
Verhalten ist auf die Schrecksituation zurückzuführen. Ein
Zusammenhang zu seiner Alkoholisierung ist gerade nicht
erkennbar. Also handelt es sich auch hierbei nicht um einen
rauschbedingten Fahrfehler.
Hinweis 8: Auch hier ist ein anderes Ergebnis nur schwer
vertretbar.
Relative Fahrunsicherheit ist folglich mangels rauschbedingten
Fahrfehlers des A ebenfalls abzulehnen. A führte somit ein
Fahrzeug und war auch noch in der Lage, es sicher zu führen.
Der Tatbestand ist somit nicht erfüllt.
Hinweis 9: Wer die relative Fahruntüchtigkeit mit Blick
auf das Verhalten am Zebrastreifen annimmt, muss eine
konkrete Gefahr für den Leib eines anderen Menschen bejahen. Allerdings müsste dann zumindest der Pflichtwidrigkeitszusammenhang28 zwischen der Fahruntüchtigkeit
und der konkreten Gefahr verneint werden, weil die Gefahr für K nicht „dadurch“ (sondern durch den Einschätzungsfehler des K) verursacht wurde. Sollten Bearbeiter
auch dies übersehen, ist die Fahrlässigkeit selbst abzulehnen, vgl. dazu die Prüfung der fahrlässigen Körperverletzung unter III.
Hinweis 5: Mit dem Sachverhalt dürfte ein gegenteiliges
Subsumtionsergebnis nur dann vertretbar sein, wenn substantiell begründet wird, weshalb das Reaktionsvermögen
rauschbedingt beeinträchtigt ist. Eine bloße Behauptung
reicht dafür nicht aus.
Als weitere Ausfallerscheinung kommt das spätere Verhalten
des A am Fußgängerüberweg in Betracht.
Hinweis 6: Obwohl dieses Verhalten sich erst nach der
hier zu prüfenden Handlung ereignet, kann es als Beweiszeichen für eine Fahruntüchtigkeit in Betracht kommen.27
Dies haben viele Bearbeiter übersehen, was aber nicht negativ bewertet wurde.
Gemäß § 26 Abs. 1 StVO haben Fahrzeuge den Fußgängern
das Überqueren durch Nutzung des Fußgängerüberweges zu
ermöglichen, wenn nötig müssen sie hierzu warten.
2. Ergebnis
A hat sich nicht nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt 1, Abs. 3
Nr. 2 StGB strafbar gemacht
II. Strafbarkeit des A wegen Trunkenheit im Verkehr
nach § 316 Abs. 1 StGB
Eine Strafbarkeit des A wegen Trunkenheit im Verkehr scheidet mangels Fahruntüchtigkeit ebenfalls aus.
Hinweis 10: Eine ausführliche Prüfung ist deshalb entbehrlich, eine Feststellung genügt. Sollten Bearbeiter hierauf gar nicht eingegangen sein, wurde dies nicht negativ
bewertet. Falls Bearbeiter das Gutachten direkt mit der
Prüfung des § 316 StGB begonnen hatten, war hier zu erörtern, dass A nicht fahruntüchtig war. Wegen der Subsidiaritätsklausel in § 316 StGB sollte diese Prüfung allerdings erst nach § 315c StGB erfolgen.
Hinweis 7: Die StVO-Norm musste nicht genannt werden.
23
Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1,
37. Aufl. 2013, Rn. 986.
24
Vgl. Rengier (Fn. 13), § 43 Rn. 9 m.w.N. zur Rspr.
25
Rengier (Fn. 13), § 43 Rn. 10; Wessels/Hettinger (Fn. 23),
Rn. 989.
26
0,3 Promille bilden den Mindestwert, ab dem von alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit ausgegangen werden kann, vgl.
Rengier (Fn. 13), § 43 Rn. 10; Wessels/Hettinger (Fn. 23),
Rn. 989; Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 9.
27
Vgl. dazu Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 989, wonach es
auf eine Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände ankommt.
Hinweis 11: Eine Strafbarkeit des A wegen (gefährlicher)
Körperverletzung scheidet ebenfalls aus. A bemerkte den
28
Allgemein wird dieser Zusammenhang als „Zurechnungszusammenhang“ oder als „Ursachenzusammenhang“ bezeichnet, vgl. dazu den einleitenden Hinweis oben unter A. IV. 3.
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ZJS 4/2014
400
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
K überhaupt nicht und wollte ihn nicht verletzen, sodass
er offensichtlich ohne Vorsatz handelt.29 Die (ausführliche)
Prüfung der §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB
ist daher entbehrlich. Es kann direkt mit der Prüfung des
§ 229 StGB begonnen werden.
keine Reduzierung der Geschwindigkeit zu erwarten. A ist
aufmerksam und langsam gefahren, sodass er die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt gewahrt und damit keine objektive Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat.
Hinweis 12: Eine gute Subsumtion wird sich nicht auf eine
pauschale Feststellung von Sorgfaltspflichten beschränken,
sondern diese aus der objektiven Vorhersehbarkeit abzuleiten versuchen. Unvertretbar ist es für diesen Fall, eine
objektive Vorhersehbarkeit anzunehmen. In jedem Fall
verhält sich A sorgfaltsgemäß, da er langsam und aufmerksam fährt. Sollten Bearbeiter zuvor (fehlerhaft) eine
Fahruntüchtigkeit angenommen haben, dann müssen diese
Bearbeiter hier allerdings anders prüfen und auf das Fahren in fahruntüchtigem Zustand als Sorgfaltspflichtverletzung abstellen. Diese Bearbeiter müssen dann aber den
Pflichtwidrigkeitszusammenhang im Rahmen der weiteren
objektiven Zurechnung scheitern lassen, da der Erfolgseintritt nicht auf der Alkoholisierung beruhte, sondern
auch für A im nüchternen Zustand unvermeidbar gewesen
wäre.36 Eine gegenteilige Behauptung findet keine Stütze
im Sachverhalt!
III. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB
A könnte sich gemäß § 229 StGB strafbar gemacht haben,
indem er dem K über den linken Fuß fuhr.
1. Tatbestand
a) Erfolgseintritt
Zunächst müsste bei K ein Körperverletzungserfolg eingetreten sein. Dazu müsste A den K an der Gesundheit geschädigt
oder körperlich misshandelt haben, § 223 Abs. 1 StGB. A
fuhr dem K mit seinem Rad über dessen Fuß. Dies stellt eine
üble und unangemessene Behandlung dar.30 Dabei erleidet K
Schmerzen, sodass sein Körperempfinden im Vergleich zu
vor der Tat negativ beeinträchtigt wurde. Mit dem Überschreiten der Schmerzschwelle war diese Beeinträchtigung
erheblich.31 Ferner musste K nach dem Vorfall humpeln und
konnte seinen Fuß nicht mehr belasten. Somit lag eine negative Beeinträchtigung seiner somatischen Funktionsfähigkeit
sowie eine Verletzung der körperlichen Integrität vor,32 sodass A den K körperlich misshandelt hat. Damit einher geht,
dass A bei K einen pathologisch, vom Normalzustand negativ
abweichenden Zustand hervorrief,33 ihn mithin an der Gesundheit schädigte. Folglich hat A bei K einen Körperverletzungserfolg verursacht.
b) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges
Sodann müsste A bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts seine Sorgfaltspflichten verletzt haben, d.h. er müsste
die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen
haben.34 Art und Umfang der anzuwendenden Sorgfalt bemessen sich nach den Anforderungen, die an einen besonnenen und gewissenhaften handelnden Dritten in der konkreten
Lage des Täters zu stellen sind.35 A fährt auf dem Radweg an
einer dichten, nicht einsehbaren Hecke entlang. Ein gewissenhaft und besonnen handelnder Dritter in der Lage des A hätte
die Hecke als schlecht einsehbare Stelle erkannt. Ein besonnener und gewissenhafter Dritter in der Lage des A hätte dies
daher mangels besonderer Umstände wie z.B. die Nähe zu
einem Kinderspielplatz nicht vorhergesehen. Somit war der
Erfolgseintritt nicht objektiv vorhersehbar und von einem sorgfältigen Verkehrsteilnehmer in der konkreten Lage des A
29
Zur Definition von Vorsatz vgl. Wessels/Beulke/Satzger
(Fn. 7), Rn. 203; Rengier (Fn. 1), § 14 Rn. 5.
30
Vgl. zur Definition Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 4.
31
Zur Definition Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 5.
32
Zur Definition Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 7.
33
Definition nach Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 8.
34
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 667.
35
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 669.
STRAFRECHT
Hinweis 13: Ein ganz grober Fehler, der deutlich negativ
zu bewerten ist, liegt vor, wenn Bearbeiter eine objektive
Sorgfaltspflichtverletzung damit begründeten, dass § 223
StGB (oder § 229 StGB) das Herbeiführen einer Körperverletzung verbiete. § 223 StGB enthält (mit Blick auf
§ 229 StGB) keine Sorgfaltspflicht (gebietet also keine
Sorgfalt im Umgang mit anderen Menschen), sondern eine
Unterlassungspflicht (die es gebietet, bestimmte Erfolge
nicht herbeizuführen)! Diese Bearbeiter zeigen, dass sie das
Fahrlässigkeitsdelikt nicht hinreichend verstanden haben.
2. Ergebnis
A hat sich nicht gemäß § 229 StGB strafbar gemacht.
IV. Ergebnis
Im 1. Tatkomplex hat sich A nicht strafbar gemacht.
C. Tatkomplex 2: Am Zebrastreifen
Hinweis 14: Dieser Tatkomplex lässt sich auch mit dem
zuvor geprüften Tatkomplex zusammenfassen.
I. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Gefährdung des
Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1,
Abs. 3 Nr. 2 StGB
Eine Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3
Nr. 2 StGB scheidet mangels rauschbedingten Fahrfehlers
des A aus, vgl. B. I. 1.
Hinweis 15: Dies muss nicht zwingend angesprochen werden, wenn sich bereits aus der Prüfung unter I. ergibt,
dass A keinen rauschbedingten Fahrfehler begangen hat.
36
Vgl. dazu auch oben Hinweis 9.
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401
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
Sollte dort aber noch nicht geprüft worden sein, ob der
Fahrfehler am Zebrastreifen ein Indiz für eine relative
Fahruntüchtigkeit ist,37 muss dies nun nachgeholt werden.
II. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Gefährdung des
Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c, Abs. 3
Nr. 2 StGB
A könnte sich nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c, Abs. 3 Nr. 2
StGB strafbar gemacht haben, indem er bei einem Zebrastreifen eine Ausweichbewegung auf die Straße machte und
dadurch den P beinahe erfasste.
1. Tatbestand
a) Pflichtwidrige38 Tathandlung
Dazu müsste A zunächst im Straßenverkehr grob verkehrswidrig an einem Fußgängerüberweg falsch gefahren sein. Bei
der Straße handelt es sich um eine solche des öffentlichen
Straßenverkehrs.
scheinlichkeit eines Schadenseintritts und somit eine konkrete
Gefahr für Leib (oder Leben) einer anderen Person.41
c) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges
A hätte die objektiv bestehende Sorgfaltspflicht bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges verletzt haben müssen.
Hinweis 17: Im Folgenden wird die Prüfung anhand einer
Sondernorm vorgestellt, vgl. dazu den einleitenden Hinweis unter A. II. 1.
Nach § 26 Abs. 1 StVO haben Fahrzeuge den Fußgängern
das Überqueren durch Nutzung des Fußgängerüberweges zu
ermöglichen, wenn nötig müssen sie hierzu warten. Dies hat
A nicht getan. Somit hat er die objektiv bestehende Sorgfaltspflicht verletzt.
Hinweis 18: Der andere, gleichermaßen vertretbare Ansatz,
die Pflichtverletzung aus der Vorhersehbarkeit abzuleiten
(vgl. dazu den einleitenden Hinweis unter A. II. 2), könnte
so geprüft werden: Ein umsichtig handelnder Dritter in der
Lage des A hätte erkannt, dass er sich einem Zebrastreifen
nähert und dass Fußgänger hier Vorrang haben. Er hätte
daher vorhergesehen, dass ein ungebremstes Weiterfahren
zu einem groben Verkehrsverstoß führen kann. Somit wäre für ihn die Handlung objektiv vorhersehbar gewesen.
Hinweis 16: Auch hier sind ausführlichere Ausführungen
entbehrlich, weil dies evident ist.
Fußgängerüberwege i.S.d. § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c StGB
sind solche, die durch Zebrastreifen gekennzeichnet sind
(§ 41 StVO, Zeichen 293). P überquert auf einem solchen
Zebrastreifen, mithin auf einem Fußgängerüberweg, die Straße.
Wie schon unter B. I. 1. aufgezeigt, beging A hier einen Fahrfehler, fuhr also falsch.
Diesen Verkehrsverstoß müsste A zudem grob verkehrswidrig begangen haben. Ein grob verkehrswidriges Verhalten
setzt einen objektiv besonders schweren Verstoß gegen Verkehrsvorschriften voraus.39 A macht plötzlich eine Ausweichbewegung auf die Straße, ohne sich einen Überblick über die
dortigen Verhältnisse zu verschaffen. Er achtet nicht auf andere Verkehrsteilnehmer. Ein solches plötzliches und unachtsames Ausweichen auf eine Straße, zudem noch in alkoholisiertem Zustand, kann schwerwiegende Verletzungen nach
sich ziehen. Also hat A objektiv besonders schwerwiegend
gegen Verkehrsvorschriften verstoßen. Demnach ist der Verkehrsverstoß des A grob verkehrswidrig.
A fuhr also grob verkehrswidrig an einem Fußgängerüberweg falsch.
Außerdem hätte ein umsichtig handelnder Dritter vorhergesehen, dass andere Personen die Straße über den Zebrastreifen
überqueren könnten. Somit hätte er auch konkrete Erfolge
wie den „Beinahe-Unfall“ vorhergesehen.
Hinweis 19: Wer die Pflichtverletzung aus der Vorhersehbarkeit ableitet, schreibt weiter: Deshalb hätte er das Rad
nicht einfach auf der Straße weiter rollen lassen, sondern
wäre stehen geblieben oder hätte sich zumindest einen
Überblick über andere Verkehrsteilnehmer verschafft.
Dies alles tat A nicht, somit hat er objektiv die ihn treffende
Sorgfaltspflicht bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges
verletzt.
Hinweis 20: Hier ist es auch gut vertretbar, bereits eine
objektive Sorgfaltspflichtverletzung zu verneinen, wenn
man den Schrecken des A in die Betrachtung einbezieht.
Auch ein besonnener, wenngleich sehr erschrockener Dritter hätte in dieser Situation nicht anders handeln können.
b) Konkrete Gefahr
Dadurch kam es zu einem „Beinahe-Unfall“ mit P, also lag
ein Zustand vor, in dem der Eintritt eines Schadens derart
nahe lag, dass es lediglich dem Zufall zu verdanken ist, dass
er nicht eintrat.40 Es bestand also die nahe liegende Wahr-
37
Vgl. dazu auch oben Hinweis 6.
Vgl. dazu den einführenden Hinweis unter A. II.
39
Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 8.
40
Zu dieser Definition für eine konkrete Gefahr Rengier
(Fn. 13), § 44 Rn. 10 ff.
38
41
Zu dieser alternativen Definition für eine konkrete Gefahr
vgl. Fischer (Fn. 17), § 315c Rn. 15a.
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ZJS 4/2014
402
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
d) Objektive Zurechnung (Zurechnungszusammenhang)42
aa) Pflichtwidrigkeitszusammenhang43
Hätte sich A aufmerksam umgesehen oder wäre stehen geblieben, so hätte P den Fußgängerüberweg ungestört nutzen
können, sodass der Erfolg bei pflichtgemäßem Alternativverhalten vermeidbar44 und somit auch der Pflichtwidrigkeitszusammenhang gegeben war.
bb) Schutzzweckzusammenhang45
Außerdem müsste der Schutzzweckzusammenhang gegeben
sein.46 Der Schutzzweckzusammenhang ist dann gegeben,
wenn die verletzte Sorgfaltsnorm gerade dazu diente, solche
Erfolge wie den eingetretenen „Beinahe-Unfall“ zu verhindern.47 § 26 Abs. 1 StVO soll Fußgängern das gefahrlose
Überqueren der Straße durch Nutzung des Fußgängerüberweges ermöglichen. Diese Norm dient deshalb gerade dazu,
Gefahren für Passanten und Körperverletzungserfolge zu verhindern, sodass auch der Schutzzweckzusammenhang gegeben ist.
f) Rücksichtslosigkeit
Rücksichtslosigkeit ist bei fahrlässigem Verhalten anzunehmen, wenn sich der Fahrer seiner Pflichten zwar bewusst ist,
sich aber aus Gleichgültigkeit nicht auf diese besinnt, Bedenken gegen sein Verhalten aus Gleichgültigkeit gar nicht aufkommen lässt und unbekümmert „drauflos fährt“.48 As Verhalten ist jedoch auf einen psychischen Ausnahmezustand
zurückzuführen, nicht auf eine Gleichgültigkeit den übrigen
Verkehrsteilnehmern gegenüber. Er fährt gerade nicht unbekümmert „drauflos“. Folglich verhält er sich nicht rücksichtslos.
Hinweis 21: Wer dies übersah oder fehlerhaft (und daher
unvertretbar) annahm, musste die Fahrlässigkeit dann zumindest in der Schuld49 scheitern lassen, weil es aufgrund
der Schrecksituation dem A subjektiv nicht möglich war,
die Sorgfaltspflicht einzuhalten. Sollten Bearbeiter auch
dies übersehen haben, wog dies als schwerer Fehler.
g) Zwischenergebnis
Somit ist der Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c StGB
nicht erfüllt.
42
Vgl. zum Begriff oben den einleitenden Hinweis unter
A. IV.
43
Siehe dazu den einleitenden Hinweis unter A. IV. 1.
44
Dies ist Maßstab des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs,
vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 676.
45
Siehe dazu den einleitenden Hinweis unter A. IV. 2.
46
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 674.
47
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 674.
48
Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 998.
49
Zum Ort der Prüfung der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges siehe
den einleitenden Hinweis unter A. I.
STRAFRECHT
2. Ergebnis
A hat sich nicht gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c, Abs. 3 Nr. 2
StGB strafbar gemacht.
III. Ergebnis
Auch im 2. Tatkomplex hat sich A nicht strafbar gemacht.
D. Tatkomplex 3: Auf dem Parkplatz
I. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Gefährdung des
Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1,
Abs. 3 Nr. 2 StGB
B könnte sich gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3
Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er versehentlich
den Vorwärtsgang einlegte und nach vorne schoss, sodass er
fast mit dem Fahrrad des W zusammenstieß.
1. Tatbestand
a) Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr
Dazu ist zunächst notwendig, dass B im Straßenverkehr ein
Fahrzeug führte, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer
Getränke fahrunsicher war. Das Geschehen spielte sich auf
dem Parkplatz vor der Kneipe ab. Dieser steht zwar im Privateigentum des W, ist jedoch für jedermann zugänglich und zumindest jedem Gast zur Benutzung freigegeben,50 folglich
gehört der Parkplatz zum öffentlichen Straßenverkehr.
Sodann müsste B das Fahrzeug geführt haben. B legt den
Vorwärtsgang ein und drückt das Gaspedal durch, sodass das
Auto, ein Fahrzeug, nach vorne schoss. Demnach hat B alle
notwendigen technischen Vorrichtungen bedient, um das Auto
in Bewegung zu setzen.51 Somit führte B das Auto.
Hinweis 22: Hier genügt auch eine Feststellung.
b) Fahruntüchtigkeit
Ferner müsste B infolge des Genusses alkoholischer Getränke
fahrunsicher52 gewesen sein. B hat in der Kneipe Alkohol
getrunken und infolgedessen einen Blutalkoholgehalt von
1,2 ‰. Absolute Fahrunsicherheit wird unwiderleglich ab
einer BAK von 1,1 ‰ angenommen.53 Mit Erreichen dieses
Grenzwertes ist B damit (absolut) fahrunsicher.
c) Konkrete Gefahr
Sodann müsste B durch das Führen des Fahrzeugs Leib oder
Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von
bedeutendem Wert gefährdet haben.
aa) Fahrrad des W
In Betracht kommt hier eine konkrete Gefahr für das Fahrrad
des W. Eine konkrete Gefahr liegt bei einem Zustand vor, in
dem der Eintritt eines Schadens derart nahe liegt, dass es
50
Zur Definition vgl. Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 978.
Zu dieser Definition Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 984.
52
Vgl. zu diesem Begriff oben Hinweis 4.
53
Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 987; vgl. auch Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 7.
51
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403
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
lediglich dem Zufall zu verdanken ist, wenn der Schaden
doch nicht eintritt.54 Indem B mit dem Wagen nach vorne
schoss, traf er fast das abgestellte Fahrrad. Dieses Rad, eine
Sache, steht im Eigentum des W, mithin im Eigentum zumindest auch eines anderen als B selbst,55 sodass es für diesen
fremd war. Einen Zusammenstoß konnte B nur mit knapper
Not verhindern, sodass dem Rad eine konkrete Gefahr drohte,
zumindest beschädigt zu werden. Diese fremde Sache müsste
nunmehr auch einen bedeutenden Wert gehabt haben. Dies
wird ab einem Wert von 750 € angenommen.56 Teilweise
zeigen sich auch Tendenzen, die einen bedeutenden Wert ab
1300 €annehmen.57 Das Rad ist bereits verrostet und sehr alt.
Somit liegt dessen Wert jedenfalls unterhalb der Grenze von
750 €, sodass es sich dabei nach allen Ansichten nicht um
eine Sache von bedeutendem Wert handelte.
bb) Auto des A
(1) Fremde Sache von bedeutendem Wert
Stattdessen könnte B eine konkrete Gefahr für das Auto verursacht haben. Dazu müsste das Auto eine fremde Sache von
bedeutendem Wert sein. Das Fahrzeug, eine Sache, gehört
dem A und steht somit im Eigentum zumindest eines anderen
als B selbst, sodass es für diesen fremd ist. Ferner übersteigt
der dem Auto innewohnende Wert die Grenze von 1300 €,
sodass es sich nach jeder Ansicht um eine Sache von bedeutendem Wert handelt. Indem B das Fahrrad des A umfährt,
zersplittert der rechte Außenspiegel des Autos. Dass Lack
und Motor unbeschädigt bleiben, ist allein dem Zufall zu verdanken. Die drohenden Schäden hätten ebenfalls die Grenze
von 1300 € überschritten. Es drohte also auch konkret ein
Schadensausmaß bedeutenden Wertes.58 Somit hat B eine
konkrete Gefahr für das Auto verursacht.
(2) Tauglichkeit des geführten Fahrzeugs als Gefährdungsobjekt
Fraglich ist jedoch, ob das dem B nicht gehörende, aber von
ihm geführte Fahrzeug überhaupt vom Schutzbereich erfasst
wird und damit taugliches Gefährdungsobjekt sein kann. Dies
ist umstritten.
(a) Kein taugliches Tatobjekt aufgrund Tatmitteleigenschaft
Nach einer Ansicht kann das Fahrzeug als Tatmittel nicht zugleich Gefährdungsobjekt sein. Der Schutzbereich des § 315c
StGB ist nach dieser Ansicht nicht betroffen, folglich ist das
Auto des A kein taugliches Tatobjekt.59
(b) Taugliches Tatobjekt
Nach anderer Ansicht fällt auch das vom Täter geführte Fahrzeug in den Schutzbereich des § 315c StGB, sodass das Auto
des A taugliches Tatobjekt sein kann.60
(c) Streitentscheid
Da beide Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, ist ein Streitentscheid erforderlich. Schon der der Wortlaut verlangt, dass der Täter „ein Fahrzeug führt […] und dadurch […] fremde Sachen […] gefährdet“. Bereits diese Formulierung legt nahe, dass das Fahrzeug von den gefährdeten
Sachen zu unterscheiden sein muss.
Daher stellt das Fahrzeug lediglich das notwendige Mittel
dar, mit dem der Täter die Tat begeht.61 Vor dem Hintergrund
des Schutzzwecks (allg. Straßenverkehrssicherheit, nicht jedoch Eigentumsschutz)62 der Norm scheidet es demnach aus
dem Schutzbereich aus.63 Die Strafbarkeit hinge anderenfalls
vom Zufall ab, z.B. wenn der Täter das Fahrzeug lediglich
unter Eigentumsvorbehalt kauft.64 Hat er die letzte Rate bereits gezahlt, so ist das Fahrzeug nicht mehr fremd, sodass
sich der Täter bei Einbeziehung des selbst geführten Fahrzeuges in den Schutzbereich nicht strafbar macht; lediglich
wenn er die letzte Rate zufällig noch nicht gezahlt hat und
das Fahrzeug somit noch fremd ist, käme eine Bestrafung in
Betracht. Noch deutlicher wird die Zufälligkeit dieser Regelung, wenn der Täter dem Verkäufer eine Einzugsermächtigung erteilt hat. Nun entzieht sich der konkrete Zeitpunkt des
Eigentumsüberganges seiner Herrschaft und wahrscheinlich
auch seiner Kenntnis. Vertraut er darauf, bereits Eigentümer
zu sein, obwohl tatsächlich der Kaufpreis noch nicht vollständig auf dem Konto des Verkäufers eingetroffen ist, so
müsste man ihm vorhalten, fahrlässig eine fremde Sache von
bedeutendem Wert gefährdet zu haben. Die Strafbarkeit von
derartigen Zufälligkeiten abhängig zu machen, ist aber nicht
Sinn der Vorschrift.
Zudem nimmt eine Person erst am besonderen verkehrsrechtlichen Schutz teil, wenn sie sich selbst in den Verkehrsbereich eingebracht hat.65 Auch dies ist jedenfalls bei demjenigen, der dem Täter ein Fahrzeug unter Eigentumsvorbehalt
verkauft hat, nicht der Fall. Somit ist die erstgenannte Ansicht vorzugswürdig, sodass das vom Täter geführte Fahrzeug
als Gefährdungsobjekt ausscheidet.
Hinweis 23: a) Ebenso gut kann auch der zweiten Ansicht
gefolgt werden, sodass der von B geführte PKW als Gefährdungsobjekt in Betracht kommt.
60
54
Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 10 ff.
55
Zu dieser Definition vgl. Wessels/Hillenkamp, Strafrecht,
Besonderer Teil, Bd. 2, 36. Aufl. 2013, Rn. 79; Rengier,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 16. Aufl. 2014, § 2 Rn. 6.
56
BGHSt 48, 23.
57
Fischer (Fn. 17), § 315 Rn. 16a; Rengier (Fn. 13), § 44
Rn. 21.
58
Vgl. zu diesem Erfordernis Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 21.
59
Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 22.
König (Fn. 22), § 315c StGB Rn. 168.
So auch Renzikowski, in: Matt/Renzikowski (Fn. 3), § 315c
Rn. 19.
62
Vgl. zum Schutzzweck Renzikowski (Fn. 61), § 315c Rn. 19;
König (Fn. 22), § 315c Rn. 3.
63
Vergleichbar Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 306 ff. Rn. 11.
64
König (Fn. 22), § 315c Rn. 167; Heine (Fn. 63), Vor
§§ 306 ff. Rn. 11.
65
BGHSt 27, 40 (43); vgl. König (Fn. 22), § 315c Rn. 167.
61
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ZJS 4/2014
404
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
In der Literatur wird dies u.a. wie folgt begründet: Es
existiere kein allgemeiner Grundsatz, nach dem das Tatmittel nicht zugleich auch geeignetes Gefährdungs- oder
Verletzungsgegenstand sein könne.66 Der Normzweck widerspreche nicht der Einbeziehung des vom Täter geführten Kfz in den Schutzbereich, da sich die Gefährlichkeit
des Täterverhaltens für die Straßenverkehrssicherheit nicht
greifbarer zeigt, nur weil der Täter einen anderen Gegenstand als das von ihm geführte fremde Fahrzeug beschädigt.67 Auch der Gesichtspunkt der verkehrsbezogenen Beteiligung Dritter erscheine nicht tragbar, weil sich der gefährdete Dritte nach allgemeiner Auffassung gar nicht im
öffentlichen Verkehrsraum befinden oder gar am Verkehrsvorgang beteiligt sein muss. Außerdem seien fremde Sachwerte unzweifelhaft geeignete Gefährdungsobjekte, obwohl
sich diese nicht in den Verkehr einzubringen pflegen.68
b) Folgt man nun der zweiten Ansicht, so wäre die Fahrlässigkeit bezüglich des pflichtwidrigen Handelns69 und
der fahrlässigen Gefahrherbeiführung zu prüfen, diese liegt
im Ergebnis ebenfalls vor (vgl. dazu unten die Prüfung
unter II.). Hätte B vor Fahrtantritt kritisch seine Fahrtüchtigkeit überprüft, dann wäre die Gefahrverursachung auch
vermeidbar gewesen. Insoweit ist auch der Zurechnungszusammenhang70 gegeben. Rechtswidrigkeit und Schuld
sind im Übrigen unproblematisch.
1. Tatbestand
a) Pflichtwidrige Tathandlung nach § 316 Abs. 1 StGB
Wie bereits geprüft, führt B ein Fahrzeug im Verkehr, obwohl
er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht mehr in
der Lage ist, dieses sicher zu führen.
b) Objektive Vorhersehbarkeit der Pflichtverletzung
Hinweis 25: Das Fahren in fahrunsicherem Zustand stellt
bereits die Sorgfaltspflichtverletzung dar.71 Da § 316 StGB
ein schlichtes Tätigkeitsdelikt ist,72 also keinen Erfolgseintritt, sondern bloß die Vornahme der Tathandlung verlangt, muss man daher nun nur noch fragen, ob es objektiv
vorhersehbar war, die Sorgfaltspflicht zu verletzen.
Sodann müsste die Pflichtverletzung objektiv vorhersehbar
gewesen sein. B stieg betrunken in den Wagen, um nach
Hause zu fahren. Dass man infolge des Genusses alkoholischer
Getränke eine erhöhte BAK, so wie bei B, aufweist und dadurch die Koordinationsfähigkeit vermindert wird, liegt nicht
außerhalb jeder Lebenserfahrung. Es ist vielmehr vorhersehbar, dass es leicht zu Fahrfehlern kommen kann. Ein besonnen
Handelnder in der Situation des B hätte dies somit vorhergesehen. Somit war die Sorgfaltspflichtverletzung objektiv vorhersehbar.
Somit ist der Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1,
Abs. 3 Nr. 2 StGB nicht erfüllt.
Hinweis 26: Da § 316 Abs. 1 StGB keinen Erfolg kennt,
sondern nur die Pflichtverletzung, kann man keinen Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Handlung und Erfolg
prüfen. Dasselbe gilt für den Schutzzweckzusammenhang.
Diese Punkte entfallen hier daher.
2. Ergebnis
B hat sich nicht nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3
Nr. 2 StGB strafbar gemacht.
Hinweis 24: Wurde das Tatfahrzeug als vom Schutzbereich
des § 315c StGB erfasst angesehen und die Strafbarkeit
des B gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2
StGB bejaht, so tritt die zugleich verwirklichte fahrlässige
Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB) wegen der in § 316 Abs. 1 StGB angeordneten Subsidiarität
dahinter zurück. Es genügt dann, dieses Delikt und seine
Subsidiarität in den Konkurrenzen anzusprechen.
c) Zwischenergebnis
Der Tatbestand ist folglich erfüllt.
2. Rechtswidrigkeit
Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich, sodass B rechtswidrig handelt.
3. Schuld
II. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Trunkenheit im
Verkehr nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB
B könnte sich gemäß § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er betrunken mit dem Kfz auf dem Parkplatz nach vorne schnellt.
66
STRAFRECHT
Hinweis 27: Mit einer BAK von 1,2 ‰ liegt keine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit, mithin keine Schuldunfähigkeit i.S.d. § 20 StGB vor, welche ab einem Grenzwert
von 3,0 ‰ angenommen wird.73 Damit ist B jedenfalls
schuldfähig. Hierauf muss im Gutachten aber nicht eingegangen werden. Bearbeiter, die diesen Punkt kurz ansprachen, erhielten aber ein Lob.
Das Vorliegen von Entschuldigungsgründen ist nicht ersichtlich.
König (Fn. 22), § 315c Rn. 168a.
König (Fn. 22), § 315c Rn. 168b.
68
König (Fn. 22), § 315c Rn. 168c.
69
Vgl. dazu den einleitenden Hinweis unter A. IV. 1.
70
Vgl. zu diesem Begriff den einleitenden Hinweis unter
A. IV. 3.
67
71
Vgl. dazu auch die einleitenden Hinweise unter A. IV. 1.
König (Fn. 22), § 316 Rn. 2.
73
Fischer (Fn. 17), § 20 Rn. 19 ff.; vgl. Kroke/Bergmann
(Fn. 22), S. 14 f.
72
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405
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
Zudem müsste die Pflichtverletzung für B auch subjektiv
vorhersehbar gewesen sein.74 B konnte nach seinen Geisteskräften wissen, welche Folgen ein übermäßiger Alkoholgenuss auf die Fahrtüchtigkeit hat. Somit war die Pflichtverletzung für B auch subjektiv vorhersehbar.
Somit handelt B schuldhaft.
4. Ergebnis
B hat sich gemäß § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr strafbar gemacht.
III. Ergebnis
B hat sich im 3. Tatkomplex wegen fahrlässiger Trunkenheit
im Verkehr nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB strafbar gemacht.75
E. Tatkomplex 4: Über das Fahrrad
I. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Gefährdung des
Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1,
Abs. 3 Nr. 2 StGB
B könnte sich gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 3 Nr. 2
StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Auto des A
sein Fahrrad umgefahren hat.
Hinweis 28: Auch hier ist es in Ordnung, statt eines Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Delikts das Vorsatzdelikt zu
prüfen (vgl. Hinweis 2). Da dieses tatbestandlich scheitert,
ist dann eine weitere Prüfung der Fahrlässigkeits-Varianten entbehrlich, weil sich die Voraussetzungen nicht ändern.
1. Tatbestand
a) Pflichtwidrige Tathandlung
B fährt mit dem Auto auf der Straße und gerät anschließend
auf den benachbarten Bordstein. Somit führte er im öffentlichen Straßenverkehr ein Fahrzeug. Wie bereits oben geprüft,
ist B wegen seiner BAK von 1,2 ‰ nicht mehr in der Lage,
dieses sicher zu führen.
b) Konkrete Gefährdung
Sodann müsste B infolgedessen eine konkrete Gefahr für Leib
oder Leben eines anderen Menschen oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert verursacht haben.
Hinweis 29: Eine Gefahr von Fußgängern wie K musste
nicht geprüft werden, hier ist es zu keinem „Beinahe-Unfall“ infolge der Alkoholisierung des B gekommen.
Möglicherweise könnte B mit seinem Verhalten eine konkrete
Gefahr für das auf dem Gehweg stehende Rad verursacht
haben. Dazu müsste es sich bei dem Rad um eine fremde
Sache von bedeutendem Wert handeln. Das Rad, eine Sache,
hatte B am Morgen für 2.300 € käuflich erworben, sodass es
eine Sache von mehr als 1.300 € und somit von bedeutendem
Wert ist. Seitdem steht es aber in seinem Eigentum. Mithin
ist es für B nicht fremd. Somit scheidet das Rennrad als Gefährdungsobjekt aus.
Dass der von B geführte PKW des A kein taugliches Tatobjekt im Rahmen des § 315c StGB ist, wurde bereits oben
unter D. I. 1. festgestellt.
Hinweis 30: Wer oben unter D. I. 1. der Meinung gefolgt
ist, dass der PKW des A als Tatobjekt der Gefährdung in
Betracht kommt, verweist hier nach oben und gelangt auf
diese Weise erneut zur Vollendung des Tatbestandes und
zur Strafbarkeit. Hier anders zu entscheiden als zuvor ist
völlig unvertretbar und ein sehr grober Fehler! Die Fahrlässigkeit wird ähnlich begründet wie zuvor unter D. II.,
ein Verweis ist möglich.
Folglich liegt keine konkrete Gefährdung i.S.d. § 315c StGB
vor.
c) Zwischenergebnis
Somit ist der Tatbestand nicht erfüllt ist.
2. Ergebnis
B hat sich nicht nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3
Nr. 2 StGB strafbar gemacht.
Hinweis 31: Auch diese Prüfung durfte noch knapper ausfallen, solange die relevanten Punkte zur konkreten Gefahr
angesprochen wurden.
II. Strafbarkeit des B wegen fahrlässigen gefährlichen
Eingriffs in den Straßenverkehr nach § 315b Abs. 1 Nr. 1,
Abs. 5 StGB
Hinweis 32: Es wurde nicht als Fehler bewertet, wenn Bearbeiter dies nicht prüften. Eine ansprechende Prüfung
wurde aber wohlwollend (in der Art eines Bonus) berücksichtigt.
B könnte sich gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Auto sein Rad erfasste,
sodass der Außenspiegel zersplitterte und das Rad zerbrach.
1. Tatbestand
a) Beschädigen oder Zerstören von Fahrzeugen
Dazu müsste B Fahrzeuge zerstört oder beschädigt haben.
Durch den Zusammenstoß zwischen PKW und Rad zerspringt
der Spiegel des Autos und das Rad zerbricht. Somit wurde
das Auto beschädigt und das Rad zerstört. Also wurden Fahrzeuge beschädigt bzw. zerstört.
74
Dieser Punkt kann auch in einem subjektiven Tatbestand
geprüft werden, vgl. dazu die einleitenden Hinweise unter
A. I. 2.
75
Vgl. hierzu auch Hinweis 24.
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ZJS 4/2014
406
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
b) Verkehrsfremder Eingriff
Dies müsste auf einem verkehrsfremden Eingriff, bei Verhalten im Straßenverkehr auf einem über verkehrswidriges Verhalten hinausgehenden bewusst zweckwidrigen Einsatz eines
Fahrzeugs mit Schädigungsvorsatz, beruhen.76 B hatte allerdings weder Schädigungsvorsatz noch verkehrsfeindliche
Absicht, er nahm lediglich (verkehrswidrig) am Straßenverkehr teil. Somit mangelt es am verkehrsfremden Eingriff.
Hinweis 33: Schon deshalb lag es nahe, dieses Delikt gar
nicht erst zu prüfen. Zahlreiche Bearbeiter haben allerdings die Prüfung in sehr knapper Form vorgenommen,
den Eingriff bejaht und dann noch die Folgen des Eingriffs geprüft. Diese bestehen darin, die Sicherheit des
Straßenverkehrs und dadurch wiederum Leib oder Leben
eines anderen Menschen oder eine fremde Sachen von
bedeutendem Wert gefährdet zu haben.77 Das Anfahren
des Rades, das sowohl die Schäden am Rad als auch am
Auto hervorruft, ist aber ein einheitlicher Vorgang, der
sich nicht in eine zeitlich vorgelagerte Zerstörung des
Fahrrades und eine zeitlich nachgelagerte Beschädigung
des Autos trennen lässt. Die Struktur des Delikts verlangt
gerade, dass durch die Beschädigung eines Fahrzeugs die
Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt wurde und
wiederum dadurch eine konkrete Gefahr eintrat, sodass
insoweit eine gewisse Zäsur bzw. Zweiaktigkeit erforderlich ist. Daran fehlt es hier. Bearbeiter, die die Struktur des
Deliktes nicht verstanden haben, mögen es ausreichen lasse, erneut auf die Schäden am Fahrrad bzw. Auto abzustellen. Das ist ein grober Fehler.78
2. Ergebnis
B hat sich nicht gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB
strafbar gemacht.
III. Strafbarkeit des B nach § 315b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5
StGB wegen fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den
Straßenverkehr
B könnte sich gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 StGB wegen fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr
strafbar gemacht haben, indem er das Rad zertrümmert hat,
sodass die Trümmerteile auf dem Gehweg liegen.
Hinweis 34: Es wurde auch hier (vgl. Hinweis 32) nicht
als Fehler bewertet, wenn Bearbeiter dies nicht prüften.
Eine ansprechende, knappe Prüfung wurde aber als Bonus
wohlwollend berücksichtigt, dafür reichte hier allerdings
auch ein Satz, der erneut auf das Fehlen eines verkehrsfremden Eingriffs oder jedenfalls einer (weiteren) konkreten Gefahr hinwies. Die Prüfung konnte zudem schon
gemeinsam mit der Prüfung unter E. II. oder vor dieser erfolgen.
1. Tatbestand
Dazu müsste B die Sicherheit des Straßenverkehrs dadurch
beeinträchtigt haben, dass er Hindernisse bereitet hat. Unter
Hindernisbereiten ist grundsätzlich jede Einwirkung zu verstehen, die geeignet ist, den reibungslosen Verkehrsablauf zu
bremsen oder zu verzögern.79 B hat das Fahrrad erfasst, welches infolgedessen zertrümmert. Nunmehr liegen diese Teile
auf dem Gehweg. Dadurch können Fußgänger den Fußweg nur
eingeschränkt nutzen. Die Splitterteile eignen sich dazu, den
Fußgängerverkehr zu verzögern bzw. erheblich zu erschweren und zu beschränken, sodass B ein Hindernis i.S.d. § 315b
Abs. 1 Nr. 2 StGB bereitet hat.
Dies beruhte aber ebenfalls nicht auf einem verkehrsfremden Eingriff. Zudem sind dadurch keine weiteren (Beinahe-)Unfälle verursacht worden,80 somit lag auch keine
konkrete Gefahr für andere Personen oder fremde Sachen von
bedeutendem Wert vor.
2. Ergebnis
B hat sich nicht gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 StGB
strafbar gemacht.
IV. Strafbarkeit des B nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB
wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr
B hat sich jedoch gemäߧ 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB strafbar
gemacht, vgl. dazu oben unter D. II.
V. Ergebnis
Im 4. Tatkomplex hat sich B wegen einer fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 strafbar gemacht.
F. Tatkomplex 5: Haareziehen und Tod des K
I. Strafbarkeit des A wegen Körperverletzung nach § 223
Abs. 1 StGB
A könnte sich nach § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht
haben, indem er dem K an den Haaren zieht, sodass dieser
Schmerzen erleidet.
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
Dazu müsste A den K körperlich misshandelt oder an seiner
Gesundheit geschädigt haben. Gesundheitsschädigung ist das
Hervorrufen, Steigern oder Aufrechterhalten eines pathologischen Zustandes.81 Der körperliche Zustand des K weicht nach
dem Haareziehen des A nicht negativ vom Normalzustand ab.
Folglich hat A den K nicht an seiner Gesundheit geschädigt.
Körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden
oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich
beeinträchtigt wird.82 A zieht dem K erregt an den Haaren in
76
79
77
80
Fischer (Fn. 17), § 315b Rn. 9 f.
Zu diesem Verhältnis vgl. Rengier (Fn. 13), § 45 Rn. 5.
78
Deutlich in diesem Zusammenhang auch Rengier (Fn. 13),
§ 45 Rn. 5.
STRAFRECHT
König (Fn. 22), § 315b Rn. 27.
Vgl. dazu die vorangegangene Prüfung und Hinweis 33.
81
Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 257.
82
Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 255.
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407
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
die Höhe. Dies ist eine üble und unangemessene Behandlung.
Infolgedessen erleidet K Schmerzen und schreit auf. Somit
wird sein Körperempfinden im Vergleich zu vor der Tat
negativ beeinflusst. Schmerzen überschreiten die Schwelle
zur Erheblichkeit, auch wenn sie lediglich von kurzer Dauer
sind.83
Hinweis 37: Darauf musste nicht dezidiert eingegangen
werden, jedenfalls genügte hier ein kurzer Hinweis. Verfehlt wäre die Darstellung des Meinungsstreites über die
Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums,90 da nach der
Vorstellung des A eine Rechtfertigung über § 127 Abs. 1
StPO ausscheidet.
Hinweis 35: Angesichts der sehr kurzen Dauer des
Schmerzes ist es allerdings auch vertretbar, die Erheblichkeit abzulehnen.
Andere Rechtsfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. A handelte folglich rechtswidrig.
Im Übrigen bleiben die körperliche Integrität und die somatische Funktionsfähigkeit des K unbeeinflusst.84 Jedenfalls hat
A den K körperlich misshandelt, sodass der objektive Tatbestand erfüllt ist.
b) Subjektiver Tatbestand
Sodann müsste A vorsätzlich gehandelt haben. A wollte den
K an den Haaren ziehen, um es zur Rede zu stellen. Dabei
sah A voraus, dass K Schmerzen erleidet, worauf es ihm gerade ankam. Somit handelt A vorsätzlich.
2. Rechtswidrigkeit
A ist nicht nach § 127 Abs. 1 StPO gerechtfertigt. Eine tatsächlich durch K begangene Straftat hat sich nicht ereignet,
sodass mit den Ansichten, die einen Verdacht nicht ausreichen lassen,85 die Rechtfertigung bereits an diesem Merkmal
scheitert. Mit der Gegenansicht86 kann man zwar ein Betreffen auf frischer Tat bejahen, dann fehlt es aber sowohl am
Fluchtverdacht als auch an der Unmöglichkeit sofortiger
Identitätsfeststellung, mithin an einem Festnahmegrund.87 Zudem ist das Haareziehen nicht förderlich dafür, einen Festnahmezweck mit Blick auf K zu verfolgen, und schon deshalb keine geeignete Festnahmehandlung.88 Objektiv muss
§ 127 Abs. 1 StPO daher scheitern.
Hinweis 36: § 127 Abs. 1 StPO sollte zumindest kurz angesprochen werden, da der Sachverhalt deutlich auf diese
Norm hinweist. Allerdings genügte es, die Norm knapp
anzulehnen. Eine sorgfältige Prüfung mit Streitdarstellung
und Entscheidung erhielt aber Lob.
A stellt sich auch nicht Umstände vor, die ihn nach § 127
Abs. 1 StPO rechtfertigen würden, sodass auch ein Irrtum
und somit ein Erlaubnistatbestandsirrtum ausscheidet.89
3. Schuld
In Ermangelung von Entschuldigungsgründen handelte A
schuldhaft.
4. Strafantragserfordernis
Gemäß § 230 Abs. 1 StGB ist ein Strafantrag erforderlich,
dieser wurde gestellt.
5. Ergebnis
A hat sich nach § 223 Abs. 1 StGB wegen Körperverletzung
strafbar gemacht.
II. Strafbarkeit des A wegen Körperverletzung mit Todesfolge nach §§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB
A könnte sich gemäß §§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB wegen
Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht haben, indem er K an den Haaren zieht und dieses stirbt.
Hinweis 38: Es ist auch vertretbar, vor den Körperverletzungsdelikten die fahrlässige Tötung zu prüfen. Sollten
Bearbeiter diese abgelehnt haben, ist die Körperverletzung mit Todesfolge nicht mehr zu prüfen.
1. Tatbestand
a) Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB (Grunddelikt)
Wie bereits oben geprüft, hat A den K körperlich misshandelt.
b) Eintritt und Verursachung des Todes
Infolge der durch A begangenen Körperverletzung erschrak
K, stürzte und verstarb. Folglich hat A durch die Körperverletzung den Tod des K bewirkt.
Hinweis 39: Dies allein führte jedoch nicht zum Tod des
K. Vielmehr tritt hinzu, dass B das Fahrrad umfuhr und es
unterließ, den Gehweg von den herumliegenden Trümmern zu säubern, sodass K auf ein spitzes Metallstück des
zerstörten Rades fallen konnte und wenig später seinen
Verletzungen erlegen ist. Somit hat A den Tod des K gemeinsam mit der durch B gesetzten Bedingung verursacht. Dies ist ein Fall der kumulativen Kausalität.91 Darauf muss im Gutachten nicht eingegangen werden, weil
83
Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 256.
Vgl. zu diesen Anforderungen Wessels/Hettinger (Fn. 23),
Rn. 256.
85
Satzger, Jura 2009, 109; Meyer-Goßner/Schmidt, Strafprozessordnung, Kommentar, 56. Aufl. 2013, § 127 Rn. 4.
86
Rengier (Fn. 1), § 22 Rn. 10.
87
Vgl. dazu Rengier (Fn. 1), § 22 Rn. 13.
88
Dazu Rengier (Fn. 1), § 22 Rn. 14.
89
Zu diesen Anforderungen Rengier (Fn. 1), § 30 Rn. 5.
84
90
Einen lesenswerten Überblick über das Meinungsspektrum
liefert Scheffer, Jura 1993, 617.
91
Dazu allgemein Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 158;
Rengier (Fn. 1), § 13 Rn. 34.
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408
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
die Kausalität von As Verhalten für den Tod des K dadurch unberührt bleibt. Denn allein die von B gesetzte
Gefahr hätte den Tod des K nicht herbeiführen können.
Weder die Handlung des A, noch die des B kann hinweg
gedacht werden, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten
Gestalt entfiele, sodass beide Handlungen (kumulativ)
kausal für den Erfolg sind.
c) Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges
Hinweis 40: Die (vorsätzliche) Körperverletzung ist bereits
das sorgfaltspflichtwidrige Verhalten,92 insoweit handelt
es sich auch bei §§ 223 Abs. 1, 227 StGB um ein Delikt
mit gesetzlicher Beschreibung der Sorgfaltspflicht, um eine
inkludierte Sondernorm.93 Deshalb ist nun im Rahmen der
Fahrlässigkeit nur noch die Vorhersehbarkeit des Erfolges
zu prüfen.94
Der Erfolgseintritt müsste objektiv vorhersehbar gewesen sein.
Maßstab ist ein besonnener Dritter. Ein besonnener Dritter
hätte sich daran erinnert, dass K, welches von A ja wieder erkannt wurde, durch das Fahren über den Fuß körperlich angeschlagen sein könnte. Aufgrund dieser Umstände hätte ein
besonnener Dritter die Möglichkeit vorhergesehen, dass sich
K bei einem Haareziehen inmitten der Trümmer weitere Verletzungen durch einen Sturz oder unachtsame Bewegungen
infolge eines Handgemenges zuziehen könnte. Angesichts der
zahlreichen Trümmer hätte ein besonnener Dritter vorhergesehen, dass ein Sturz in einer solchen Umgebung für ein Kind
schwere Verletzungen bis hin zum Tod bewirken kann. Also
hätte ein besonnener Dritter den Erfolg vorhergesehen, sodass
er objektiv vorhersehbar war.
Hinweis 41: Mit entsprechender Begründung ist ein abweichendes Ergebnis gut vertretbar. Dass die Bearbeiter
dann das folgende Problem nicht mehr bearbeiteten, ist irrelevant. Allerdings mussten sie ihr abweichendes Ergebnis durch Subsumtion begründen; eine bloße Feststellung,
dass das Verhalten nicht fahrlässig sei, genügte nicht. Insbesondere musste man kurz darauf eingehen, dass A ja
um die Verletzung des K am Fuß wusste. Man konnte allerdings gut und auch knapp argumentieren, dass ein besonnener Dritter zwar mit einem Sturz gerechnet hätte, nicht
aber damit, dass dieser ausgerechnet so auf ein Metallteil
erfolgt, dass dies zu einer tödlichen Verletzung führt.
92
Fischer (Fn. 17), § 227 Rn. 7a.
Vgl. dazu die einleitenden Hinweise oben unter A. IV. 1.
94
Ebenso Fischer (Fn. 17), § 227 Rn. 7a.
93
STRAFRECHT
c) Objektive Zurechnung (Zurechnungszusammenhang)95
Umstritten ist, ob der fahrlässig bewirkte Tod des Opfers auf
den konkreten Körperverletzungserfolg oder die bloße Körperverletzungshandlung zurückgeführt werden muss.
aa) Handlungstheorie
Nach der Handlungstheorie genügt es, dass der fahrlässig bewirkte Tod des Opfers auf die Körperverletzungshandlung als
solche zurückzuführen ist, d.h. dass ein unmittelbarer Zusammenhang lediglich zwischen der Körperverletzungshandlung
und dem fahrlässig bewirkten Tod des Opfers bestehen muss.96
Mit einzubeziehen sei demnach der gesamte Vorgang, also
auch die die Verletzung bewirkende oder begleitende Ausführungshandlung.97 A zog den K kräftig an den Haaren. Davon war dieser so erschrocken, dass es seinen verletzten Fuß
belastete und dadurch sein Gewicht reflexartig verlagerte und
infolgedessen sein Gleichgewicht verlor. Insofern führte zwar
das sich an die Verletzungshandlung anschließende Verhalten
des Opfers zu dem tödlichen Ausgang. Dieses beruhte aber
als unfreiwillige Schreckreaktion auf der Körperverletzungshandlung, sodass dieses Verhalten des K den Zurechnungszusammenhang nicht unterbricht.98
Hinweis 42: Wer eher dem – vom BGH inzwischen aber
aufgegebenen – Gedanken der Entscheidung im sog.
„Rötzel-Fall“ folgt und eine Unmittelbarkeit zwischen
Handlung und Todeserfolg verlangt,99 kann hier auch zum
gegenteiligen Ergebnis kommen.
Somit besteht zwischen der Verletzungshandlung des A und
dem Tod des K nach dieser Ansicht ein Zurechnungszusammenhang.
bb) Letalitätstheorie
Nach anderer Ansicht muss der Zurechnungszusammenhang
zwischen dem konkreten Körperverletzungserfolg und dem
fahrlässig bewirkten Tod des Opfers bestehen,100 d.h. der konkrete Körperverletzungserfolg muss in einem fortgesetzten
pathologischen Prozess zum Tod des Opfers führen, sodass
sich die der konkreten Verletzung nach ihrer Art und Schwere
95
Vgl. zum Begriff oben den einleitenden Hinweis unter
A. IV. 3. Dieser Zusammenhang wird in Bezug auf § 227
StGB auch Gefahrzusammenhang, Gefahrverwirklichungszusammenhang oder – früher durch die Rechtsprechung – Unmittelbarkeitszusammenhang genannt, vgl. dazu den Überblick bei Fischer (Fn. 17), § 227 Rn. 3; Rengier (Fn. 13),
§ 16 Rn. 5.
96
BGH NStZ 2008, 178.
97
Vgl. BGHSt 48, 34 (38).
98
Dazu, dass derartige unfreie Reaktionen dem Zurechnungszusammenhang nicht entgegenstehen, Rengier (Fn. 13), § 16
Rn. 17 f. und Rn. 21.
99
BGH NJW 1971, 152.
100
Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 10.
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409
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
innewohnende Gefahr im Tod des Opfers verwirklicht haben
muss.101
Das Ziehen an den Haaren verursachte zwar heftige, aber
nur kurzfristige Schmerzen. Weitere pathologische Folgen ergeben sich daraus nicht. Somit beruht der Tod des K nicht
unmittelbar auf der konkreten Körperverletzung durch A,
sodass nach der Letalitätstheorie ein Zurechnungszusammenhang nicht besteht.
cc) Streitentscheidung
Da die genannten Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnisse
führen, ist ein Streitentscheid erforderlich. Gegen die Handlungstheorie spricht, dass der Zurechnungszusammenhang
letztlich den Schutzzweckzusammenhang abbildet.102 Die in
§ 227 StGB enthaltenen Sorgfaltspflicht (§§ 223 bis 226
StGB)103 verfolgt aber den Schutzzweck, die „dem Grundtatbestand […] eigentümliche Gefahr“104 zu vermeiden. Diese
ruht nicht darin, dass Opfer von Körperverletzungsdelikten
sich durch Schreckreaktionen selbst töten, sondern darin, dass
die Intensität einer Körperverletzungshandlung schwer eingeschätzt bzw. die Konstitution des Opfers unterschätzt und
daher ein bloß verletzend gemeintes Verhalten tödlich sein
kann. Somit ist die Handlungstheorie abzulehnen. Also besteht
kein Zurechnungszusammenhang zwischen der Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB und dem Tod des K.
Hinweis 43: Wer der gegenteiligen Ansicht folgte, sah den
Tatbestand als erfüllt an. Die Rechtswidrigkeit lag unproblematisch vor, in der Schuld war dann noch auf die subjektive Vorhersehbarkeit des Todeserfolges einzugehen.105
2. Ergebnis
A hat sich nicht nach §§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB wegen
Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht.
2. Rechtswidrigkeit
Rechtfertigungsgründe liegen nicht vor, also handelte A rechtswidrig.
4. Schuld
Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich.
Sodann müsste der Erfolg für A auch subjektiv vorhersehbar gewesen sein.106 A hat die Teile des zerstörten Rades
herumliegen sehen. Ferner wusste er, dass K bereits am linken Fuß verletzt ist, er selbst hat dazu beigetragen. Somit war
auch für ihn vorhersehbar, dass K von seinem rasenden Angriff erschrickt und unkoordiniert zu Boden fallen und sich
tödlich verletzen kann. Mithin war der Erfolg für A subjektiv
voraussehbar.
Also handelte A schuldhaft.
4. Ergebnis
A hat sich nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht.
Hinweis 44: Diese Prüfung kann auch noch deutlich kürzer ausfallen. Wer zuvor im Rahmen von §§ 223 Abs. 1,
227 StGB die Fahrlässigkeit verneint hat, sollte § 222
StGB zudem ohnehin nicht prüfen. Zulässig ist es außerdem, § 222 vor § 227 StGB zu prüfen, dann müssen die
Ausführungen zur Erfolgsverursachung und zur Fahrlässigkeit entsprechend in die Prüfung des § 222 StGB verlagert werden.
IV. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Tötung nach
§ 222 StGB
B könnte sich nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung
strafbar gemacht haben, indem er die Trümmerteile erzeugte,
sodass K dadurch tödlich verletzt wurde.
III. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Tötung nach
§ 222 StGB
A könnte sich nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung
strafbar gemacht haben, indem er den K so an den Haaren
zog, dass dieser erschrocken sein Gleichgewicht verlor und
stürzte, sodass er wenig später seinen Verletzungen erlag.
1. Tatbestand
Wie bereits oben festgestellt stirbt K infolge des Sturzes,
sodass der Todeserfolg eingetreten ist. A handelte, wie geprüft auch fahrlässig. Hätte er K zunächst aus dem Gefahrenbereich bugsiert, wäre der Erfolg nicht eingetreten, sodass
auch der Pflichtwidrigkeitszusammenhang vorliegt.
101
Momsen, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 227 Rn. 10 ff.
102
In diesem Sinne stellt auch der BGH NJW 1971, 152
(153), dezidiert Überlegungen zum Schutzzweck an.
103
Vgl. den einleitenden Hinweis unter A.IV. 4.
104
BGH NJW 1971, 152 (153).
105
Vgl. zum Aufbau auch den obigen Hinweis 39 und den
einleitenden Hinweis unter A. I. 1.
Hinweis 45: Dies sollte zumindest kurz angesprochen werden, da die entsprechende Kausalität bis zum Erfolg fortwirkt. Dieses Delikt kann auch schon unter E. geprüft
werden, weil dort die relevante Handlung des B – das
Zerfahren des Rades – beschrieben wird.
1. Tatbestand
a) Erfolgseintritt
Wie bereits oben festgestellt, ist K seinen Verletzungen erlegen, sodass ein Todeserfolg eingetreten ist.
b) Objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges
Sodann müsste der Erfolg objektiv vorhersehbar gewesen sein.
Maßstab ist ein objektiver, besonnener Dritter. Ein besonnener Dritter hätte erkannt, dass Trümmerteile auf dem Gehweg
den Fußgängerverkehr behindern können. Dass ein Dritter
einen Passanten auf dem Gehweg tätlich angreift, sodass dieser infolgedessen erschrocken ist und tödlich stürzt, liegt aber
106
Vgl. oben den Hinweis 43 und den einleitenden Hinweis
unter A. I. 1.
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ZJS 4/2014
410
Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“
außerhalb dessen, wonach nach dem allgemeinen Lauf der
Dinge zu rechnen ist. Vielmehr liegt hier eine Verkettung
vieler unglücklicher, miteinander verzahnter Umstände vor,
die so in ihrem wesentlichen Verlauf nach zumutbarer Würdigung aller Umstände nicht objektiv vorhersehbar sind. Die
allgemeine Lebenserfahrung gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass ein Passant auf diese Weise mit tödlichen Folgen
auf eines der herumliegenden Trümmerteile fällt. Ein besonnener Dritter hätte angesichts der Straßenbeleuchtung nicht
einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ein Fußgänger stolpern oder sich an den Metallteilen verletzen könnte.
Daher war der Todeserfolg nicht objektiv vorhersehbar.
Hinweis 46: Selbst wenn man – was schwer vertretbar
sein dürfte – die Fahrlässigkeit bejaht, wäre die objektive
Zurechnung hier wegen des Dazwischentretens eines Dritten auszuschließen. Mit der vorsätzlichen Körperverletzung
hat A eine neue selbstständige rechtlich relevante Gefahr
geschaffen, die sich nunmehr im tatbestandsmäßigen Todeserfolg bei K realisiert hat.107 Das Dazwischentreten eines Dritten mit derartig gravierenden Folgen ist dem B
mithin nicht in Rechnung zu stellen.
2. Ergebnis
B hat sich nicht nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung
strafbar gemacht.
V. Ergebnis
Im 5. Tatkomplex hat A sich wegen Körperverletzung und
fahrlässiger Tötung strafbar gemacht. Zur Klarstellung verdrängt das fahrlässige Tötungsdelikt die Körperverletzung
nicht, sondern steht dazu in Tateinheit.108
B hat sich nicht strafbar gemacht.
G. Gesamtergebnis
A hat sich wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit Körperverletzung strafbar gemacht.
Im 3. und im 4. Tatkomplex wurde eine Strafbarkeit des
B wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr nach § 316
Abs. 1, Abs. 2 StGB festgestellt. Hierbei könnte es sich um
ein Dauerdelikt handeln, sodass nur eine tatbestandliche
Handlung und somit nur eine einzige Straftat vorliegt.109 Eine
Trunkenheitsfahrt endet grundsätzlich erst mit der Ankunft
am Zielort.110 Sie bildet aber dann keine durchgehende Handlung, wenn die Fahrt unterbrochen und aufgrund eines neuen
Tatentschlusses fortgesetzt wurde, was insbesondere bei einer
Weiterfahrt nach Kenntnisnahme von einem Unfall im Rahmen einer Unfallflucht angenommen wird.111 B allerdings
nahm gar keine Kenntnis von dem Zusammenstoß mit dem
107
Zu dieser die objektive Zurechnung unterbrechenden Figur
allgemein Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 57 ff.
108
BGH NJW 1995, 3194 (3195).
109
Vgl. dazu Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 761.
110
Vgl. Fischer (Fn. 17), § 316 Rn. 56.
111
Zu den Anforderungen detailliert Fischer (Fn. 17), § 316
Rn. 56.
STRAFRECHT
Rennrad. Somit lag die mit der Kenntnisnahme von einem
Unfall verbundene Zäsur nicht vor, die die Weiterfahrt auf
einem erneuten Tatentschluss (zur Unfallflucht) beruhen
lässt. Stattdessen fuhr B einfach weiter. Er setzte seine bereits
begonnene Fahrt fort, die nach wie vor auf dem einheitlichen
Entschluss beruhte, von der Kneipe nach Hause zu fahren.
Also lag eine durchgehende Handlung vor, die erst mit der
Ankunft zu Hause endete. Somit bildete die Fahrt eine einheitliche Trunkenheitsfahrt im Sinne eines Dauerdeliktes,
sodass sich B insgesamt nur einmal wegen einer fahrlässigen
Trunkenheitsfahrt strafbar gemacht hat.
H. Prozessuale Zusatzfrage
Die Atemalkoholmessung setzt eine Mitwirkung des B voraus.
Zu dieser Mitwirkung darf B aber nicht gezwungen werden.112 Ein solcher Zwang wäre eine verbotene Ermittlungsmethode, vgl. auch § 136a Abs. 1 S. 2 StPO, die gegen die
Selbstbelastungsfreiheit verstieße („nemo tenetur se ipsum
accusare“).113
Stattdessen könnte S eine Blutentnahme anordnen und ggf.
zwangsweise durchsetzen. Die zwangsweise Blutentnahme
ist nur unter den engen Voraussetzungen des § 81a StPO
zulässig. Sie muss nach § 81a Abs. 1 S. 2 StPO durch einen
approbierten Arzt erfolgen.114
Hinweis 47: Diese Voraussetzung mussten die Bearbeiter
nicht benennen.
Die Anordnung ist grundsätzlich nach § 81a Abs. 2 StPO
dem Richter vorbehalten. Für S ist sie unter zwei Voraussetzungen möglich: Er muss zum einen Ermittlungsperson der
Staatsanwaltschaft nach § 152 GVG sein. Dies ist für einen
Polizeihauptkommissar der Fall.
Hinweis 48: Diesen Punkt durften die Bearbeiter, die dies
nicht wussten, auch ruhig offen lassen. Sie mussten nur
auf die Voraussetzung selbst hinweisen.
Außerdem müsste Gefahr im Verzug vorliegen.115 Da ein
Richter erst nach etlichen Stunden wieder erreicht werden
kann, besteht die Gefahr, dass sich eine für den Nachweis der
Strafbarkeit relevante Blutalkoholkonzentration dann nicht
mehr wird nachweisen lassen.
Hinweis 49: Hier sind einige Bearbeiter auch noch auf die
Rückrechnungsregeln eingegangen, um deutlich zu machen, dass in einem Zeitraum von bis zu 9 Stunden (22:00112
König (Fn. 22), § 316 Rn. 45; Kroke/Bergmann (Fn. 22),
S. 19.
113
Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.),
Strafprozessordnung, Kommentar, 2014, § 136 Rn. 43, und
§ 136a Rn. 25; vgl. auch Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 18 ff.
114
Vgl. Senge, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar
zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 7. Aufl. 2013, § 81a
Rn. 7; Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 23 f.
115
Darauf müssen konkrete Anhaltspunkte des Einzelfalls
hindeuten, vgl. Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 26 ff.
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411
ÜBUNGSFALL
Marcus Bergmann/Annabell Blaue
7:00 Uhr) ein Abbau von 0,7 bis 2,0 ‰ diskutiert wird.116
Dies verdient Lob!
Somit liegt in einem Abwarten eine Gefahr im Verzug für das
Ermittlungsergebnis vor, also sind die Voraussetzungen des
§ 81a Abs. 2 StPO gegeben.
Hinweis 50: Großes Lob verdienten sich die Bearbeiter,
die darauf hinwiesen, dass S in jedem Fall einen Richter
zu erreichen versuchen muss, bevor er von seiner Eilzuständigkeit Gebrauch macht.117 Dies musste aber nicht
erwähnt werden. S muss hingegen nicht versuchen, einen
Staatsanwalt zu erreichen. In der Praxis wird zwar aufgrund der Zuständigkeitsverteilungen innerhalb der Ermittlungsbehörden Rücksprache mit einem Staatsanwalt
(ggf. im Notdienst) gehalten, der dann einen Antrag bei
einem Richter zu stellen versucht, aber dies ist nicht notwendig, damit S von seiner Eilbefugnis nach § 81a Abs. 2
StPO wirksam Gebrauch machen kann.118
116
In der Praxis ist die Rückrechnung immer in die Abwägung,
ob Gefahr im Verzug vorliegt, einzubeziehen, vgl. Kroke/
Bergmann (Fn. 22), S. 28.
117
Dazu ausführlicher Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 27 ff.,
insbesondere S. 30 ff.
118
Zum Ganzen ausführlich Metz, NStZ 2012, 242 (244 ff.).
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ZJS 4/2014
412
Übungsklausur: „I am the danger“*
Von Wiss. Mitarbeiter Jacob Böhringer, Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen**
Die Klausur war Gegenstand der Übung für Fortgeschrittene
an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Sommersemester
2014. Die Schwerpunkte liegen im Bereich der Irrtumslehre,
der Mittäterschaft sowie der Mordmerkmale.
Die Bearbeiter erzielten im Durchschnitt 3,35 Punkte. Die
Durchfallquote lag bei 58,99 %.
Sachverhalt
Der an Lungenkrebs erkrankte Chemielehrer C sorgt sich um
die finanzielle Situation seiner Familie nach seinem zu befürchtenden baldigen Ableben. Um vorzusorgen, nutzt er seine
Fachkenntnisse und baut mit seinem ehemaligen Schüler S
ein Drogenlabor auf. C und S stellen dort Methamphetamin
her, das S gewinnbringend vertreibt. Den Erlös teilen S und C
sich hälftig.
Der regionale Methamphetamin-Markt ist jedoch hart umkämpft. Der größte Konkurrent von C und S ist K. Als ihre
Umsätze einzubrechen beginnen, beschließen C und S, K zu
töten, um ihre frühere Monopolstellung zurück zu erlangen.
Zu diesem Zweck bitten sie K um ein Treffen, woraufhin
dieser sie in sein entlegenes Haus einlädt, wo sich außer K
nur dessen schwer kranker und an den Rollstuhl gefesselter
Onkel O aufhält. K bereitet für O und seine Gäste Burritos
zu. Als die vier Portionen auf dem Tisch stehen, nutzt S – wie
vereinbart – einen unbeobachteten Augenblick und streut ein
giftiges Pulver, das C zuvor hergestellt hatte, in die Portion
des K.
Als alle am Tisch sitzen und gerade mit dem Essen beginnen wollen, bemerkt O, dass er gerne auf dem Platz des K
sitzen möchte, weil er von dort einen besseren Blick auf den
Fernseher habe. K will seinem Onkel diesen Wunsch nicht
abschlagen und tauscht seinen Platz mit O, der daraufhin
nichtsahnend den vergifteten Burrito verspeist. Dies ist C und
S zwar höchst unerwünscht; sie unternehmen jedoch nichts,
um ihren eigentlichen Plan nicht zu offenbaren.
Nach dem Essen wenden sich C, S und K dem Geschäftlichen zu. O sieht währenddessen weiter fern. Da das Gift langsam zu wirken beginnt, verliert er das Bewusstsein; K geht
davon aus, dass sein Onkel lediglich – was nicht ungewöhnlich ist – eingeschlafen sei.
Da das Gespräch mit K ergebnislos bleibt und die unbewaffneten C und S über keine weitere Möglichkeit verfügen,
K noch zu töten, verlassen sie dessen Haus und kehren in ihr
Labor zurück. Dort beschließen sie, der Polizei einen anony* Der Sachverhalt der Klausur ist an eine Episode der amerikanischen Fernsehserie „Breaking Bad“ (Staffel 2, Folge 2)
angelehnt. Das titelgebende Zitat stammt ebenfalls aus dieser
Serie (Staffel 4, Folge 6).
** Die Autoren sind beide Wiss. Mitarbeiter an der Professur
für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und
Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Umweltstrafrecht
(Prof. Dr. Thomas Rotsch) am Fachbereich Rechtswissenschaft
der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie danken dem Lehrstuhlinhaber herzlich für wertvolle Kritik und Anregungen.
men Hinweis auf den Betäubungsmittelhandel des K sowie
dessen Aufenthaltsort zu geben, um ihn auf diese Art und
Weise doch noch vom Markt zu verdrängen. Dabei gehen sie
zutreffend davon aus, dass O zu diesem Zeitpunkt bereits
nicht mehr gerettet werden kann.
Einige Zeit nachdem K seine Gäste verabschiedet hat,
versucht er, seinen Onkel zu wecken. Da ihm dies nicht gelingt, erkennt er den kritischen Zustand des O. K verlässt
daraufhin sein Haus, um Hilfe zu holen. Dabei begegnet er
dem Polizisten P, der den anonymen Hinweis von C und S
erhalten hatte.
Als P den K erblickt, will er diesen festnehmen. Daraufhin eröffnet K das Feuer auf P, das dieser erwidert. Im Zuge
der Schießerei wird K durch einen Kopfschuss getötet. O verstirbt wenige Minuten später an der Vergiftung.
Aufgabe
Hat C sich nach dem StGB strafbar gemacht?
Bearbeitervermerk
Eventuell erforderliche Strafanträge sind gestellt. Körperverletzungs- und Freiheitsberaubungsdelikte sowie die §§ 145d,
164, 185 ff. StGB sind nicht zu prüfen.
Lösung
Hinweis: Ob zuerst die Strafbarkeit wegen vollendeter Tötung zu Lasten des K oder diejenige zu Lasten des O geprüft wird, hat auf den Fortgang der Prüfung keinerlei
Auswirkungen.
I. § 212 Abs. 1 StGB zu Lasten des K (Beigabe des Giftpulvers)
Hinweis: Es kommen verschiedene Mordmerkmale in Betracht. Daher stellt sich hier die Frage, ob § 212 StGB und
§ 211 StGB gemeinsam oder getrennt zu prüfen sind. Dies
hängt davon ab, zu welchem Ergebnis die Prüfung kommen wird: Scheidet bereits § 212 StGB aus (etwa weil es
am Vorsatz fehlt oder die Tat gerechtfertigt ist), ist eine
gemeinsame Prüfung verfehlt, weil dann bereits kein qualifizierbares Grunddelikt vorliegt und jegliche Ausführungen zu den Mordmerkmalen im Ergebnis überflüssig sind
(Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 992).
Da sich hier ein Zurechnungsproblem stellt, bietet sich
daher eine getrennte Prüfung an.
C könnte sich wegen Totschlags zu Lasten des K gem. § 212
Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er ein giftiges
Pulver herstellte und S das Giftpulver in den Burrito streute.
Hinweis: Wird die Prüfung am Ende zu dem Ergebnis
kommen, dass eine Strafbarkeit wegen des betreffenden
Delikts ausscheidet bzw. steht fest, dass eine Kollision
mit anderen Delikten ausscheidet, kann der Obersatz mit
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413
ÜBUNGSFALL
Jacob Böhringer/Markus Wagner
„wegen … strafbar“ formuliert werden. Wird das Delikt
hingegen bejaht und liegen daneben die Voraussetzungen
weiterer Straftatbestände vor, muss die Formulierung „eines/einer … schuldig“ verwendet werden, weil die eigentliche Frage nach der Strafbarkeit dann erst nach Auflösung der Konkurrenzen beantwortet werden kann (vgl.
Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 139).
K ist tot. Er starb aber nicht infolge einer Vergiftung, sondern aufgrund eines Kopfschusses.
Fraglich ist daher, ob die Beigabe des Giftpulvers für den
Tod des K kausal war. Kausalität liegt nach der condicio sine
qua non-Formel dann vor, wenn die Handlung des Täters
nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in
seiner konkreten Gestalt entfiele.1
Die Vergiftung des O veranlasste K, das Haus zu verlassen um Hilfe zu holen; währenddessen traf er auf P, von dem
er letztlich erschossen wurde. Damit war die Beigabe des
Giftes auch kausal für den Tod des K.
Hinweis: Vertretbar ist es auch, hier einen überholenden
Kausalverlauf2 anzunehmen und somit (bereits) die Kausalität der Giftbeimischung für den Tod des K abzulehnen.
Der Tod des K müsste C darüber hinaus aber auch objektiv
zurechenbar sein. Dies ist dann der Fall, wenn C durch sein
Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat,
die sich im konkreten Erfolgseintritt realisiert hat.3
Mit der Vergiftung des Burritos wurde zwar eine rechtlich
missbilligte Gefahr gesetzt. Im Tod des K realisiert sich jedoch
gerade nicht diejenige Gefahr, die von dem Gift ausgeht. Der
Schuss des P stellt ein eigenverantwortliches Dazwischentreten eines Dritten dar, das den Zurechnungszusammenhang
unterbricht.4 Es fehlt daher an der objektiven Zurechnung des
Taterfolges.
Anzeige nicht auf eine Tötung des K hin. Die Notwehrsituation des P wurde nicht durch C, sondern allein durch
K selbst geschaffen.
II. § 212 Abs. 1 StGB zu Lasten des O (Beigabe des Giftpulvers)
C könnte sich wegen eines Totschlags zu Lasten des O gem.
§ 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er ein
giftiges Pulver herstellte und S das Giftpulver in den Burrito
streute.
Hinweis: Ein Problem bei der Formulierung des Obersatzes
(und der Überschrift) ist die Frage, ob die (voraussichtliche) Beteiligungsform des C klargestellt werden soll. Wie
sich jedoch zeigen wird, kann man dies hier offen lassen.
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) C müsste einen anderen Menschen getötet haben. O, ein
anderer Mensch, ist tot. Sein Tod (in der konkreten Form der
Vergiftung) wäre ausgeblieben, wenn S das Giftpulver nicht
in den Burrito gestreut hätte. Da C dieses Giftpulver hergestellt hat, ist sein Verhalten für den Tod des O kausal i.S.d.
condicio sine qua non-Formel.
bb) Der Tod des O müsste C darüber hinaus objektiv zurechenbar sein. Indem C ein giftiges Pulver hergestellt hat und
S dieses vereinbarungsgemäß in den Burrito streute, wurde
eine Gefahr für Leib und Leben derjenigen Person geschaffen, die diesen Burrito verspeist. Da O auch gerade aufgrund
der Vergiftung verstarb, hat sich eben diese Gefahr realisiert.
Der Tod des O ist C damit auch objektiv zurechenbar.
Hinweis: Unangebracht ist es hier, eine Unterbrechung des
Zurechnungszusammenhanges deshalb zu erörtern, weil
nicht C, sondern S das Giftpulver in den Burrito streut.
Denn anders als in den „klassischen“ Konstellationen dieser Fallgruppe der objektiven Zurechnung5 arbeiten C und
S zusammen.
Die Arbeitsteilung zwischen C und S ist vielmehr eine
Frage der Beteiligungsform (hier: ob C Mittäter oder Gehilfe des S ist). Ob C Täter ist oder nicht, sollte auf einer
eigenständigen Prüfungsstufe nach dem subjektiven Tatbestand geprüft werden, um eine Vermischung von objektiven und subjektiven Prüfungspunkten zu vermeiden (vgl.
Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 312).
Da – wie sich sogleich zeigen wird – die Strafbarkeit bereits am Vorliegen des subjektiven Tatbestands scheitert,
hat dieses Vorgehen auch den Vorteil, dass im Rahmen
der Prüfung der vollendeten Tat überhaupt keine Ausführungen zur Mittäterschaft erfolgen, die hier vollkommen
überflüssig wären.
Hinweis: Der BGH verwendet die Lehre von der objektiven Zurechnung (noch) nicht. Er würde diese Problematik
im subjektiven Tatbestand als Irrtum über den Kausalverlauf verorten (zu den Auswirkungen auf die Fallbearbeitung Wagner/Drachsler, ZJS 2011, 530 [531 ff.]).
Eine Strafbarkeit des C wegen vollendeten Totschlags zu
Lasten des K gem. § 212 Abs. 1 StGB scheidet daher aus.
Hinweis: Die Annahme einer Tötung des K durch P in
mittelbarer Täterschaft ist hier äußerst fernliegend und
sollte nicht erörtert werden. C wirkt mit der anonymen
1
Vgl. Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 4
Rn. 9.
2
Vgl. Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 33.
3
Vgl. Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 43.
4
Vgl. Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 15 Rn. 169 ff.;
Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006,
§ 11 Rn. 138 ff.
b) Subjektiver Tatbestand
Fraglich ist jedoch, ob C vorsätzlich (§ 15 StGB) handelte.
Vorsatz ist der Wille zur Tatbestandsverwirklichung bei
5
Dazu Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 84 ff.
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ZJS 4/2014
414
Übungsklausur: „I am the danger“
Kenntnis aller objektiven Umstände.6 C kannte die letale
Wirkung seines Giftes und wollte auch gerade einen Menschen – nämlich K – damit töten. Problematisch ist daher,
wie es sich auf den subjektiven Tatbestand auswirkt, dass
nicht K, sondern O den vergifteten Burrito verspeiste und an
der Vergiftung verstarb.
Hinweis: Falsch ist es, an dieser Stelle darauf abzustellen,
dass C nach dem Platztausch zwischen K und O auch den
Tod des O in Kauf nahm. Der Vorsatz muss „bei Begehung der Tat“ (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB), also im Zeitpunkt
der tatbestandlichen Ausführungshandlung vorliegen (sog.
Koinzidenzprinzip bzw. Simultaneitätsprinzip).7 Eine nachträgliche Änderung des Vorsatzes (sog. dolus subsequens)
ist unbeachtlich.8 Da der Anknüpfungspunkt im Obersatz
allein die Beimischung des Giftpulvers ist, darf an dieser
Stelle auch nur allein der in diesem Zeitpunkt bestehende
Vorsatz berücksichtigt werden (allgemein Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 500). Dieser Grundsatz darf auch nicht dadurch unterlaufen werden, dass beide
Verhaltensweisen (hier: die Beimischung des Giftpulvers
und die nachfolgende Untätigkeit während des Essens) zu
einem „Gesamtgeschehen“ zusammengefasst werden und
somit künstlich eine einheitliche Tathandlung konstruiert
wird.9
Der subjektive Tatbestand könnte gem. § 16 Abs. 1 S. 1
StGB entfallen. Dies setzt voraus, dass C „bei Begehung der
Tat einen Umstand nicht [kannte], der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“.
Hinweis: Es handelt sich hier – vermeintlich – um das
Problem, ob bei einer Personenverwechslung im Rahmen
eines sog. „Fernwirkungsfalles“ ein error in persona oder
eine aberratio ictus vorliegt.10 Dennoch sollten die Bearbeiter nicht sofort bei Beginn der Erörterung des subjektiven Tatbestandes mit diesen Begriffen arbeiten, sondern
erst das Problem im Wege der Subsumtion unter den
Normtext herleiten.
aa) Error in persona oder aberratio ictus?
Kein Umstand, „der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“, ist
im Rahmen des § 212 Abs. 1 StGB die Identität der getöteten
Person. § 212 Abs. 1 StGB spricht nur von „eine[m] anderen
Menschen“; welcher Mensch konkret getötet wird, ist irrelevant. Dementsprechend muss die Identität der getöteten Person nicht vom Vorsatz umfasst sein; ein entsprechender Irrtum ist unbeachtlich (sog. error in persona).11
Dies gilt aber nur, wenn der Täter sich über die Identität
des anvisierten Opfers irrt; eine andere Frage ist die Behandlung derjenigen Fallkonstellation, in der der Täter das anvisierte Opfer schon nicht trifft, sondern sein Angriff fehlgeht
(sog. aberratio ictus [= lat.: „der verirrte Pfeil“]).12 Denn dann
liegt kein Irrtum über das Tatobjekt („andere Person“), sondern
hinsichtlich des vom Täter angestoßenen Geschehens vor.13
Die Abgrenzung dieser beiden Irrtumsformen ist vor allem
dann kompliziert, wenn die Konkretisierung des Opfers nur
mittelbar – also über ein bestimmtes Objekt – erfolgt. So hat
etwa der BGH einen error in persona in einem Fall angenommen, in dem der Täter eine Sprengfalle an einem Wagen
angebracht hatte, der tatsächlich einer anderen Person gehörte
als derjenigen, die der Täter töten wollte. Zur Begründung hat
der BGH ausgeführt, die Tat sei auf diejenige Person konkretisiert worden, die in den Wagen einsteigt.14
Bereits für diesen Fall wird von beachtlichen Stimmen in
der Literatur angenommen, es handle sich nicht um einen
error in persona, sondern vielmehr um eine aberratio ictus,
weil anderenfalls die Vorsatzkonkretisierung zu weit vorverlagert würde.15 Ungeachtet dessen ist der hier zu untersuchende Sachverhalt gegenüber den „klassischen“ Fernwirkungs-Fällen anders gelagert: Zwar geben C und S mit der
Beimischung des Giftpulvers das Geschehen weitestgehend
aus der Hand und warten darauf, dass die Tat durch ein Verhalten des nichtsahnenden Opfers vollendet wird. Allerdings
konkretisiert sich die Tat nicht auf den Burrito selbst (und
damit mittelbar die Person, die diesen zu sich nehmen wird),
sondern auf den Sitzplatz, an dem die vergiftete Portion steht.
Dieser Unterschied ergibt sich daraus, dass – anders als in
den herkömmlichen Fernwirkungs-Fällen – die Möglichkeit
zur optischen Wahrnehmung besteht.
Hinweis: Hier zeigt sich wieder besonders deutlich, welche Risiken es birgt, die Ergebnisse bekannter Fallkonstellationen höchstrichterlicher Rechtsprechung unbesehen
auf einen unbekannten, vermeintlich parallel gelagerten
Sachverhalt zu übertragen.
Damit ist der vorliegende Sachverhalt eher mit derjenigen
Konstellation vergleichbar, in der C in die Richtung des Sitzplatzes des K schießt, diesen aber verfehlen und O aufgrund
eines Querschlägers getroffen wird. In einer solchen Fallkonstellation liegt aber unbestritten eine aberratio ictus vor.
Hinweis: Die Annahme eines error in persona ist ebenfalls
vertretbar. Wird ein solcher angenommen, darf jedoch
nicht der Fehler gemacht werden, zusätzlich noch eine
versuchte Tötung zu Lasten des K zu prüfen. Denn wenn
man eine Strafbarkeit wegen vollendeter Tötung des O
aufgrund eines unbeachtlichen error in persona annimmt,
6
Exemplarisch Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 43. Aufl. 2013, Rn. 203.
7
Vgl. Kühl (Fn. 1), § 5 Rn. 20 m.w.N.
8
Vgl. Kühl (Fn. 1), § 5 Rn. 21, 23 ff. m.w.N.
9
Vgl. Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 501;
Kühl (Fn. 1), § 5 Rn. 26.
10
Dazu etwa Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 27 f. m.w.N.
11
Vgl. Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 20 ff.
STRAFRECHT
12
Etwa Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 29.
Etwa Roxin (Fn. 4), § 12 Rn. 160.
14
Vgl. BGH NStZ 1998, 294 (295).
15
Vgl. Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2. Aufl.
2010, Rn. 1112 m.w.N.
13
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415
ÜBUNGSFALL
Jacob Böhringer/Markus Wagner
ist der Vorsatz zur Tötung eines Menschen bereits verbraucht. Zu prüfen ist dann ein Mord zu Lasten des O.
bb) Rechtliche Behandlung der aberratio ictus
Fraglich ist aber nun immer noch, wie eine solche aberratio
ictus rechtlich zu behandeln ist.16
(1) Gleichbehandlung von aberratio ictus und error in persona
Eine teilweise vertretene Auffassung will den error in persona und die aberratio ictus gleich behandeln: Sind das angepeilte und das getroffene Objekt gleichwertig, sei der Irrtum
unbeachtlich.17
Da O und K beide Menschen i.S.d. § 212 Abs. 1 StGB
sind, liegt nach dieser Auffassung kein vorsatzausschließender Irrtum vor.
(2) Behandlung als Unterfall des Irrtums über den Kausalverlauf
Eine andere Auffassung sieht die aberratio ictus als Unterfall
des Irrtums über den Kausalverlauf an. Danach ist sie immer
dann unbeachtlich, wenn das Fehlgehen der Tat vorhersehbar
war.18
Eine solche Vorhersehbarkeit ist hier nicht gegeben: Da –
insbesondere weil O an den Rollstuhl gefesselt ist und somit
nicht einfach seinen Platz wechseln kann – die Sitzordnung
am Tisch feststand und keinerlei Anhaltspunkte bestanden,
dass diese geändert werden würde, war ein Wechsel der Sitzplätze (und der damit verbundene Tausch der auf dem Tisch
stehenden Teller) von O und K nicht vorherzusehen. Nach
dieser Auffassung liegt eine wesentliche Abweichung des
Kausalverlaufs vor, weshalb der diesbezügliche Irrtum den
subjektiven Tatbestand ausschließt.
(3) Ausschluss der Vollendungsstrafbarkeit bei Verfehlen des
konkretisierten Tatobjekts
Die überwiegende Ansicht geht davon aus, dass der Täter bei
einer aberratio ictus sich hinsichtlich des anvisierten Tatobjekts nur eines Versuchs schuldig machen kann; hinsichtlich
des getroffenen Tatobjekts könne – soweit eine solche vom
Gesetz vorgesehen ist – eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in
Betracht kommen.19
(4) Differenzierung nach höchstpersönlichen und nichthöchstpersönlichen Rechtsgütern
Eine differenzierende Auffassung unterscheidet nach der Art
des betroffenen Rechtsguts: Während bei höchstpersönlichen
Rechtsgütern (z.B. Leben) nur ein Versuch in Betracht kommen soll (Anwendung der Auffassung unter [3]), sei der Irrtum bei individualitätsunabhängigen Rechtsgütern (z.B. Vermögen) unbeachtlich (Anwendung der Auffassung unter [1]).20
Auch nach dieser Auffassung kommt hier keine Strafbarkeit wegen vollendeter Tat in Betracht, weil es um das Leben
als höchstpersönliches Rechtsgut geht.
(5) Stellungnahme
Da die Auffassung, die eine Gleichbehandlung von error in
persona und aberratio ictus vornimmt, zu einem anderen Ergebnis kommt als die übrigen Ansichten, ist eine Stellungnahme erforderlich.
Hinweis: Zu beachten ist, dass in einem Gutachten jegliche überflüssigen Ausführungen zu vermeiden sind. Eine
Argumentation, die die unter (2) bis (4) dargestellten Auffassungen gegeneinander abwägt, ist verfehlt, weil diese
sich im Ergebnis nicht unterscheiden.
Dieser Auffassung ist zuzugeben, dass C einen Menschen
töten wollte und auch einen Menschen getötet hat; auf die
Identität kommt es nach dem Gesetzeswortlaut – wie bereits
ausgeführt – gerade nicht an.21 Das Erfordernis einer Konkretisierung des Tatopfers lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen; nicht der Täter, sondern das Gesetz entscheidet darüber,
worauf sich sein Vorsatz beziehen muss.22
Dagegen spricht jedoch, dass dem Täter bei einer solchen
Betrachtungsweise ein dolus generalis unterstellt würde.23
Zudem wird durch die Annahme einer Vollendungsstrafbarkeit letztlich nicht berücksichtigt, dass tatsächlich zwei verschiedene Rechtsgüter – nämlich das getroffene und das anvisierte – beeinträchtigt wurden. Aberratio ictus und error in
persona unterscheiden sich maßgeblich dadurch, dass es bei
der aberratio ictus vom Zufall abhängt, welches Rechtsgut
getroffen wird.24 Diesem Aspekt werden nur diejenigen Auffassungen gerecht, die eine Vollendungsstrafbarkeit ablehnen
und nur einen Versuch hinsichtlich des anvisierten Objekts
annehmen.
Hinweis: A.A. vertretbar. Nimmt man eine vollendete Tat
an, verbieten sich im weiteren Fortgang der Bearbeitung
Ausführungen zu einem Versuch zu Lasten des K sowie
zu einer Strafbarkeit wegen nachfolgenden Unterlassens.
16
Eingehend Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 2012, 9. Problem.
17
Vgl. etwa Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl.
2013, 11/57 ff.; Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, 1987,
S. 491 ff.
18
So etwa Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013,
§ 16 Rn. 104 ff.; wohl auch BGH NStZ 1998, 294 (295).
19
Exemplarisch Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 32 ff.; SternbergLieben/Schuster (Fn. 4), § 15 Rn. 57; jeweils m.w.N.
20
Maßgeblich Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierung bei abweichendem Tatverlauf, 1971, S. 85 ff.
21
Vgl. etwa Puppe (Fn. 18), § 16 Rn. 96; Kuhlen (Fn. 17),
S. 480 ff.
22
So etwa Puppe (Fn. 18), § 16 Rn. 96.
23
Vgl. Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 33.
24
Vgl. Sternberg-Lieben/Schuster (Fn. 4), § 15 Rn. 57.
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ZJS 4/2014
416
Übungsklausur: „I am the danger“
Zu prüfen ist dann, ob hinsichtlich der Tötung des O
Mordmerkmale einschlägig sind.
c) Zwischenergebnis
Der subjektive Tatbestand des Totschlags ist aufgrund einer
aberratio ictus nicht erfüllt.
2. Ergebnis
C ist nicht wegen Totschlages zu Lasten des O gem. § 212
Abs. 1 StGB strafbar.
III. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB zu
Lasten des K (Beigabe des Giftpulvers)
C könnte sich durch dieselbe Handlung eines versuchten
Mordes in Mittäterschaft gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23
Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB schuldig gemacht haben.
1. Keine Vollendungsstrafbarkeit, Strafbarkeit des Versuchs
Der tatbestandliche Erfolg – K ist tot – ist zwar eingetreten,
dieser Erfolg ist aber keine Folge der Beigabe des Giftes, da
aufgrund des eigenverantwortlichen Verhaltens des P eine
objektive Zurechnung des Erfolgs ausscheidet (s.o. I.). Somit
kommt allenfalls ein versuchter Mord in Betracht. Dieser ist
strafbar gem. §§ 211 Abs. 1, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1
StGB.
2. Tatentschluss25
C müsste zum Mord entschlossen gewesen sein. Ein solcher
Tatentschluss umfasst den gesamten subjektiven Tatbestand
des Mordes. Notwendig ist daher zunächst der Vorsatz hinsichtlich der (gemeinschaftlichen) Tötung eines anderen Menschen. Hinzu kommen entweder subjektive Mordmerkmale
und/oder der Vorsatz bzgl. der Verwirklichung objektiver
Mordmerkmale.
a) Tötungsvorsatz
Es war das erklärte Ziel des C, seinen Konkurrenten K mittels
des Giftpulvers zu töten. C handelte somit vorsätzlich hinsichtlich des Todes eines anderen Menschen.
b) Mordmerkmale
C könnte subjektive Mordmerkmale und/oder Vorsatz hinsichtlich objektiver Mordmerkmale aufweisen.
aa) Heimtücke
Denkbar scheint ein Vorsatz des C zur heimtückischen Tötung des K. Heimtückisch handelt, wer „die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt.“26 Arglos ist, wer sich im Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz
geführten Angriffs keiner Gefahr für Leib und Leben ver25
Zu den subjektiven Voraussetzungen des Versuchs vgl.
allgemein etwa Herzberg/Hoffmann-Holland, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,
Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 22 Rn. 34 ff.
26
BGH NStZ 2009, 30 (31).
STRAFRECHT
sieht.27 Wehrlos ist, wer infolge seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außer Stande oder zumindest stark eingeschränkt
ist.28
Fraglich ist, ob K in der Vorstellung des C arglos war.
Daran könnten Zweifel bestehen, weil es sich bei K und C
um verfeindete Konkurrenten auf dem regionalen Drogenmarkt handelt. Allerdings kommt es für die Heimtücke nicht
darauf an, ob K mit einem Angriff hätte rechnen müssen,
sondern nur, ob er – nach der Vorstellung des C – tatsächlich
argwöhnisch war.29 Mit der Situation eines fingierten dauerhaften Argwohns, wie er beispielsweise für den Fall der Tötung eines Erpressers diskutiert wird,30 ist der vorliegende
Sachverhalt nicht vergleichbar, weil K keine Situation provoziert hat, in der er bei einer Begegnung mit C und S jederzeit
mit einem tödlichen Angriff rechnen muss. Vielmehr entsprach es gerade dem Plan des C, dass K nicht mit einem
gewalttätigen Übergriff rechnete. Damit war K nach der Vorstellung des C arglos.
K sollte auch nach der Vorstellung des C aufgrund der
Tatsache, dass K nicht mit einem Angriff rechnete, diesem
hilflos ausgesetzt sein; C wollte damit auch die Wehrlosigkeit
des K bewusst ausnutzen.
Grundsätzlich ist das Mordmerkmal der Heimtücke – und
sind damit auch die Anforderungen an einen entsprechenden
Tatentschluss – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts restriktiv auszulegen.31 Zu diesem Zweck wurden verschiedene Ansätze entwickelt:
Nach einer Auffassung soll Heimtücke nur dann vorliegen, wenn der Täter in „feindlicher Willensrichtung“ handelt.32
Ausgeschlossen werden sollen damit Tötungen, die etwa aus
Mitleid erfolgen.33 Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht
vor; vielmehr wollen C und S lediglich einen Konkurrenten
auf dem Drogenmarkt beseitigen.
Einer anderen Ansicht zufolge muss ein „verwerflicher
Vertrauensbruch“ erfolgen.34 Hier lädt K seine beiden Konkurrenten in sein Haus und zum Essen ein, ohne weitere
Maßnahmen oder Personen zu seinem Schutz heranzuziehen.
Dies ist C auch bewusst. Damit ist von einem entsprechenden
Vertrauen auszugehen, das durch den Tötungsversuch enttäuscht wird; auch nach dieser Auffassung liegt Vorsatz hinsichtlich einer heimtückischen Tötung vor.
Auch eine „negative Typenkorrektur“35 führt zu keinem
anderen Ergebnis, da C hier das „typische Bild“ eines Heimtückemörders erfüllt.
27
Etwa Küper, Strafrecht, Besonderer Teil, 8. Aufl. 2012,
S. 192 m.w.N. aus Rspr. und Literatur.
28
Vgl. Küper (Fn. 27), S. 192 m.w.N. aus Rspr. und Literatur.
29
Dazu Küper (Fn. 27), S. 192.
30
Vgl. etwa BGHSt 48, 207 (210 ff.).
31
BVerfGE 45, 187.
32
BGH NStZ 2009, 30 (31).
33
Etwa BGHSt 37, 376 (377 f.).
34
Etwa Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte,
7. Aufl. 2005, § 4 Rn. 25 ff.
35
Etwa Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4),
§ 211 Rn. 10 m.w.N.
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ÜBUNGSFALL
Jacob Böhringer/Markus Wagner
Damit liegt auch Tatentschluss hinsichtlich des Mordmerkmals der Heimtücke vor.
sind. C müsste also Vorsatz hinsichtlich einer gemeinschaftlichen Tatbegehung gehabt haben.
bb) Gemeingefährliche Mittel
Ein gemeingefährliches Mittel ist ein solches, das eine Mehrzahl von Menschen zumindest gefährdet, wobei der Täter keinen Einfluss auf die Anzahl der betroffenen Personen hat.36
Da S das Gift hier nicht z.B. in eine Trinkwasserleitung, sondern in eine einzelne Essensportion gestreut hat, ist dies nicht
der Fall; dass letztlich verschiedene, nicht aber mehrere Personen gleichzeitig hätten betroffen werden können, spielt insoweit keine Rolle.
Hinweis: Anders als bei der Prüfung einer vollendeten Tat
greifen beim Versuch die Argumente, die für eine Erörterung der Täterschaft auf einer eigenständigen Prüfungsstufe nach dem subjektiven Tatbestand sprechen, beim Versuch nicht durch; die Täterschaftsform ist dann (subjektiv)
im Rahmen des Tatentschlusses zu prüfen (vgl. Rotsch,
Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 199 a.E., 312).
cc) Habgier
C könnte habgierig gehandelt haben wollen. Unter Habgier
ist ein rücksichtsloses ungehemmtes Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen zu verstehen, die in einer Vermögensmehrung
oder in einer Ersparung von Aufwendungen bestehen können.37 Erforderlich ist dabei allerdings, dass der angestrebte
Vermögensvorteil unmittelbar durch die Tötung herbeigeführt
wird oder zumindest „eine sonst nicht vorhandene Aussicht
auf eine unmittelbare Vermögensvermehrung entsteht“.38 An
einer solchen Unmittelbarkeit fehlt es aber: C und S wollen
lediglich ihren Konkurrenten in der Hoffnung beseitigen, in
Zukunft vielleicht von dessen Kunden profitieren zu können.
Eine solche allgemeine Veränderung des „Milieus“ ist für die
Annahme von Habgier jedoch nicht ausreichend.39
dd) Ermöglichungsabsicht
Zudem könnte C in der Absicht gehandelt haben, eine andere
Straftat zu ermöglichen, weil die Übernahme der Kunden des
K die weitere Herstellung und Verkäufe von Methamphetamin
erfordert. Dies ist gem. § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG mit
(Kriminal-)Strafe bedroht. Dass die Taten auch tatsächlich begangen werden können, ist nicht zwangsläufig erforderlich;
ausreichend ist, dass sie durch die Tötung möglicherweise erleichtert werden.40 Da dies der Vorstellung des C entspricht,
handelte er mit Ermöglichungsabsicht.
c) Vorsatz bzgl. gemeinschaftlicher Tatbegehung i.S.d. § 25
Abs. 2 StGB
C beabsichtigte dabei jedoch nicht, das Gift selbst auf den
Burrito zu streuen. Die mit S vereinbarte Beigabe des Giftes
durch S könnte C jedoch zugerechnet werden, falls dieser und
S nach seiner Vorstellung Mittäter i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB
Eine solche setzt nach allgemeiner Auffassung ein bewusstes
und gewolltes Zusammenwirken voraus, also die Erbringung
eines wesentlichen Tatbeitrages aufgrund eines gemeinsamen
Tatplans.41 Wann diese Voraussetzungen vorliegen, ist freilich umstritten:
aa) Die subjektive Theorie der Rechtsprechung
Die Rechtsprechung beurteilt insbesondere das Vorliegen von
Mittäterschaft noch immer anhand subjektiver Kriterien: Ausschlaggebend ist vor allem der Wille zur Täterschaft.42 Als
Tatbeitrag soll jede Förderung der Haupttat ausreichen; diese
muss nicht notwendigerweise im Ausführungsstadium geleistet
werden.43
C wollte sich zum einen die Handlung des S zu eigen machen und zum anderen durch die Herstellung des Pulvers
selbst einen entscheidenden Beitrag zur Tötung des K leisten.
Dieses Vorgehen entsprach auch dem Plan zur Tötung des K,
den C und S gefasst hatten. Demnach hatte C den Willen zur
mittäterschaftlichen Begehung der Tat.
bb) Die Tatherrschaftslehre
Die h.L. beurteilt Täterschaft hingegen anhand des Tatherrschaftskriteriums. Danach ist Täter, wer den tatbestandlichen
Geschehensablauf in den Händen hält und somit „Zentralgestalt“ des Geschehens ist.44 Da Mittäterschaft sachlogisch
zumindest zwei Täter voraussetzt, kann hier von einer einzelnen Zentralgestalt nicht die Rede sein. Insofern wird auf die
sog. „funktionelle“ – also gemeinsame – Tatherrschaft abgestellt.45
C beabsichtigte ein arbeitsteiliges Vorgehen mit S, um
den erwünschten Erfolg – die Vergiftung des K – herbeizuführen. Nach seiner Vorstellung bestand sein Tatbeitrag in
erster Linie darin, das giftige Pulver herzustellen, das sodann
41
36
Vgl. Küper (Fn. 27), S. 150.
37
Vgl. BGHSt 10, 399; BGH NSZ 1993, 385 (386).
38
BGH NStZ 1993, 385 (386); vgl. auch Schneider, in:
Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 63.
39
Vgl. BGH NStZ 1993, 385 (386); Neumann, in: Kindhäuser/
Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 211 Rn. 24; Schneider (Fn. 38),
§ 211 Rn. 63.
40
Vgl. BGHSt 39, 20.
Exemplarisch Kühl (Fn. 1), § 20 Rn. 98.
Exemplarisch BGHSt 37, 289 (291) m.w.N.
43
Exemplarisch BGH NStZ-RR 2009, 199 (200).
44
Grundlegend Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl.
2006, S. 25 ff.; ders., Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2,
2003, § 25 Rn. 10; zustimmend ein großer Teil der Literatur,
vgl. hierzu Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), Vor
§ 25 Rn. 57 m.w.N.
45
Zum Begriff der funktionellen Tatherrschaft, Roxin (Fn. 44 –
Täterschaft), S. 275 ff.; ders. (Fn. 44 – AT II), § 25 Rn. 188 f.
m.w.N.
42
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Übungsklausur: „I am the danger“
von S in den Burrito gestreut werden sollte. Dies entspricht
dem vorher gefassten gemeinsamen Tatplan.
Problematisch ist, dass der beabsichtigte Tatbeitrag des C
– die Herstellung des Giftpulvers – nicht im Ausführungs-,
sondern im Vorbereitungsstadium stattfinden soll. Anders als
nach der Rechtsprechung des BGH46 soll nach der Mehrzahl
der Vertreter der Tatherrschaftslehre ein Beitrag im Vorbereitungsstadium nur dann ausreichen, wenn dieser so gewichtig
ist, dass er den Mangel eines eigenen Beitrags im Ausführungsstadium kompensiert.47 Dies ist hier der Fall: Das Gelingen des Tatplanes hängt entscheidend davon ab, dass C ein
zur heimlichen Tötung geeignetes Gift herstellt.
C hat daher nach seiner Vorstellung bereits aufgrund seiner
Aufgabe, das Gift herzustellen, Tatherrschaft. Daher kommt
es nicht mehr auf die Frage an, ob seine Anwesenheit am Tatort (und die damit verbundene Möglichkeit zum Einschreiten
und Lenken) ebenfalls einen hinreichend gewichtigen Tatbeitrag begründet.
hier nicht (selbst) unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung
an, weil er selbst keinerlei Schritte zur unmittelbaren Gefährdung des Rechtsguts unternimmt.
b) Dies widerspricht freilich der Konzeption der Mittäterschaft: Nach der vorzugswürdigen sog. Gesamtlösung wird
eine dem gemeinsamen Tatplan entsprechende Handlung eines
Mittäters, durch die dieser die Schwelle zum Versuchsstadium überschreitet, dem anderen Mittäter dem Gedanken des
§ 25 Abs. 2 StGB entsprechend als eigene zugerechnet, was
zur Folge hat, dass für alle Mittäter gleichermaßen zu diesem
Zeitpunkt der Versuch beginnt.50
S hat das Giftpulver in den Burrito gestreut. Damit hat er
nicht nur zur tatbestandlichen (Tötungs-)Handlung angesetzt,
sondern diese bereits ausgeführt. Da dieses Vorgehen exakt
dem gemeinsamen Tatplan von C und S entsprach, wird diese
Handlung C zugerechnet.
Hinweis: Die sog. Einzellösung ist ebenfalls vertretbar. Danach scheidet eine Strafbarkeit wegen eines Versuchs in
Mittäterschaft aus. Zu prüfen ist dann eine Beihilfe zur
(versuchten) Tat des S.
cc) Zwischenergebnis
Damit ist C nach seiner Vorstellung Mittäter.
Hinweis: A.A. bei einem restriktiven Mittäterschaftsverständnis sehr gut vertretbar. Lehnt man eine Tatbegehung
in Mittäterschaft ab, ist eine Strafbarkeit des C wegen
Beihilfe zur (versuchten) Tat des S zu prüfen.
4. Rechtswidrigkeit und Schuld
C handelte rechtswidrig und schuldhaft.
Hinweis: Erwägungen hinsichtlich eines rechtfertigenden
Notstandes gem. § 34 StGB sind hier abwegig, weil C
und S die Gefahr, die von dem Drogenboss K ausgeht, ja
gerade nicht gänzlich beseitigen wollen, sondern ihr eigenes Drogengeschäft (von dem dieselbe Gefahr ausgeht)
ausbauen wollen.
d) Zwischenergebnis
C war zur mittäterschaftlichen heimtückischen Tötung des K
zum Zwecke der Ermöglichung weiterer Straftaten entschlossen.
3. Unmittelbares Ansetzen
Fraglich ist, ob C i.S.d. § 22 StGB unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat. Unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung setzt derjenige an, der nach seiner Vorstellung ohne wesentliche Zwischenschritte und ohne zeitliche und räumliche Zäsur das Rechtsgut gefährdet, also die
Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschreitet.48 Dies ist hier
problematisch: Denn nicht er, sondern S hat das Gift in das
Essen gestreut und somit die eigentliche tatbestandliche
Handlung vorgenommen.
Unter welchen Voraussetzungen ein Mittäter unmittelbar
zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt, ist umstritten:
a) Nach der sog. Einzellösung ist das unmittelbare Ansetzen für jeden Mittäter gesondert zu prüfen.49 Danach setzt C
46
Exemplarisch BGHSt 37, 289 (292) m.w.N. aus der Rspr.
In diesem Sinne Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 6), Rn. 529;
Heine/Weißer (Fn. 44), § 25 Rn. 67; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1993, 21/48; a.A. Roxin (Fn. 44 – AT
II), § 25 Rn. 198 ff. (siehe ebenda § 25 Rn. 201 ff. für eine
ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit den
vertretenen Ansichten); kritisch Rotsch, „Einheitstäterschaft“
statt Tatherrschaft, 2009, S. 363.
48
Exemplarisch Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 6), Rn. 601.
49
Etwa Roxin (Fn. 44 – AT II), § 29 Rn. 297 ff.
47
STRAFRECHT
5. Rücktritt
Denkbar scheint ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch
gem. § 24 Abs. 2 StGB, da C und S keine weiteren Schritte
zur Tötung des K unternehmen.
Hinweis: § 24 Abs. 2 StGB regelt den Rücktritt für den
Fall, dass Mehrere an der Tat beteiligt sind, nicht für den
Fall, dass mehrere Tatbeteiligte zurücktreten. Es findet also
nicht deshalb § 24 Abs. 2 StGB (anstelle des § 24 Abs. 1
StGB) Anwendung, weil sowohl C als auch S von ihrem
Vorhaben ablassen, sondern weil sie zuvor beide in den
Versuch involviert waren (vgl. dazu Rotsch, Strafrechtliche
Klausurenlehre, 2013, Rn. 224).
Als ungeschriebene Voraussetzung des § 24 StGB ist dafür
zunächst erforderlich, dass der Versuch nicht fehlgeschlagen
ist.51
Hinweis: Vgl. die zutreffende Kritik an der Notwendigkeit
und Leistungsfähigkeit dieses ungeschriebenen Merkmals
bei Putzke, ZJS 2013, 620.
50
Etwa Rotsch (Fn. 9), Rn. 53 m.w.N.
Exemplarisch Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 4),
§ 24 Rn. 7 m.w.N. (auch zur Gegenauffassung).
51
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ÜBUNGSFALL
Jacob Böhringer/Markus Wagner
Ein Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Täter (objektiv zutreffend) erkennt oder auch nur fälschlicherweise davon ausgeht, dass er die Tat mit den ihm zur Verfügung stehenden
Mitteln nicht ohne zeitliche Zäsur vollenden kann.52
Hinweis: Dies gilt nicht nur im Rahmen des § 24 Abs. 1
StGB, sondern auch bei § 24 Abs. 2 StGB (vgl. nur Rotsch,
Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 229).
C erkennt zutreffend, dass S und er – da sie kein weiteres Gift
mehr bei sich haben und auch im Übrigen unbewaffnet sind –
gegenwärtig keine Möglichkeit mehr haben, K zu töten. Damit liegt ein fehlgeschlagener Versuch vor.
Ein Rücktritt gem. § 24 Abs. 2 StGB scheidet daher aus.
6. Ergebnis
C hat sich eines versuchten Mordes in Mittäterschaft zu Lasten des K gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2
StGB schuldig gemacht, als S das von C hergestellte Giftpulver in den Burrito des K streute.
Hinweis: Folgt man der hier vertretenen Auffassung hinsichtlich der rechtlichen Behandlung einer aberratio ictus,
ist an dieser Stelle grds. eine Fahrlässigkeitstat zu Lasten
des getroffenen Tatobjekts – hier: § 222 StGB zu Lasten
des O – zu prüfen. Da aber C nach wie vor anwesend ist
und sich bewusst dazu entschließt, nicht in das Geschehen
einzugreifen, ist hier denkbar, dass nicht nur eine fahrlässige Tötung, sondern sogar eine vorsätzliche Tötung durch
Unterlassen gegeben ist. Ist dies der Fall, geht sie der
fahrlässigen Tötung vor und sollte daher vorrangig geprüft
werden. Bilden die Bearbeiter allerdings – gut vertretbar –
zwei Tatkomplexe (1. Beimischung des Giftes; 2. Während des Essens), ist eine Prüfung des § 222 StGB an dieser Stelle vertretbar; im Rahmen der Prüfung der Tötung
durch Unterlassen kann dann in Bezug auf die Ingerenzgarantenstellung auf diese Ausführungen verwiesen werden. Die fahrlässige Tötung wird dann im Rahmen der
Konkurrenzen von der vorsätzlichen Tötung verdrängt.
Hinweis: Prüft man an dieser Stelle eine fahrlässige Tötung, darf keinesfalls leichtfertig die Vorschrift des § 25
Abs. 2 StGB (erst recht in Überschrift und Obersatz) ins
Spiel gebracht werden. Zwar scheint die wohl überwiegende Auffassung mittlerweile das Konstrukt einer fahrlässigen Mittäterschaft anzuerkennen;53 ohne nähere Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Problemen
ist aber das Abstellen auf eine solche Rechtsfigur in der
Klausur hochproblematisch und sollte dringend vermieden werden!
IV. §§ 211, 212 Abs. 1, 13 StGB zu Lasten des O (Kein
Eingreifen während des Essens)
C könnte sich eines Mordes durch Unterlassen gem. §§ 211,
212 Abs. 1, 13 StGB schuldig gemacht haben, indem er nicht
eingriff, als O den vergifteten Burrito verspeiste.
Hinweis: Diese Prüfung ist nur dann erforderlich und sinnvoll, wenn nicht bereits eine vollendete vorsätzliche Tötung
des O durch aktives Tun angenommen wurde (etwa durch
Annahme eines unbeachtlichen error in persona).
1. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tötung eines anderen Menschen (durch Unterlassen)
O ist tot. Dieser Erfolg müsste kausal und objektiv zurechenbar auf ein Verhalten des C zurückzuführen sein. Während
des Essens kommt insoweit nur ein Unterlassen in Frage.
Hinweis: Freilich ist der Tod des O auch kausal auf ein
aktives Verhalten des C – nämlich die Herstellung des
Giftes – zurückzuführen. Weder zu diesem Zeitpunkt noch
im Zeitpunkt der Beimischung des Giftes durch S hatte C
allerdings Vorsatz hinsichtlich einer Tötung des O (s.o. II.).
Anders als ein aktives Tun kann ein Unterlassen im Rahmen
eines unechten Unterlassungsdelikts nur dann ein strafrechtsrelevantes Verhalten darstellen, wenn der Unterlassende zum
Handeln verpflichtet war. Gem. § 13 Abs. 1 StGB ist insoweit
eine sog. Garantenstellung erforderlich. Da zwischen C und
O keinerlei Obhutsverhältnis o.Ä. besteht, kommt hier nur
eine Garantenstellung aus pflichtwidrigem Vorverhalten in
Betracht (sog. Ingerenz).
Ingerenz liegt nach überwiegender Auffassung dann vor,
wenn der Unterlassende durch sorgfaltswidriges (Vor-)Verhalten eine nahe Gefahr für ein Rechtsgut geschaffen hat.54
Aus diesem Vorverhalten ergibt sich dann für den Unterlassenden die strafbewehrte Pflicht, die von ihm geschaffene
Gefahr des Eintritts eines tatbestandsmäßigen Erfolges zu beseitigen.
Ein solches pflichtwidriges Verhalten könnte in dem Versuch zu sehen sein, K zu vergiften. Dies müsste jedoch auch
O gegenüber pflichtwidrig sein. C und S bedienen sich mit
dem Gift eines Tötungsmittels, das ein Mitwirkungsverhalten
des Opfers voraussetzt. Zwar wurde K über seinen Sitzplatz
individualisiert und anvisiert, jedoch kann das Opferverhalten
und das „Zuschnappen der Falle“ ab dem Zeitpunkt nicht
mehr beeinflusst werden, in dem nur noch das Opferverhalten
über den Erfolg der Tat entscheidet. Verhält sich das Opfer
nicht wie vorhergesehen, ist eine Schädigung Dritter nicht
auszuschließen. Die Verwendung eines solchen Mittels ist
demnach im Falle des Fehlgehens der Tat jedem potentiellen
Opfer gegenüber pflichtwidrig.
52
Vgl. Kühl (Fn. 1), § 16 Rn. 11 m.w.N.
Vgl. die Nachweise sowie Kritik an diesen Auffassungen
bei Rotsch, in: Paeffgen u.a. (Hrsg.), Strafrechtsanalyse und
Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 887.
53
54
Exemplarisch Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 4),
§ 13 Rn. 32 m.w.N.
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ZJS 4/2014
420
Übungsklausur: „I am the danger“
In der versuchten Vergiftung des K ist also ein Ingerenz
begründendes pflichtwidriges Vorverhalten zu sehen; dies ist
C auch zurechenbar.
Hinweis: Damit kommt es auf den Streit, ob auch pflichtgemäßes Vorverhalten eine Garantenstellung aus Ingerenz
begründen kann, nicht an (vgl. dazu Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht, Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 2012,
29. Problem).
Damit liegt eine Garantenstellung aus Ingerenz vor. Seiner
Handlungspflicht ist C nicht nachgekommen. Ein strafrechtlich relevantes Unterlassen ist damit gegeben. Dies hat den
Tod des O auch (quasi-)kausal55 sowie objektiv zurechenbar56
verursacht.
dert.59 C und S lassen zu, dass O die vergiftete Portion verspeist, weil sie ihr ursprüngliches Vorhaben – die beabsichtigte Tötung des K – nicht offenbaren wollen. Es geht ihnen
also nicht darum, der Strafverfolgung wegen der versuchten
Tötung des K zu entgehen, sondern K von ihrem Vorhaben in
Unkenntnis zu lassen, was ihnen die Möglichkeit eröffnet,
einen erneuten Tötungsversuch unternehmen zu können, mit
dem K nicht rechnet. Mit der Rechtsprechung des BGH kann
dies jedoch richtigerweise keine Rolle spielen: Das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht dient nicht dem Schutz der
Rechtspflege, sondern verschärft die Strafe aufgrund der
Verknüpfung der Tötung mit anderem Unrecht.60 Daher ist es
unschädlich, dass nicht davon auszugehen ist, dass K im
Falle einer Offenbarung des Tötungsversuchs die Strafverfolgungsbehörden informiert hätte.
Hinweis: Lehnt man eine Ingerenzgarantenstellung ab, ist
§ 222 StGB (durch aktives Tun) zu Lasten des O aufgrund
der Giftbeimischung zu prüfen (dazu s.o. unter III. a.E.).
Ein solches Vorgehen ist zwar vertretbar, klausurtaktisch
allerdings ungeschickt, weil man sich so die – sogleich zu
erörternden – Probleme im Rahmen der Prüfung der Verdeckungsabsicht „abschneidet“.
bb) Heimtücke
Da C die Arg- und Wehrlosigkeit des O nur in Kauf nimmt,
jedoch gerade nicht bewusst ausnutzt, scheidet eine heimtückische Tötung aus.57
b) Subjektiver Tatbestand
aa) Tötungsvorsatz
C hatte Vorsatz in Form des sicheren Wissens (dolus directus
2. Grades).
bb) Verdeckungsabsicht
In Betracht kommt das Mordmerkmal „zur Verdeckung einer
Straftat“, weil C nicht eingreift, um die versuchte Tötung des
K (s.o. III.) nicht zu offenbaren.
Dass C keine Tötungsabsicht hat, ist insoweit unschädlich.58 Es kommt nur darauf an, dass hinsichtlich der Verdeckung dolus directus 1. Grades vorliegt. Dies ist dem Grunde
nach der Fall; es kommt C darauf an, dass die versuchte Tötung des K nicht ans Licht kommt.
Fraglich ist dabei aber, ob es für die Annahme der Verdeckungsabsicht relevant ist, dass das Motiv des Täters darauf
gerichtet sein muss, gerade strafrechtliche Konsequenzen zu
vermeiden. Dies wird von weiten Teilen der Literatur gefor-
STRAFRECHT
Hinweis: A.A. gut vertretbar. Insbesondere lässt hier der
Sachverhalt auch eine andere Deutung der Motive des C
für das Nichteinschreiten während des Essens zu. Entscheidend ist eine schlüssige Argumentation anhand der
sich aus dem Sachverhalt ergebenden Informationen über
die Gesamtsituation.
Weiterhin stellt sich die Frage, ob Verdeckungsabsicht auch
bei Tötungen durch Unterlassen möglich ist. Während der
BGH früher davon ausging, dass Unterlassen und Verdeckungsabsicht sich gegenseitig ausschließen,61 wurde diese
Auffassung inzwischen aufgegeben.62 Anders als in denjenigen Fällen, in denen der Täter das fahrlässig verletzte Unfallopfer im Stich lässt, um seiner Ergreifung zu entgehen, lässt
sich hier gegen eine Verdeckungsabsicht nicht einwenden,
dass der Tod sich nur reflexhaft aus der der Verdeckung
dienenden Flucht ergebe.63 Folglich handelte C in Verdeckungsabsicht.
Hinweis: Auch hier ist die Gegenauffassung gut vertretbar.
2. Rechtswidrigkeit und Schuld
C handelte rechtswidrig und schuldhaft.
Hinweis: Ausführungen zu §§ 34, 35 StGB sind fernliegend. Eine Rechtfertigung oder Entschuldigung muss hier
jedenfalls daran scheitern, dass C die Konfliktsituation
selbst verursacht hat. Erwägungen hinsichtlich des nemo
tenetur-Grundsatzes scheitern zum einen daran, dass keine
Strafverfolgungsorgane anwesend sind; zum anderen geht
59
55
Vgl. zur Begrifflichkeit Kühl (Fn. 1), § 18 Rn. 35 f.
Zur objektiven Zurechnung bei unechten Unterlassungsdelikten Kölbel, JuS 2006, 309.
57
Generell krit. zur Heimtücke bei Tötungen durch Unterlassen vgl. Neumann (Fn. 39), § 211 Rn. 72a m.w.N.
58
Siehe etwa Küper (Fn. 27), 348 f.; Neumann (Fn. 39),
§ 211 Rn. 101 m.w.N.
56
Vgl. Buttel/Rotsch, JuS 1996, 327 (329); Heghmanns,
Strafrecht für alle Semester, Besonderer Teil, 2009, Rn. 212;
Schneider (Fn. 38), § 211 Rn. 225; Theile, ZJS 2011, 405
(407 f.).
60
Vgl. BGHSt 41, 8 (9 f.); BGH NStZ 1999, 243; BGH NStZ
1999, 615.
61
Etwa BGHSt 7, 287.
62
Vgl. BGH NStZ 1992, 125; BGHSt 38, 356 (361); 41, 358.
63
Etwa (gegen die Rspr. des BGH in diesen Fällen) Neumann
(Fn. 39), § 211 Rn. 104 m.w.N.
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421
ÜBUNGSFALL
Jacob Böhringer/Markus Wagner
die Tötung weit über eine Selbstbelastung hinaus, was
auch durch die Annahme der Verdeckungsabsicht deutlich
wird.
3. Ergebnis
C ist eines Mordes durch Unterlassen gem. §§ 211, 212
Abs. 1, 13 StGB schuldig.
Hinweis: Nicht zielführend sind Ausführungen zu § 323c
StGB: Bejaht man eine vorsätzliche Tötung des O durch
Unterlassen, tritt eine eventuell einschlägige unterlassene
Hilfeleistung jedenfalls hinter dieser zurück.64 Lehnt man
eine solche ab, ist jedenfalls eine fahrlässige Tötung des
O durch die Beigabe des Giftpulvers zu bejahen, die ihrerseits § 323c StGB verdrängt.65 Auf die Frage, ob auch eine
solche Hilfeleistung noch zumutbar ist, die zwangsläufig
zu einer Offenlegung der eigenen Beteiligung an der Tat
führt, die für das Opfer den Unglücksfall begründet,66
kommt es daher im Ergebnis nicht an.
V. § 123 Abs. 1 Var. 1 StGB
C könnte sich wegen Hausfriedensbruchs gem. § 123 Abs. 1
Var. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er in Tötungsabsicht das Haus des K betrat.
Das Haus des K ist als befriedetes Besitztum ein taugliches Tatobjekt. Fraglich ist freilich, ob C in dieses auch widerrechtlich eingedrungen ist. Eindringen ist das Betreten des
befriedeten Besitztums entgegen den erklärten (oder mutmaßlichen) Willen des Berechtigten.67 K hat C zu sich eingeladen. Dies stellt insoweit ein tatbestandsausschließendes Einverständnis dar.68 An der Wirksamkeit eines solchen Einverständnisses könnte jedoch dann zu zweifeln sein, wenn – wie
hier – die eingeladene Person dem Berechtigten Absichten
verschweigt, bei deren Kenntnis der Berechtigte eine Einladung nie ausgesprochen hätte.69 Eine derartige Reduktion des
tatbestandsausschließenden Einverständnisses kann jedoch
nicht überzeugen, da § 123 StGB nur den tatsächlichen, nicht
aber den hypothetischen Willen des Berechtigten schützt.70
Somit schließt das Einverständnis des K eine Strafbarkeit
des C wegen Hausfriedensbruchs aus.
VI. Konkurrenzen und Gesamtergebnis
C hat sich durch die Vergiftung des Burritos eines versuchten
Mordes zu Lasten des K gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23
Abs. 1 StGB sowie durch das anschließende Nichteingreifen
eines Mordes durch Unterlassen zu Lasten des O gem.
§§ 211, 212 Abs. 1, 13 StGB schuldig gemacht. Fraglich ist,
wie sich diese beiden Taten zueinander verhalten.
Denkbar ist eine Handlungseinheit kraft einer „Handlung
im natürlichen Sinne“; diese setzt eine einheitliche Willensbetätigung voraus.71 Dies ist jedoch nicht der Fall: C fasst, als
O den vergifteten Burrito zu sich nimmt, den neuen Tatentschluss, nicht einzugreifen.
In Betracht kommt jedoch eine normative Handlungseinheit. Eine solche erfordert nach der Rechtsprechung des BGH
eine gleichartige Begehungsweise und einen unmittelbaren
zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, der für einen Dritten ein erkennbar einheitliches Geschehen nahe legt.72 Diese
Voraussetzungen sind hier gegeben: Das Unterlassen während
des Essen folgt der Giftbeimischung unmittelbar nach und
stellt sich auch in der Sache als dessen logisch Konsequenz
dar. Daher ist hier Handlungseinheit anzunehmen.
Hinweis: A.A. vertretbar. Lehnt man eine normative Handlungseinheit ab, liegt Handlungsmehrheit vor. Da keine
Gesetzeskonkurrenz besteht, stehen die Taten dann in Tatmehrheit gem. § 53 StGB.
Da keine Gesetzeskonkurrenz vorliegt, stehen die beiden
Taten damit in Tateinheit, § 52 StGB.
C ist daher insgesamt strafbar gem. §§ 211, 212 Abs. 1,
22, 23 Abs. 1; 211, 212 Abs. 1, 13; 52 StGB.
64
Vgl. exemplarisch Sternberg-Lieben/Hecker, in: Schönke/
Schröder (Fn. 4), § 323c Rn. 30 m.w.N.
65
Etwa Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 64), § 323c Rn. 30.
66
Vgl. dazu Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener
Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014,
§ 323c Rn. 98 ff. m.w.N.
67
Vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 123
Rn. 12 m.w.N. aus Rspr. und Lit.
68
Etwa Küper (Fn. 27), S. 121.
69
Vgl. insoweit die Ausführungen zu verdeckten Ermittlern
bspw. bei Sternberg-Lieben (Fn. 67), § 123 Rn. 22.
70
Vgl. Küper (Fn. 27), S. 122.
71
72
Dazu allgemein Kühl (Fn. 1), § 21 Rn. 7.
Vgl. BGHSt 10, 231; dazu Kühl (Fn. 1), § 21 Rn. 10 ff.
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BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13
Gsell
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E nt s ch ei d ung s be sp rec h u ng
Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB bei
Störung des Grundstückseigentums durch unterirdische
Stromleitungen
Ein Eigentümer, der die Inanspruchnahme seines Grundstücks durch einen Nachbarn (hier: durch unterirdisch
verlegte Leitungen) jahrzehntelang gestattet hat, verliert
hierdurch nicht das Recht, die Gestattung zu widerrufen
und anschließend seine Ansprüche aus § 1004 BGB geltend
zu machen.
(Amtlicher Leitsatz)
BGB §§ 242, 1004
BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 (LG Frankenthal, AG
Bad Dürkheim)1
Die Entscheidung behandelt eine Grundkonstellation des negatorischen Beseitigungsanspruches aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB
und zwar die Beeinträchtigung fremden Grundeigentums
durch von Grundstücksnachbarn veranlasste Störungen. Konkret geht es um die Verjährung des Anspruches aus § 1004
Abs. 1 S. 1 BGB und deren Wirkungen sowie die Voraussetzungen einer Verwirkung. Allerdings liefert das Urteil über
diese Einzelaspekte hinaus einen anschaulichen Beleg für die
rechtlichen Auswirkungen der unterschiedlichen dogmatischen
Positionen in dem Grundsatzstreit um das richtige Verständnis
der negatorischen Beseitigungshaftung, wie er seit Erscheinen
der Bonner Dissertation Eduard Pickers aus dem Jahre 19722
andauert. Es ist gerade deshalb für Studierende besonders
lehrreich.
I. Einleitung
In dem vorliegend vom BGH entschiedenen Streitfall geht es
um benachbarte Grundstücke. Das klägerische Grundstück ist
unbebaut, während auf den Grundstücken der beklagten Nachbarn Wochenendhäuser stehen. Die Klägerin, die ihr Grundstück erst im Jahre 2011 erworben hat, verlangt von den
Nachbareigentümern die Beseitigung von Stromleitungen.
Diese waren im Jahre 1979 von einem Zählerkasten auf einem
Wirtschaftsweg aus unter Durchquerung des klägerischen
Grundstückes zu den Grundstücken der Beklagten verlegt
worden. Dies geschah seinerzeit in Eigenregie durch die Beklagten, aber mit Zustimmung des damaligen Eigentümers
des klägerischen Grundstückes. Eine dingliche Absicherung
der Gestattung durch eine Grunddienstbarkeit nach § 1018
BGB oder eine beschränkt-persönlichen Dienstbarkeit nach
§ 1090 BGB war nicht erfolgt. Dabei liegt der Fall offenbar
so, dass ein Anschluss der Grundstücke der Beklagten an das
Stromnetz auch ohne Inanspruchnahme fremder Grundstücke
möglich wäre und dies, ohne unverhältnismäßige Kosten zu
verursachen.
Auch wenn sich der BGH in casu nicht mehr mit den Voraussetzungen der Eigentumsbeeinträchtigung gem. § 1004
Abs. 1 S. 1 BGB befasst, sondern allein mit den Wirkungen
der Verjährung des Beseitigungsanspruches sowie den Voraussetzungen einer Verwirkung, so bietet der zugrunde liegende
Sachverhalt doch Anlass, den Grundsatzstreit um Natur und
Reichweite der negatorischen Haftung anschaulich zu machen.
Denn wenn man den Fall nicht auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung, sondern nach der von Picker begründeten sog. Theorie von der Rechtsusurpation löst, dann ist vorliegend möglicherweise schon eine Eigentumsbeeinträchtigung
durch die Beklagten zu verneinen und besteht ihnen gegenüber ggf. gar kein Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1
BGB. Davon abgesehen unterfällt ein solcher Anspruch nach
Auffassung von Picker bei Störung von Grundstückseigentum,
anders als vorliegend vom BGH angenommen, § 902 Abs. 1
S. 1 BGB, ist also unverjährbar.3
II. Weites Verständnis des negatorischen Beseitigungsanspruches durch die Rspr. im Sinne einer Kausalhaftung
1. Großzügige Bejahung einer abwehrfähigen Eigentumsbeeinträchtigung
Die Rechtsprechung bejaht traditionell die Voraussetzungen
des § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB großzügig im Sinne einer verschuldensunabhängigen Kausalhaftung schon dann, wenn das
Verhalten einer Person oder der Zustand ihrer Sache zu einer
Beeinträchtigung fremden Eigentums geführt hat.4 Eine Eigentumsbeeinträchtigung wird damit in jedem dem Inhalt des
Eigentums widersprechenden Zustand gesehen.5 Waren beispielsweise von einer Halde Gesteinsmassen auf das Nachbargrundstück gerutscht, so hielt schon das Reichsgericht die
Eigentümer der Halde für verpflichtet, den Schutt vom Nachbargrundstück zu entfernen und den früheren Zustand des
Grundstückes wieder herzustellen.6 § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB
gewährt nach diesem Verständnis einen mehr oder weniger
weitreichenden Folgenbeseitigungsanspruch.
2. Problem der Abgrenzung zur verschuldensabhängigen Deliktshaftung
Die niedrigen Anforderungen der Rechtsprechung an die zu
beseitigende Eigentumsbeeinträchtigung i.S.v. § 1004 Abs. 1
S. 1 BGB verursacht allerdings einen Grundkonflikt mit dem
Grundsatz, dass sich nach dem BGB nur derjenige schadensersatzpflichtig macht, der schuldhaft gehandelt hat. Die Recht-
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=
dd50731f6b4aeb03d0d32f24d04f7d4a&nr=68175&pos=0&a
nz=1&Blank=1.pdf (10.7.2014).
2
Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, 1972; näher
dazu auch jüngst Katzenstein, VersR 2013, 815 mit umfangr.
Nachw.
3
Näher Picker, JuS 1974, 357; Katzenstein, VersR 2013, 815
(821 f.).
4
Nachw. bei Picker (Fn. 2), S. 19 ff.; Baldus, in: Münchener
Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 1004 Rn. 57 ff.
5
So die ständige Rspr., siehe nur BGH NJW 2005, 1366
(1367) m.w.N.
6
RGZ 51, 408 (411).
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BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13
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sprechung hat auf der Grundlage ihres weiten Verständnisses
des § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB mithin das Problem, den negatorischen Beseitigungsanspruch insbesondere von der deliktsrechtlichen Schadensersatzhaftung abzugrenzen. Dabei ist
zwar auch in der Rechtsprechung anerkannt, dass nicht sämtliche Folgen einer Eigentumsstörung nach § 1004 Abs. 1 S. 1
BGB verschuldensunabhängig beseitigt werden müssen. Der
Störer soll nur die fortdauernde Eigentumsbeeinträchtigung
beseitigen müssen, wozu jedenfalls die Störungsquelle rechne
sowie die Beseitigung solcher Eigentumsbeeinträchtigungen,
die zwangsläufig durch die Beseitigung der primären Störung
entstünden. Weitere Störungsfolgen sollen dagegen nicht nach
§ 1004 BGB zu beseitigen sein.7 Danach ist beispielsweise
bei vom Nachbargrundstück auf einen Tennisplatz herüberwachsenden Pappelwurzeln die Beseitigung der störenden
Baumwurzeln geschuldet sowie die anschließende Wiederherstellung der Tennisplätze, deren Beschädigung zwangsläufig durch das Beseitigen des Wurzelwerks eintritt.8 Eine zuverlässige trennscharfe Abgrenzung der nicht zu beseitigenden weiteren Folgen ist der Rechtsprechung aber niemals gelungen.9
III. Pickers engere Theorie von der Rechtsusurpation
1. Abwehrfähige Eigentumsbeeinträchtigung nur bei Rechtsusurpation
Im Gegensatz zur Rechtsprechung sieht Picker in § 1004
Abs. 1 S. 1 BGB keinen „kleinen“ Schadensersatzanspruch,
sondern parallel zu § 985 BGB einen auf die Verwirklichung
des Eigentums gerichteten dinglichen Anspruch. Danach ist
§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB anders als ein Schadensersatzanspruch nicht auf Haftung wegen eines in der Vergangenheit
liegenden verpflichtenden Verhaltens gerichtet, sondern auf
Beseitigung einer gegenwärtigen Beeinträchtigung des dinglichen Rechts10 im Sinne einer „tatsächliche[n] Inanspruchnahme des Eigentums durch einen Dritten11“. Eine solche ergibt sich nicht bereits aus einer in der Vergangenheit liegenden physischen Beeinträchtigung der Sache, sondern erfordert eine „Rechtsusurpation“, d.h. eine aktuelle Inanspruchnahme der Eigentümerposition durch einen Dritten. Es muss
„das Eigentum von einer fremden Rechtssphäre überlagert“
werden, ein „‚Stück Eigentum‘ durch einen Dritten ausgeübt“
werden, „das, was dem Gestörten fehlt, der Störer inneha[ben]“.12
2. Anspruch allein auf Rückzug in den eigenen Rechtskreis
Parallel dazu, dass die Theorie von der Rechtsusurpation die
Voraussetzungen einer Eigentumsbeeinträchtigung deutlich
restriktiver fasst als die Rechtsprechung, begrenzt sie auch
7
Siehe nur BGH NJW 2005, 1366 (1367 f.) m.w.N.
BGHZ 135, 235, zit. nach juris Rn. 10.
9
Dies belegt anschaulich die Fallgruppe der Bodenkontamination, lesenswert dazu etwa die in Fn. 7 zitierte Entscheidung.
10
Picker, JuS 1974, 357 (359).
11
Picker (Fn. 2), S. 50.
12
Picker (Fn. 2), S. 50 f.
8
den Inhalt des Beseitigungsanspruchs eng. Danach erschöpft
sich der Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 darin, dass der
Störer „der Ausübung des Eigentums durch den Berechtigten
in Zukunft nicht mehr im Wege steht“. Geschuldet wird keine
Folgenbeseitigung, sondern „die Aufgabe der rechtsusurpierenden Position“, „die Korrektur des eigenen Rechtskreises“.13
In dem Pappel-Beispiel14 müsste der Eigentümer des mit
Pappeln bewachsenen Grundstückes sich also nach der Theorie
von der Rechtsusurpation allenfalls15 an seine Grundstücksgrenze zurückziehen und dafür sorgen, dass von seinem
Grundstück keine Wurzeln mehr zum Nachbarn. Die Wurzeln auf dem Nachbargrundstück müsste er ebenfalls entfernen, da diese wesentliche Bestandteile der Pappeln und damit
nach § 94 Abs. 1 S. 1 BGB auch des Pappel-Grundstücks geblieben sind.16 Folglich liegt insoweit eine Rechtsusurpation
vor, weil der Eigentümer des Grundstücks, auf dem die Pappeln stehen, für die weiterhin ihm gehörenden hinüberragenden Wurzeln das fremde Nachbargrundstück in Anspruch
nimmt.17 Der Beseitigung der hinüber gewachsenen Wurzeln
könnte er sich allerdings entziehen durch das Fällen der
Bäume und die Aufgabe des Eigentums an den Wurzeln.18
Denn dann würde er nicht mehr länger für eigene Sachen
(konkret: eigene Baumwurzeln) das fremde Grundstück des
Nachbarn in Anspruch nehmen. Der Nachbar könnte diese –
nicht mehr dem Eigentümer des Pappel-Grundstückes gehörenden Wurzeln – vielmehr nach § 903 BGB in Ausübung
seiner Grundstückseigentümer-Befugnisse selbst beseitigen,
ohne in fremdes Eigentum einzugreifen. Dagegen hätte der
Eigentümer des Grundstückes mit den Pappeln keinesfalls
den Belag der nachbarlichen Tennisplätze zu erneuern. Denn
dieser Belag ist nach § 94 Abs. 1 S. 1 BGB wesentlicher
Bestandteil des Nachbargrundstücks, so dass es insoweit an
einer Rechtsusurpation durch den Eigentümer des PappelGrundstückes fehlt.
13
Picker (Fn. 2), S. 157.
Siehe vor und mit Fn. 8.
15
Sofern allerdings die Pappeln überhaupt gar nie von Menschenhand gepflanzt worden wären, sondern natürlich gewachsen wären, könnte der Nachbar nicht einmal dies verlangen, da es sich dann bei der Wurzeleinwirkung um eine
natürliche Eigenschaft seines Grundstücks handeln würde,
siehe Picker (Fn. 2), S. 104 f.
16
Vgl. zu den Eigentumsverhältnissen in solchen Fällen hinüberwachsender Baumwurzeln J.F. Baur, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2002, § 910 Rn. 2 m.w.N.
17
Zum Verhältnis zum Selbsthilferecht aus § 910 BGB siehe
Picker (Fn. 2), S. 168 ff.; ders., JuS 1974, 357 (359 ff.), für
Konkurrenz zwischen Selbsthilferecht und Anspruch aus
§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB auch der BGH, siehe nur BGHZ 60,
235.
18
Zum Wegfall der störenden Beeinträchtigung durch Dereliktion Picker (Fn. 2), S. 113 ff.; abl. etwa Baldus (Fn. 4),
§ 1004 Rn. 81 ff. m.w.N.
14
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3. Theorie von der Rechtsusurpation dogmatisch überzeugender
Pickers Theorie von der Rechtsusurpation vermeidet nicht
nur Abgrenzungsprobleme zur deliktsrechtlichen Schadensersatzhaftung, sondern vermag die Ratio der verschuldensunabhängigen Haftung aus § 1004 BGB als auf Eigentumsverwirklichung gerichteten dinglichen Anspruch parallel zur Vindikation aus § 985 BGB schlüssig zu erklären. Hält man das
deliktsrechtliche Verschuldenserfordernis nicht grundsätzlich
für korrekturbedürftig, so kann man ihr auch nicht vorwerfen,
dass sie zu unbilligen Ergebnissen führe.19 Sie findet deshalb
zu Recht zunehmend Anhänger in der Literatur und billigenden Eingang in die Kommentarliteratur.20
IV. Voraussetzungen der Eigentumsbeeinträchtigung im
Streitfall
Folgt man Pickers Auffassung, so ist auch in dem der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegenden Streitfall zweifelhaft, ob überhaupt eine nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB abwehrfähige Eigentumsbeeinträchtigung vorliegt. Die Entscheidung setzt sich auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung mit der Frage der Rechtsusurpation nicht auseinander.
Eine Anmaßung fremden Eigentums im Sinne einer Rechtsusurpation ergibt sich nicht bereits aus dem Umstand, dass
die Beklagten bzw. deren Rechtsvorgänger die Stromkabel in
der Vergangenheit verlegt haben. Sie würde vielmehr voraussetzen, dass deren Lage im Grundstück der Klägerin aktuell
eine Anmaßung von Eigentümerbefugnissen darstellt, die nach
§ 903 BGB rechtlich allein der Klägerin zugewiesen sind.21
Das ist aber dann nicht der Fall, wenn die Stromleitungen
nach § 94 Abs. 1 S. 1 BGB Eigentum der Klägerin wurden,
was sich dem Urteil jedoch nicht zweifelsfrei entnehmen
lässt.22 Dann steht es der Klägerin im Rahmen ihrer Eigentümerbefugnisse nach § 903 S. 1 BGB ohnehin grundsätzlich23
frei, die Leitungen zu beseitigen. Eine Überlagerung der
Eigentümerbefugnisse der Klägerin durch die Rechtssphäre
der Beklagten ist dann nicht gegeben, mithin eine Beeinträchtigung nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB zu verneinen. Stünden
die Stromleitungen hingegen als sog. Scheinbestandteile im
Sinne von § 95 Abs. 1 S. 1BGB im Eigentum der Beklagten,
19
Siehe aber etwa Baldus (Fn. 4), § 1004 Rn. 81, der allein
eine Aufrechterhaltung der Störerhaftung trotz Dereliktion
für akzeptanzfähig hält.
20
Siehe nur Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB,
2012, § 1004 Rn. 3 ff.; im Grundsatz auch Baldus (Fn. 4),
§ 1004 Rn. 6, 81 ff., 93, der aber den Störer anders als Picker
trotz Aufgabe des Eigentums (Dereliktion) weiter haften lassen möchte; w. Nachw. zum Meinungsstand bei Katzenstein,
VersR 2013, 815 (818 Rn. 29.).
21
Kritisch gegenüber der mangelnden Klärung der Eigentumslage an den unerwünschten Gegenständen in BGH NJW
2011, 1068 Katzenstein, VersR 2013, 815 (816 f.).
22
In BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 5 der Entscheidungsgründe heißt es lediglich, dass es sich nicht um
Leitungen des Energieversorgers handle.
23
Zur mangelnden Bindung an die vom Voreigentümer erteilte schuldrechtliche Gestattung siehe sogleich unter VI.
weil sie nur zu einem vorübergehenden Zweck im Grundstück der Klägerin verlegt worden wären, dann wäre eine
Inanspruchnahme des klägerischen Eigentums durch die Beklagten gegeben und wären die Beklagten nach § 1004 Abs. 1
S. 1 BGB dazu verpflichtet, sich in ihren Rechtskreis zurückzuziehen. Zu diesem Zweck hätten sie die Leistungen zu entfernen. Alternativ dazu könnten sie das Eigentum an den Leitungen aufgeben mit der Folge, dass der Anspruch aus § 1004
Abs. 1 S. 1 BGB erlöschen würde, weil die Klägerin dann
nicht mehr länger durch entgegenstehendes fremdes Eigentum der Beklagten rechtlich gehindert wäre, selbst Hand anzulegen und die Leitungen zu beseitigen.
V. Verjährbarkeit des Beseitigungsanspruches des Grundstückseigentümers?
1. BGH: Keine Unverjährbarkeit, aber dauerhaftes Selbsthilferecht
Was nun die Frage der Verjährung des vorliegend vom BGH
bejahten Beseitigungsanspruches aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB
anbelangt, so bestätigt der BGH seine bisherige Rechtsprechung.24 Danach unterliegt auch der Anspruch des Grundstückseigentümers aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB der Verjährung
und es greift insoweit also die Unverjährbarkeitsanordnung in
§ 902 Abs. 1 S. 1 BGB nicht ein. Die Verjährung hat nach
Auffassung des BGH jedoch nicht die Folge, dass der Eigentümer des gestörten Grundstückes die Beeinträchtigung auch
in Zukunft hinzunehmen habe, begründet also keine Duldungspflicht nach § 1004 Abs. 2 BGB gegenüber den Störern,
sondern führt lediglich dazu, dass der Anspruch auf Beseitigung nicht mehr durchsetzbar ist. Der Eigentümer bleibt aber
nach § 903 S. 1 BGB berechtigt, die Beeinträchtigung seines
Eigentums durch Entfernung des störenden Gegenstandes von
seinem Grundstück selbst zu beseitigen.
2. Theorie von der Rechtsusurpation: Unverjährbarkeit nach
§ 902 Abs. 1 S. 1 BGB
Zu dem Ergebnis, dass die Klägerin dauerhaft berechtigt ist,
die störenden Stromleitungen selbst zu beseitigen, gelangt
man auch auf der Grundlage der Theorie von der Rechtusurpation, dies allerdings nur, wenn man unterstellt, dass kein
Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB gegeben ist, weil die
Stromleitungen in das Eigentum der Klägerin gelangt sind.25
Denn dann ist die Klägerin schlicht kraft ihrer Eigentümerbefugnisse aus § 903 S. 1 BGB grundsätzlich befugt, die Stromleitungen zu entfernen. Die mit dem Eigentum als absolutem
Recht einhergehenden Befugnisse nach § 903 BGB verjähren
als solche schon deshalb nicht, weil es sich dabei nicht um
Ansprüche handelt.26
Stehen hingegen die im Grundstück der Klägerin liegenden Stromleitungen im Eigentum der Beklagten und ist deshalb ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB gegeben,27 so
24
Grdlgd. BGHZ 60, 235, und ferner BGH, Urt. v. 16.5.2014
– V ZR 181/13, Rn. 8.
25
Dazu näher unter IV.
26
Siehe § 194 Abs. 1 BGB.
27
Näher dazu unter IV.
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BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13
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hat die Klägerin nach der Theorie der Rechtsusurpation
grundsätzlich28 gerade kein Selbsthilferecht zur Beseitigung,
sondern ist eben auf den Beseitigungsanspruch aus § 1004
Abs. 1 S. 1 BGB verwiesen.29 Allerdings ist, anders als vom
BGH angenommen, nach der Theorie von der Rechtsusurpation § 902 Abs. 1 S. 1 BGB anwendbar, der negatorische
Beseitigungsanspruch des Grundstückseigentümers also unverjährbar.30 Dies ist auch folgerichtig. Denn setzt § 1004
Abs. 1 S. 1 BGB hiernach eine fortwährende rechtliche Inanspruchnahme fremden Eigentums voraus und kann auch nur
der Rückzug des Störers in den eigenen Rechtskreis verlangt
werden, dann geht es gerade nicht um Schadensersatz, der
nach § 902 Abs. 1 S. 2 BGB von der Unverjährbarkeit ausgenommen ist, sondern um eine andauernde rechtswidrige Verkürzung der dem im Grundbuch eingetragenen Eigentümer
als solchem zustehenden Befugnisse.31
VI. Keine Bindung des Einzelrechtsnachfolgers an die Gestattung der Störung durch den Voreigentümer
Das vom BGH im aktuellen Urteil bejahte und unter der Prämisse eines Eigentumserwerbs der Klägerin an den störenden
Stromkabeln im Ergebnis auch nach der Theorie von der
Rechtsusurpation gegebene Selbsthilferecht der Klägerin auf
deren Entfernung32 würde allerdings entfallen, wenn eine
Duldungspflicht aus § 1004 Abs. 2 BGB bestünde.33 Zu
Recht verneint jedoch der BGH mangels dinglicher Absicherung eine Bindung der Klägerin als Einzelrechtsnachfolgerin
an die vom Voreigentümer erteilte Gestattung.34 Zutreffend
konstatiert der Senat weiter, dass kein Miet- oder Pachtvertrag
mit den Beklagten vorliegt und deshalb die Klägerin auch
nicht nach § 566 BGB (in Verbindung mit § 578 Abs. 1 bzw.
§§ 581 Abs. 2, 593b BGB) an schuldrechtliche Verpflichtungen des Voreigentümers gegenüber den Beklagten gebunden
sei.35 Schließlich stellt der BGH richtig fest, dass auch im
Kaufvertrag zwischen dem ehemaligen Eigentümer und der
Klägerin keine Duldungspflicht der Klägerin begründet wurde,
was entweder eine Schuldübernahme nach § 415 BGB oder
die Vereinbarung einer Duldungspflicht zugunsten den Beklagten als Dritten nach § 328 BGB vorausgesetzt hätte.36 Dabei
betont der BGH zutreffend, dass die bloße Kenntnis des Käufers von der Beeinträchtigung der Kaufsache nicht den Schluss
28
Siehe aber vor und mit Fn. 17.
Ausf. gegen ein Selbsthilferecht in solchen Situationen
Katzenstein, VersR 2013, 815 (820 f.).
30
Siehe die Nachw. in Fn. 3.
31
Näher zur Unverjährbarkeit des negatorischen Beseitigungsanspruches des Grundstückseigentümers auf der Grundlage
der Theorie von der Rechtsusurpation Picker, JuS 1974, 357;
Katzenstein, VersR 2013, 815.
32
Siehe oben V. 2.
33
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 9.
34
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 12,
unter Verweis auf BGH NJW-RR 2008, 827 Rn. 7.
35
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 13.
36
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 13.
29
auf eine konkludente Schuldübernahme- oder Schuldbeitrittsvereinbarung zulässt.37
VII. Keine Verwirkung des Selbsthilferechts
Die aktuelle Entscheidung setzt sich schließlich noch mit der
Frage auseinander, ob der Eigentümer die vom BGH bejahte
Selbsthilfebefugnis nach § 242 BGB verwirkt hat.38 Insoweit
überzeugt es, wenn der BGH eine illoyal verspätete Geltendmachung des Selbsthilferechts aufgrund jahrzehntelanger
Duldung der Stromkabel durch den Voreigentümer des klägerischen Grundstücks schon deshalb verneint, weil dieser den
Beklagten die Verlegung der Stromleitungen erlaubt hatte
und sich folglich für ihn die Inanspruchnahme seines Grundstückes als rechtmäßig darstellte.39
Zutreffend weist der BGH in diesem Kontext darauf hin,
dass der Eigentümer durch eine solche jahrzehntelange Duldung der Nutzung seines Grundstückes nicht das Recht verliert, die Gestattung zu widerrufen, weil andernfalls ein Grundstückseigentümer, schon um einen Rechtsverlust durch Verwirkung zu vermeiden, nach einer gewissen Zeitspanne gegen
den Nachbarn vorgehen müsste, auch wenn im Übrigen kein
Anlass zum Widerruf der Gestattung oder zur Kündigung
eines Leih- oder Duldungsvertrages bestehe.40
Dabei weist der Senat schließlich noch darauf hin, dass
bei Verträgen über die Verlegung von Leitungen, die darauf
angelegt sind, nicht vor dem Wegfall ihres Zwecks entfernt
zu werden, eine freie Widerruflichkeit einer Gestattung zwar
möglicherweise verneint werden müsse und diese nur ggf.
nur nach § 605 Nr. 1 BGB wegen eines nicht vorhergesehenen Eigenbedarfs oder nach § 314 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund gekündigt werden könnte. Dies ändere jedoch
nichts daran, dass auch bei diesen Leitungen die Befugnis zur
Nutzung des Grundstücks auf einem Vertrag mit dem Eigentümer beruhe und mit dem Ende des Vertragsverhältnisses erlösche.
VIII. Fazit
Sieht man in § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB anders als die Rechtsprechung keine Kausalhaftung für rechtswidrige Störungen,
sondern mit Picker einen der Verwirklichung des Eigentums
dienenden dinglichen Anspruch, so setzt eine Eigentumsbeeinträchtigung i.S.v. § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB die andauernde
Anmaßung fremder Eigentümerbefugnisse voraus und kann
vom Störer ggf. nur der Rückzug in den eigenen Rechtskreis
verlangt werden.
In Fällen, in denen sich auf einem Grundstück unerwünschte Gegenstände wie Stromleitungen, Blätter, Wurzeln,
Gebäudeteile, Schutt etc. befinden, kommt es danach darauf
an, in wessen Eigentum diese stehen.
37
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 15
m.w.N.
38
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 16 ff.
39
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 20 f.
40
Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 21.
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Wo diese Gegenstände, so wie möglicherweise im Streitfall,41 nicht (mehr) dem Eigentümer des Nachbargrundstückes
gehören, von dem aus sie auf das gestörte Grundstück gelangten, kann dessen Eigentümer mangels andauernder Beeinträchtigung seines Eigentums durch den Nachbarn i.S.v.
§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB von diesem keine Beseitigung verlangen. Vielmehr kann und muss sich der Eigentümer des
Grundstückes, auf dem sich die Gegenstände befinden, in
Ausübung seiner als solchen unverjährbaren Eigentümerbefugnisse nach § 903 BGB grundsätzlich selbst helfen, soweit er sich nicht dem Eigentümer des Nachbargrundstückes
gegenüber zur Duldung verpflichtet hat, wobei eine nur schuldrechtliche Gestattung den Einzelrechtsnachfolger des Eigentümers des gestörten Grundstückes nicht bindet.
Liegt dagegen eine Rechtsusurpation in Gestalt einer Inanspruchnahme eines fremden Grundstückes für das Deponieren eigener Sachen vor, so fehlt es entgegen dem BGH
grundsätzlich an einem Selbsthilferecht, greift aber § 1004
Abs. 1 S. 1 BGB zugunsten des Grundstückseigentümers ein,
wobei auch hier entgegen der Rechtsprechung nur ein Rückzug des Störers in den eigenen Rechtskreis verlangt werden
kann. Anders als vom BGH angenommen, ist dieser, eine
dauernde Verkürzung der Eigentümerbefugnisse verhindernde Anspruch ggf. nach § 902 Abs. 1 S. 1 BGB unverjährbar.
Prof. Dr. Beate Gsell, München
41
Dazu, dass das Urteil die Eigentumsverhältnisse an den
Stromleitungen offen lässt, siehe unter IV.
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OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13
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E nt s ch ei d ung s be sp rec h u ng
Nachbarklage gegen baurechtliche Befreiung – Asylbewerberunterkunft
1. Die Befristung einer Befreiung – hier für die Dauer von
zwei Jahren – von den Festsetzungen eines Bebauungsplans schließt nicht aus, dass die Grundzüge der Planung
durch die Befreiung berührt werden.
2. Wohn- oder wohnähnliche Nutzungen, die keinen Bezug
zu einem vorhandenen Gewerbebetrieb haben, dürften in
einem Gewerbebetrieb abstrakt gebietsunverträglich sein,
selbst wenn sie rechtlich als Anlage für soziale Zwecke
einzustufen sind.
3. Auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Herleitung des Gebietserhaltungsanspruchs eines Grundeigentümers besteht keine Veranlassung, Festsetzungen des Plangebers zur Art der Nutzung
auf Grund von § 1 Abs. 6 BauNVO – hier den Ausschluss
möglicher Ausnahmen nach § 8 Abs. 3 BauNVO – von
der Berufung auf die Einhaltung der Art der festgesetzten
Nutzung auszunehmen.
(Amtliche Leitsätze)
BauGB § 30 Abs.1, § 31 Abs. 2
BauNVO § 1 Abs. 6, § 8 Abs. 3
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 (VG Hamburg)1
I. Problemstellung und Examensrelevanz
Die auf den ersten Blick wenig spektakuläre Entscheidung
hat verschiedene äußerst prüfungsrelevante Grundfragen des
Bauplanungsrechts zum Gegenstand. Erstens betrifft dies die
Gestaltungsmöglichkeiten des Plangebers bei den Festsetzungen im Bebauungsplan zur Art der baulichen Nutzung. Den
Schwerpunkt bilden zweitens die Voraussetzungen einer (hier
befristeten) Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB, besonders
im Hinblick darauf, dass die Grundzüge der Planung durch
die Befreiung nicht berührt werden dürfen. Drittens schließlich spielt der Nachbarschutz im Geltungsbereich eines Bebauungsplans eine Rolle, namentlich die Reichweite des so
genannten Gebietserhaltungsanspruchs.
Prozessual handelt es sich um den einstweiligen Rechtschutzantrag eines Nachbarn nach §§ 80, 80a VwGO, der hier
freilich – bei allerdings stetiger Ausbildungsrelevanz – keine
besonderen Probleme aufwirft.
Im Hintergrund steht die Frage, in welche Baugebiete
Asylbewerberunterkünfte integriert werden können. Ähnliche
Konstellationen haben Gerichte, gerade in den letzten Jahren,
1
Der Beschluss ist abrufbar unter:
http://www.rechtsprechung¬hamburg.de/jportal/portal/page/b
shaprod.psml?doc.id=MWRE130002241&st=ent&showdocc
ase=1
und abgedruckt in NVwZ-RR 2013, 990.
schon mehrfach beschäftigt.2 Dies verleiht der Gesamtproblematik (wenn auch nicht dieser Entscheidung als solcher) auch
eine gewisse politische Dimension. Im Zuge der zurzeit hohen
und noch steigenden Asylbewerberzahlen in der Bundesrepublik Deutschland werden sich ähnliche, auch bauplanungsrechtliche Fragestellungen absehbar wiederholen.3
II. Inhalt der Entscheidung
1. Sachverhalt4
B hat von der Freien und Hansestadt Hamburg für Asylbewerberunterkünfte (teils in vorhandenen Gebäuden, teils in
neu zu errichtenden Containeranlagen) auf dem ehemaligen
Betriebs- und Recyclinghof der Stadtreinigung zwei Baugenehmigungen erhalten. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der dort ein Gewerbegebiet
festsetzt. Ansonsten nach § 8 Abs. 3 BauNVO mögliche Ausnahmen für Vergnügungsstätten sowie Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke – ebenso
wie für Einzelhandelsbetriebe – hat der Plangeber im Bebauungsplan ausdrücklich ausgeschlossen. Denn Zielsetzung des
Plans sei, „die Gewerbeflächen für solche typischen Gewerbebetriebe zu sichern, die auf Grund ihres Flächenanspruchs
und ihrer Emissionen auch auf derartige Flächen angewiesen
sind. […] Aus diesem Grund [erfolge] auch ein Ausschluss
[der ansonsten ausnahmsweise zulässigen] Anlagen.“5 Doch
sehen die Baugenehmigungen Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2
BauGB für die Zulassung von Anlagen für soziale Zwecke
vor. Die Befreiung ist auf zwei Jahre befristet, weil man bis
dahin eine andere dauerhaftere Unterbringungsmöglichkeit
für Asylbewerber schaffen will.
Auf dem Grundstück von N, das ebenfalls im Plangebiet
liegt, werden bereits seit langem eine Spielhalle, ein BillardCafé und ein Pizzaservice betrieben. N legt gegen die dem B
erteilten Baugenehmigungen Widerspruch ein und beantragt
zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Das
2
Siehe nur beispielhaft in letzter Zeit VGH Mannheim, Beschl. v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12 = ZfBR 2013, 583; VG Ansbach, Urt. v . 6.2.2014 – AN 9 K 13.02098; VG Hamburg,
Beschl. v. 13.9.2013 – 9 E 3452/13; VG Schwerin, Beschl. v.
29.9.2012 – 2 B 409/12.
3
Siehe zu den seit 2009 steigenden Asylbewerberzahlen, die
bei Erstanträgen mittlerweile die Höchststände aus der Zeit
der Balkankriege wieder erreicht haben, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zum Asyl, Ausgabe
Juni 2014, S. 3.
4
Eine ausführliche Beschreibung der örtlichen Umgebung
findet sich in der erstinstanzlichen Entscheidung des VG
Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 5 ff. des
amtl. Umdrucks – abrufbar unter:
justiz.hamburg.de/contentblob/3959828/data/7-e-1487-13.pdf.
Die geplante Asylbewerberunterbringungseinrichtung ist auch
aus anderen Gründen in der Presse zu Aufmerksamkeit gekommen, vgl. z.B. Hamburger Abendblatt Online v. 2.4.2013,
http://www.abendblatt.de/hamburg/article114951107/Offaka
mp-Bald-sollen-die-Fluechtlinge-einziehen.html.
5
So die Planbegründung, zitiert nach OVG Hamburg, Beschl.
v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990.
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Verwaltungsgericht ist dem gefolgt; dagegen richten sich die
Beschwerden von B und der beigeladenen Freien und Hansestadt Hamburg.
dann nicht auf die Festsetzungen des Bebauungsplans berufen,
wenn er die gleiche Nutzung abwehren will, die er selbst ausübt.12
2. Entscheidungsgründe
Das OVG Hamburg weist die Beschwerden zurück. Es bleibt
also bei der vom VG getroffenen Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
Die Asylbewerberunterkünfte werden als wohnungsähnliche Anlagen für soziale Zwecke eingeordnet.6 Solche sind
zwar nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO in einem Gewerbegebiet
grundsätzlich ausnahmsweise zulässig. Doch hat man diese
Ausnahmemöglichkeit hier im Bebauungsplan ausgeschlossen.
Deshalb hängt die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigungen
davon ab, ob die für soziale Anlagen erteilten Befreiungen
gemäß § 31 Abs. 2 (Nr. 1) BauGB rechtmäßig sind. Das Gericht hält es für wahrscheinlich, dass die Notwendigkeit, für
die unerwartet große Zahl von Asylbewerbern eine (Not-)Unterkunft zu finden, einen Grund des Allgemeinwohls gemäß
§ 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB darzustellen vermag.7 Letztlich
wird dies jedoch offen gelassen, weil die Befreiung zumindest daran scheitere, dass die Grundzüge der Planung berührt
seien. Es sei ein zentrales Anliegen des Plangebers und nicht
nur eine Nebensache gewesen, die Grundstücke im Plangebiet
insbesondere für produzierendes und verarbeitendes Gewerbe
vorzuhalten.8 Auch die Befristung der Befreiung auf zwei
Jahre ändere nichts daran, dass die Abweichung vom Bebauungsplan so prinzipiell und gewichtig sei, dass sie eine erneute
planerische Entscheidung, d.h. eine Änderung des Bebauungsplans, erfordere.9 Schließlich lasse das Erfordernis, die Grundzüge der Planung zu wahren, keine Relativierung im Wege
einer wertenden Gesamtbetrachtung zusammen mit den für
eine Befreiung sprechenden Gemeinwohlgründen zu. Denn
insoweit handele es sich um zwei getrennt zu prüfende Tatbestandsmerkmale.10
Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans begründe die
wechselseitige Bindung aller an die dortigen Festsetzungen
zur Art der baulichen Nutzung (das so genannte nachbarliche
Austauschverhältnis) vollumfänglichen Nachbarschutz.11 Dieser Gebietserhaltungsanspruch werde auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Plangeber die kraft Bundesrechts drittschützende Konzeption der BauNVO durch eigene Festsetzungen modifiziert habe. Ebenso wenig schade es, dass das Grundstück von N ebenfalls zu Zwecken genutzt werde, die zumindest teilweise mit den jetzigen bauplanungsrechtlichen Festsetzungen unvereinbar seien. Der Nachbar könne sich nur
III. Einordnung und kritische Würdigung der ausbildungsrelevanten Aspekte
1. Gestaltungsmöglichkeiten im Bebauungsplan
a) Festsetzungen über die Art der Bebauung und Struktur der
BauNVO
Im Bebauungsplan sind für Gebäude vor allem (näher § 9
BauGB) Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung (Gebietstyp, §§ 2 ff. BauNVO), zum Maß der baulichen Nutzung
(insbesondere Höhe, § 18 BauNVO, Geschosse, § 20 BauNVO) sowie zur offenen versus geschlossenen Bauweise (§ 22
BauNVO) und zur überbaubaren Grundstücksfläche (§ 23
BauNVO) möglich. Im vorliegenden Fall ging es indes allein
um die Art der baulichen Nutzung.
Für diese enthält die BauNVO einen Katalog unterschiedlicher typisierender Baugebiete (§ 1 Abs. 2), die in den § 2 ff.
(insbesondere in der Zweckbeschreibung im jeweiligen Abs. 1)
näher charakterisiert werden. Für jedes Baugebiet sind bestimmte Nutzungsarten, die den Gebietstyp prägen, ohne Weiteres zulässig (Regelbebauung). Ferner enthalten die Gebietsbeschreibungen (in ihrem jeweiligen Abs. 3) bestimmte weitere Nutzungen, die nur ausnahmsweise, d.h. i.V.m. § 31
Abs. 1 BauGB, nach Ermessen der Baugenehmigungsbehörde
zugelassen werden können (Ausnahmenbebauung).
Zu den nach Gebieten gegliederten Nutzungen der §§ 2-11
BauNVO treten schließlich, gleichsam als Querschnittsnutzungen, die nach §§ 12-14 BauNVO zulässigen Garagen und
Stellplätze, freiberuflichen Nutzungen und Nebenanlagen.
Durch die Festsetzung eines Gebietstyps wird die gesamte
Gebietsbeschreibung (einschließlich der §§ 12-14 BauNVO)
Teil des Bebauungsplans, § 1 Abs. 3 S. 2 BauNVO. Von diesen „Leitbildern“13 kann dabei der Plangeber nur eingeschränkt
abweichen. Ihm steht gerade kein Recht zu, weitere Festsetzungen zur Art der Bebauung zu erfinden,14 allerdings ermöglichen § 1 Abs. 6-9 BauNVO den Gestaltungsspielraum der
Plangeber erweiternde Modifikationen. Insbesondere können
durch diese planungstechnische Feinsteuerung – einerseits –
allgemein zulässige Nutzungen als nur ausnahmsweise oder
gar nicht zulässig sowie – andererseits – nur ausnahmsweise
zulässige als gar nicht zulässig oder umgekehrt als allgemein
zulässig festgesetzt werden.
Von dieser Feinsteuerung machte der Plangeber im vorliegenden Fall Gebrauch. Durch die entsprechende Planverordnung wurden die eigentlich nach § 8 Abs. 3 BauNVO bestehenden Ausnahmen für Vergnügungsstätten sowie Anlagen
6
Dazu näher unten III. 1. b) aa).
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (992).
8
Näher unter Bezugnahme auf die Planbegründung und die
weiteren Festsetzungen OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013
– 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (990 f.).
9
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (991).
10
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (992).
11
Dazu näher unten III. 3. b).
7
12
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (993). Dazu unten III. 3. c).
13
Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 5. Aufl. 2009, § 14 Rn. 20.
14
Zum abschließenden Charakter des Gebietskatalogs („Typenzwang“) Finkelnburg/Ortloff/Kment, Öffentliches Baurecht, Bd. 1, Bauplanungsrecht, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 5 m.
Nachw. aus der Rspr.
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für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke
gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauNVO nicht Teil des Bebauungsplans und die Zulässigkeit von Einzelhandelsbetrieben (als
bestimmte Anlagenart der allgemein zulässigen Gewerbebetriebe) wurde gemäß § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 9 BauNVO ausgeschlossen.
b) Zuordnung einer Asylbewerberunterkunft zu den Nutzungsarten
aa) Abgrenzung des Wohnens von Anlagen zu sozialen Zwecken
In der vorliegenden Entscheidung konnte das OVG angesichts
des recht eindeutigen Sachverhalts15 und mangels Entscheidungsrelevanz16 die genehmigten Vorhaben schnell den Anlagen für soziale Zwecke zuordnen.17 Doch kommt es bei der
(höchstrichterlich nicht endgültig geklärten) Zuordnung von
Asylbewerberunterkünften im Einzelnen auf eine sorgfältige
Abgrenzung zum Wohnen an.
Anlagen für soziale Zwecke sind solche, die in einem
weiten Sinne der sozialen Fürsorge und der öffentlichen
Wohlfahrt dienen, u.a. nämlich durch Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen.18 Darunter fällt
grundsätzlich auch die (helfend auf andere gerichtete) Unterbringung von Menschen. Planungsrechtliches Wohnen ist dagegen gekennzeichnet durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie durch die Freiwilligkeit des
Aufenthalts.19 Zur Eigengestaltung gehört v.a. auch ein wirksam abgeschirmter Bereich für die Entfaltung des privaten
15
Bei der Vorinstanz VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E
1487/13, S. 3 f. des amtl. Umdrucks, scheint durch, dass sich
die tatsächlichen Umstände der Unterbringung (besonders
hinsichtlich der Belegungsdichte der Zimmer) aus den Akten
nicht vollumfänglich ergaben. Dies vermag zwar im vorliegenden Fall eine eindeutige Zuordnung der Unterkünfte erschweren; in Anbetracht der Zahl der insgesamt unterzubringenden Asylbewerber erschloss das VG aber eine Belegung
in Mehrbettzimmern.
16
Die Frage wird in erster Instanz denn auch offen gelassen,
VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 5 des
amtl. Umdrucks. In vergleichbaren Fällen die Zuordnung
zuletzt ebenfalls offenlassend VGH Karlsruhe, Beschl. v.
14.3.2013 – 8 S 2504/12 = ZfBR 2013, 583 (584); VG
Schwerin, Beschl. v. 29.9.2012 – 2 B 409/12, Rn. 10 (juris).
17
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (992).
18
Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Hrsg.),
Baugesetzbuch, 112. EL (Stand: Januar 2014), § 4 BauNVO
Rn. 92 m.w.N.
19
BVerwG, Beschl. v. 25.3.1996 – 4 B 302/95 = NVwZ
1996, 893 (894); OVG Münster, Urt. v. 15.8.1995 – 11 A
850/92 = BauR 1996, 237 (238 f.); aufgegriffen z.B. vom
hiesigen OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II 72/96 =
NordÖR 1999, 354.
Lebens.20 Unterschiede bestehen vor allem zwischen Gemeinschaftsunterkünften und anderen Unterbringungsarten.
Für (Asylbewerber-)Gemeinschaftsunterkünfte, die durch
hohe Belegungsdichten, die gemeinschaftliche Nutzung von
Sanitäranlagen und Küchenräumen und das Fehlen von abgegrenzten Rückzugsräumen geprägt werden, mangelt es daher
schon an Häuslichkeit und einer hinreichenden Selbstbestimmung der Haushaltsführung.21 Dies wird noch unterstrichen,
wenn – wie bei solchen Anlagen regelmäßig – nicht sichergestellt ist, dass nur miteinander verwandte und einander bekannte Personen gemeinsam untergebracht sind.22 Der dem
besprochenen Beschluss zugrundeliegende Sachverhalt legt
es nahe, dass die errichteten bzw. umgenutzten Räumlichkeiten jeweils mit mehreren Betten ausgestattet werden sollten.
Dies hätte zumindest teilweise nach sich gezogen, dass auch
die nur in geringerer Zahl vorhandenen Sanitärräume zusammen benutzt werden müssen. Vor diesem Hintergrund war
die vom OVG sehr knapp vorgenommene Einordnung hier
folgerichtig.
Schärfer würde sich die Zuordnungsfrage bei einer Unterbringung von Asylbewerbern – anders als im vorliegenden
Fall – in häuslichen Verhältnissen innerhalb von Wohngebäuden stellen. In einem solchen Fall wird angesichts des
öffentlich-rechtlichen, überwiegend vom Asyl- und Ausländerrecht bestimmten, Nutzungsverhältnisses, teilweise die Freiwilligkeit des Unterkommens bezweifelt.23 Zur Unterkunft in
Erstaufnahmeeinrichtungen sind, zum späteren „Wohnen“ in
Gemeinschaftsunterkünften werden Asylbewerber sogar typischerweise verpflichtet (§ 47 bzw. § 60 Abs. 2 AsylVfG); die
freiwillige Auswahl ihrer Unterkunft ist ihnen damit bei typisierender Betrachtung entzogen. Überwiegend wird aber das
hinter der Nutzung stehende Rechtsregime für bodenrechtlich
nur relevant gehalten, wenn es Auswirkungen auf die übrige
Wohnsituation, etwa die Raumgestaltung oder Belegungsdichte, hat.24 Auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung
herrscht die Orientierung an der objektiven Beschaffenheit
20
Stock (Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 38 m. Nachw. aus der
Rspr.
21
Stock (Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 52; § 4 Rn. 94 m. Nachw.
aus der Rspr., z.B. OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II
72/96 = NordÖR 1999, 354 (unter Betonung der fehlenden
Intimität); OVG Münster, Beschl. v 4.11.2003 – 22 B 1345/03
= NVwZ-RR 2004, 247; VGH München, Urt. v. 13.9.2012 –
2 B 12.109 (unter Betonung der mangelnden Dauerhaftigkeit
der Unterbringung). Zuletzt offen lassend, mit der Tendenz
zur Anlage für soziale Zwecke, VGH Karlsruhe, Beschl. v.
14.3.2013 – 8 S 2504/12 = ZfBR 2013, 583 (584).
22
In diese Richtung OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II
72/96 = NordÖR 1999, 354.
23
Gegen die Freiwilligkeit Fickert/Fieseler, Baunutzungsverordnung, Kommentar, 11. Aufl. 2008, § 3 Rn. 16.4 ff.,
inbes. 16.43; Ziegler, ZfBR 1994, 160 (162); Spindler, NVwZ
1992, 125 (129); in diese Richtung tendierend, freilich i.E.
offen lassend, OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II 72/96
= NordÖR 1999, 354.
24
Stock (Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 54 m.w.N.; ähnlich Fugmann-Heesing, DÖV 1996, 322 (324 f.).
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Fehling/Waldmann
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der Wohnräume vor.25 Insgesamt überzeugt die Berücksichtigung der Nutzungsverhältnisse wegen der auf bodenrechtliche Wirkungen konzentrierten Perspektive des Bauplanungsrechts nur insoweit, als sie sich auch auf die äußeren Umstände der Unterbringung durchschlägt. Allerdings dürfen
hierzu nicht nur die objektive bauliche Situation der Wohnung,
also die Eignung zur Wohnnutzung, sondern auch die für die
Emissionen und Bewohnerfluktuation durchaus beachtlichen
Belegungsverhältnisse zählen. Wie das Bundesverwaltungsgericht die Einordnung vornehmen – und möglicherweise das
Merkmal der Freiwilligkeit relativieren – wird, bleibt nach
wie vor abzuwarten.26 In der Klausurpraxis, für die man keine
vertieften Kenntnisse dieses Streits voraussetzen dürfte, wird
eine an den für das Bauplanungsrecht leitenden bodenrechtlichen Gesichtspunkten zu angemessenen Lösungen führen.
bb) Abstrakte Gebietsunverträglichkeit wohnungsähnlicher
Nutzungen im Gewerbegebiet
Anders als noch die Vorinstanz erwog das OVG hilfsweise
die Rechtslage unter der Voraussetzung einer ausnahmsweise
zulässigen Nutzung.27 Hätte der Plangeber hier die Anlagen
für soziale Zwecke nicht ausgeschlossen, wäre die Erteilung
einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 8 Abs. 2
Nr. 3 BauNVO aber auch nur unter der Voraussetzung der
abstrakten Gebietsverträglichkeit möglich gewesen. Die Zulässigkeit eines Vorhabens, sei es im Wege der Regelbebauung,
sei es durch Ausnahmen, innerhalb eines Baugebiets der BauNVO muss sich nämlich nicht nur an den Vorschriften über
die zugelassenen bestimmten Nutzungen, sondern auch an der
Zweckbestimmung des jeweiligen Baugebiets messen.28 Aus
der Zweckbeschreibung des § 8 Abs. 1 BauNVO (Unterbringung „nicht erheblich“ aber eben doch „belästigende[r]“ Gewerbebetriebe), sowie im Umkehrschluss aus § 8 Abs. 3 Nr. 1
BauNVO, der Wohnungen gerade bei Betriebsbezug zulässt,
werde deutlich, dass im Gewerbegebiet „nicht gewohnt werden“ soll.29 Auch als wohnungsähnliche Nutzung30 ist damit
25
Vgl. die zahlreichen Nachw. aus der Rspr. bei Stock
(Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 53 f. A.A., maßgeblich auf die
„fremdbestimmte Unterbringung“ abstellend, OVG Münster,
Beschl. v. 29.7.1991 – 10 B 1128/91 = NVwZ 1992, 186
(187).
26
Die Einschätzung des BVerwG, Urt. v. 17.12.1998 – 4 C
16.97 = BVerwGE 108, 190 (202), die Nutzung eines Einfamilienhauses für die Asylbewerberunterbringung sei dem
„Wohnen im allgemeinen Verständnis ähnlich“, ist hierzu unergiebig.
27
Näher OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13
= NVwZ-RR 2013, 990 (992).
28
St. Rspr., vgl. bspw. BVerwG, Urt. v. 2.2.2012 – 4 C 14.10
= BVerwGE 142, 1 (5 f. Rn. 16); vgl. auch BVerwG, Urt. v.
18.11.2010 – 4 C 10.09 = BVerwGE 138, 166 (171 f.
Rn. 19); BVerwG, Urt. v. 21.3.2002 – 4 C 1.02 = BVerwGE
116, 155 (158).
29
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (992). Vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/
Bielenberg/Krautzberger (Fn. 18), § 8 BauNVO Rn. 44b.
eine Asylbewerberunterkunft im Gewerbegebiet wegen abstrakter Gebietsunverträglichkeit unzulässig.31
c) Besonderheiten bei der Feststellung des Bebauungsplans
im Bundesland Hamburg
Grundsätzlich wird der Bebauungsplan von der planungstragenden Gemeinde als Satzung (§ 10 BauGB) beschlossen. Im
Land Hamburg als Stadtstaat ohne Kommunen und ohne
kommunale Satzungsautonomie muss allerdings eine andere
Rechtsetzungsform an die Stelle der Satzung treten, § 246
Abs. 2 S. 1 BauGB.32 I.d.R. werden Bebauungspläne daher
gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 Gesetz über die Feststellung von Bauleitplänen und ihre Sicherung durch eine Rechtsverordnung
(BauleitplanfestG), in Ausnahmefällen durch Gesetz, festgestellt.33 Daraus ergeben sich jedoch bei Inhalt und Rechtmäßigkeitsanforderungen keinerlei Unterschiede.34
d) Inzidentprüfung des Bebauungsplans
Im Übrigen wäre zur vollständigen Rechtmäßigkeitskontrolle
der Baugenehmigung im Rahmen von § 30 Abs. 1 i.V.m.
§ 31 Abs. 2 BauGB noch eine Inzidentkontrolle des Bebauungsplans erforderlich. Denn nur ein von beachtlichen Fehlern (§§ 214, 215 BauGB) freier – nicht nichtiger und damit
wirksamer – Plan vermag für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens verbindlich zu sein.35 Doch gab es
hier wohl keinerlei Anhaltspunkte für (Abwägungs-)Fehler bei
der Planung.
30
BVerwG, Urt. v. 17.12.1998 – 4 C 16.97 = BVerwGE 108,
190 (202).
31
So VGH Karlsruhe, Beschl. v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12 =
ZfBR 2013, 583 (585); VG Schwerin, Beschl. v. 29.9.2012 –
2 B 409/12, Rn. 16 (juris). Vgl. auch BVerwG, Beschl. v.
13.5.2002 – 4 B 86/01 = NVwZ 2002, 1384 (1385), für ein
Seniorenpflegeheim; BVerwG, Urt. v. 29.4.1992 – 4 C 43/89
= NVwZ 1993, 773 (774 f.), für einen Beherbergungsbetrieb;
OVG Münster, Beschl. v. 4.11.2003 – 22 B 1345/03 =
NVwZ-RR 2004, 247 (248), für eine Asylbewerberunterkunft
im Industriegebiet gem. § 9 BauNVO. Vorliegend schloss das
OVG auch insoweit eine Befreiung mangels Vereinbarkeit
mit den Grundzügen der Planung aus, OVG Hamburg, Beschl.
v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992).
32
Siehe auch Koch/Hendler (Fn. 13), § 14 Rn. 8.
33
Die Verordnungsform gibt es ebenso in Berlin: § 6 Abs. 5
Gesetz zur Ausführung des Baugesetzbuchs.
34
Auch für die prinzipale Normenkontrolle nach § 47 VwGO
gegen Bebauungspläne in Verordnungsform ergeben sich
keine Unterschiede wegen § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO („Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 Abs. 2 des Baugesetzbuches“). Dies gilt genauso für Bebauungsplan-Gesetze,
BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 2 BvR 397/82 = BVerfGE
70, 35.
35
Dazu instruktiv Koch/Hendler (Fn. 13), § 18 (insbes.
Rn. 13 ff.).
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2. Die Grundzüge der Planung als Grenze der Befreiung
nach § 31 Abs. 2 BauGB
Kern der Entscheidung des OVG war die Prüfung der Rechtmäßigkeit der von der Baugenehmigungsbehörde erteilten
Befreiung vom Ausschluss der Ausnahme des § 8 Abs. 3
Nr. 2 BauNVO.36
a) Systematik der genehmigungsbehördlichen Abweichungsmöglichkeiten
aa) Befreiung und Ausnahme im System des Bauplanungsrechts
Das Bauplanungsrecht kennt für Abweichungen vom an sich
strikt verbindlichen Bebauungsplan einerseits Ausnahmen
nach § 31 Abs. 1 BauGB, bei denen eine im Bebauungsplan
(zumeist über § 1 Abs. 3 S. 2 i.V.m. §§ 2-9 Abs. 3 BauNVO)
schon ausdrücklich vorgesehene Abweichung von seinen Festsetzungen im Einzelfall erteilt wird. Es kennt außerdem Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB, die im Unterschied dazu
eine Abweichung von zwingenden Festsetzungen des Bebauungsplans erlauben. Beide Regelungen dienen damit – in
unterschiedlichem Maße – der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit für atypische, vom Plangeber so nicht antizipierte Situationen, für die aber eine Planänderung unangemessen aufwändig oder unpassend ist.37
Diese Flexibilisierung im Vollzug steht aber im Konflikt
mit dem Sinn und Zweck des Planaufstellungsverfahrens. Der
Bebauungsplan soll nur in den durch das BauGB vorgegebene
Verfahren festgestellt, geändert oder aufgehoben werden. Hinter diesem Verfahren steht zunächst die verfassungsrechtlich
abgesicherte Planungsautonomie der Gemeinden (Art. 28
Abs. 2 S. 1 GG; § 2 Abs. 1 S. 1 BauGB). Zumal der Beschluss
der Bebauungspläne (§ 10 Abs. 1 BauGB) in den Kommunen
typischerweise mit dem Gemeinderat einem direkt gewählten
Vertretungsorgan obliegt und so der Bauleitplanung eine erhöhte demokratische Legitimation verleiht.38 Gerade die vorgeschriebene ausführliche und frühzeitige Einbeziehung der
Bürger (§ 3 BauGB) dient außerdem dem vorweggenommenen
Grundrechtsschutz durch Verfahren.39 Der Gefahr, dass diese
36
Die erstinstanzliche Entscheidung beschränkte sich im
Wesentlichen auf die Rechtmäßigkeit der Befreiung, VG
Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 4-10 des
amtl. Umdrucks.
37
Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 10; Koch/Hendler (Fn. 13),
§ 25 Rn. 36.
38
Vgl. bspw. § 58 Abs. 1 Nr. 5 NdsKommVG; Art. 32 Abs. 2
BayGO; § 24 Abs. 1 S. 2 GO BW. In der Einheitsgemeinde
Hamburg werden die Planverordnungen gemäß § 1 WeiterübertragungsVO Bau durch die Bezirksämter beschlossen,
woran maßgeblich die Bezirksversammlungen mitwirken, so
dass auch hier eine erhöhte personale demokratische Legitimation bestehen mag; siehe genauer Koch, in: HoffmannRiem/Koch (Hrsg.), Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2006, S. 234, 238.
39
Grundlegend zum Grundrechtsschutz durch Verfahren
BVerfGE 53, 30 (Mülheim-Kärlich); im hiesigen Zusammen-
Prinzipien durch Befreiungen der Genehmigungsbehörde ausgehöhlt werden, versucht § 31 Abs. 2 BauGB mit engen –
aber vom Gesetzgeber zunehmend erweiterten Tatbestandsvoraussetzungen – zu begegnen.40
bb) Tatbestand der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB
§ 31 Abs. 2 BauGB hat einen dreigliedrigen Tatbestand. Es
gibt drei Befreiungsgründe (Abs. 2 Nrn. 1-3), insbesondere das
Wohls der Allgemeinheit. Für jeden Grund verlangt die Norm
aber als „vor die Klammer“ gezogenes Tatbestandsmerkmal
zusätzlich, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt
werden dürfen. Außerdem fordert sie, „hinter die Klammer“
gerückt, jeweils die Vereinbarkeit der Abweichung mit den
öffentlichen Belangen auch unter Würdigung nachbarlicher
Interessen. Wie sich aus der „kann“-Formulierung der Norm
ergibt, steht die Entscheidung über Erteilung oder Versagung
einer Befreiung schließlich im pflichtgemäßen (Rechtsfolge)Ermessen der Genehmigungsbehörde. Nach den umfangreichen tatbestandlichen Voraussetzungen der Befreiungen werden hier oftmals nur wenige weitere städtebaurechtliche Erwägungen eine Rolle spielen können.41
cc) Bedeutung und Auslegung der Grundzüge der Planung
Den Schutz der demokratisch legitimierten Planungshoheit
der Gemeinde übernimmt vor allem das Gebot, die „Grundzüge der Planung“ zu wahren.42 Diese werden berührt, wenn
die Abweichung dem jeweiligen im konkreten Einzelfall zu
ermittelnden planerischen Grundkonzept zuwiderläuft.43 Zu
ermitteln ist also zunächst, ob die Abweichung eine Festsetzung betrifft, die für dieses Grundkonzept maßgeblich ist.
Trägt eine Festsetzung das Konzept, ist eine Befreiung nur
denkbar, soweit sie trotzdem nicht ins Gewicht fällt.44
Vor diesem Hintergrund verwirft das OVG denn auch eine
Bestimmung der durch die Grundsätze der Planung gezogenen Grenze anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung sowohl der planungstragenden Belange also auch des einschlägigen Befreiungsgrundes und seines Gewichts – hier das an
der Herstellung von Asylbewerberunterkünften bestehende
Allgemeininteresse.45 Für eine solche „Wechselwirkung“ der
Befreiungsgründe mit dem Erfordernis der Wahrung der
Grundzüge der Planung ist in Anbetracht der Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmals für die Abgrenzung der baurechtlichen Planungszuständigkeit kein Raum, wie das OVG zutreffend erkennt. Vielmehr bedürfte gerade ein solcher Interessensausgleich einer planenden Abwägung nach § 1 Abs. 7
BauGB durch den dazu berufenen Plangeber. Von der Genehhang Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr (Hrsg.), BauGB,
12. Aufl. 2014, § 3 BauGB Rn. 4 m.w.N.
40
Vgl. Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 31
41
Vgl. Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 61; Reidt, in: Battis/
Krautzberger/Löhr (Fn. 39), § 31 Rn. 43.
42
Vgl. Reidt (Fn. 41), § 31 Rn. 29.
43
BVerwG, Beschl. v. 5.3.1999 – 4 B 5/99 = NVwZ 1999,
1110.
44
Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 36.
45
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (992 f.).
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migungsbehörde, die über die Befreiung zu entscheiden hat,
sind dagegen beide Tatbestandsmerkmale isoliert voneinander
auszulegen.46
c) Wahrung der Grundzüge der Planung durch Befristung
einer Befreiung
Ziel der Planung hier war, wie sich ausweislich der Ausführungen des OVG deutlich ergibt, die Flächensicherung für
verarbeitende und produzierende Gewerbetriebe. In Anbetracht
der aus dem Plan und seiner Begründung ersichtlichen Umstände schließt das OVG sodann auch überzeugend, dass der
hier gegenständliche Ausschluss der Ausnahmen dem Planungsziel der Flächensicherung für Gewerbebetriebe gerade
dient.47 Damit ist er für die planerische Grundkonzeption maßgeblich.
Im Rahmen der vorliegenden Beschwerde hat man die
Frage aufgeworfen, inwieweit die Befristung dieser Befreiung auf zwei Jahre eine Art zeitliche Geringfügigkeit herstellt
und damit die Berührung der Grundzüge ausschließt. Je kürzer
die Abweichung, desto weniger bodenrechtliche Folgen hat
sie tendenziell und vermag damit die langfristige Verfolgung
des Plankonzepts nicht zu beeinträchtigen. Denkbar ist es also,
insoweit als Bezugsgröße auf die typische Geltungsdauer
eines Bebauungsplans abzustellen, wie es die Beigeladene
hier annahm. Dann fielen möglicherweise demgegenüber ganz
„kurze“ Abweichungen nicht ins Gewicht und berührten die
Grundzüge der Planung nicht.
Dem folgte das Gericht allerdings mit überzeugender Argumentation nicht.48 Statt einem Vergleich der Befreiungsdauer mit der typischen Geltungsdauer einer planerischen
Konzeption hält es einen Vergleich mit der Dauer und der
Leichtigkeit einer Planänderung für maßgeblich. Das OVG
führt diese Auslegung zwar vordergründig auch darauf zurück,
dass ein langer Zeitraum wie die durchschnittliche Geltungsdauer eines Plans (in Rede standen über 40 Jahre) zu „unüberschaubar“ für einen tauglichen Maßstab sei. Hintergründig wird sie aber vor allem wieder von der Funktion des
Tatbestandsmerkmals „Grundzüge der Planung“ zur Sicherung
der Autonomie des Plangebers getragen (dazu auch schon
oben). Grundsätzlich sollen alle die Grundkonzeption der Planung betreffenden Entscheidungen vom Plangeber im dazu
bestimmten Verfahren vorgenommen werden. Dies gilt auch
für bloß vorübergehende (nachträglich in den Blick gekommenen) Nutzungen, solange es sinnvoll und nicht unverhältnismäßig ist, ein (ggf. vereinfachtes oder beschleunigtes,
§§ 13, 13a BauGB) Planänderungsverfahren durchzuführen.
Eine bedeutende Zeitverzögerung muss dies nicht bedeuten,
da nach § 33 BauGB ein Vorhaben schon während des Änderungsverfahrens bauplanungsrechtlich genehmigungsfähig sein
kann. Gerade im vorliegenden Fall wäre nach Auffassung des
Gerichts eine Planänderung zur Festsetzung einer vorüberge46
Vgl. BVerwG, Beschl. v. 5.3.1999 – 4 B 5/99 = NVwZ
1999, 1110.
47
Näher OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13
= NVwZ-RR 2013, 990.
48
Näher, auch zum Folgenden, OVG Hamburg, Beschl. v.
17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (991 f.).
henden Zwischennutzung nach § 9 Abs. 2 BauGB i.V.m.
einer vorgezogenen Genehmigung nach § 33 BauGB zeitnah
möglich gewesen.
Man wird also mit dem amtlichen Leitsatz folgern können, dass allein die Befristung einer Abweichung vom Plan
auf einen mehr als minimalen Zeitraum die Vereinbarkeit mit
den Planungsgrundzügen nicht herstellen dürfte. Denkbar,
aber auch nicht zwingend, bleibt eine die Berührung der
Grundzüge ausschließende Wirkung wohl nur, wenn die Befristung jedenfalls die voraussichtliche Dauer einer Planänderung bis zur Genehmigungsfähigkeit nach § 33 BauGB unterschreitet. Auch dann darf die Abweichung freilich nicht aus
anderen Gründen ins Gewicht fallen.
3. Reichweite und Grenzen des Gebietserhaltungsanspruchs
im System des bauplanungsrechtlichen Nachbarschutzes
Zuletzt warf das Verfahren zwei Fragen zum baurechtlichen
Nachbarschutz auf, den das OVG tendenziell ausweitet.
a) Quellen des bauplanungsrechtlichen Drittschutzes
Zum Erfolg nachbarlicher Rechtsbehelfe bedarf es nicht allein der Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung, der Nachbar
muss auch in eigenen subjektiven Rechten verletzt sein,
§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Dazu muss man im Einzelnen
abgrenzen, ob die verletzten Vorschriften tatsächlich Drittschutz bezwecken und damit dem Kreis der geschützten Personen abwehrfähige Rechte zuerkennen. Die zur Herleitung
von Drittschutz bemühte Schutznormtheorie, nach der eine
Norm dann drittschützend ist, wenn sie nach dem Willen des
Normgebers nicht nur reflexartig zumindest auch Individualinteressen zu dienen bestimmt ist, hat im Bauplanungsrecht
einige Präzisierungen erfahren.49 So ist im überplanten Bereich für die Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art der
Nutzung der Gebietserhaltungsanspruch anerkannt; insoweit
kann jeder, der den Einschränkungen des Plans unterliegt, die
Einhaltung der Festsetzungen verlangen.50 Bei den Festsetzungen hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und
der Bauweise hängt es an dem jeweiligen Subjektivierungswillen des Plangebers, ob er Festsetzungen eine im Einzelfall
durch Auslegung zu ermittelnde drittschützende Wirkung beilegt.51 Das in § 15 Abs. 1 BauNVO verkörperte Rücksichtnahmegebot kann schließlich auch Drittschutz vermitteln, soweit ein Dritter qualifiziert von einem Vorhaben betroffen ist,
49
Zur Genese des heutigen Bestands des baurechtlichen Nachbarschutzes siehe Koch/Hendler (Fn. 13), § 27 Rn. 15 ff.; im
Überblick Rn. 38.
50
BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 = BVerwGE 94,
151 (155 f.); BVerwG, Urt. v. 23.8.1996 – 4 C 13/94 =
BVerwGE 101, 364 (374 f.). Innerhalb von planähnlichen
Gebieten führt die Planfiktion des § 34 Abs. 2 BauGB ebenso
zur Anwendbarkeit des Gebietserhaltungsanspruchs für die
Art der Nutzung, vgl. BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 – 4 C 28/91
= BVerwGE 94, 151 (156).
51
Bönker, in: Hoppe/Bönker/Grotefels (Hrsg.), Öffentliches
Baurecht: Raumordnungsrecht, Städtebaurecht, Bauordnungsrecht, 4. Aufl. 2010, § 18 Rn. 47, 48 ff. m.w.N. aus der Rspr.
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das den Festsetzungen des Plans ansonsten entspricht.52 Bei
Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB vermittelt das Gebot
der „Würdigung nachbarlicher Belange“ schließlich Drittschutz, im Übrigen kann sich der Nachbar auch auf jede
rechtswidrige Abweichung von sonst drittschützenden Festsetzungen berufen.53
b) Drittschutz bei planerischer Feinsteuerung nach § 1 Abs. 4
ff. BauNVO
Der jederzeit drittschützende Gebietserhaltungsanspruch beruht auf dem Gedanken eines wechselseitigen Austauschverhältnisses;54 weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung auch im
Verhältnis zum Nachbar durchsetzen; beide sind zu einer
„Schicksalsgemeinschaft“ verbunden. Die Beschränkung der
Baufreiheit wird durch den Gebietserhaltungsanspruch ausgeglichen. Da bereits die in §§ 2 ff. BauNVO enthaltenen Gebietstypen ein solches Austauschverhältnis herstellen, ist ihre
Festsetzung – auch wenn sie nur in Gestalt des vom Plangeber geschaffenen Bebauungsplans gegenüber Bürgern Wirkung erlangen – kraft Bundesrechts drittschützend. Ob dies
auch für die vom jeweiligen Plangeber selbst und unterschiedlich vorgenommene „Feinsteuerung“ nach § 1 Abs. 5 ff. BauNVO durch die Modifikation der zulässigen Nutzungsarten –
wie hier – gilt, wird unterschiedlich beantwortet.55 Bezweifelt
wird es u.a. wegen der denkbaren Vielfalt an Motivationen,
die einen Plangeber zu solchen Modifikationen veranlassen
mögen.56
Hier positioniert sich das OVG konsequent (entgegen der
überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung) für eine
Ausdehnung des Drittschutzes. Das Gericht überträgt die Begründung für den Gebietserhaltungsanspruch auch auf die
planerische Feinsteuerung; diese Überlegungen gälten dort
52
Vgl. grundlegend BVerwGE 67, 334 (338). Im nicht (qualifiziert) beplanten Gebiet ergibt sich Drittschutz ggf. aus
dem Rücksichtnahmegebot, das – für den Innenbereich – in
§ 34 Abs. 1 BauGB in Gestalt des „Einfügens“ und – für den
Außenbereich – in § 35 BauGB als unbenannter „öffentlicher
Belang“ verortet wird, vgl. – für § 34 BauGB – BVerwG,
Urt. v. 13.2.1981 – 4 C 1/78; BVerwGE 67, 334 (337); 69, 58
(60), bzw. – für § 35 BauGB – BVerwGE 52, 122 (131) –
Schweinemaststall. Zu allem Koch/Hendler (Fn. 13), § 27
Rn. 18 ff., 21 ff.
53
Bönker (Fn. 51), § 18 Rn. 54.
54
Vgl., auch zum Folgenden, BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 –
4 C 28/91 = BVerwGE 94, 151 (155 f.); BVerwG, Urt. v.
23.8.1996 – 4 C 13/94 = BVerwGE 101, 364 (374 f.).
55
Nachweise zum Streitstand bei Fickert/Fieseler (Fn. 23),
§ 8 Rn. 3.12. Gegen eine Ausweitung mit ausführlicher Begründung OVG Lüneburg, Beschl. v. 11.12.2003 – 1 ME
302/03 = NVwZ 2004, 1110 (1110 ff.); vgl. VGH Mannheim,
Beschl. v. 5.3.1996 – 10 S 2830/95 = NVwZ 1997, 401
(402).
56
Z.B. Söfker (Fn. 29), § 8 BauNVO Rn. 50.
„nicht minder“.57 Dies überzeugt, denn das BVerwG stellt in
seinen Grundsatzentscheidungen zentral auf die gegenseitige
Beschränkung ab, deren Ausgleich die Einräumung des drittschützenden Anspruchs dient. Auch bei einem Verstoß gegen
eine Modifikation nach § 1 Abs. 6 BauNVO droht dem Nachbarn aber die Belastung durch eine unzulässige Nutzung, die
ihm selbst nicht erlaubt ist, das Austauschverhältnis ist beeinträchtigt. Es kommt insoweit gerade nicht darauf an, wessen
Schutz diese feinsteuernde Modifikation dient58 (so aber VGH
Mannheim), sondern nur auf ihre allseitige Beschränkungswirkung.
Es ist davon auszugehen, dass der Normgeber der BauNVO bei der Einräumung der – ihrerseits sehr begrenzten –
Modifikationsmöglichkeiten der § 1 Abs. 4 ff. BauNVO die
daraus entstehenden Abwandlungen der Baugebietsformen
„mitbedacht“ hat.59
c) Kein Ausschluss des Gebietserhaltungsanspruchs bei teilweise festsetzungswidriger Eigennutzung
Die Frage nach einem Ausschluss des Gebietserhaltungsanspruchs des Nachbarn, der sein Grundstück selbst planwidrig
nutzt, stellte sich hier nur dem ersten Anschein nach. Zwar
mag manches für eine Beschränkung der Anspruchsvernichtung auf die Abwehr der selbst ausgeübten Nutzung beim
Nachbarn sprechen, wo das begründende Austauschverhältnis
fehlt60 – während es unterschiedlichen planwidrigen Nutzungen jedenfalls in Bezug auf die abzuwehrende Nutzung noch
intakt bleibt. Doch nutzt N sein Grundstück hier zumindest in
Bezug auf den Pizza-Service (Gewerbebetrieb aller Art, § 8
Abs. 2 Nr. 1 BauNVO) plankonform.
4. Der prozessuale Hintergrund im einstweiligen Rechtschutz
Für Baugenehmigungen entfällt nach § 212a Abs. 1 BauGB
von Vornherein die Rechtsbehelfen üblicherweise beigegebene
aufschiebende Wirkung. Sie sind mit begünstigender Wirkung
für den Bauherrn und (ggf.) belastender Wirkung für den
Nachbarn zugleich ein sog. Verwaltungsakt mit Doppelwirkung. Typischerweise ersucht der belastete Nachbar dagegen
Rechtsschutz; möchte er die Vollziehung der einem anderen
erteilten Genehmigung auch einstweilen verhindern, muss er
also im Verfahren nach § 80a VwGO mit dem Antrag, die
sofortige Vollziehung zugunsten seiner Rechtsbehelfe auszusetzen, vorgehen.61 Ob der Antrag bei Gericht im Wege des
§ 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 VwGO – gerichtliche Vornahme
der sonst behördlichen Anordnung der Aussetzung der Vollziehung – oder im Wege der § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80
Abs. 5 S. 1 VwGO – „originärer“ Antrag bei Gericht – statt57
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (993).
58
So aber VGH Mannheim, Beschl. v. 5.3.1996 – 10 S
2830/95 = NVwZ 1997, 401 (402).
59
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (993); Stock, in: König/Roesner/Stock
(Hrsg.), BauNVO, 3. Aufl. 2014, § 8 Rn. 56.
60
Vgl. VGH München, Beschl. v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9.
61
Dazu instruktiv und im Überblick Gersdorf, Verwaltungsprozessrecht, 4. Aufl. 2009, Rn. 164 ff.
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ZJS 4/2014
434
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13
Fehling/Waldmann
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haft ist, kann mangels inhaltlichen Unterschieds regelmäßig
offen bleiben.62
Welchen Maßstab man in dieser prozessualen Konstellation für die Begründetheitsprüfung heranzieht, ist – wie auch
bei den Verfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO – umstritten.63 Vielfach wird ein zum Hauptsacheverfahren akzessorisches Stufenmodell vertreten, das den Antrag für begründet
erachtet, wenn nach summarischer Prüfung entweder die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage voraussichtlich (deutlich)
überwiegen oder bei offenen Erfolgsaussichten das sonstige
Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt.64 Nach
anderer Auffassung ist dagegen eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, in deren Rahmen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nur ein, wenngleich maßgeblicher,
Aspekt unter mehreren sind.65 Im Rahmen des § 80a VwGO
ist die Besonderheit zu beachten, dass wegen des dreipoligen
Verhältnisses private (Aussetzungs- und Vollziehungs-)Interessen auf beiden Seiten der Abwägung eine Rolle spielen,
das Gericht also in eine Art schiedsrichterliche Rolle rückt.
Schließlich wird vorgeschlagen, die Prüfung allein materiellakzessorisch anhand der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts und der voraussichtlichen Rechtsverletzung des Antragstellers vorzunehmen (ähnlich § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO).66
Hier legten, soweit ersichtlich, beide Instanzen die Einheitslösung zugrunde.67 Schon angesichts der eindeutigen Erfolgsprognose überwiegt danach das Aussetzungsinteresse
des Nachbarn das Vollzugsinteresse von B. Das OVG übernahm diesen Maßstab und wies ergänzend darauf hin, dass
auch aus einer darüber hinausgehenden Interessenabwägung
kein anderes Ergebnis folge.68
IV. Fazit
Die Entscheidung zeigt, dass sich auch bei „Klassikern“ wie
dem Gebietserhaltungsanspruch im Detail noch viele offene
Fragen verbergen, die aber von Studierenden oder Examenskandidaten mit guter Kenntnis der Grundprinzipien und Strukturen des Bauplanungsrechts – nicht notwendigerweise wie
hier – beantwortet werden können. Die hier aufgezeigten
Probleme lassen sich dabei jeweils einzeln gut in Klausuren
auch mit anderen Schwerpunkten integrieren.
Zugleich berührt der Beschluss die derzeit (angesichts des
steigenden Bedarfs wieder) relevant werdende Thematik, wie
planungsrechtlich mit Asylbewerberunterkünften umzugehen
ist. Das OVG schließt sich der nunmehr wohl gefestigten
Linie von Literatur und Rechtsprechung an, die Asylbewerberunterkünften nicht den Wohnnutzungen zuordnet. Doch sind
die befürchteten Störungs- und Konfliktpotentiale solcher
Unterkünfte, die diese baurechtliche Zuordnung tragen, oftmals wohl nicht primär bodenrechtlicher Natur, sondern auch
sozial und verhaltensbedingt (wobei auch Vorurteile eine Rolle
spielen). Dazu tragen oft auch die äußerst beengten Lebensbedingungen der Asylbewerber bei. Zur Bewältigung all dieser Umstände ist aber das Planungsrecht nur bedingt geeignet
und berufen.69
Prof. Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley), Hamburg,
Wiss. Mitarbeiter Manuel Waldmann, LL.B., Hamburg
62
Die Gerichte legen sich im vorliegenden Verfahren auch
nicht auf eine bestimmte Normenkette fest РVG: 㤠80a
Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 1. Var. VwGO“;
OVG: „§§ 80a, 80 Abs. 5 VwGO“.
63
Auch für die im Folgenden beschriebenen Grundmodelle
werden im Detail vielfache Modifikationen vertreten, ein
Überblick findet sich m.w.N. bei Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar,
26. EL (Stand: März 2014), § 80 Rn. 371 ff., § 80a Rn. 60.
64
Z.B. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. 2013, § 32
Rn. 39; Gersdorf, in: Posser/Wolff (Hrsg.), Beck’scher OnlineKommentar VwGO, Edition 29 (Stand. Oktober 2013), § 80
Rn. 187; § 80a Rn. 69; wohl Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2012, § 25 Rn. 1001 f.; Bostedt, in: Fehling/
Kastner/Störmer (Hrsg.), Handkommentar Verwaltungsrecht,
3. Aufl. 2013, § 80a VwGO Rn. 8.
65
Z.B. Gersdorf (Fn. 61), Rn. 198; vgl. die zahlreichen Nachweise bei Schoch (Fn. 63), § 80 Rn. 372; § 80a Rn. 60.
66
Prominent Schoch (Fn. 63), § 80 Rn. 380 ff., § 80a Rn. 66.
67
VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 3 des
amtl. Umdrucks; OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs
151/13 = NVwZ-RR 2013, 990.
68
OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 =
NVwZ-RR 2013, 990 (990, 993).
69
Vgl. OVG Münster, Urt. v. 10.4.2014 – 7 D 100/12.NE,
Rn. 73 ff. (juris).
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BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12
Wagner
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Entscheidungsbesprechung
Anfragebeschluss zur Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung: Verfassungswidrigkeit der echten Wahlfeststellung
1. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103
Abs. 2 GG.
2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen)
Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig.
(Beabsichtigte Entscheidung des Senats)
GG Art. 103 Abs. 2
StGB §§ 1, 242, 259
GVG § 132
BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/121
I. Einführung: Problemaufriss, Bedeutung der Entscheidung, Examensrelevanz
In strafrechtlichen Klausuren und Hausarbeiten im Rahmen
des Jurastudiums ist der Sachverhalt in der Regel vollständig
vorgegeben. Die Bearbeiter können und sollen sich gänzlich
darauf konzentrieren, die im Sachverhalt enthaltenen Angaben den Vorschriften des materiellen Rechts zu subsumieren.
Die strafgerichtliche Praxis sieht dagegen vollständig anders aus: Der Sachverhalt, den der Richter letztlich subsumiert
und so zu einer rechtlichen Entscheidung kommt, ist das Ergebnis einer Beweisaufnahme (vgl. §§ 244 ff. StPO) und der
anschließenden Würdigung der vorgetragenen Tatsachen durch
das Gericht (vgl. § 261 StPO).
Dabei kann es vorkommen, dass das Gericht sich trotz
Heranziehung aller verfügbaren Beweismittel in Bezug auf
eine bestimmte Tatsache keine Überzeugung bilden kann.
Tritt dieser Fall ein, gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“
(lat.: „im Zweifel für den Angeklagten). Dieser Grundsatz ist
zwar an keiner Stelle in den gesetzlichen Regelungen des
Strafverfahrensrechts explizit niedergelegt,2 folgt aber letztlich im Umkehrschluss aus § 261 StPO3 sowie aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen.4
In einigen Fällen wird allerdings die Anwendung des
Zweifelssatzes als unbillig empfunden. So lassen sich Sach1
Die Entscheidung ist online abrufbar unter:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi¬bin/rechtsprechung/doc
ument.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=2369b420c37d3a27d76
c2acf80cae1a2&nr=67965&pos=0&anz=1&Blank=1.pdf
sowie abgedruckt in NStZ 2014, 392.
2
Klarstellend etwa Ott, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 261 Rn. 56.
3
So etwa v. Heintschel-Heinegg, in: v. Heintschel-Heinegg
(Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch,
Stand: 1.12.2012, § 1 Rn. 25.
4
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.2.1959 – 1 BvR 197/53 = BVerfGE 9, 167 (170) = NJW 1959, 619; BVerfG, Beschl. v. 23.4.
1991 – 1 BvR 1443/87 = BVerfGE 84, 82 (87) = NJW 1991,
3139.
verhaltskonstellationen denken, in denen außer Frage steht,
dass der Täter durch eine von mehreren selbständigen Handlungen eine bestimmte Straftat begangen hat, es sich jedoch
nicht aufklären lässt, durch welche Handlung genau dies der
Fall ist. Dies ist etwa denkbar, wenn es zwischen Täter und
Opfer mehrfach zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr kommt
und medizinisch nicht rekonstruiert werden kann, bei welchem
dieser Sexualkontakte der Täter das Opfer mit HIV infiziert
hat.5 Wendet man den in dubio pro reo-Grundsatz unbesehen
auf diese Fälle an, müsste man zugunsten des Täters für jede
dieser Handlungen unterstellen, dass diese den Erfolg nicht
verursacht hat, und folglich jeweils auf eine Versuchsstrafbarkeit erkennen. Für diese Konstellationen besteht jedoch
weitgehend Einigkeit, dass eine Verurteilung (wegen vollendeter Tat) aufgrund wahldeutiger Tatsachengrundlage möglich
sein soll (sog. unechte Wahlfeststellung).6
Umgekehrt kann eine Sachverhaltsunklarheit dazu führen,
dass bei den in Betracht kommenden Tatsachenvarianten
unterschiedliche Tatbestände einschlägig sind. Verschafft sich
etwa jemand mit gefälschten Überweisungsträgern Geld von
fremden Konten, kommt es darauf an, ob die Überweisung
von der Bank durch einen Mitarbeiter oder maschinell bearbeitet wird; im ersten Fall liegt ein Betrug gem. § 263 StGB,
im zweiten Fall ein Computerbetrug gem. § 263a StGB vor.7
Klar ist aber, dass der Täter – gleichgültig, welchen Sachverhalt man zugrunde legt – eine strafbare Handlung vorgenommen hat. Insoweit wird diskutiert, ob es möglich ist, den
Täter wahlweise nach dem einen oder dem anderen Tatbestand zu verurteilen. Die Rechtsprechung und Teile der Literatur gehen davon aus, dass eine solche wahldeutige Verurteilung (unter bestimmten Voraussetzungen) möglich sein soll.
Diese Lösung des Problems bezeichnet man als echte Wahlfeststellung (auch ungleichartige Wahlfeststellung genannt).
Sie ist Gegenstand der zu besprechenden Entscheidung.
Der 2. Strafsenat hatte sich mit einem Fall zu befassen, in
dem das Landgericht den Angeklagten wahlweise wegen Diebstahls oder (gewerbsmäßiger) Hehlerei verurteilt hat. Er hält
das Rechtsinstitut der echten Wahlfeststellung für verfassungswidrig und legt daher den übrigen Strafsenaten die Frage vor,
ob an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten werden soll.
Diese Entscheidung ist durchaus aufsehenerregend; schließlich soll eine jahrzehntelang etablierte Praxis abgeschafft
werden, die im Einzelfall weitreichende Bedeutung für das
Schicksal des jeweiligen Angeklagten haben kann.
Vor diesem Hintergrund sollten auch Studierende die weitere Entwicklung dieses Vorlageverfahrens sorgsam beobachten. Die Thematik der echten Wahlfeststellung eignet sich
5
So der Sachverhalt in BGH, Urt. v. 12.10.1989 – 4 StR
318/89 = BGHSt 36, 262.
6
Vgl. etwa Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 1 Rn. 60 m.w.N.; krit.
Frister, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos
Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, Nach § 2
Rn. 103 ff. m.w.N.
7
Zu dieser Sachverhaltskonstellation vgl. BGH, Beschl. v.
12.2.2008 – 4 StR 623/07 = NStZ 2008, 281; jüngst auch
BGH, Beschl. v. 5.3.2013 – 1 StR 613/12 = NStZ 2014, 42.
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ZJS 4/2014
436
BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12
Wagner
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nicht nur hervorragend für mündliche Examensprüfungen,
sondern lässt sich auch mit Leichtigkeit in einer strafrechtlichen Examensklausur abfragen. So war etwa die bereits genannte Konstellation einer Wahlfeststellung zwischen Betrug
und Computerbetrug Gegenstand der strafrechtlichen Klausur
in der Pflichtfachprüfung des bayerischen Staatsexamens im
Termin 2013/1.
II. Verfahrensgang und Entscheidung des Senats
Bei einer Durchsuchung wurden bei den beiden Angeklagten
verschiedene Gegenstände sichergestellt.8 Das erstinstanzliche
Landgericht9 gelangte zu der Überzeugung, dass diese Gegenstände entweder (mittäterschaftlich) durch die beiden Angeklagten selbst gestohlen worden waren oder aber von einer
anderen Person gestohlen und von den Angeklagten im Wege
der Hehlerei erworben worden waren. Es verurteilte die Angeklagten daher wahlweise wegen Diebstahls gem. §§ 242
Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StGB oder §§ 259 Abs. 1, 260
Abs. 1 Nr. 1 StGB. Für die Strafbemessung legte es den (milderen) Strafrahmen des § 243 StGB zugrunde.
Die Angeklagten griffen die Verurteilung mit der Revision
an. Der 2. Strafsenat sieht in der alternativen Verurteilung
zwar nach Maßgabe der bisherigen Rechtsprechung des BGH
keinen Rechtsfehler; er beabsichtigt jedoch, diese Rechtsprechung aufzugeben,10 da er die Konstruktion der echten Wahlfeststellung für verfassungswidrig hält.11
Zur Begründung zeichnet der Senat zunächst die Entwicklung der Rechtsfigur in Gesetzgebung und Rechtsprechung
nach.12 Vor diesem Hintergrund führt er aus, letztlich führe
eine wahldeutige Verurteilung dazu, dass der Angeklagte weder aufgrund des einen noch aufgrund des anderen Tatbestandes verurteilt werde, sondern aufgrund einer „ungeschriebenen dritten Norm“,13 die sich aus dem gemeinsamen Nenner
der beiden Tatbestände ergebe.14 Dies sei kein rein prozessualer, sondern ein materiell-rechtlicher Effekt.15 Für das materielle Strafrecht gälten aber die Anforderungen des Art. 103
Abs. 2 GG.16 Diesen werde die Rechtsfigur der echten Wahlfeststellung in ihrer gegenwärtig praktizierten Form nicht gerecht, weil es dafür an der notwendigen gesetzlichen Grund8
Vgl. zum Sachverhalt BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR
495/12, Rn. 2 = NStZ 2014, 392.
9
LG Meiningen, Entsch. v. 30.5.2012 – 110 Js 19 545/12 –
1 KLs.
10
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 3 = NStZ
2014, 392.
11
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 4= NStZ
2014, 392.
12
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 5 ff. =
NStZ 2014, 392 f. Dazu sogleich ausführlich unter III. 2. a).
13
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 = NStZ
2014, 392 (394).
14
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 ff. =
NStZ 2014, 392 (394 f.).
15
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 23 ff. =
NStZ 2014, 392 (394 f.).
16
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 23 f. =
NStZ 2014, 392 (394).
lage fehle.17 Art. 103 Abs. 2 GG sei auch keiner nach einer
Abwägung erfolgenden einschränkenden Auslegung zugänglich, um Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen.18 Dass der
Gesetzgeber die Frage nach der Zulässigkeit der Wahlfeststellung seinerseits bewusst der Rechtsprechung überlassen
habe,19 ändere daran nichts, weil er sich seiner verfassungsrechtlichen Verantwortung insoweit nicht entziehen könne.20
Zudem sei eine wahldeutige Verurteilung gem. Art. 103 Abs. 2
GG auch deshalb verfassungswidrig, weil es bei einem Offenlassen der Schuldfrage an der Grundlage für die Strafzumessung fehle, die nach dem Gesetzlichkeitsprinzip ebenfalls gewährleistet sein müsse.21
Aus diesem Grund fragt der 2. Strafsenat bei den übrigen
Strafsenaten an, ob diese an der ursprünglichen Rechtsprechung festhalten wollen oder der Rechtsprechungsänderung
zustimmen.
III. Würdigung der Entscheidung
Das Ergebnis sei an dieser Stelle vorweggenommen: Die Entscheidung ist sehr zu begrüßen.
1. Prozessuales
Zunächst einige Bemerkungen zur prozessualen Funktion der
Entscheidung:
a) Die Funktion der Divergenzvorlage
Eine einheitliche höchstrichterliche Rechtsprechung liegt im
Interesse der Rechtssicherheit.22 Dies gilt nicht nur insoweit,
als die Rechtsprechung der verschiedenen Bundesgerichte einheitlich sein sollte (vgl. Art. 95 Abs. 3 GG, §§ 1 ff. RsprEinhG), sondern auch in Bezug auf die Rechtsprechung der
einzelnen Senate eines Bundesgerichts. Am Bundesgerichtshof
bestehen daher neben den verschiedenen Straf- und Zivilsenaten auch der Große Senat für Strafsachen und der Große
Senat für Zivilsachen (§ 132 Abs. 1 S. 1 GVG), die zusammen die Vereinigten Großen Senate bilden (§ 132 Abs. 1 S. 2
GVG). Der Große Senat für Strafsachen besteht aus dem Präsidenten des Gerichtshofs sowie aus je zwei Mitgliedern jedes Strafsenats (§ 132 Abs. 5 S. 1 Var. 2 GVG). Er muss angerufen werden, wenn ein Strafsenat von der Rechtsprechung
eines anderen Strafsenats abweichen will (§ 132 Abs. 2 Var. 3
GVG). Unterlässt der Senat die Vorlage willkürlich, liegt darin
sogar ein Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters
17
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 31 ff. =
NStZ 2014, 392 (395).
18
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 31 f. =
NStZ 2014, 392 (395).
19
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 33 m.w.N.
= NStZ 2014, 392 (395).
20
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 34. = NStZ
2014, 392 (395).
21
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 35 f. =
NStZ 2014, 392 (395).
22
Exemplarisch Hannich, in: Hannich (Fn. 2), GVG § 132
Rn. 1.
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BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12
Wagner
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(Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG).23 Der Große Senat für Strafsachen
entscheidet dann ausschließlich über die (abstrakte) Rechtsfrage, nicht jedoch über den konkreten Einzelfall (§ 138 Abs. 1
S. 1 GVG). In dem konkreten Einzelfall ist jedoch die rechtliche Würdigung des Großen Senats für den erkennenden
Senat bindend (§ 138 Abs. 1 S. 3 GVG).
Zulässig ist eine Vorlage an den Großen Senat jedoch nur
dann, „wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen
werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat,
daß er an seiner Rechtsauffassung festhält“ (§ 132 Abs. 3 S. 1
GVG). Um eine solche Anfrage handelt es sich bei der vorliegenden Entscheidung.
b) Zulässigkeit des Anfragebeschlusses: Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage
Da für die Zulässigkeit der Anfrage zur Divergenzvorlage die
Rechtsfrage für den konkreten Sachverhalt entscheidungserheblich sein muss,24 stellt sich die Frage, ob eine (echte) Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei überhaupt notwendig und möglich ist.
aa) Voraussetzungen der echten Wahlfeststellung nach bisheriger Rechtsprechung
Die Rechtsprechung hat die folgenden sechs Voraussetzungen entwickelt, deren Vorliegen für eine echte Wahlfeststellung notwendig ist:25
(1) Zunächst ist erforderlich, dass sich endgültig nicht
klären lässt, welche der denkbaren Sachverhaltsalternativen
tatsächlich zutrifft.26 Auch die Möglichkeit der Wahlfeststellung entbindet das Gericht nicht von der grundsätzlichen
Pflicht zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung von Amts
wegen (§ 244 Abs. 2 StPO).
(2) Weiterhin muss der Angeklagte in jeder der alternativ
denkbaren Sachverhaltsvarianten strafbar sein.27 Weitere mögliche Geschehnisse, bei deren Zugrundelegung der Angeklagte
straffrei wäre, müssen gänzlich ausgeschlossen werden können.28
(3) Die möglichen Sachverhaltsvarianten müssen zur Folge
haben, dass jeweils der eine bzw. der andere Straftatbestand
Anwendung findet; die beiden Delikte müssen exklusiv alternativ vorliegen.29
(4) Zwischen den beiden Delikten darf kein Stufenverhältnis bestehen (z.B. Versuch und Vollendung, Grunddelikt
23
Etwa Hannich (Fn. 22), GVG § 132 Rn. 10 m.w.N.
Etwa Hannich (Fn. 22), GVG § 132 Rn. 4 m.w.N.
25
Vgl. die übersichtliche Darstellung bei Satzger, in: Satzger/
Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar,
2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 72 ff. m.w.N.
26
Vgl. etwa BGH, Urt. v. 4.12.1958 – 4 StR 411/58 = BGHSt
12, 386 (388) = NJW 1959, 896 (897); BGH, Urt. v. 11.11.
1966 – 4 StR 387/66 = BGHSt 21, 152 = NJW 1967, 359.
27
Etwa BGH, Urt. v. 4.12.1958 – 4 StR 411/58 = BGHSt 12,
386 (388) = NJW 1959, 896 (897).
28
Etwa BGH, Beschl. v. 24.9.1982 – 2 StR 476/82 = NJW
1983, 405.
29
Etwa BGH, Urt. v. 4.12.1958 – 4 StR 411/58 = BGHSt 12,
386 (389) = NJW 1959, 896 (897).
24
und Qualifikation); in einem solchen Fall ist nach dem Zweifelssatz nach dem milderen Delikt zu bestrafen.30
(5) Die denkbaren Sachverhaltsalternativen müssen sämtlich Gegenstand des Verfahrens sein.31
(6) Die beiden Delikte müssen „psychogisch und rechtsethisch“ gleichwertig sein.32
bb) Konsequenzen für die Wahlfeststellung zwischen Diebstahl
und Hehlerei
Diebstahl und Hehlerei werden in der Rechtsprechung seit
langem als gleichwertig im Sinne des Kriteriums (6) angesehen.33 Die Hehlerei habe „nach allgemeiner Rechtsüberzeugung die gleiche sittliche Mißbilligung verdient wie die des
Diebes“ und „auch die seelische Verfassung dieser beiden
Täter, deren Verfehlungen in gleichem Maße gegen fremdes
Eigentum gerichtet sind“, seien „nicht wesentlich verschieden“.34
Damit Kriterium (2) erfüllt ist, ist notwendig, dass das
Gericht zur Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte, bei
dem der gestohlene Gegenstand aufgefunden wurde, jedenfalls
hinsichtlich dessen deliktischer Herkunft bösgläubig war.35
Ein Stufenverhältnis im Sinne des Kriteriums (4) besteht nach
der Rechtsprechung zwischen Hehlerei und Diebstahl jedenfalls nicht.
Erhebliche rechtliche Zweifel bestehen allerdings hinsichtlich des Kriteriums (3): Ist – wie im vorliegenden Sachverhalt
– nicht klar, ob der Angeklagte das Tatobjekt selbst gestohlen
oder vom Dieb (oder einem Zwischenhehler) erworben hat,
kommt auch eine eindeutige Verurteilung wegen Unterschlagung gem. § 246 Abs. 1 StGB in Betracht; dann ist aber die
Wahlfeststellung überflüssig.36 Ist dagegen klar, dass der Angeklagte die Sache zwar nicht selbst dem ursprünglich Berechtigten entwendet hat, sondern ist unklar, ob er die Sache
seinerseits vom Dieb gestohlen oder freiwillig von diesem
erhalten hat, läge nach der ganz überwiegenden Auffassung
das für die Wahlfeststellung erforderliche alternative Exklusivitätsverhältnis vor, weil nach der ganz h.M. für die Hehlerei ein einvernehmliches Zusammenwirken von Vortäter und
Hehler erforderlich ist, dass bei einer Wegnahme nicht gege-
30
Etwa BGH, Urt. v. 16.12.1969 – 1 StR 339/69 = BGHSt
23, 203 (207) = NJW 1970, 668. Detailliert zu diesem Aspekt
etwa Satzger (Fn. 25), § 1 Rn. 69 f., 75.
31
Etwa BGH, Beschl. v. 5.3.2013 – 1 StR 613/12 = NStZ
2014, 42 m.w.N.
32
Grundlegend BGH, Beschl. v. 15.10.1956 – GSSt 2/56 =
BGHSt 9, 390 (393) = NJW 1957, 71.
33
Vgl. bereits BGH, Urt. v. 12.9.1951 – 4 StR 551/51 =
BGHSt 1, 302 (304); BGH, Urt. v. 17.10.1957 – 4 StR 73/57
= NJW 1957, 1933.
34
BGH, Urt. v. 17.10.1957 – 4 StR 73/57 = NJW 1957, 1933.
35
Etwa OLG Celle, Urt. v. 12.8.1986 – 1 Ss 270/86 = NJW
1988, 1225.
36
Vgl. dazu Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 90; Altenhain, in:
Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar,
Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 259 Rn. 86 m.w.N.
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BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12
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ben ist.37 Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, bedarf es
eines solchen Einvernehmenserfordernisses nicht,38 weshalb
in dieser Sachverhaltskonstellation jedenfalls auf Hehlerei erkannt werden kann, was eine Wahlfeststellung ebenfalls entbehrlich macht.39
cc) Zwischenergebnis
Richtigerweise stellt sich nach dem eben Dargestellten das
Problem der Wahlfeststellung im Verhältnis zwischen Diebstahl und Hehlerei eigentlich nicht. Für die Zulässigkeit des
Anfragebeschlusses ist jedoch die Rechtsprechung zugrunde
zu legen (anderenfalls wäre insoweit ein Anfragebeschluss
erforderlich, um die Rechtsprechung im hiesigen Sinne zu
ändern). Auf deren Grundlage ist die verfassungsrechtliche
Zulässigkeit der echten Wahlfeststellung hier zutreffenderweise entscheidungserheblich. Da keine Anhaltspunkte vorliegen, die am Vorliegen der übrigen Voraussetzungen zweifeln lassen, ist der Anfragebeschluss damit zulässig.
2. Verfassungswidrigkeit der echten Wahlfeststellung?
Es stellt sich daher die Frage, ob dem Senat auch in der Sache
zugestimmt werden kann.
a) Historische Entwicklung
Dabei ist es unerlässlich, zunächst die historische Entwicklung des Rechtsinstituts der echten Wahlfeststellung nachzuzeichnen:
Die Reichsstrafprozessordnung von 1877 sah keine gesetzliche Regelung der Wahlfeststellung vor. Die Frage nach
der Zulässigkeit der Wahlfeststellung war bereits zuvor in der
Literatur heftig umstritten gewesen und die Entwurfsverfasser
der Reichsjustizgesetze wollten diese Diskussion nicht durch
eine gesetzliche Regelung unterbrechen, die einer gesicherten
wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.40
37
Vgl. etwa RG, Urt. v. 6.10.1930 – II 445/30 = RGSt 64,
326 (327); RG, Urt. v. 9.7.1918 – II 264/18 = RGSt 52, 203;
RG, Urt. v. 23.3.1920 – IV 1004/19 = RGSt 54, 280 (281 f.);
BGH, Beschl. v. 28.4.1998 – 4 StR 167/98 = wistra 1998,
264 (265); BGH, Beschl. v. 29.3.1977 – 1 StR 646/76 =
BGHSt 27, 160 (163); BGH, Beschl. v. 20.7.2004 – 3 StR
231/04 = wistra 2005, 27 (28); BGH, Urt. v. 22.6.1960 –
2 StR 192/60 = BGHSt 15, 53 (56 f.); aus der Literatur exemplarisch Pflieger, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, Handkommentar, 3. Aufl. 2013, StGB § 259
Rn. 30; Altenhain (Fn. 36), § 259 Rn. 25 ff.; Maier, in:
Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 259 Rn. 68; Lackner/
Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 259
Rn. 10; Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 6), § 259
Rn. 15; jeweils m.w.N.
BGHSt 27, 45 (46)
38
Vgl. M. Wagner, ZJS 2010, 17 (18 ff.).
39
Vgl. M. Wagner, ZJS 2010, 17 (28).
40
Vgl. Hahn (Hrsg.), Die gesammten Materialien zu den
Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3: Materialien zur Strafprozeß-
Anfänglich hatte das Reichsgericht eine echte Wahlfeststellung noch abgelehnt.41 Eine alternative Sachverhaltsfeststellung ließ es nur zu, wenn unterschiedliche gleichwertige
Ausführungsvarianten desselben Delikts im Raum standen.42
Diese Rechtsprechung wurde durch eine Entscheidung
der Vereinigten Strafsenate im Jahre 1934 gekippt.43 Die Entscheidung führt aus, grundsätzlich sei zwar „der Wille des
Richters dem des Gesetzgebers untergeordnet.“44 Der Auftrag
der Vereinigten Strafsenate führe aber „aus diesem regelmäßigen Aufgabenkreis hinaus“.45 Sie seien „berechtigt und verpflichtet, […] zur Ergänzung einer im Verfahrensrecht vorhandenen Gesetzeslücke […] rechtsschöpferisch tätig zu werden“.46 Dabei müssten sie „gleich dem Gesetzgeber arbeiten“.47 Zwar könne die Wahlfeststellung nicht generell zugelassen werden.48 Eine Ausnahme müsse aber für das Verhältnis
von Diebstahl und Hehlerei gelten, weil ein Freispruch bei
Unmöglichkeit der vollständigen Sachverhaltsaufklärung nicht
hinnehmbar sei.49
Ein Jahr später wurde die Wahlfeststellung durch den Gesetzgeber uneingeschränkt zugelassen. Durch die Strafrechtsnovellen v. 28.6.193550 wurde unter anderem § 2b RStGB a.F.
eingefügt, der lautete:
§ 2b RStGB i.d.F.v. 28.6.1935
Steht fest, daß jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hat, ist aber eine Tatfeststellung nur
wahlweise möglich, so ist der Täter aus dem mildesten
Gesetz zu bestrafen.
ordnung, Erste Abtheilung, 2. Aufl. 1885, S. 223 m.w.N. aus
der Literatur.
41
Vgl. RG, Urt. v. 9.11.1891 – 2638/91= RGSt 22, 213 (216);
RG, Urt. v. 8.4.1892 – 822/92 = RGSt 23, 47; RG, Urt. v.
29.5.1902 – 1808/02 = RGSt 35, 299 (300); RG, Urt. v.
30.4.1919 – III 156/19 = RGSt 53, 231 (232).
42
Vgl. RG, Urt. v. 9.11.1891 – 2638/91= RGSt 22, 213 (216);
RG, Urt. v. 8.4.1892 – 822/92 = RGSt 23, 47; RG, Urt. v.
29.5.1902 – 1808/02 = RGSt 35, 299 (300); RG, Urt. v.
30.4.1919 – III 156/19 = RGSt 53, 231 (232); RG, Urt. v.
18.6.1920 – II 476/20 = RGSt 55, 44; RG, Urt. v. 1.2.1921 –
II 899/20= RGSt 55, 228 (229); RG, Urt. v. 19.4.1921 –
483/21 = RGSt 56, 35; RG, Urt. v. 4.1.1922 – II 538/22 =
RGSt 57, 174.
43
RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257.
44
RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257
(259).
45
RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257
(259).
46
RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257
(259).
47
RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257
(259).
48
RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257
(260 f.).
49
RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257
(262).
50
Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs = RGBl. I 1935,
S. 839.
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Diese Regelung wurde durch eine prozessuale Regelung flankiert:51
§ 267b RstPO i.d.F.v. 28.6.1935
Trifft das Gericht eine Wahlfeststellung (§ 2b des Strafgesetzbuchs), so ist der Angeklagte in der Formel nur der
Verletzung des anzuwendenden Strafgesetzes schuldig zu
sprechen.
Die Urteilsgründe müssen angeben, welche Gesetze als
verletzt in Betracht kommen. Die Tatsachen, die den Verstoß ergeben, sin festzustellen; es ist darzutun, weshalb
eine eindeutige Feststellung nicht möglich ist.
Sieht das Gericht entgegen einer in der Hauptverhandlung
gestellten Anfrage von einer Wahlfeststellung ab, so müssen die Gründe dafür dargelegt werden.
In den Fällen, die die Rechtsprechung des Reichsgerichts beschäftigt hatten, sei ein Freispruch „für das Rechtsgefühl unerträglich[]“.52 Die Regelung solle dem abhelfen. Sie gelte
auch dann, wenn die beiden alternativ vorliegenden Delikte
durch verschiedene Taten (im strafprozessualen Sinne) begangen wurden.53
Die Regelung hat den Zweck, den formalen Charakter des
Zweifelssatzes zugunsten subjektiver Gerechtigkeitserwägungen zu suspendieren. Sie ist daher Ausdruck des typischen
nationalsozialistischen Gesetzgebungsphänomens der Materialisierung54 und somit typisch nationalsozialistisches Recht.55
Dementsprechend wurde sie durch Gesetz Nr. 11 des Alliierten Kontrollrats für Deutschland v. 30.1.194656 aufgehoben.57
Der BGH sah in dieser Aufhebung keinen Grund, die
Wahlfeststellung aufzugeben. Die Aufhebung der gesetzlichen
Regelung bedeute nicht, dass die Wahlfeststellung unzulässig
sei.58 Vielmehr knüpfte er – wie zuvor bereits der Oberste
Gerichtshof für die Britische Zone59 – an die Rechtsprechung
der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts an und setzte
sie fort.60
Der Bundesgesetzgeber verzichtete im Zuge der Strafrechtsbereinigung explizit darauf, eine Neuregelung zu schaffen, sondern überließ die Frage unter Bezugnahme auf die
Nachkriegsrechtsprechung der Entwicklung in Wissenschaft
und Praxis.61
Im Weiteren ging der BGH jedoch letztlich über die Rechtsprechung des Reichsgerichts hinaus, was der Große Strafsenat
des BGH billigte, aus den verschiedenen Entscheidungen das
Kriterium der „rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit“ herausdestillierte und zum allgemeinen Maßstab
erhob.62 Vor diesem Hintergrund wurde die echte Wahlfeststellung in einer großen Zahl von Konstellationen zugelassen.63
b) Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG hinsichtlich der Anforderungen an die Tatbestandsseite eines Strafgesetzes
Der Senat begründet die Verfassungswidrigkeit der Rechtsprechung zur Wahlfeststellung mit einem Verstoß gegen das
Gesetzlichkeitsprinzip gem. Art. 103 Abs. 2 GG.
aa) Anwendungsbereich und normativer Gehalt des Art. 103
Abs. 2 GG
Art. 103 Abs. 2 GG normiert den zentralen Grundsatz eines
aufgeklärten rechtsstaatlichen Strafrechts.64 Danach kann eine
Tat „nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“.
Die Vorschrift besitzt zwei unterschiedliche Zweckrichtungen:65 Zum einen soll der Normadressat vorhersehen können,
welches Verhalten strafbar ist (subjektiv-rechtlicher Gehalt).
Zum anderen legt sie fest, dass nur der parlamentarische Gesetzgeber selbst die Entscheidung treffen darf, welche Verhaltensweisen strafbar sind (objektiv-rechtlicher Gehalt).
51
Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens
und des Gerichtsverfassungsgesetzes = RGBl. I 1935, S. 844.
52
Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz,
Die Strafrechtsnovellen v. 28. Juni 1935, Gesetz zur Änderung
des Strafgesetzbuchs (RGBl. I S. 839), Gesetz zur Änderung
von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes (RGBl. I, S. 844) und amtliche Begründungen
zu diesen Gesetzen, 1935, S. 31.
53
Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz
(Fn. 52), S. 31.
54
Dazu Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das
Strafrecht, 2004, S. 15, 61 ff.
55
So auch die Einschätzungen bei Frister (Fn. 6), Nach § 2
Rn. 6, und Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener
Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, Anh.
zu § 1 Rn. 4; a.A. BT-Drs. I/3713, S. 19; Stuckenberg, in: v.
Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.), KMR, Kommentar zur
Strafprozessordnung, 68. Lfg., Stand: August 2013, § 261
Rn. 151.
56
Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, S. 55.
57
Dazu Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen
Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1945-1948), 1992,
S. 84.
58
Vgl. etwa BGH, Urt. v. 19.4.1951 – 3 StR 165/51 = BGHSt
1, 127 (128); BGH, Urt. v. 21.6.1951 – 4 StR 26/51 = BGHSt
1, 275 (276) = NJW 1952, 193.
59
Vgl. OGH BrZ, Urt. v. 20.6.1949 – StS 198/49 = OGHSt 2,
89 (93).
60
Vgl. BGH, Urt. v. 19.4.1951 – 3 StR 165/51 = BGHSt 1,
127 (128); BGH, Urt. v. 21.6.1951 – 4 StR 26/51 = BGHSt 1,
275 (276) = NJW 1952, 193.
61
BT-Drs. I/3713, S. 19.
62
Vgl. BGH, Beschl. v. 15.10.1956 – GSSt 2/56 = BGHSt 9,
390 = NJW 1957, 71.
63
Vgl. die Übersicht bei Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 145.
64
Vgl. etwa Schünemann, Nulla poena sine lege?, Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht, 1978, S. 1 ff. m.w.N. Krit. zur Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes im Strafrecht Rotsch, ZJS
2008, 132 (134 f., 138).
65
Exemplarisch jüngst BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 –
2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09 = BVerfGE
126, 170 (194 f.) m.w.N.
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Der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG beschränkt sich erstens auf das materielle Strafrecht.66 Zweitens
beschränkt er sich auf die Sanktionsnormen, die auch tatsächlich unmittelbar die Rechtsfolge der Strafbarkeit anordnen.67
Allerdings gilt das Gesetzlichkeitsprinzip nicht nur für die
Voraussetzungen der Strafbarkeit, sondern auch für Art und
Maß der Sanktion selbst.68
bb) Art. 103 Abs. 2 GG als Prüfmaßstab für die echte Wahlfeststellung
Es stellt sich nun die Frage, ob die Wahlfeststellung überhaupt
den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG
berührt und – bejahendenfalls – dessen Anforderungen gerecht
wird.
Ob es sich bei der Wahlfeststellung um ein prozessuales
oder um ein materiell-rechtliches Institut handelt, war seit
jeher umstritten.69 Dass die gesetzliche Regelung der echten
Wahlfeststellung während des Nationalsozialismus sowohl
eine Vorschrift im StGB wie auch eine Vorschrift in der StPO
enthielt, trifft hierüber keine dogmatisch abschließende Aussage, sondern hat bestenfalls Indizcharakter.70
Für den (ausschließlich) prozessualen Charakter der Wahlfeststellung wird angeführt, dass materiell kein Problem bestehe, weil der Angeklagte materiell ja gerade eines der beiden im Schuldspruch aufgeführten Delikte tatsächlich begangen hat.71 Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses Delikts sowie seine Strafdrohung seien vor der Tat hinreichend
bestimmt gewesen, weshalb ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2
GG ausscheide.72 Die Tatsachenunsicherheit stelle lediglich
ein Beweisproblem dar, das prozessualer Natur sei und deshalb nicht am strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip zu messen sei.73 Über die Frage der Zulässigkeit einer mehrdeutigen
Verurteilung treffe das Gesetzlichkeitsprinzip keine Aussage.74
Diese Ausführungen sind nicht haltbar: Bei der Wahlfeststellung handelt es sich gerade nicht um eine Beweisfrage.
Sie kommt – anders als etwa der Zweifelssatz – erst zur Anwendung, wenn sowohl Beweisaufnahme wie auch Beweiswürdigung bereits abgeschlossen sind; ja sogar erst, nachdem
das Gericht den Sachverhalt bereits den beiden in Frage kommenden Deliktstatbeständen subsumiert und festgestellt hat,
dass beide Tatbestände jeweils für sich genommen nicht einschlägig sind. Dass materiell gesehen einer der Tatbestände
tatsächlich verwirklicht wurde, ist insoweit irrelevant, weil
Subsumtionsgrundlage des Gerichts ausschließlich die prozessordnungsgemäß festgestellten Tatsachen sind.75 Wendete das
Gericht das materielle Recht ohne weiteres an, müsste es zum
Ergebnis eines Freispruchs kommen. Denn für die Verurteilung wegen des einen oder des anderen Deliktes besteht keine
– materielle (!) – Ermächtigungsgrundlage (nämlich ein entsprechender Deliktstatbestand); die Anforderungen der bestehenden Rechtsgrundlagen sind jeweils nicht erfüllt. Die Wahlfeststellung dient also dazu, materiell zu einem anderen Ergebnis zu kommen, als es das positive Recht eigentlich vorsieht; sie kann daher selbst zwangsläufig nur materieller Natur
sein. Dies gilt umso mehr, als die Rechtsprechung zur Schließung dieser materiell-rechtlichen „Lücke“ ein ebenfalls materielles Kriterium heranzieht, nämlich dasjenige der „rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit“ der in Frage
kommenden Deliktstatbestände76 (das letztlich keinen Begriffsinhalt hat, sondern nur eine leere Floskel darstellt, die der
Rechtsprechung eine willkürliche Handhabung ermöglicht77).
Letztlich ist damit dem Senat darin zuzustimmen, dass im
Falle der echten Wahlfeststellung eine Verurteilung letztlich
auch nicht darauf gestützt wird, dass eine wahldeutige Tatsachengrundlage zwei bestehenden Straftatbeständen subsumiert
wird. Vielmehr gründet die Verurteilung auf einer ungeschriebenen dritten Strafnorm.78 Die Voraussetzungen dieser Norm
bestehen zum einen in den tatbestandlichen Anforderungen,
die den beiden wahlweise abgeurteilten Deliktstatbeständen
gemeinsam sind, zum anderen in dem von der Rechtsprechung
entwickelten Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit.79 Damit wird eine gänzlich neue Sanktionsnorm geschaffen.
66
Vgl. Kudlich, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 233 (239 ff.) m.w.N.
67
So auch jüngst Freund, JZ 2014, 362 f.; a.A. etwa Appel,
Verfassung und Strafe, Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafens, 1998, S. 571.
68
Exemplarisch BVerfG, Beschl. v. 26.2.1969 – 2 BvL 15/68,
2 BvL 23/68 = BVerfGE 25, 269 (285 f.) = NJW 1969, 1059
(1060).
69
Vgl. die Nachweise zur älteren Literatur bei Günther, Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel, Ein Beitrag zum Institut der sog. „ungleichartigen Wahlfeststellung“, 1976, S. 168 Fn. 27.
70
So zutreffend Wolter, GA 2013, 271 (275).
71
Etwa Günther (Fn. 69), S. 168 f.; Wolter, GA 2013, 271
(276).
72
Etwa Wolter, GA 2013, 271 (274).
73
Etwa Günther (Fn. 69), S. 169.
74
Etwa Wolter, GA 2013, 271 (274); Frister (Fn. 6), Nach
§ 2 Rn. 77; Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 149 m.w.N.
75
Klarstellend Freund, in: Zöller/Hilger/Küper/Roxin (Hrsg.),
Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension,
Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013, 2013, S. 35 (52).
76
Zutreffend der Senat, vgl. BGH, Beschl. v. 28.2.2014 –
2 StR 495/12, Rn. 27 f. = NStZ 2014, 392 (394 f.).
77
So auch Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der
Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, S. 182 ff., 198 f.; Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 148.
78
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 = NStZ
2014, 392 (394); so bereits zuvor etwa Endruweit (Fn. 77),
S. 251 ff.; Freund (Fn. 75), S. 35 (49); Gaede, in: Leipold/
Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar Strafgesetzbuch, 2011, § 1 Rn. 51.
79
BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 f. =
NStZ 2014, 392 (394 f.).
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cc) Möglichkeit der Rechtfertigung des Verstoßes gegen
Art. 103 Abs. 2 GG
Damit greift eine Verurteilung im Wege der echten Wahlfeststellung in den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ein.
Zwar ist dessen subjektiv-rechtlicher Gehalt nicht betroffen,
weil der Angeklagte vor seiner Tat eine Strafbarkeit hatte vorhersehen können.80 Die Verletzung manifestiert sich jedoch
mit Blick auf den objektiv-rechtlichen Gehalt des Gesetzlichkeitsprinzips, weil die Verurteilung – wie gezeigt – eben gerade nicht aufgrund eines Deliktstatbestandes erfolgt, der vom
demokratisch legitimierten Gesetzgeber geschaffen wurde.
Diesen Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht des
Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich mit Erwägungen der
Einzelfallgerechtigkeit rechtfertigen zu wollen,81 ist unzulässig.82 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip gilt absolut;
das Grundgesetz hat in Bezug auf das Strafrecht die Abwägung
der widerstreitenden Interessen zugunsten des Parlamentsvorbehalts und der Rechtssicherheit entschieden und sich
damit gerade gegen eine absolute Einzelfallgerechtigkeit ausgesprochen.83 Vielmehr ist es gerade Aufgabe des Art. 103
Abs. 2 GG, mit seiner formalen und zwingenden Natur den
Richter in den Fällen zum Freispruch zu zwingen, in denen
ein solcher dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden widerstreben mag.84
Ebenfalls keine Rechtfertigung ergibt sich daraus, dass
der Gesetzgeber zwar absichtlich auf eine gesetzliche Regelung verzichtet hat, sich damit aber nicht gegen die Wahlfeststellung aussprechen wollte, sondern die Frage der Rechtsprechung überlassen wollte.85 Über die rechtsstaatliche Gewaltenteilung darf der Gesetzgeber nicht frei disponieren; er
kann sich seiner verfassungsrechtlichen Aufgabe nicht nach
Belieben entziehen.86
c) Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG hinsichtlich der Anforderungen an die Rechtsfolgenseite eines Strafgesetzes
Die Probleme, die die Wahlfeststellung hinsichtlich des
Schuldspruchs aufwirft, setzen sich auch bei der Strafrechtsfolge fort. Nach § 46 Abs. 1 S. 1 StGB ist die Schuld die
Grundlage der Strafzumessung. Wird die Strafbarkeit im
Schuldspruch offengelassen, fehlt es an dieser Grundlage.
Dies wird etwa deutlich, wenn man sich vor Augen führt,
dass bei unklarer Tatsachenlage regelmäßig das Motiv des
80
Zutreffend Freund (Fn. 75), S. 35 (36).
So etwa Eser/Hecker (Fn. 6), § 1 Rn. 67 f.; Dannecker, in:
Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Anh. § 1
Rn. 13 ff.
82
Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12,
Rn. 31 f. = NStZ 2014, 392 (395); bereits zuvor Stuckenberg
(Fn. 55), § 261 Rn. 149; Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 76;
Freund (Fn. 75), S. 35 (43, 51).
83
Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12,
Rn. 31 f. = NStZ 2014, 392 (395).
84
Zutreffend Freund (Fn. 75), S. 35 (51).
85
S.o. III. 2. a) auf S. 439.
86
Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12,
Rn. 33 f. = NStZ 2014, 392 (395).
81
Täter nicht ermittelt werden kann, das gem. § 46 Abs. 2 S. 2
StGB einen maßgeblichen Strafzumessungsaspekt darstellt.87
Da Art. 103 Abs. 2 GG auch die Gesetzlichkeit der Rechtsfolgenseite einer Strafnorm garantiert, verstößt die Wahlfeststellung auch vor diesem Hintergrund gegen das Grundgesetz.88
IV. Exkurs: Möglichkeit einer gesetzlichen Normierung
der echten Wahlfeststellung
Da de lege lata der Haupteinwand gegen die echte Wahlfeststellung das Fehlen einer gesetzlichen Regelung ist,89 stellt
sich die Frage, inwiefern die Schaffung einer solchen möglich
ist.
1. Regelungsmöglichkeiten im Allgemeinen Teil des StGB
Eine erneute Regelung im Allgemeinen Teil des StGB90 ist
aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt:
Versuchte der Gesetzgeber, die Rechtsprechung des BGH
zu normieren,91 verstieße eine solche Regelung aufgrund mangelnder Bestimmtheit gegen Art. 103 Abs. 2 GG, weil das
Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit keinerlei normativen Aussagegehalt besitzt.92
Aber auch wenn man versuchte, eine neu gestaltete Legitimationsgrundlage für die echte Wahlfeststellung zu schaffen,
wäre diese erheblichen Problemen und Bedenken ausgesetzt.
Diese ergeben sich vor allem aus straftheoretischer Perspektive:
Ungelöst bleibt etwa das Problem, dass bei Unkenntnis des
tatsächlichen Vorgangs und dessen strafrechtlicher Einordnung Art und Maß der Schuld unbekannt sind und es daher
an einer Grundlage für die Strafzumessung fehlt.93 Doch auch
unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention94 fehlt es an
der Grundlage für eine straftheoretische Rechtfertigung der
echten Wahlfeststellung:95 Ist nicht klar, gegen welche Norm
der Täter verstoßen hat, kann durch seine Verurteilung auch
87
So etwa Jakobs, GA 1971, 257 (268).
Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12,
Rn. 35 f. = NStZ 2014, 392 (395).
89
Klarstellend Freund (Fn. 75), S. 35 (56 in Fn. 79).
90
So etwa der Gesetzesvorschlag bei Wolter, GA 2013, 271
(282 ff.).
91
Kritisch auch Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 151.
92
Demselben Vorwurf ist auch der Gesetzesvorschlag von
Wolter ausgesetzt. Sein § 55a Abs. 1 S. 3 StGB-E lautet „Die
Taten sind vergleichbar, wenn sie sich namentlich in den gesetzlichen Merkmalen von Unrecht und Schuld entsprechen.“
(GA 2013, 271 [282 ]). Diese Zweifel erhärten sich, wenn
Wolter die Entsprechungsklausel des § 13 Abs. 1 StGB, deren
Funktion und Inhalt bis heute vollständig ungeklärt sind (vgl.
Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 18
Rn. 122 m.w.N.), als „sprachliches wie inhaltliches Vorbild“
für seinen Regelungsvorschlag anführt (GA 2013, 271 [284]).
93
Siehe bereits oben II. 2. c).
94
Zu diesem Strafzweck Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 21 ff.
95
Nicht dagegen die Spezialprävention, vgl. Frister (Fn. 6),
Nach § 2 Rn. 80 m.w.N.
88
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ZJS 4/2014
442
BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12
Wagner
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nicht die Geltung einer Norm bekräftigt werden, weshalb der
generalpräventive Effekt der Strafe entfällt; der konkrete Appell an die Bevölkerung, ein bestimmtes Verhalten zu tun oder
zu unterlassen, verkommt zu einer allgemeinen Aufforderung
zur Rechtstreue.96
2. Regelungsmöglichkeiten im Besonderen Teil des StGB
Es verbleibt nur die Möglichkeit einzelner Normierungen im
Besonderen Teil des StGB. Zum einen können einzelne Tatbestandsverwirklichungsformen ein und desselben Tatbestandes durch die Konjunktion „oder“ verknüpft werden.97 Zum
anderen besteht die Möglichkeit, neue Deliktstatbestände in
den Bereichen zu normieren, in denen die Wahlfeststellung
praktisch häufig angewandt wird (wie z.B. im Verhältnis zwischen Diebstahl und Hehlerei).98 Insoweit stellt sich dann aber
das grundsätzliche Problem, ob aufgrund von Beweisschwierigkeiten neue Tatbestände des Besonderen Teils geschaffen
werden dürfen.99
hung des in dubio pro reo-Grundsatzes sogar den Rechtsbeugungstatbestand gem. § 339 StGB erfüllen kann,102 wird derlei Entwicklungen leider wohl kaum verhindern können.
Zudem birgt die Erkenntnis der Verfassungswidrigkeit der
echten Wahlfeststellung die Gefahr, den Gesetzgeber zu unüberlegtem populistisch motiviertem Handeln zu verleiten. Es
bleibt zu wünschen, dass diese eigentlich erfreuliche Entwicklung der Rechtsprechung nicht letzten Endes zur Folge hat,
dass unnötige Straftatbestände oder eine sonstige Regelung
geschaffen werden, die nur dazu dienen, die bisherige zweifelhafte Rechtsprechung für die Zukunft zu legitimieren.
Die nächsten Jahre werden zeigen, ob dies nur fromme
Wünsche sind, die von der Kriminalpolitik ungehört verhallen.
Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen
V. Fazit
Prinzipiell ist es sehr zu begrüßen, dass der 2. Strafsenat von
einer jahrzehntelangen verfassungswidrigen Rechtsprechungspraxis abkehren möchte. Es ist daher zu wünschen, dass die
übrigen Senate dieser Entwicklung nicht entgegenstehen oder
zumindest der Große Strafsenat im Falle einer Divergenzvorlage in diesem Sinne entscheidet.
Zu bezweifeln ist jedoch, dass damit das letzte Wort in
dieser Angelegenheit gesprochen sein wird:
Wiederholt hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit
Kreativität bewiesen, wenn es darum ging, für richtig gehaltene Ergebnisse auch nach der Rüge ihrer Verfassungswidrigkeit auf anderem Wege zu erreichen.100 Im Falle der echten
Wahlfeststellung besteht daher etwa das Risiko, dass das erkennende Gericht trotz bestehender tatsächlicher Zweifel vorgibt, vom Vorliegen solcher Tatsachen überzeugt zu sein, die
einen der beiden in Frage stehenden Tatbestände erfüllen, um
einen Freispruch zu vermeiden.101 Dass eine solche Umge96
Zutreffend Jakobs, GA 1971, 257 (269); Freund (Fn. 75),
S. 35 (56); Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 81; Velten, in: Wolter
(Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung,
Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 104; dagegen Stuckenberg
(Fn. 55), § 261 Rn. 150; Wolter, GA 2013, 271 (277 ff.).
97
Vgl. etwa Freund (Fn. 75), S. 35 (47 f., 53).
98
Für einen solchen „pragmatische[n] Lösungsansatz“ Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 151.
99
Zu diesem Problem jüngst etwa Bülte, JZ 2014, 603.
100
So hat etwa jüngst der 1. Strafsenat das (hochproblematische) Rechtsinstitut der omissio libera in causa herangezogen,
um zum Ergebnis einer Untreuestrafbarkeit kommen zu können und dabei gleichzeitig den Anschein zu erwecken, man
habe die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (vgl. die
Untreue-Entscheidung BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR
2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09 = BVerfGE 126, 170)
beachtet; vgl. BGH, Beschl. v. 3.12.2013 – 1 StR 526/13 =
NStZ 2014, 158; dagegen M. Wagner, ZIS 2014, 364.
101
Diese Warnung äußern auch Günther (Fn. 69), S. 165,
180, 182 f.; Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus in
Strafrecht und Strafprozeßrecht, Entwicklung und Erprobung
eines neuen Erklärungsmodells, 1976, S. 195 f.; Dannecker
(Fn. 81), Anh. § 1 Rn. 11; Freund (Fn. 75), S. 35 (55); jeweils
m.w.N.
102
Vgl. BGH, Urt. v. 21.7.1970 – 1 StR 119/69 = NJW 1971,
571 (573).
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443
BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12
Singbartl
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Entscheidungsanmerkung
Abschleppen eines verbotswidrig geparkten Kfz – Einbeziehung eines Dritten in Schutzwirkung des Vertrages
1. Beauftragt die Straßenverkehrsbehörde zur Vollstreckung des in einem Verkehrszeichen enthaltenen Wegfahrgebots im Wege der Ersatzvornahme einen privaten
Unternehmer mit dem Abschleppen eines verbotswidrig
geparkten Fahrzeugs, so wird der Unternehmer bei der
Durchführung des Abschleppauftrags hoheitlich tätig.
2. Durch das Abschleppen eines verbotswidrig geparkten
Fahrzeugs im Wege der Ersatzvornahme wird ein öffentlich-rechtliches Verwahrungsverhältnis begründet, auf das
die §§ 276, 278, 280 ff. BGB entsprechend anzuwenden
sind.
3. Der Eigentümer des verbotswidrig geparkten Fahrzeugs
ist in einer solchen Fallkonstellation nicht in den Schutzbereich des zwischen dem Verwaltungsträger und den
privaten Unternehmer geschlossenen Vertrages über das
Abschleppen seines Fahrzeugs einbezogen.
(Amtliche Leitsätze)
BGB §§ 328, 839
GG Art. 34
BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12 (LG Mannheim, AG
Mannheim)1
I. Einleitung
Die vorliegende Entscheidung ist nicht nur in hohem Maße
ausbildungs- und examensrelevant. Vielmehr werden auch
durchweg spannende juristische Probleme im Grenzbereich
zwischen öffentlichem Recht und Zivilrecht besprochen. Damit ist hiesiger Fall geradezu prädestiniert, geprüft zu werden. Es steht vorliegend die zentrale Frage im Raum, ob das
Abschleppunternehmen für Beschädigungen des abgeschleppten PKW dem Eigentümer zum Schadenersatz verpflichtet ist
oder ob eben doch nur staatshaftungsrechtliche Ansprüche
gegen die öffentliche Hand bestehen.
II. Sachverhalt
Der Beklagte betreibt ein Abschleppunternehmen und verbrachte im Auftrag der Stadt M das vom Kläger verbotswidrig geparkte Fahrzeug auf den Parkplatz des Ordnungsamtes.
Der Kläger behauptet, sein Fahrzeug sei bei dem Abschleppvorgang beschädigt worden, wodurch ihm ein Schaden in
Höhe von 3.356,36 € entstanden sei. Die auf Ersatz seines
Schadens gerichtete Klage hatte in den Vorinstanzen keinen
Erfolg. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter.
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=
67195&pos=0&anz=1 (3.7.2014).
III. Kernaussagen und Würdigung
1. Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB
Was einen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gegen den Unternehmer anbelangt, so scheitert dieser bereits an der fehlenden
Passivlegitimation des hoheitlich handelnden Unternehmens.
Prüft man die Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB2, dann
ist zwar unstreitig eine Eigentumsverletzung gegeben. Der
BGH legt nun aber dar, dass der Beklagte bei der Durchführung des ihm von der Stadt M erteilten Abschleppauftrags in
Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes handelte, so dass die Verantwortlichkeit für sein etwaiges Fehlverhalten allein die Stadt M treffe.3 Dies statuiert den Fall einer
gesetzlich angeordneten befreienden Schuldübernahme.4
Die Verwaltung bedient sich in vielfältiger Form der Unterstützung Privater. Die einzelnen Formen der Einschaltung
Privater sind vor allem im Hinblick auf ihre Entstehung und
Funktion, aber auch hinsichtlich der Haftung zu unterscheiden. Die Behörde kann bestimmte Verwaltungsaufgaben erledigen, indem sie private Unternehmer durch Werkverträge
(§ 631 BGB) beauftragt. Der beauftragte Unternehmer handelt dann entweder als Erfüllungsgehilfe im Hoheitsbereich
oder als Verwaltungshelfer. Ein Erfüllungsgehilfe handelt im
Rahmen des Auftrags selbständig, der Verwaltungshelfer hingegen tut dies gerade nicht, sondern ist absolut weisungsabhängig, d.h. er verfügt über keinerlei eigenen Entscheidungsspielraum.5 Da der Abschleppunternehmer in zeitlicher und
technischer Hinsicht mit eigenem Entscheidungsspielraum ausgestattet ist, fungiert er als sog. „Erfüllungsgehilfe im Eingriffsbereich“ und ist damit ein haftungsrechtlicher Beamter
i.S.d. Art. 34 GG, für den der Staat haftet. Die öffentliche
Hand soll sich nämlich „jedenfalls im Rahmen der Eingriffs2
Zum Prüfungsschema mit allen wesentlichen Problemschwerpunkten zu § 823 BGB, siehe Looschelders, Schuldrecht BT, 9. Aufl. 2014, Rn. 1173-1199.
3
So expressis verbis BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12
Rn. 4.
4
Vgl. hierzu aus der jüngeren Rechtsprechung, BeckRS
2014, 07063.
5
Hierzu grundlegend BGH NJW 2005, 286 (287); Verwaltungshelfer als sog. verlängerter Arm der Behörde und als
deren bloßes Werkzeug, BGH NVwZ 2012, 381, und Maurer,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 23 Rn. 60.
Mangels entsprechenden Gesetzes kam von vorherein nicht in
Betracht (und wird deshalb vom BGH auch nicht angesprochen), dass es sich bei dem Abschleppunternehmer um einen
Beliehenen handelt. Beliehene sind gerade solche, die mit der
hoheitlichen Wahrnehmung bestimmter Verwaltungsaufgaben
im eigenen Namen betraut sind. Sie sind und bleiben – statusmäßig – Privatrechtssubjekte; sie können aber – funktionell –
in begrenztem Umfang hoheitlich handeln. Da sie selbständig,
d.h. innerhalb eines eigenen Entscheidungsraums tätig werden
und im eigenen Namen handeln, sind sie Verwaltungsträger,
eben so weit, wie ihr hoheitlicher Kompetenzbereich wirkt,
dazu grundlegend Wöstmann, in: Staudinger, Kommentar zum
BGB, Neubearbeitung 2012, § 839 Rn. 44; Maurer (a.a.O.),
§ 23 Rn. 56; ferner BGH NJW 2005, 286 (287), und ebenso
BayVGH BayVBl. 2002, 82 (83); BGH DÖV 2001, 563.
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verwaltung“ ihrer Amtshaftung für fehlerhaftes Verhalten
eines Bediensteten nicht dadurch entziehen können, dass sie
die Durchführung einer von ihr angeordneten Maßnahme
durch privatrechtlichen Vertrag oder auf sonstige Weise auf
eine – womöglich sogar insolvente – Privatperson überträgt
(„keine Flucht ins Privatrecht“).6 Taugliches Haftungssubjekt
kann nach den vorstehenden Überlegungen damit nur die
Stadt M sein; ein eigenständig gegen den Unternehmer gerichteter Anspruch ist abzulehnen.
2. Etwaiger Regressanspruch der Stadt gegen den Abschleppunternehmer
Nicht Gegenstand des konkreten Streites, aber dennoch äußerst examensrelevant ist die Frage, wie ein etwaiger Regress
der Stadt M gegen den Abschleppunternehmer aussähe. Anspruchsgrundlage ist in solchen Fällen der Werkvertrag gem.
§ 631 BGB in Verbindung mit § 280 BGB. Allerdings gilt es
hier, eine Besonderheit zu beachten: Art. 34 S. 2 GG findet
nicht ohne weiteres Anwendung, vielmehr ist in derartigen
Fallkonstellationen eine einschränkende Auslegung bzw. eine
teleologische Reduktion dieser Vorschrift geboten.7 Danach
gilt für selbständige private Unternehmer die Rückgriffbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit gem. Art. 34
S. 2 GG gerade nicht. Vielmehr haftet das Abschleppunternehmen auch bei leichter Fahrlässigkeit. Dies liegt darin begründet, dass die Limitierung der Innenhaftung bei haftungsrechtlichen Beamten nach Art. 34 S. 2 GG zum einen auf
dem Gedanken beruht, deren Entschlussfähigkeit und Entschlussfreudigkeit zu fördern, und zum anderen auf dem Gebot der Fürsorge gegenüber den Bediensteten. Beide Aspekte
treten bei der vertraglichen Heranziehung Privater als Erfüllungsgehilfen (und erst recht beim Verwaltungshelfer) völlig
zurück, da dieser keine großen Entscheidung Spielräume mehr
hat.8
3. Anspruch aus Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter
Ferner wird als weitere Anspruchsgrundlage gegen den Unternehmer ein etwaiger Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten
Dritter bemüht.9 Die wohl diffizilste Frage in diesem Kontext
ist, wie man den begünstigten Personenkreis abgrenzen kann.
Einhellige Rechtsprechung und wohl auch Grundtenor in der
Literatur ist, dass im Allgemeinen vier Voraussetzungen für
die Einbeziehung in den vertraglichen Schutzkreis aufgestellt
worden sind.10 Der Dritte muss typischerweise mit der geschuldeten Leistung in Berührung kommen wie der eigentliche Vertragspartner (Leistungsnähe). Im hiesigen Fall wurden
drittbestimmte Hauptleistungspflichten aus dem Werkvertrag
verletzt und dieser Schaden aus der Schlechterfüllung drohte
auch erkennbar dem Dritten, namentlich dem Kläger. Der
Dritte war originär Betroffener der Abschleppmaßnahme.
Auch handelte es sich nicht nur um einen bloß zufälligen
Leistungskontakt, sondern vielmehr war der Geschädigte dem
„Pflichtenprogramm“ mindestens genauso ausgesetzt, wie die
Stadt. Hingegen offengelassen hat der Senat die Frage der
Gläubigernähe. Der Gläubiger muss an der sorgfältigen Ausführung der Leistung nicht nur ein eigenes, sondern auch ein
berechtigtes Interesse zugunsten des Dritten haben, wobei
sich der Umfang der vertraglichen Schutzwirkung nach dem
Vertragszweck, nach dem Verhältnis zum Vertragsgegenstand
und nach seinem objektiven Sicherheitsbedürfnis bestimmt.11
Es kann durchaus gesagt werden, dass den Autofahrer und die
Stadt schon deswegen eine besondere Gläubigernähe prägt,
da der Abschleppvorgang auf städtischem Grund ausgeführt
8
6
So inzwischen ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH NJW
2005, 286 (287) – BSE-Schnelltest I, und ebenso BGH NVwZRR 2007, 368 (369) – BSE-Schnelltest II; ebenso grundlegend
zur Gesamtproblematik Wöstmann (Fn. 5), § 839 Rn. 101,
und grundlegend in der Rspr. BGH NJW 1993, 1258 = BGHZ
121, 161 (166) – Abschleppunternehmer; inwieweit Privatpersonen auch im Bereich der Leistungsverwaltung in den
haftungsrechtlichen Beamtenbegriff einzubeziehen sind, so
dass für sie ebenfalls der Staat haftet, wurde vom BGH in seiner Ausgangsentscheidung ausdrücklich offengelassen (BGHZ
121, 161 [166]). Für eine solche Einbeziehung sprechen allerdings nicht nur die dem § 278 BGB und dem Art. 9 Abs. 1
S. 4 LStVG zugrundliegenden allgemeinen Rechtsgedanken,
sondern auch, dass im Leistungsbereich ebenfalls eine „Flucht
ins Privatrecht“ vermieden werden soll. Ist also eine Aufgabe,
in deren Vollzug der Private eingeschaltet wird, dem hoheitlichen Funktionskreis zuzuordnen und wird der Private bei
der Wahrnehmung dieser Aufgaben eben mit Wissen und
Wollen der Behörden tätig, ohne die ihm zugestandenen Befugnisse vorsätzlich zu überschreiten (sog. Exzess), dann hat
man ihn ebenfalls als haftungsrechtliche Beamten anzusehen,
OLG Saarbrücken NVwZ-RR 2007, 481 (483), und insoweit
nicht eindeutig BGH NVwZ-RR 2001, 441.
7
So grundlegend BGH NJW 2005, 286 (287 f.) – BSESchnelltest I.
So auch Ehlers, JK 3/06, GG Art. 34/20; zu beachten ist
jedoch mit Blick auf die selbständige Entscheidungsfreiheit
eines Beliehenen, dass bei diesem eine derartige teleologische
Reduktion des staatlichen Regresses gerade nicht gegeben
sein kann. Allerdings ist es nach der neueren Rechtsprechung
möglich, für den Beliehenen durch Gesetz einen weiterreichenden Rückgriff als in Art. 34 S. 2 GG vorgesehen, festzulegen,
vgl. BVerwG NVwZ 2011, 368 = JuS 2011, 191.
9
Die Rechtsgrundlage der Schutzwirkungen zugunsten Dritter
ist nach wie vor umstritten, jedenfalls hat die Rechtsprechung
ausdrücklich offen gelassen, vgl. BGH NJW 1971, 1931
(1932); BGH NJW 1977, 2073 (2076), ob eine ergänzende
Auslegung des Hauptvertrages gem. §§ 133,157 BGB in Betracht kommt oder ob es sich nicht doch um eine rechtsfortbildende gesetzliche Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses
nach Treu und Glauben gem. § 242 BGB handelt; vgl. exemplarisch aus der mannigfaltigen Rechtsprechung BGH NJW
2004, 3035, und aus älterer Zeit BGH NJW 1996, 2927 (2928),
und exemplarisch aus der Kommentarliteratur Gottwald, in:
Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 328
Rn. 165 und Grüneberg, in: Palandt, Kommentar zum BGB,
73. Aufl. 2014, § 328 Rn. 14.
10
Stellvertretend hierzu BGH NJW 2008, 2245 (2247).
11
In diesem Sinne auch Harke, Allgemeines Schuldrecht,
13. Aufl. 2010, Rn. 435; ebenso aus älterer Zeit Gernhuber,
Festschrift für Arthur Nikisch, 1958, S. 249 (270).
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worden ist und aufgrund des entstandenen öffentlich-rechtlichen Verwahrungsverhältnisses die Stadt M besondere Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflichten gegenüber dem geschädigten Eigentümer und letztlich vor allem auch Haftungsrisiken treffen.12 In casu wurde der Falschparker von der Verpflichtung, seinen PKW zu entfernen befreit. Diese Verpflichtung besteht von der zivilrechtlichen Warte aus gesehen schon
wegen §§ 1004, 862 BGB. Aber auch öffentlich-rechtlich
folgt eine Wegfahrpflicht aus dem geltenden Parkverbot, da
jedes Parkverbotszeichen gleichzeitig ein Wegfahrgebot enthält.13 Damit lässt sich auch die Gläubigernähe bejahen. Der
Senat lässt diese Frage ausdrücklich offen und verneint jedenfalls – völlig zutreffend – die Schutzbedürftigkeit des
Geschädigten aus den Grundsätzen mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Die Schutzbedürftigkeit des Dritten entfällt
im Regelfall, wenn sein Interesse bereits durch eigene vertragliche Ansprüche abgedeckt ist.14
Im hiesigen Fall kommt ein vertraglicher Schadensersatzanspruch aus einem durch den Abschleppvorgang begründeten Verwahrungsverhältnis nach § 280 Abs. 1 BGB analog in
Betracht. Anders als im Privatrecht entsteht das Rechtsverhältnis automatisch, wobei an die Stelle der Willenseinigung
Privater öffentlich-rechtliche Maßnahmen treten.15 Hieran ändert auch die Einschaltung eines privaten Abschleppunternehmers nichts, auch wenn diese auf privatrechtlicher Grundlage erfolgte. Für die Würdigung kommt es nämlich einzig
und allein auf das Verhältnis zwischen der für die Maßnahme
verantwortlichen Behörde und dem betroffenen Bürger an,
also auf das nach außen manifestierte Handeln des Abschleppunternehmers als Erfüllungsgehilfe des Trägers der öffentlichen Gewalt. Gerade als solcher geht dieser Erfüllungsgehilfe
in der öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehung mit auf, zumal
sich der Gebrauch der entsprechenden Gestaltungsspielräume
gerade nicht zum Nachteil des Privaten auswirken darf (eben:
„Keine Flucht ins Privatrecht!“).16 Dementsprechend hat die
Stadt M für derartige schuldhafte Pflichtverletzungen einzustehen und eben Schadensersatz zu leisten, wobei ihr im Rahmen des § 280 Abs. 1 BGB – im Gegensatz zur Amtshaftung
– die Beweislast für fehlendes Verschulden obliegt.
12
So auch in einem ähnlich gelagerten Fall, wo die Haftung
eines von der Polizei beauftragten Abschleppunternehmers
gegenüber dem Eigentümer für dessen Beschädigungen bejaht worden ist, vgl. BGH NJW 1978, 2502; ausdrücklich distanziert hat sich der Senat in der vorliegenden Entscheidung
von dieser Entscheidung, vgl. BGH, Urt. v. 18.2.2014 –
VI ZR 383/12, Rn. 11.
13
Problematisch in diesem Zusammenhang ist dann lediglich
die Bekanntgabe von Verkehrszeichen, vgl. nur BVerwG NJW
2008, 2867.
14
In diesem Sinne auch Gottwald (Fn. 9), § 328 Rn. 185.
15
Hierzu umfassend Henssler, in: Münchener Kommentar
zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 688 Rn. 59.
16
Exemplarisch aus der mannigfaltigen Rechtsprechung
BGH NJW 2004, 513; ebenso BGH NJW 2006, 1804 (1805),
und OLG Hamm NJW 2001, 375.
4. Anspruch aus § 7 Abs.1 StVG
Im juristischen Gutachten17 ist anders als im Urteil noch auf
eine etwaige Haftung gem. § 7 Abs. 1 StVG einzugehen. Doch
scheitert dieser Anspruch schon daran, dass das Fahrzeug des
Klägers und der Abschleppwagen eine Betriebseinheit bilden
und eine Haftung sich – wegen dem Schutzweck der Norm –
gerade nicht auf Schäden an dem gehaltenen oder dem mit
diesem eine Betriebseinheit bildendem Fahrzeug erstreckt.
5. Anspruch aus §§ 677, 280 BGB
Zu Recht enthält das Urteil des BGH keine Stellungnahme zu
der Frage, ob Ansprüche des Geschädigten gegenüber dem
Unternehmer gem. §§ 677, 280 BGB18 wegen der Schlechterfüllung der Geschäftsführung ohne Auftrag bestehen.
Nur mit „Bauchschmerzen“ ließe sich vertreten, der Unternehmer führe ein „Auch-fremdes-Geschäft“19. Primär muss
man sich vergegenwärtigen, dass dieser nur eigenen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt und nicht in dem Pflichtenkreis eines anderen tätig wird. Allerdings muss in diesem
Zusammenhang bedacht werden, dass hoheitliche Maßnahmen
der Sicherheitsbehörden im Prinzip abschließend durch Landesrecht geregelt werden, so dass für eine Analogie des Bundesrechts und demnach für die §§ 677 ff. BGB von vornherein kein Raum besteht.20
Schon dies lässt vermuten, dass dies der Grund war, warum der erkennende Senat eine Schlechterfüllung aus GoA
überhaupt nicht angesprochen hat.
IV. Folgen für Ausbildung, Prüfung und Praxis
Das Urteil ist in jeder Hinsicht begrüßenswert, stellt es doch
nochmals die Voraussetzungen dar, unter welchen ein Unternehmer hoheitlich tätig wird. Der Geschädigte hätte vielmehr
die Stadt M verklagen müssen, denn aufgrund des öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses kommt es eben zu einer
Anwendbarkeit der § 280 ff. BGB (analog) und damit auch
zu einer Beweislastumkehr des Verschuldens zugunsten des
Geschädigten.21 Führt man den hiesigen Fall fort und denkt
an etwaige Regressansprüche der Stadt M gegen das Abschleppunternehmen, etwa im Falle einer Frage nach der
Rechtslage, so muss man die – bestimmt nicht jedermann geläufige – Rechtsprechung zur teleologischen Reduktion des
Art. 34 S. 2 GG kennen und sich mit den Erkenntnissen der
jüngeren Rechtsprechung auseinandersetzen.22
Wiss. Mitarbeiter Jan Singbartl, München
17
Hierzu auch BGHZ 187, 379 (383); ebenso grundlegend
Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl. 2007,
§ 3 Rn. 252.
18
Allgemein zur Geschäftsführung ohne Auftrag Looschelders
(Fn. 2), Rn. 836-871.
19
In diese Richtung auch BGH, Urt. v. 21.6.2012 – III ZR
275/11 = BeckRS 2012, 15359.
20
BVerfG NJW 2011, 3217
21
Vgl. zu diesem Problemkreis bereits unter III. 3.
22
Vgl. zu diesem Problemkreis bereits unter III. 2. und die
Grundlagenentscheidung BGH NJW 2005, 286 (287 f.) –
BSE-Schnelltest I.
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Entscheidungsanmerkung
Verfassungswidrigkeit des ZDF-Staatsvertrages
1. Die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist gemäß Art. 5 Abs. 1
Satz 2 GG am Gebot der Vielfaltsicherung auszurichten.
Danach sind Personen mit möglichst unterschiedlichen
Perspektiven und Erfahrungshorizonten aus allen Bereichen des Gemeinwesens einzubeziehen.
a) Der Gesetzgeber hat dafür zu sorgen, dass bei der Bestellung der Mitglieder dieser Gremien möglichst unterschiedliche Gruppen und dabei neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen Berücksichtigung finden und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven
abgebildet werden.
b) Zur Vielfaltsicherung kann der Gesetzgeber neben Mitgliedern, die von gesellschaftlichen Gruppen entsandt werden, auch Angehörige der verschiedenen staatlichen Ebenen einbeziehen.
2. Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
muss als Ausdruck des Gebots der Vielfaltsicherung dem
Gebot der Staatsferne genügen. Danach ist der Einfluss
der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien konsequent zu begrenzen.
a) Der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder
darf insgesamt ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des
jeweiligen Gremiums nicht übersteigen.
b) Für die weiteren Mitglieder ist die Zusammensetzung
der Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
konsequent staatsfern auszugestalten. Vertreter der Exekutive dürfen auf die Auswahl der staatsfernen Mitglieder keinen bestimmenden Einfluss haben; der Gesetzgeber
hat für sie Inkompatibilitätsregelungen zu schaffen, die
ihre Staatsferne in persönlicher Hinsicht gewährleisten.
(Amtliche Leitsätze)
GG Art. 5 Abs. 1 S. 2
ZDF-StV §§ 21 Abs. 1, 3, 4, 6, 8, 10; 24 Abs. 1, 3
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I. Einleitung
Das seit längerem mit Spannung erwartete ZDF-Urteil des
Ersten Senats setzt die imposante Reihe gewichtiger Rundfunkentscheidungen des BVerfG fort; entsprechend der üblichen Zählung ist Karlsruhe damit bei der 14. Entscheidung angekommen. Das Urteil schließt eine lange beklagte Baulücke
im Gefüge des maßgeblich verfassungsgerichtlich geprägten
Rundfunkverfassungsrechts und zwar hinsichtlich der Organisation der staatsfernen, anstaltsinternen Aufsicht über den
1
Die Entscheidung ist online abrufbar unter:
https://www.bundesverfassungsgericht.de/en/decisions/fs201
40325_1bvf000111.html;
abgedruckt in: K&R 2014, 334; DVBl. 2014, 649; JZ 2014,
560; ZUM 2014, 501; EuGRZ 2014, 351; NVwZ 2014, 867.
öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zwar sind auch die institutionell-organisatorischen Anforderungen der verfassungsrechtlichen Rundfunkgewährleistung (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) in
der Rechtsprechung bereits mehrfach thematisiert worden, so
auch die staatsfern zu organisierende Aufsicht über den privaten2 und öffentlich-rechtlichen Rundfunk.3 Die aus Vertretern
gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, von den Kirchen
bis zu Arbeitgeber-, Kultur- oder Sportverbänden, zusammengesetzten Gremien – der in der Kopfzahl deutlich größere, für
die Programmaufsicht zuständige Rundfunkrat (beim ZDF:
Fernsehrat) und der kleinere, im Wesentlichen für die Haushalts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle zuständige Verwaltungsrat – bilden danach eine zwar nicht verfassungsrechtlich
zwingende, aber doch besonders adäquate Gestaltungsform
der anstaltsinternen Aufsicht über den öffentlich-rechtlichen
Rundfunk. Das gruppenpluralistische Aufsichtskonzept hat
sich von Anbeginn an bis heute in allen deutschen Rundfunkanstalten4 behauptet und stand darüber hinaus auch Pate für
das Organisationsdesign der Landesmedienanstalten, die die
Aufsicht über den privaten Rundfunk führen. Nicht mehr bei
allen,5 aber doch bei der Mehrzahl der Landesmedienanstalten
ist das Hauptorgan eine vergleichbar den Rundfunkräten der
Rundfunkanstalten pluralistisch zusammengesetzte Versammlung.6
Namentlich im NRW-Urteil von 1991 (sog. 6. Rundfunkentscheidung) entwickelte das BVerfG wichtige Grundsätze
zur binnenpluralistischen Zusammensetzung der Aufsichtsgremien und zum Status des Gremienmitglieds7. Danach haben die Gremienmitglieder nicht die Aufgabe, Programminteressen der sie entsendenden Verbände durchzusetzen; sie sind
ungeachtet des ständischen „Rekrutierungsprinzips“ (BVerfG)
nicht gesellschafts-repräsentative Vertreter, sondern Treuhänder des Allgemeinwohls, daher notwendig weisungsfrei und
unabhängig in ihrer Funktionsausübung. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG
verlangt daher auch nicht eine – ohnehin nicht erreichbare –
möglichst genaue Abbildung der Gesellschaft in den Gremien,
wohl aber zur institutionellen Absicherung der zentralen,
grundrechtlich gebotenen Aufsichtsfunktion – Sicherung der
Vielfalt im Rundfunkprogramm – eine Besetzungsregelung,
2
BVerfG, Urt. v. 4.11.1986 – 1 BvF 1/84, Rn. 155 (juris) =
BVerfGE 73, 118 (183): „Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG schützt insoweit nicht nur vor unmittelbaren Einflüssen auf Auswahl,
Inhalt und Gestaltung der Programme, sondern ebenso vor
einer Einflussnahme, welche die Programmfreiheit mittelbar
beeinträchtigen könnte“.
3
BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, Rn. 497
ff. (juris) = BVerfGE 83, 238 (332 ff.).
4
Siehe z.B. 14 SWR-StV (Rundfunkrat mit 74 Mitgliedern),
§ 20 SWR-StV (Verwaltungsrat mit 18 Mitgliedern).
5
§§ 9 f. MStV Berlin-Brandenburg: siebenköpfiger Medienrat
der MABB; §§ 41 f. MStV HSH: 14köpfiger Medienrat der
MA HSH.
6
Z.B. § 40 LMG Rhld.-Pf.: Versammlung der Landeszentrale
für Medien und Kommunikation (LMK) mit 40 Mitgliedern.
7
BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, Rn. 497
ff. (juris) = BVerfGE 83, 238 (332 ff.); siehe dazu auch Cornils, ZevKR 54 (2009), 417 (428 ff.).
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die dafür sorgt, dass die wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte
und Strömungen dort eine Stimme haben, insbesondere aber
keine „grobe Verzerrung“ der Kräfteverhältnisse in den Räten
eintritt.8
Umstritten – und in der bundesverfassungsgerichtlichen
Judikatur unterbelichtet9 – blieb vor diesem Hintergrund stets
die Legitimation staatlicher Vertreter in den Gremien. Schon
in der 1. Rundfunkentscheidung von 1961 hatte das BVerfG
eher beiläufig ausgesprochen: „Art. 5 GG hindert nicht, dass
auch Vertretern des Staates in den Organen des ‚neutralisierten‘ Trägers der Veranstaltungen ein angemessener Anteil eingeräumt wird.“10 Damit schien jedoch nur klar, dass das
BVerfG offenbar kein Konzept möglichst staatsfreier Aufsichtsgremien zugrunde legt, nicht aber wie hoch der Anteil
von Vertretern der Parlamente, Regierungen oder auch der
politischen Parteien sein darf. Als gesicherte Schranke zulässigen Staatseinflusses konnte allein das Verbot einer Beherrschung des Rundfunks durch den Staat (Gebot der Staatsferne
des Rundfunks zumindest als Beherrschungsverbot) gelten,
wobei auch insofern die Übersetzung in zahlenmäßige Höchstgrenzen einer Beteiligung (Drittelquorum, 50 %-Schwelle o.ä.)
durchaus umstritten war; dies vor allem deswegen, weil die
„Bank“ der staatlichen oder von Parteien entsandten Vertreter
nicht homogen nur von der Regierung eines Landes oder
einer politischen Partei bestimmt, sondern – bei Mehrländeranstalten (NDR, MDR, RBB, SWR, ZDF) – föderal sowie –
auch bei Einländeranstalten (WDR, BR, HR, SR, RB) – auch
parteipolitisch „gebrochen“ ist, daher aber nicht ohne weiteres
als
monolithischer
Machblock
und
-faktor
erscheint.Tatsächlich sehen alle Rundfunkgesetze der Länder
für die verschiedenen Landesrundfunkanstalten sowie das
Bundes-gesetz über die Deutsche Welle in größerem oder
kleinerem Umfang die Entsendung von Staats- und Parteienvertretern in die Aufsichtsgremien vor. Seit langem ist diese
„Durchsetzung“ der Gremien mit Staats- und Parteienvertretern Gegenstand der Kritik gewesen.11 Nicht allein über ihre
unmittelbare zahlenmäßige Stärke, sondern auch über ihren
teilweise schwer fassbaren gleichsam fraktionsbildenden Einfluss in den partei-politisch ausgerichteten „Freundeskreisen“
gelang es der „Po-litik“, in den Anstalten eine von vielen für
untragbar gehaltene machtvolle Stellung zu behaupten, vor
allem bei den Wahlen des Spitzenpersonals (Intendant, Direktoren). Namentlich die Besetzungsregelung für die Gremi8
BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, Rn. 504
(juris) = BVerfGE 83, 238 (335).
9
Auch die Entscheidungen zum niedersächsischen Landesrundfunkgesetz, BVerfG, Urt. v. 4.11.1986 – 1 BvF 1/84,
Rn. 116 (juris) = BVerfGE 73, 118 (165), und zum WDRGesetz BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88,
Rn. 492 ff. (juris) = BVerfGE 83, 238 (330), brachten insoweit
keine wirkliche Klarstellung.
10
BVerfG, Urt. v. 28.2.1961 – 2 BvG 1/60, 2 BvG 2/60,
Rn. 187 (juris) = BVerfGE 12, 205 (263).
11
Statt vieler Schmitt Glaeser, JöR 50 (2002), 169 (180 ff.);
Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,
Bd. 4/1, 2006, S. 1709; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 5 I, II Rn. 261.
en des ZDF im ZDF-Staats-vertrag wurde wegen der hier
besonders hohen Staats- und Parteienquote12 sowie der daneben noch bestehenden Bestim-mungsrechte der Ministerpräsidenten bei der Auswahl der gesellschaftlichen Vertreter13
verbreitet für verfassungswidrig gehalten.14 Aber erst der
Wirbel um die – offenkundig politisch motivierte – Nichtverlängerung des Vertrages des damaligen Chefredakteurs Brender im Verwaltungsrat im Jahr 200915 setzte schließlich eine
Entwicklung im Gang, die am Ende zu Normenkontrollanträgen zweier Länder – Rheinland-Pfalz und Hamburg – führte,
so dass das BVerfG Gelegenheit erhielt, über die Vereinbarkeit der inkriminierten Vorschriften, insbesondere der die § 21
(Fernsehrat) und § 24 (Verwaltungs-rat) ZDF-StV umsetzenden landesrechtlichen Bestimmungen, zu entscheiden. Der
Erste Senat hat diese Vorschriften im Wesentlichen antragsgemäß für mit der Verfassung unverein-bar, sie allerdings
übergangsweise bis zu der erforderlichen Neuregelung, längstens bis zum 30.6.2015, für weiterhin an-wendbar erklärt.
II. Entscheidungsgründe
Das BVerfG beschränkt sich in seiner Kritik an den eingerissenen Zuständen in der Anstaltsorganisation nicht auf das
Problem zahlenmäßiger Stärke der Staatsvertreter, auch überhaupt nicht nur auf das Thema der Staatsferne, sondern greift
in seinen Aufräumarbeiten weiter aus. Insbesondere handeln
die Entscheidungsgründe keineswegs nur vom ZDF, sondern
errichten sie vielmehr allgemeine, für alle öffentlich-rechtlichen Anstalten geltende Grundsätze. Diese befassen sich nicht
12
Der ZDF-Fernsehrat besteht aus 77 Mitgliedern. 16 werden
von den Landesregierungen bestellt, drei von der Bundesregierung, zwölf von den politischen Parteien, drei von den
kommunalen Spitzenverbänden; die aus der Addition dieser
Mitglieder (34) errechnete Staatsquote beträgt somit ca. 44 %.
Der ZDF-Verwaltungsrat hat 14 Mitglieder, davon fünf von
den Landesregierungen und ein von der Bundesregierung ernannter Vertreter; acht Mitglieder werden mit Dreifünftelmehrheit vom Fernsehrat gewählt.
13
§ 21 Abs. 3 ZDF-StV: Berufung der Verbandsvertreter (mit
Ausnahme der Kirchenvertreter) durch die Ministerpräsidenten
aus von den Verbänden eingereichten Dreier-Personalvorschlägen; § 21 Abs. 4: Berufung von 16 Mitgliedern durch die
Ministerpräsidenten aus gesellschaftlichen Bereichen gem.
§ 21 Abs. 1 lit. r ZDF-StV (z.B.: Bereiche des Erziehungsund Bildungswesens, der Wissenschaft, Kunst usw.).
14
Hahn, Die Aufsicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,
2010, S. 174 ff. m.w.N.; Huber, in: Detterbeck/Rozek/v.
Coelln (Hrsg.), FS Bethge, 2009, S. 497 (509); Schadrowski/
Stumpf, AfP 2012, 417 (419 f.); Kühling, in: Gersdorf/Paal
(Hrsg.), Informations- und Medienrecht, 2014, Art. 5 GG
Rn. 87; im Zusammenhang der Brender-Affäre Dörr, K&R
2009, 555; anders („Grenzen […] unter Berücksichtigung der
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Frage der inneren
Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch gewahrt“) Degenhart, NVwZ 2010, 877 (880).
15
Dazu etwa Degenhart, K&R 2010, 8; zu etwaigen verfassungsrechtlichen Kompetenzausübungsschranken des Verwaltungsrats Hain/Ferreau, K&R 2009, 692.
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nur mit der Wahrung der verfassungsrechtlich gebotenen
Staatsferne des Rundfunks, sondern auch mit der Stärkung des
Konstruktionsprinzips des Binnenpluralismus („Gruppenrundfunk“) schlechthin.16
1. Grundlagen
Das Urteil baut seine konkreteren Ableitungen zu den einzelnen Fragen der Gremienzusammensetzung auf Grundsatzklärungen auf, die an die im NRW-Urteil getroffenen Aussagen
zum organisatorischen Binnenpluralismus anschließen, aber
doch unverkennbar darüber hinausgehen. An den Anfang stellt
der Senat auch in dieser Entscheidung – wie wohl in allen
Rundfunkurteilen – ein Bekenntnis zur fortdauernden Bedeutung und verfassungsrechtlichen Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, nunmehr auch unter den Bedingungen der
digitalen Revolution.17
Hinsichtlich der Rolle des Staates im Rundfunk entnimmt
der Senat – in deutlichem Kontrast zu dem insoweit strengeren Sondervotum des Richters Andreas Paulus18 – der Rundfunkgewährleistung ein Gebot der Staatsferne, nicht der Staatsfreiheit: Die Senatsmehrheit fordert eine Begrenzung des
Staats- und Parteieneinflusses, nicht aber einen Zustand möglichst weitgehender Abwesenheit von staatlichen Amtsträgern
oder Parteivertretern in den Aufsichtsgremien, bleibt also in
der Traditionslinie des 1. Rundfunkurteils. Tragend dafür ist
indessen nicht die – an sich richtige – Einsicht, dass der
Rundfunk ohnehin nicht völlig staatsfrei zu denken ist, vielmehr vor allem die staatlichen Gesetzgeber gerade umgekehrt
durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG in eine anspruchsvolle „Strukturverantwortung“ für die Gewährleistung eines vielfältigen und
ausgewogenen Rundfunkprogramms genommen werden:19 Die
Verfassung gebietet in der Tat – wenn man dem BVerfG
folgt – eine intensive rechtliche, also staatliche Regulierung
des Rundfunks, der nicht einfach sich selbst und den Marktkräften überlassen bleiben darf. Bei der Mitwirkung in den
Gremien geht es jedoch um etwas anderes, nämlich darum,
dass auch die Staats- und Parteienvertreter wie diejenigen der
gesellschaftlichen Verbände zur Erfüllung der treuhänderischen Vielfaltssicherungsfunktion in den Aufsichtsgremien
beitragen können. Die staatsentsandten Rundfunk- und Verwaltungsratsmitglieder treten in ihrer Aufsichtsfunktion gerade
nicht mit spezifisch hoheitlichen Befugnissen in ihrer staatlichen Funktion in Erscheinung, sondern nur – in prinzipiell
gleicher Rolle wie die Verbandsvertreter – als Wächter über
16
Siehe dazu ausführlicher meine Besprechung des Urteils
Cornils, K&R 2014, 386.
17
BVerfG, Urt. v. 25.3. 2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11,
Rn. 34 (juris); ausführlicher dazu aber auch schon BVerfG,
Urt. v. 11.9.2007 – 1 BvR 2270/05, 1 BvR 809/06, 1 BvR
830/06 = BVerfGE 119, 181 (214 ff. – Zweites Gebührenurteil).
18
Sondervotum Paulus, BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF
1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 119 (juris).
19
So aber BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF
4/11, Rn. 40 ff. (juris); kritisch zu dieser vom BVerfG offenbar unterstützend gemeinten Begründung der Staatsbeteiligung
in den Gremien Cornils, K&R 2014, 386 (389 f.).
die Vielfalt, insbesondere mit Blick auf Inhalte und Meinungen, die nicht ohnehin schon eine verbandlich organisierte
„Vertretung“ in den Gremien haben. Deswegen ist, auf die
Rundfunkgremien bezogen, die Staatsferne auch keine abwehrrechtliche Grundrechtsschutzwirkung spezifisch gegen den
Staat, sondern nur ein Unterfall des ebenso auch gegen eine
einseitige Dominanz gesellschaftlicher Gruppen wirkenden
Vielfaltssicherungsgebots als des zentralen objektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalts der Rundfunkfreiheit.20 Sie
drängt damit positiv auf eine möglichst pluralistische Programmgestaltung und entsprechende organisatorische Sicherungen und verbürgt negativ ein Verbot politischer Instrumentalisierung des Rundfunks.21 Aus dieser Sicht ist der Staat
(und sind die Parteien) einerseits Gefährder der Vielfalt,
andererseits aber bei Einhaltung eines richtigen Maßes ihrer
Mitwirkung auch wiederum Hüter der Vielfalt im binnenpluralistischen Spektrum der organisierten Programmaufsicht
– nicht anders als andere, „gesellschaftliche“ Akteure.
Auch aus dieser gleichsam staatsunspezifischen Sicht auf
die Funktionsbedingungen gelingender binnenpluralistischer
Vielfaltssicherung erscheint es allerdings zwingend, die Beteiligung von bestimmten – insbesondere auch „staatlichen“
oder parteipolitischen – Interessen zurechenbaren Mitgliedern
in den Gremien zahlenmäßig zu begrenzen. Erlangten einzelnen Kräfte und Lager – namentlich die auf Erwerb staatlicher
Macht im politischen Wettbewerb der Parteien zielende Politik
– in den Gremien dominante Einflusspositionen, schlüge die
– durchaus positiv bewertete – vielfaltssichernde Mitwirkung
der Vertreter dieser Gruppen in eine Gefährdung der Vielfalt
um und wäre das Konzept der sich wechselseitig domestizierenden Vielfaltskontrolleure im Kern ausgehebelt. Aus dieser
Einsicht entwickelt das BVerfG sechs spezifizierte Anforderungen an eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Gremienzusammensetzung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk –
keineswegs nur beim ZDF. Diese Vorgaben zielen nur zum
Teil auf die Regelung der Mitwirkung von Gremienmitgliedern, die vom Staat oder politischen Parteien entsandt werden
(„Staatsbank“), erfassen im Übrigen aber (auch) die Benennung und Rolle der Verbandsvertreter; auch hier wird also
der über das engere Thema der Staatsferne hinausreichende
Reformansatz des Urteils sichtbar.
20
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 39
(juris): „Ausfluss aus dem Gebot der Vielfaltssicherung“,
Rn. 54: „Das Gebot der Staatsferne knüpft nicht an die grundsätzliche Unterscheidung zwischen privater Freiheit und staatlicher Bindungen an“.
21
Die beiden in der Begründung nebeneinander gestellten
Gehalte der Pluralitätssicherung und des Verbots politischer
Instrumentalisierung sind in diesem Sinne wohl tatsächlich
eng miteinander verschränkt. Das Instrumentalisierungsverbot
erscheint als Bekräftigung eines negativen Teilaspekts des
allgemeineren Pluralismusprinzips: Ein politisch (oder eben
auch sonst wie) instrumentalisierter Rundfunk ist eben kein
offener, pluralistischer Rundfunk mehr.
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2. Sechs verfassungsrechtliche Vorgaben
a) „Staatsbank“: Drittelschwelle
Das BVerfG leitet aus Art. 5 Abs. 1 S. 2GG dezisionistisch
eine Obergrenze von einem Drittel von dem Staat zurechenbaren Mitgliedern in beiden Gremien – Rundfunk- und Verwaltungsrat – ab. Jedem Mitglied der „Staatsbank“ sollen
jedenfalls zwei staatsferne Mitglieder gegenüber stehen.22 Natürlich sind quantitative Grenzfestlegungen als Ableitung aus
grundrechtlichen Schutzwirkungen immer angreifbar. Und
vor allem beim Verwaltungsrat hätten sich auch andere Wege
einer Eindämmung des Staatseinflusses auf das Rundfunkprogramm denken lassen, insbesondere die weitgehende Eingrenzung unmittelbar oder mittelbar programmrelevanter Befugnisse – freilich um den Preis dann erheblicher Funktionseinbußen des Organs Verwaltungsrats. Die auf alle Organe,
im Übrigen auch auf die praktisch wichtigen Ausschüsse in
den Gremien bezogene Drittelschwelle hat aber doch immerhin den Vorteil der Rechtssicherheit und Eindeutigkeit für
sich – von Grenzfragen der Zurechnung von Mitgliedern zur
„Staatsbank“ abgesehen. Sie ist auch eine seit langem diskutierte,23 insofern nicht überraschende, insgesamt plausible
Grenzbestimmung, die sich zudem auch auf das Vorbild des
Art. 111a Abs. 2 S. 3 der bayerischen Landesverfassung stützen kann.
b) Zurechnung zur „Staatsbank“
Für die Identifikation der der Staatsbank zuzurechnenden
Mitglieder legt das BVerfG eine „funktionale Betrachtungsweise“ zugrunde. Maßgeblich ist danach, „ob es sich um eine
Person handelt, die staatlich-politische Entscheidungsmacht
innehat oder im Wettbewerb um ein hierauf gerichtetes öffentliches Amt oder Mandat steht und insoweit in besonderer
Weise auf die Zustimmung einer breiteren Öffentlichkeit verwiesen ist.“24 Nicht jeder Staatsdiener ist erfasst, wohl aber
diejenigen, „die mit einem allgemeinen Mandat in einem
öffentlichen Amt politische Verantwortung tragen, soweit sie
ein Interesse an der Instrumentalisierung des Rundfunks für
ihre Zwecke der Machtgewinnung oder des Machterhalts haben können“.25 Das sind dem BVerfG zufolge jedenfalls
Regierungsmitglieder, Abgeordnete, politische Beamte, Wahlbeamte in Leitungsfunktion, insbesondere Bürgermeister und
Landräte. Funktionsträger von Hochschulen, aus der Richterschaft und der funktionalen Selbstverwaltung gehören hingegen nicht dazu, weil sie typischerweise nur einen gegenständlich begrenzten Aufgabenbereich haben und nicht im politischen Wettbewerb stehen. Wohl aber führt die funktionale
Betrachtungsweise zur Einberechnung der von politischen
Parteien entsandten Mitglieder, insofern Parteien schon be22
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 55
(juris).
23
Degenhart, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1
und 2 Rn. 773: „dürfte sachgerecht sein“.
24
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 58
(juris).
25
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 59
(juris).
griffsnotwendig auf die Erlangung staatlicher Macht gerichtet
sind.26
c) Gebot „vielfältiger Brechung“
Das BVerfG begnügt sich nicht mit der Einführung von Beteiligungsobergrenzen, trachtet vielmehr auch nach qualitativer Belebung der Binnenpluralität der Aufsichtsgremien – sowohl in der Staats- als auch in der Gesellschafts- (oder: Verbände-)Bank. Was die Staatsbank angeht, ließe sich ohne solche Sicherung interner Heterogenität auch wohl schon kaum
die Drittelschwelle als immerhin recht großzügige Abmessung
maximaler Gruppenstärke halten. Als gleichgerichtete Einheit
begriffen wäre ein solcher Block um ein Vielfaches gewichtiger als alle anderen „Vertretungen“ gesellschaftlicher Kräfte
und damit allemal problematisch. Erst die – rechtlich zu sichernde – „Brechung“ des Staats- und Parteieneinflusses27
macht die immer noch stattliche Beteiligung staatlicher und
staatsnaher Mitglieder erträglich – dann aber auch fast unausweichlich: „Möglichst vielfältige“ Abbildung der parteipolitischen und föderalen Strömungen unter Einschluss gerade
auch der kleineren Parteien, dazu womöglich auch noch unterschiedlicher funktionaler Ebenen der Staatsgewalt (Bund,
Länder, Kommunen: „funktionale Brechung“) – und das ist
es, was das BVerfG nunmehr fordert28 – ist ohne eine erhebliche Anzahl von Mitgliedern eben nicht zu haben. Die auf
den ersten Blick irritierende Großzügigkeit der Senatsmehrheit
erscheint daher auch den zweiten Blick doch auch wieder als
Konsequenz der eigenen Konzeption möglichst ausgefächerter
und insofern optimierter organisatorischer Vielfalt. Gerade in
dieser Hinsicht der Perfektionierung und Optimierung des
Binnenpluralismus geht der Senat indessen deutlich über die
viel bescheideneren Rahmensetzungen des NRW-Urteils von
1991 (Grenze „grober Verzerrung“) hinaus.
Freilich hängen die Realisierungschancen des Brechungsgebots entscheidend von der Gesamtgröße des Gremiums ab:
Ein kleiner Rundfunkrat bietet im Korsett der Drittelschwelle
schlicht keine Manövriermasse für vielfältige Brechungen der
Staatsbank. Gerade hinsichtlich der Dimensionierung der Räte
gewährt das BVerfG dem Gesetzgeber aber einen Spielraum,
der als solcher nicht weiter verfassungsrechtlich eingegrenzt
wird.29 Damit liegt es in der Hand des Gesetzgebers, die entscheidende Ausgangsgröße für die relative Schärfe der Forderung nach pluraler Brechung selbst zu setzen. Das Optimierungsgebot möglichst vielfältiger Brechung greift immer nur
26
So auch schon Degenhart (Fn. 23), Art. 5 Abs. 1 und 2
Rn. 773; siehe zur „Staatsnähe“ der Parteien aus rundfunkverfassungsrechtlicher Sicht auch BVerfGE 121, 30 – Beteiligung politischer Parteien an Rundfunkunternehmen; krit.
dazu Cornils, ZJS 2009, 465.
27
Zum Brechungsargument schon BayVerfGH NJW 1990,
311 (313); ThürVerfGH, Urt. v. 19.6.1998 – VerfGH 10/96,
Rn. 90 ff. (juris); Radeck, in: Flechsig (Hrsg.), SWR-Staatsvertrag, 1997, § 14 Rn. 14.
28
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 62
(juris).
29
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 63
(juris).
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relativ auf die Rahmenbedingung der Größe des Gremiums,
unterliegt gerade insoweit aber der Gestaltungsmacht des
Gesetzgebers; darin mag man eine Schwachstelle des bundesverfassungsgerichtlichen Entwurfs sehen. Die jüngst bekannt
gewordenen Überlegungen zur Verkleinerung des ZDF-Fernsehrats auf nur noch 60 Mitglieder machen von dieser Option
denn auch ziemlich ungerührt Gebrauch. „Viel Raum für
kleine Parteien bleibt da nicht“30 – damit aber eben auch
nicht für das ambitionierte Brechungskonzept des BVerfG.
d) Staatsferne und dynamisierter Pluralismus in der „Gesellschaftsbank“
Zentrale Bedeutung haben im ZDF-Urteil die nunmehr aufgestellten Grundsätze zur Sicherung der Staatsferne und Binnenpluralität der von den Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen entsandten Mitglieder. Insoweit geht es im genaueren um
drei Forderungen:
Das Staatsfernegebot verlangt zunächst, dass sich „die
Exekutive“ – die Beschränkung auf diese Staatsfunktion ist
bemerkenswert – jeglicher bestimmenden Einflussnahme auf
die Auswahl der Mitglieder der Gesellschaftsbank enthält.31
Sonst fänden die Staatsvertreter hier – wie in der Vergangenheit vielfach zu beobachten – gleichsam natürliche Verbündete. Die eigenartigen, so allerdings im Vergleich mit den anderen Anstalten auch einzigartigen Auswahlrechte der Ministerpräsidenten im ZDF-StV konnten daher vor der Verfassung
keinen Bestand haben. In voller Schärfe – Unvereinbarkeit
mit der Verfassung – hat das BVerfG diesen Schluss freilich
nur für die Regelung des § 21 Abs. 1 lit. r ZDF-StV gezogen,
also für das Benennungsrecht der Länderregierungschefs hinsichtlich der Mitglieder aus den „gesellschaftlichen Bereichen“.32 Für das Auswahlrecht der Ministerpräsidenten aus
den Dreiervorschlägen der gesellschaftlichen Verbände hält
das BVerfG hingegen immerhin noch eine verfassungskonforme Auslegung für möglich: Eine solche Auswahl darf nur,
aber immerhin aus „besonderem rechtlichem Grund“ von der
Reihung des Vorschlags abweichen.33
Vergleichbare, aus der Staatsferne motivierte Schutzzwecke verfolgen die nunmehr recht streng, strenger als in jedem
existierenden Anstaltsgesetz formulierten Inkompatibilitätsanforderungen: Danach ist von Verfassungs wegen vorzusehen, dass die von den entsendeberechtigten Stellen entsandten
Mitglieder kein Staatsamt im Sinne der Zurechnungskriterien
für die Staatsbank (s.o.) bekleiden, darüber hinaus aber auch
nicht in herausgehobener Funktion für eine politische Partei
Verantwortung tragen.34 Das BVerfG hält dem Gesetzgeber
Definitionsspielraum in der Frage offen, welche Partei-ämter
unter diese Formel fallen, gibt aber zu erkennen, dass die
Grenze etwa auf der „Kreis- oder Bezirksebene“ gezogen werden könne.35 Die Gefahr der „Unterwanderung“ der Gesellschaftsbank mit ehemaligen Amtsträgern, verdienten Ex-Ministern, Staatssekretären, hohen Parteifunktionären usw. lässt
sich mit auf die aktuelle Amtsträgerschaft bezogenen Inkompatibilitäten naturgemäß nicht bändigen; insoweit bringt das
BVerfG die Möglichkeit weitergehender gesetzlicher Vorkehrungen, etwa von Karenz-Vorschriften ins Spiel, ohne sie
aber verbindlich vorzugeben.
Reformbedarf für fast alle Rundfunkanstalten – mit wahrscheinlicher Ausnahme des MDR, der ein den Vorstellungen
des BVerfG wohl entsprechendes Konzept schon verwirklicht
hat (§ 19 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 16 MDR-StV) – wirft die
dritte Vorgabe an die Ausgestaltung der Gesellschaftsbank auf.
Hier geht es nicht mehr um die Staatsferne, sondern um die
optimierte wirklichkeitsadäquate Vielfaltsrepräsentation.36 Die
schon bei der Staatsbank sichtbar gewordene Schärfung der
Binnenpluralismus-Maßstäbe schlägt jetzt auch auf die Gesellschaftsbank durch: „Die gesetzlichen Regelungen zur Auswahl
und Bestellung der staatsfernen Mitglieder müssen sich an
dem Ziel der Vielfaltsicherung ausrichten. Hierbei ist den Gefahren einer Dominanz von Mehrheitsperspektiven und einer
Versteinerung der Zusammensetzung der Gremien entgegenzuwirken.“37 Hieraus leitet das BVerfG einen Auftrag an den
Gesetzgeber ab, eine geeignete Form der Dynamisierung
hinsichtlich der Bestimmung der entsendeberechtigten Verbände oder sonstigen Vertreter der Zivilgesellschaft vorzusehen. Es dürfen nicht immer dieselben etablierten Großverbände im Rundfunk das Sagen haben. Die „Vertretung der
Gesellschaft“ darf nicht zum Kartell einiger Meinungsführer
erstarren, muss vielmehr auch für andere und neue Stimmen
offen und aufnahmefähig gehalten werden. Wie das umzusetzen ist, steht verfassungsrechtlich auch nach dem 25.3.2014
nicht fest. Der Senat nennt wohl mit Blick auf die genannte
Regelung im MDR-StV beispielhaft die Möglichkeit eines
Bewerbungsverfahrens um Entsenderechte, verpflichtet den
Rundfunkgesetzgeber aber nicht auf dieses Modell. Überhaupt
ist zweifelhaft, wie scharfkantig und justitiabel diese Dynamisierungsanforderung wirklich gemeint ist: Die nun zu beobachtende Verfeinerung der Pluralismusanforderungen passt
auch hier (wie schon bei den Brechungspostulaten zur Staatsbank) nicht recht zu der doch gerade nicht auf einer Vorstel34
30
Ehrenberg/Huber, Tagesspiegel vom 13.6.2014,
http://www.tagesspiegel.de/medien/politische-einflussnahmebeim-umbau-des-zdf-fernsehrates-sollen-spd-und-cdu-nichtunter-sich-sein/10041348.html.
31
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 66
(juris).
32
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 94
f. (juris).
33
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 93
(juris).
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 75
ff. (juris).
35
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 79
(juris).
36
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 69
(juris): „Die institutionelle Ausgestaltung muss darauf abzielen, dass die Mitglieder möglichst verschiedenartige Sichtweisen, Erfahrungen und Wirklichkeitsdeutungen in den Rundfunkanstalten einbringen können und damit ein facettenreiches Bild des Gemeinwesens ergeben“.
37
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 72
(juris).
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BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11
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lung möglichst exakter Interessenvertretung beruhenden, vielmehr nur die Vermeidung grober Einseitigkeiten fordernden
Leitidee für die Zusammensetzung der „Aufsicht der Gesellschaft“ über den Rundfunk.38 Sie lässt sich überdies auch hier
wieder mit einer Verkürzung der Kopfzahl der Gremien per
Federstrich des Gesetzgebers weitgehend aushebeln: Bei nur
wenigen Ratssitzen ist für eine rotierende Durchmischung
und programmbelebende „bunte Vögel“ in den Räten einfach
kaum Spielraum.
e) Sicherung der persönlichen Unabhängigkeit
Die fünfte Forderung des BVerfG zielt auf die Stärkung der
persönlichen Unabhängigkeit der Gremienmitglieder, insbesondere auch auf die Ertüchtigung ihrer Widerstandsfähigkeit
gegen die Anfechtungen parteipolitischer Vereinnahmung. Daher gilt nun: „Für alle Mitglieder der Aufsichtsgremien der
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – sowohl die staatlichen und staatsnahen als auch die staatsfernen Mitglieder –
bedarf es einer hinreichenden Absicherung ihrer persönlichen
Rechtsstellung zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit bei
der Aufgabenwahrnehmung.“39 Konkret bedeutet dies, dass das
in den Rundfunkgesetzen regelmäßig vorgesehene Abberufungsrecht der entsendungsberechtigten Stellen auf eine Abberufung aus wichtigem Grund beschränkt werden muss –
eine Einschränkung, die zwar die meisten anderen Anstaltsgesetze, nicht aber der ZDF-StV bisher vorsehen. Das BVerfG
definiert nicht, was „wichtige Gründe“ sind, lässt aber erkennen, dass ein Ausscheiden des Vertreters aus dem entsendungsberechtigten Verband40 verfassungsrechtlich jedenfalls akzeptabel ist. Zudem findet sich im Urteil ein Hinweis darauf,
dass die Gesetzgeber es insoweit auch bei einer generalklauselartigen Bedingung – eben dem „wichtigen Grund“ – belassen
können.41
f) Transparenz
Schließlich mahnt das BVerfG mehr Transparenz in den
Gremien42 an. Diese Forderung reagiert auf die in der Praxis
sichtbar gewordene Undurchsichtigkeit der Auswahl-, Gruppenbildungs- und Aushandlungsprozesse in den Rundfunkanstalten. Das Licht der Öffentlichkeit kann dafür sorgen, dass
38
Das BVerfG sieht diese Spannung selbst, wenn es postwendend nach der Formulierung der gesetzgeberischen Pflicht
zur möglichst vielfältigen Abbildung der Gesellschaft auf die
Aussichtslosigkeit jeder Bemühung um möglichst realitätsgerechte Repräsentation – und von da aus in den „weiten Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers verweist, BVerfG, Urt.
v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 70 f. (juris).
39
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 80
(juris).
40
Darauf beschränktes Abberufungsrecht in § 15 Abs. 10 S. 1
WDR-Gesetz; § 19 Abs. 4 MDR-StV; weitergehend z.B. § 6
Abs. 2 HR-G: Ausscheiden ex lege mit Ausscheiden aus der
entsendenden Organisation.
41
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 98
(juris).
42
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 78
ff. (juris).
das Geflecht informeller Bündnisse und Absprachen – meist
unter Führung machtbewusster oder integrationsstarker Politiker – weniger gut gedeiht. So, das ist jedenfalls die Hoffnung
des BVerfG, sekundiert Transparenz auch der Unabhängigkeit der Gremiumsmitglieder, stärkt deren Selbst- und Rollenbewusstsein als unabhängige Vielfaltswächter.
Freilich übersieht das BVerfG nicht die Erfordernisse der
Vertraulichkeit und des Geheimnisschutzes, gerade bei journalistischer Arbeit (Quellenschutz, Redaktionsgeheimnis!) und
im Umgang mit den Arbeitsverträgen der Mitarbeiter. Kompromisshaftes Ergebnis dieser Güterkollision ist die Forderung nur nach einem „Mindestmaß an Transparenz“ hinsichtlich der Organisationsstrukturen und Zusammensetzung, der
Tagesordnung und „dem Grundsatz nach“ auch der Sitzungsprotokolle.43 Sitzungsöffentlichkeit in den Gremien ist verfassungsrechtlich nicht zwingend geboten; allerdings muss
eine dafür oder dagegen ausfallende Entscheidung vom Gesetzgeber selbst getroffen, darf also nicht einfach auf die
Ebene des Satzungsrechts oder der Geschäftsordnung abgeschoben werden.
III. Ausblick
Das 14. Rundfunkurteil beantwortet nicht alle Fragen zu den
verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Gremienzusammensetzung in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, wirft
in seinen unschärferen Passagen sogar eher neue Fragen auf,
die in tastendem und zunächst durchaus experimentellem Zugriff der nunmehr zur Novellierung aufgerufenen Gesetzgeber einer Lösung näher gebracht werden müssen, etwa hinsichtlich der Bewältigung der Forderungen nach mehr Dynamik bei den Entsenderechten und mehr Transparenz. Dass das
BVerfG in verschiedenen Zusammenhängen des Urteils gesetzesvertretend-definitive Festlegungen vermieden, den Ball
vielmehr an den Gesetzgeber zurückgegeben und diesen seiner verbleibenden Gestaltungsspielräume versichert hat, ist
grundsätzlich eine gute Eigenschaft der Entscheidung. Irgendetwas sollte auch im Bereich des Rundfunks noch demokratisch zu entscheiden und nicht schon aus Art. 5 Abs. 1 S. 2
GG bis ins Letzte vorentschieden sein. Das gilt gerade auch
für das genuin politische Rundfunkorganisationsrecht. Insofern
wahrt das Urteil eine vernünftige Balance zwischen verfassungsgerichtlicher Anleitung und gesetzgeberischem Gestaltungsmandat, auch wenn die damit verbundenen Grauzonen
an den Spielraumgrenzen Stoff für juristische Diskussionen
liefern und vielleicht auch noch einmal eine Folgeentscheidung
des BVerfG zur Korrektur von Umsetzungs-Fehlversuchen in
den demnächst novellierten Gesetzen herausfordern können.
Manche etwas idealistisch anmutende Reformvorstellung
des BVerfG (Postulat vielfältiger Brechung, Optimierung pluraler Zusammensetzung in der Gesellschaftsbank, Transparenz) wird wohl auch in der harten Wirklichkeit der positiven
Rundfunkgesetze eher nur in glanzloserer Rudimentärgestalt
ankommen, ohne dass dem verfassungsrechtlich definitiv
etwas entgegenzuhalten wäre: Wie schon bemerkt, hängt die
eingeforderte verbesserte Binnenpluralität der Gremien we43
BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 85
(juris).
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ZJS 4/2014
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sentlich von deren Gesamtgröße ab, steht damit aber doch ein
erhebliches Stück weit zur Disposition der Gesetzgeber. Und
sie steht, wie gleichfalls schon angedeutet, in ihrer nunmehr
gegenüber der früheren Rechtsprechung geschärften Ausprägung auch in einer gewissen Spannung zum pragmatischen
Grundgedanken des organisatorischen Binnenpluralismus, dem
es gerade nicht um möglichst feine und elaborierte Interessenvertretung, sondern nur um die Verhinderung grober Ungleichgewichte ging. Auch das wirft Fragen auf, wie ernst die
Forderung nach möglichst viel Pluralität in der Zusammensetzung der Gremien wirklich gemeint sein kann.
Das Urteil verlangt nicht nur von den 16 an der Gemeinschaftsanstalt ZDF beteiligten Ländern binnen knapp bemessener Frist (30.6.2015) die Reparatur der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften nach Maßgabe der nun aufgestellten
Grundsätze.44 Die Länder (und der Bund für das DW-Gesetz)
müssen darüber hinaus auch die Staatsverträge und Gesetze
über die ARD-Anstalten auf ihre Prüf- und Reformagenda
setzen. Auch wenn diese Gesetze überwiegend nicht in gleichem Maße an den hinsichtlich des ZDF-StV festgestellten
Mängeln kranken, erscheint es doch schon jetzt sicher, dass
keine Anstaltsverfassung in jeder Hinsicht mit den Vorgaben
des BVerfG vereinbar ist. Diese Differenzen betreffen teilweise die Einhaltung der Drittelschwelle (insbesondere auch
in den Ausschüssen45), vor allem aber die Regelung der Inkompatibilitäten, die sich entgegen der bisherigen Praxis nunmehr auch auf höhere Parteiämter erstrecken muss, die geforderte Dynamisierung der Entsendeberechtigung sowie die in
den Grundsätzen (etwa hinsichtlich der Sitzungsöffentlichkeit)
vom Gesetzgeber selbst zu treffenden Regelungen hinsichtlich
der Transparenz, in Einzelfällen wohl auch das Abberufungsrecht der entsendeberechtigten Stellen.
Gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG entfalten die Urteile des
BVerfG Bindungswirkung auch gegenüber nicht verfahrensbeteiligten Verfassungsorganen, Gerichten und Behörden. Dies
gilt nach der – freilich umstrittenen – Rechtsprechung des
BVerfG auch für die tragenden Gründe der Entscheidung.
Die hier referierten verfassungsrechtlichen Anforderungen,
namentlich das sechsteilige Vorgabenbündel für eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Gremien, sind für die Tenorierung des ZDF-Normkontrollurteils tragend und daher für
die Landesgesetzgeber auch außerhalb des Verfahrensgegenstandes und der Reichweite der Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2
BVerfGG) des Normenkontrollurteils bindend.46 Zwar bezieht
sich die Weitergeltungsanordnung mit Fristsetzung – Vollstreckungsanordnung des BVerfG – unmittelbar nur auf die
Transformationsgesetze zum ZDF-StV, nicht also auf die
ARD-Anstalten-Gesetze. Gleichwohl lässt sich aus dieser
sehr kurzen Frist doch die Orientierung gewinnen, dass die
Novellierungsarbeiten auch insoweit keine sehr lange Zeit in
Anspruch nehmen dürfen: Bindung bedeutet Pflicht zur zumutbaren Beachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung nach Maßgabe dessen, was der Bindungsadressat
funktionell-rechtlich zu leisten imstande ist.47 Was für die
Gesetzgeber im Hinblick auf den schweren Problemfall ZDF
– auch in zeitlicher Hinsicht – angemessen ist, kann für die
anderen, eher leichteren Fälle der ARD-Anstalten kaum unangemessen sein.
Prof. Dr. Matthias Cornils, Mainz
44
§ 21 Abs. 1 ZDF-StV: Fernsehrat, Zusammensetzung, Entsenderechte; § 21 Abs. 4 ZDF-StV: Fernsehrat, Berufungsrecht der Ministerpräsidenten zu Abs. 1 lit. r; § 21 Abs. 10
S. 2 ZDF-StV: Fernsehrat, Abberufungsrecht der entsendeberechtigten Stellen; § 24 Abs. 1 ZDF-StV: Verwaltungsrat,
Zusammensetzung; § 24 Abs. 3 S. 2 Alt. 1 ZDF-StV: Verwaltungsrat, Abberufungsrecht der entsendeberechtigten Stellen.
45
Insoweit reicht nach den Aussagen des BVerfG indessen
wohl eine Regelung auf Geschäftsordnungs- oder Satzungsebene aus, BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF
4/11, Rn. 56 (juris).
46
Vgl. zur Bindung nicht verfahrensbeteiligter Gesetzgeber
BVerfGE 90, 60 (105).
47
Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 43. Lfg. Stand: Februar 2014 § 31
Rn. 121.
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Entscheidungsanmerkung
Versuchter Mord aus Heimtücke – „Schuss durchs Fenster der Beifahrertür“
1. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten
mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren
oder doch erheblichen Angriff rechnet (nichtamtlicher
Leitsatz).
2. Voraussetzung einer heimtückischen Begehungsweise
ist weiter, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und
Wehrlosigkeit bewusst zur Tatbegehung ausnutzt. Dabei
ist für die bewusste Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers grundsätzlich auf die Lage zu Beginn des
ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs und damit
den Eintritt der Tat in das Versuchsstadium abzustellen
(nichtamtlicher Leitsatz).
weigert daher die Aufforderung, die Tür zu öffnen. T erkennt
nun, dass sie den O auch nicht unter Vorhalt einer Waffe zu
einem Gespräch zwingen kann. Sie fasst daher endgültig den
Entschluss, den O zu töten. T drückt den Abzug, wobei sich
zu ihrer Überraschung kein Schuss löst. Nachdem sie ihren
Irrtum bemerkt hat, lädt sie die Waffe durch, mit der Folge,
dass O Angst bekommt. Er startet den Motor und flieht, indem
er das Fahrzeug vom Beifahrersitz aus steuert. T gibt weitere
vier Schüsse auf den davonfahrenden Wagen ab, wobei drei
Projektile das Fahrzeug aus einer Entfernung von 20-30 m
treffen. Dabei erkennt T, dass die Schüsse auch für die anderen Fahrzeuginsassen potentiell lebensgefährlich sind und
nimmt ihren Tod billigend in Kauf.
I. Der Sachverhalt
T verliebt sich in ihren Fahrschullehrer O. Trotz zahlreicher
Zurückweisungen lässt sie nicht locker und versucht, sich mit
O zu verabreden. O hat jedoch kein Interesse an der T, geht
ihr daher aus dem Weg und verweigert jeden Kontakt. Aus
diesem Grund ist T verzweifelt, fühlt sich gekränkt und in
ihrem Stolz verletzt. Als T sieht, wie O in seinem Fahrschulwagen hinter einem Motorradschüler herfährt, holt sie ihre
nebst Munition erworbene Pistole, führt das Magazin ein und
begibt sich zu der als Motorradabstellplatz genutzten Garage.
Dort wartet sie ab, bis O eintrifft. Sie plant, den O unter Vorhalt der Pistole zu einem Gespräch zu zwingen. Sollte er sich
erneut verweigern, so plant sie, ihn zu erschießen. Während
O das Motorrad in die Garage bringt, kommt es zwischen T
und O zu einem kurzen Gespräch, in dessen Verlauf der O
die T erneut abweist. O begibt sich daraufhin zu seinem Fahrschulwagen und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Am
Steuer sitzt eine Fahrschülerin, auf dem Rücksitz hat der
Motorradschüler Platz genommen. Daraufhin holt T die mitgebrachte Pistole aus ihrem Fahrzeug und steckt diese am
Rücken in den Hosenbund. Am Fahrschulwagen ergreift T
die Waffe und richtet diese durch das geöffnete Beifahrerfenster auf O. Sie fordert O auf, die Tür zu öffnen und erklärt,
dass sonst „etwas Böses“ geschehen werde. Dabei hält T die
Waffe irrtümlich für schussbereit. Tatsächlich hat T aber vergessen, den Schlitten der Pistole durchzuziehen, so dass sich
noch keine Kugel im Lauf befindet. O hingegen hält die Pistole wiederum irrtümlich für eine Spielzeugpistole und ver-
II. Einführung in die Problematik
Das zu § 211 StGB ergangene Urteil behandelt ein Problem
aus dem Bereich der Heimtücke. Hier geht es allein um die
Frage, ob der „Schuss“ durch das Fenster der Beifahrertür als
versuchter Mord aus Heimtücke zu werten ist.
Konkret spitzt sich die Problematik auf die Frage zu, bis
zu welchem Zeitpunkt das potentielle Mordopfer arglos sein
muss, damit der Täter heimtückisch handelt. Schwierigkeiten
bereitet der Fall vor allem deswegen, weil man die jeweiligen
Irrtümer bei der rechtlichen Bewertung nicht aus den Augen
verlieren darf: den anfänglichen Irrtum des O darüber, dass es
sich nicht um eine Spielzeugpistole handelt sowie den darauf
bezogenen Irrtum der T, die diesen Irrtum des O wiederum
nicht erkennt.
Die Entscheidung kann zum Anlass genommen werden,
die Voraussetzungen der Heimtücke im Rahmen des Mordtatbestandes gem. § 211 StGB kurz zu wiederholen. § 211
dient, wie die Strafbestimmung des Totschlags, dem Schutz
des menschlichen Lebens. Der Täter des § 211 muss zunächst
die tatbestandlichen Voraussetzungen des Totschlags erfüllen.
Darüber hinaus ist die Verwirklichung eines der in § 211
Abs. 2 aufgeführten Mordmerkmale erforderlich. Daher stehen die Tötungsdelikte nicht – wie nach Ansicht der Rechtsprechung – in einem qualitativen „Entweder-Oder-Verhältnis“, sondern sind durch ein quantitatives „Mehr-oder-Weniger-Verhältnis“ charakterisiert.2 Der Mord ist daher eine
Qualifikation des Totschlags.
Das Gesetz differenziert zwischen besonderen Beweggründen des Täters, der Art und Weise der Tatausführung und den
mit der Tat verfolgten Zwecken.3 Das Mordmerkmal der
Heimtücke ist ein tatbezogenes objektives Mordmerkmale der
zweiten Gruppe und damit gekennzeichnet durch eine besonders verwerfliche Begehungsweise der Tötung. Die spezifische Gefährlichkeit dieser Ausführungsart der Tötung besteht
darin, dass der tückisch überraschend vorgehende Täter dem
arglosen Opfer Selbstschutzmöglichkeiten – Abwehr- und
Verteidigungschancen – entzieht, die es sonst gehabt hätte.
1
2
StGB §§ 211, 212, 22
BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/141
Die Entscheidung ist abrufbar unter:
http://www.juris.de/jportal/portal/page/jurisw.psml/t/qdq?doc
.hl=1&doc.id=JURE140010361&documentnumber=1&numb
erofre¬sults=1&showdoccase=1&doc.part=L&paramfromHL
=true&action=portlets.jw.CopySessionState&fromPsml=null
#focuspoint.
Vgl. dazu Jäger, Examens-Repetitorium, Strafrecht Besonderer Teil, 5. Aufl. 2013, Rn. 6 ff.; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 37. Aufl. 2013, Rn. 69 ff.
3
Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos
Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 211
Rn. 4.
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BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14
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Der Abwehrmechanismus, der bei einem argwöhnischen Opfer
bestünde, würde ausgehebelt.4
Heimtücke ist das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers.5 Arglos ist, wer sich zum Zeitpunkt der
Tat keines Angriffs vonseiten des Täters versieht. Der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem das Opfer noch arglos gewesen
sein muss, ist der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs, d.h. der Eintritt der Tat in das Versuchsstadium.6 Schöpft das Opfer noch vor Versuchsbeginn Argwohn, so entfällt die Arglosigkeit.7 Grundsätzlich entfällt die
Arglosigkeit, wenn das Opfer mit einem Angriff auf sein
Leben rechnet, weil der Täter dies zuvor angekündigt hat.
Allerdings reicht hierfür nicht jede Äußerung aus, sondern es
kommt auf den Zeitpunkt und die Intensität der Ankündigung
an. Indes werden auch Ausnahmen von dem Erfordernis der
zeitlichen Koinzidenz von der Arglosigkeit und dem Beginn
des Tötungsversuchs gemacht. Dies gilt insbesondere dann,
wenn der Täter das Opfer in einen Hinterhalt gelockt hat, um
eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen.8
Wehrlos ist das Opfer, dessen Abwehrmöglichkeiten infolge seiner Arglosigkeit erheblich eingeschränkt sind.9 Nicht
erforderlich ist, dass es schlechthin schutzunfähig ist. Die
Wehrlosigkeit muss dabei auf der Arglosigkeit beruhen.10
Schließlich muss der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit
des Opfers bewusst zur Tötung ausgenutzt haben. Voraussetzung hierfür ist das Erkennen der Tatsituation in dem Sinne,
dass dem Täter bewusst ist, einen durch Ahnungslosigkeit
gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen.11 Insoweit werden spontan agierende Täter bessergestellt, weil sie nicht in der Lage waren, die äußeren Rahmenbedingungen der Tat in ihrem Bedeutungsgehalt für die Lage
des Opfers zu realisieren.12 Maßgeblich ist auch hier der
Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs.
Häufig wird die Definition der Heimtücke um die Einschränkung ergänzt, dass die Tötung in feindlicher Willensrichtung erfolgen muss.13
4
Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 144;
Küper, Strafrecht, Besonderer Teil, Definitionen mit Erläuterungen, 8. Aufl. 2012, S. 193.
5
Kaspar/Broichmann, ZJS 2013, 346; Küper (Fn. 4), S. 189;
Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 15. Aufl. 2014, § 4
Rn. 23.
6
Neumann (Fn. 3), § 211 Rn. 64; Eser/Sternberg-Lieben, in:
Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl.
2014, § 211 Rn. 24; Kett-Straub, JuS 2007, 515 (519).
7
Vgl. zur sog. „konstitutionellen“ Arglosigkeit bei Kleinkindern und Babys Mitsch, JuS 2013, 783.
8
Rengier (Fn. 5), § 4 Rn. 25.
9
Küper (Fn. 4), S. 189.
10
Rengier (Fn. 5), § 4 Rn. 31.
11
Schneider (Fn. 4), § 211 Rn. 180; Küper (Fn. 3), S. 189.
12
Schneider (Fn. 4), § 211 Rn. 145.
13
Das „Stichwort“ Einschränkung bereitet den Weg für ein
weiteres – hier aber nicht relevantes – Problem der Heimtücke. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Mordmerkmale, insbesondere das Merkmal der Heimtücke, restriktiv auszulegen
III. Die Entscheidung
Der BGH widerspricht der Vorinstanz, die u.a. zu einer Verurteilung der wegen versuchten Mordes aufgrund des Schusses durch das Fenster der Beifahrertür gekommen war. „Die
Würdigung des Landgerichts, die Angeklagte [T] habe bei
ihrem Versuch, durch das Fenster der Beifahrertür auf den
Nebenkläger [O] zu schießen, heimtückisch im Sinne des
§ 211 Abs. 2 StGB gehandelt, hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.“14
Das Gericht stellt zunächst fest, dass T noch nicht unmittelbar zu einem Tötungsdelikt angesetzt habe, als sie zu O an
das Fahrzeug trat und die Pistole auf ihn richtete. Zwar habe
ein Tatentschluss vorgelegen. „Doch war nach dem Tatplan
ein Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung in dem Sinne,
dass der Täter subjektiv die Schwelle zum ‚jetzt geht es los‘
überschreitet und objektiv ohne weitere Zwischenakte zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, noch nicht erreicht. Vielmehr hing die Umsetzung des geplanten Tötungsverhaltens noch vom – von der Angeklagten allerdings nicht
zu beeinflussenden – Eintritt der Bedingung ab, dass der
Nebenkläger sie wieder abweisen würde. Erst als der Nebenkläger sich endgültig abwandte und die Angeklagte jetzt den
Abzug der Waffe betätigte, setzte sie unmittelbar zur Ausführung der Tötungshandlung an.“15
Der BGH betont, dass O zu diesem Zeitpunkt – aus der
Sicht der T – seine Arglosigkeit bereits verloren hätte, da sie
ihm offen mit einer Pistole gegenüber trat und ihm etwas
„Böses“ angedroht hatte, für den Fall, dass O die T abermals
abweise. „Dass sie gewusst oder bewusst ausgenutzt hätte, dass
der Nebenkläger die Waffe für eine Spielzeugpistole hielt
und sie deshalb nicht ernst nahm, ergibt sich aus den Feststellungen [des Landgerichts] nicht.“16 Das Gericht betont, dass
O vielmehr die Möglichkeit gehabt hätte, verbal auf die T
einzuwirken, um sie von ihrem Tötungsvorhaben abzubringen.
IV. Die Bewertung der Entscheidung
Für das Ergebnis des BGH spricht viel. Und auch die dazu gegebene Begründung ist weitgehend überzeugend. Der Schuss
sind, um die gem. § 211 zwingend zu verhängende lebenslange Freiheitsstrafe mit dem aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fließenden Schuldprinzip vereinbaren zu können.
Wie diese restriktive Auslegung im Einzelnen zu erfolgen hat,
ist jedoch umstritten. Neben dem Handeln in feindlicher
Willensrichtung wird als einschränkendes Merkmal ein verwerflicher Vertrauensbruch vorgeschlagen. Ferner wird vertreten, eine sog. negative Typenkorrektur vorzunehmen. Der
Große Senat des BGH hat sich allerdings gegen Restriktionsversuche auf Tatbestandsebene ausgesprochen und vertritt
eine sog. Rechtsfolgenlösung. In Fällen, in denen die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe unverhältnismäßig
erscheint, ist der Strafrahmen nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 zu mildern. Vgl. zum Ganzen die knappe Darstellung bei Jäger
(Fn. 2), Rn. 38.
14
BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14, Rn. 4.
15
BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14, Rn. 6.
16
BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14, Rn. 7.
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BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14
Brüning
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durch das Fenster der Beifahrertür ist kein versuchter Mord
aus Heimtücke.
Ein heimtückisches Vorgehen setzt voraus, dass das Opfer
arglos war, als das Tötungsverhalten in das Versuchsstadium
eintrat. Damit stellt sich zunächst die Frage, zu welchem
Zeitpunkt das Tötungsdelikt versucht wurde: Bereits als T
den O mit der Waffe bedrohte? Oder aber erst als sie den
Abzug betätigte? Ein versuchtes Tötungsdelikt setzt einen Tatentschluss sowie ein unmittelbares Ansetzen zur Tat voraus.
Zu Recht geht das Gericht zunächst davon aus, dass T mit
Tatentschluss gehandelt hat. Ausreichend ist ein Tatentschluss
auf bewusst unsicherer Tatsachengrundlage.17 Dieser liegt
vor, wenn der Täter den Tatentschluss zwar endgültig gefasst
hat, dessen Realisierung aber vom Eintritt äußerer – nicht von
ihm beherrschbaren – Umstände abhängig gemacht werden
soll. So lag der Fall hier. Die Durchführung der Tat hing
davon ab, ob O sich wiederholt einem Gespräch mit der T
verweigern würde.
Zustimmung verdient ferner die Annahme, dass T erst mit
Betätigung des Abzuges unmittelbar zum Tötungsdelikt angesetzt hat. Grundsätzlich liegt ein unmittelbares Ansetzen
immer dann vor, wenn der Täter aus seiner Sicht alles Erforderliche getan hat, um den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen, also ein sog. beendeter Versuch gegeben ist.18 Diese
Voraussetzung war hier zwar gegeben, als T den Abzug betätigte, jedoch noch nicht, als sie die Waffe auf O richtete.
Gleichwohl stellt sich die Frage, ob bereits dieser Zeitpunkt
ein unmittelbares Ansetzen zum Tötungsdelikt markiert. Liegt
kein beendeter Versuch vor, so gibt es verschiedene Lösungsansätze, wie etwa die zeitliche und räumliche Unmittelbarkeit, die unmittelbare Gefährdung des geschützten Rechtsgutes bzw. den Eindruck der Erschütterung der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung durch einen „friedensstörenden Zugriff“ auf die Opfersphäre. Der BGH ist in ständiger Rechtsprechung dazu übergegangen, die verschiedenen Lösungsansätze im Einzelnen miteinander zu kombinieren.
Der Vorhalt der Waffe ist zwar ein Eingriff in die Opfersphäre des O. Gleichwohl hatte T dadurch noch nicht alle
Verteidigungschancen des O beseitigt, da dieser die Möglichkeit eines Gespräches mit T hätte wahrnehmen können. Zu
berücksichtigen ist insoweit, dass die Opfersphären in Bezug
auf die einzelnen Tatbestände unterschiedlich zu ziehen sind.19
Der Umstand, dass T die Willensbildungsfreiheit des O verletzt hat, hat nicht zwingend zur Folge, dass bereits dadurch
ein Angriff auf sein Leben vorgenommen wurde. Im Übrigen
ist zu beachten – worauf auch der BGH hinweist –, dass aus
der Sicht der T erst die Entscheidung darüber anstand, ob
17
Beckemper, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher
Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Ed. 23, Stand: 1.12.2012,
§ 22 Rn. 9.
18
Vgl. Rath, JuS 1998, 1106 (1110) m.w.N. Grundsätzlich
spielt die Frage, ob ein beendeter oder unbeendeter Versuch
vorliegt, beim Rücktritt i.S.d. § 24 StGB eine Rolle. Davon
hängt ab, welche Anforderungen an das Rücktrittsverhalten
zu stellen sind.
19
Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 29
Rn. 141.
noch ein Gespräch stattfinden würde. Erst nach einer erneuten
Zurückweisung wollte sie ihr Tötungsvorhaben verwirklichen.
Es waren daher noch wesentliche Zwischenschritte erforderlich, so dass man eine zeitliche Unmittelbarkeit erst annehmen
konnte, als T den Abzug der Waffe betätigte. Dieser Zeitpunkt ist damit relevant für die Beurteilung der Arglosigkeit
des O.
Der BGH geht zwar – ohne dies ausdrücklich anzusprechen – zu Recht davon aus, dass O zu diesem Zeitpunkt objektiv noch arglos war. Grund hierfür ist der Umstand, dass O
die Pistole der T lediglich für eine Spielzeugpistole hielt.
Daher versah er sich zu diesem Zeitpunkt noch keines Angriffs
auf sein Leben.
Allerdings verneint der BGH das Ausnutzungsbewusstsein.
Strenggenommen hatte T keinen Vorsatz auf die die Arglosigkeit begründenden Umstände. Die Arglosigkeit entfällt,
wenn das Opfer mit einem Angriff auf sein Leben rechnet,
weil der Täter dies zuvor angekündigt hat. Genau diese Situation hat T sich vorgestellt. Die Ankündigung – unter Vorhalt
einer Waffe –, dass etwas „Böses“ geschehen werde, sollte
als Inaussichtstellen einer Tötung verstanden werden. T ging
also davon aus, dass O mit einem Angriff auf sein Leben für
den Fall einer Zurückweisung rechnete und damit argwöhnisch war. Tatsächlich hat O aber nicht erkannt, dass es sich
um eine echte Pistole handelt, so dass er nicht mit einem Angriff auf sein Leben gerechnet hat. Das aber hat T nicht erkannt. Folglich irrte sie sich über Tatumstände, die die Arglosigkeit und damit das Tatbestandsmerkmal der Heimtücke begründen. Mithin unterlag sie einem Tatumstandsirrtum gem.
§ 16 StGB, mit der Folge, dass T insoweit ohne Vorsatz gehandelt hat.
Hatte T bereits keinen Vorsatz auf die die Arglosigkeit
begründenden Umstände, so kann sie die Ahnungslosigkeit
des Täters auch nicht bewusst für ihr Tötungsvorhaben ausgenutzt haben. Der BGH hat damit zu Recht das Ausnutzungsbewusstsein verneint.
V. Fazit und Ausblick
Für das Erste Staatsexamen müssen die Mordmerkmale bekannt und verstanden sein. Das gilt insbesondere für die klausurrelevante Heimtücke. Eine sichere Handhabung dieses
Mordmerkmals ist somit unabdingbar.
Unter rechtlichen Gesichtspunkten bringt diese Entscheidung zwar nichts Neues. Die Schwierigkeit des Falls besteht
allerdings darin, den Sachverhalt genau auszuwerten und sauber zu arbeiten. Dies beginnt mit der Argumentation zum unmittelbaren Ansetzen des Tötungsdelikts. Davon hängt ab,
auf welchen Zeitpunkt in Bezug auf die Arglosigkeit abzustellen ist. Ferner musste man erkennen, dass O einem Irrtum
unterlag, den T wiederum nicht erkannte und sich damit ihrerseits irrte. Dies war wichtig für den Vorsatz in Bezug auf die
die Arglosigkeit begründenden Umstände sowie für das Ausnutzungsbewusstsein. Der Fall bietet sich daher an, zur Grundlage einer Klausur gemacht zu werden. Zum einen kann geprüft werden, ob die Prüflinge die Systematik der Heimtücke
verstanden haben. Zum anderen wird den Kandidaten ein
genaues und sorgfältiges Arbeiten am Sachverhalt abverlangt.
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ZJS 4/2014
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BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14
Brüning
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Zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass man im vorliegenden Fall über einen Mord aus niedrigen Beweggründen nachdenken könnte. T agierte aus verletztem Stolz. Solche Gefühlsregungen können Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des
Täters sein. Dies ist aber keineswegs zwingend. Zu prüfen ist,
ob diese Gefühlsregung ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen und nicht menschlich verständlich sind.
Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg
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BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13
Theile
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Entscheidungsanmerkung
Zum Erfordernis des Absatzerfolges bei der Hehlerei
Eine Verurteilung wegen vollendeter Hehlerei durch Absetzen setzt die Feststellung eines Absatzerfolges voraus.
(amtlicher Leitsatz)
StGB § 259
BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/131
I. Einführung
Gegenstand dieser Anmerkung ist ein Beschluss des 3. Strafsenats des BGH, durch den er bei den anderen Senaten angefragt hatte, ob sie an ihrer tradierten Rechtsprechung zur
Frage festhalten würden, dass eine Verurteilung wegen vollendeter Hehlerei durch Absetzen (oder Absatzhilfe) nicht
zwingend die Feststellung eines Absatzerfolges voraussetzt,
sondern jede auf Absatz gerichtete Tätigkeit ausreiche.2 Der
3. Strafsenat beabsichtigte hierdurch eine Änderung der bis
dahin bestehenden Rechtsprechung in der Weise, dass künftig
ein Erfolg zu verlangen sei; mittlerweile haben sich die anderen Senate der geänderten Auslegung angeschlossen.3 Angesichts dieser Einigkeit bedurfte es keiner Entscheidung des
Großen Senats, der anderenfalls über diese Rechtsfrage hätte
entscheiden müssen, damit eine einheitliche höchstrichterliche
Rechtsprechung möglich wird, die den Rechtsunterworfenen
normative Orientierungssicherheit vermittelt (§ 132 Abs. 2
GVG).
Betrachtet man die Beharrlichkeit, mit der die Rechtsprechung über Jahrzehnte an ihrer Auffassung zu dieser Sachfrage festhielt (Jahn spricht treffend von einem „Ewigkeitsproblem“),4 muss es verwundern, wie einhellig die aktuelle
Kehrtwende ausfällt. Allerdings hatte sich ein gewisser Sinneswandel bereits in jüngeren Entscheidungen angedeutet.5 Die
Einigkeit verwundert umso mehr, als hiermit eine ständige
Rechtsprechung abgelöst wird, die gegen die anhaltende Kritik aus dem Schrifttum durchgehalten wurde und spätestens
mit der seit dem 1.1.1975 geltenden Gesetzesfassung kaum in
Einklang zu bringen war.6 Sie hatte sich zu einer Zeit herausgebildet, als der Hehlereitatbestand – damals noch normiert
in § 253 StGB a.F. – auf Veräußererseite unter Strafe stellte,
wenn der Täter in Bezug auf die gehehlte Sache „zu deren
1
Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ 2013, 584 und im
Internet abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=
7f7620ac315c1a3865183c093121e559&nr=64968&pos=1&a
nz=2&Blank=1.pdf.
2
BGH NStZ 2013, 584.
3
BGH BeckRS 2013, 15726; BGH BeckRS 2013, 15924;
BGH BeckRS 2013, 17708; BGH BeckRS 2013, 15726.
4
Jahn, JuS 2013, 1044 (1045).
5
BGH NStZ 2008, 152 (153); BGH BeckRS 2010, 05000.
6
Zur Kritik aus dem Schrifttum siehe Stree, GA 1961, 33 (41
ff.); Zieschang, in: Duttge (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Ellen
Schlüchter, 2002, S. 403 (407).
Absatze bei anderen mitwirkt“7, wobei als ausreichend jede
auf Absatz gerichtete Tätigkeit angesehen wurde.8 Das damalige Verständnis, nach dem die Tathandlung nur ein Mitwirken, aber keinesfalls ein Mitbewirken zum Absatz verlange,9
war sicher auch davon beeinflusst, dass zunächst keine Versuchsstrafbarkeit existierte und sich insofern eine Strafbarkeitslücke auftat. Im Jahre 1943 wurde dann zwar eine Versuchsstrafbarkeit eingeführt, was aber nicht zu einer Kurskorrektur der Rechtsprechung führte, die nach wie vor daran
festhielt, Absatz und Absatzhilfe verlangten keinen Erfolg.10
Auch die am 1.1.1975 in Kraft getretene heutige Fassung,
durch die das Merkmal der Mitwirkung zum Absatz durch die
Varianten des Absatzes und der Absatzhilfe ersetzt wurde,
änderte hieran – abgesehen von einer einzelnen, bald aber
schon wieder korrigierten „Ausreißerentscheidung“11 – nichts,
so dass sich die höchstrichterliche Rechtsprechung schon bald
wieder in altem Fahrwasser bewegte.12 Ausnahmen wurden
nur insoweit gemacht, als der Absatz beziehungsweise die
Absatzhilfe an einen verdeckten Ermittler nach § 110a Abs. 2
StPO oder V-Mann keine vollendete, sondern nur versuchte
Hehlerei darstellen sollte.13
Mit der nunmehr vollzogenen Kehrtwende schließt sich
der BGH demgegenüber der ganz herrschenden – und überzeugenden – Auffassung der Literatur an, die davon ausgeht,
dass für ein Absetzen oder eine Absatzhilfe ein Erfolg vorauszusetzen ist.14 Abgesehen davon, dass die Entscheidung
mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB zu begrüßen ist,
dürfte sie in praktischer Hinsicht dazu führen, dass die fakultative Strafmilderung in § 23 Abs. 2 StGB bedeutsamer wird
und die Rücktrittsmöglichkeiten für den Täter ausgeweitet
werden.15 Für die Ausbildung ist der Anfragebeschluss deswegen von Interesse, weil der 3. Strafsenat geradezu „schulmäßig“ seinen veränderten Standpunkt anhand klassischer
Auslegungsmethoden entwickelt.
II. Sachverhalt
Nachdem einige Jahre zuvor durch einen Unbekannten mehrere Gemälde im Wert von 1,5 Mio. € aus dem Ateliermagazin eines Malers entwendet worden waren, gelangten sie an
den Zeugen B, der um die Herkunft der Bilder wusste. Nach7
Vgl. insoweit RGSt 5, 241 (242 f.); 40, 199; 55, 58 (59); 56,
191 (192).
8
RGSt 5, 241 (242 f.); 40, 199; 55, 58 (59); 56, 191 f.
9
In diesem Sinne explizit RGSt 5, 241 (242).
10
BGHSt 2, 135 (136 f.); BGH NJW 1955, 350 (351).
11
BGH NJW 1976, 1698 (1699). Dann aber BGHSt 27, 45
(48 ff.).
12
BGHSt 26, 358; 27, 45 (48 ff.).
13
BGHSt 43, 110; BGH NStZ-RR 2000, 266.
14
Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 2. Aufl. 2012,
Rn. 1157; Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2,
7. Aufl. 2012, § 47 Rn. 27; Stree/Hecker in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 259
Rn. 29.
15
Krug, FD-Strafrecht 2014, 356055. Zu Auswirkungen auf
den Tatbestand der Steuerhehlerei nach § 374 AO siehe Beckemper, NZWiSt 2014, 154.
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BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13
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dem das Diebstahlsopfer verstorben war, überbrachte B dem
Angeklagten 13 dieser Bilder und beauftragte ihn, Käufer
ausfindig zu machen. Der Angeklagte hielt es dabei durchaus
für möglich, dass B entgegen seiner Behauptung gar nicht
Eigentümer der Bilder war. Dies hinderte ihn jedoch nicht
daran, in der Folgezeit Fotografien von den Gemälden zu machen und verschiedene ihm bekannte Personen anzusprechen,
die ihm beim Verkauf dienlich sein könnten. Motivierend war
hierfür die Aussicht auf die Erlangung von 10 % des Verkaufserlöses. Indes blieb es bei diesen Bemühungen; zu einer
Veräußerung kam es nicht.
III. Rechtliche Würdigung
Nach § 259 Abs. 1 StGB wird derjenige bestraft, der eine
Sache, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen
fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat,
ankauft oder sonst sich oder einem Dritten verschafft, sie absetzt oder absetzen hilft, um sich oder einen Dritten zu bereichern.
Vorauszusetzen ist insoweit eine rechtswidrige Tat, die
vorliegend nicht in dem durch den Unbekannten begangenen
Diebstahl, sondern der Hehlerei des Zeugen B besteht. Denn
auch eine (Erst-)Hehlerei kann taugliche Vortat des § 259
Abs. 1 StGB sein,16 da sie sich ebenso wie Diebstahl gegen
fremdes Vermögen richtet. Insoweit wies der Angeklagte, der
durchaus für möglich hielt, dass der Zeuge B nicht Eigentümer, sondern seinerseits Hehler war, den erforderlichen, aber
eben auch ausreichenden Eventualvorsatz auf. Da zwischen
beiden kein wie immer geartetes täterschaftliches Beteiligungsverhältnis bestand (im Gegensatz zum Teilnehmer kann
der Täter einer Vortat nicht Hehler sein),17 handelte es sich
um die Vortat eines „anderen“.
Was die Tathandlungen angeht, ist je nachdem, ob der Täter auf Seiten des Vortäters oder des Erwerbers tätig wird,
zwischen den Varianten des Absetzens beziehungsweise der
Absatzhilfe und des Ankaufens beziehungsweise sonst sich
oder einem Dritten Verschaffens zu differenzieren. Da der
Angeklagte auf Seiten des Ersthehlers und Vortäters tätig
wurde, kamen insofern allein ein Absetzen oder eine Absatzhilfe in Frage. Innerhalb dieser auf Seiten des Vortäters relevanten Tathandlungen ist danach zu unterscheiden, wie selbständig der Täter agiert: Absetzen bedeutet ein selbständiges
Unterstützen des Vortäters bei der in seinem Interesse erfolgenden wirtschaftlichen Verwertung (Stichwort: Verkaufskommissionär), Absatzhilfe bedeutet demgegenüber das unselbständige Unterstützen des Vortäters in dessen wirtschaftlichem Interesse (Stichwort: Verkaufsgehilfe).18 Da der Angeklagte nach den Sachverhaltsangaben eigenständig nach
16
Jäger, JA 2013, 951 (952) m.w.N.; Stree/Hecker (Fn. 14),
§ 259 Rn. 6; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer
Teil, Bd. 2, 36. Aufl. 2013, § 23 Rn. 829.
17
Siehe hierzu Eisele (Fn. 14), Rn. 1139; Kindhäuser (Fn. 14),
§ 47 Rn 9; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 16.
Aufl. 2014, § 22 Rn. 42 ff.
18
Siehe hierzu Eisele (Fn. 14), Rn. 1157; Kindhäuser (Fn. 14),
§ 47 Rn. 22, 28; Rengier (Fn. 17), § 22 Rn. 32; Wessels/
Hillenkamp (Fn. 16), Rn. 859.
potentiellen Käufern suchen sollte, lag es nahe, hierin nicht
lediglich eine Absatzhilfe, sondern ein Absetzen zu sehen.
An diesem Punkt wird die Sicht auf das entscheidende
Problem freigelegt, da es ausweislich des Sachverhalts zu
keinem Erfolg kam: der Angeklagte kam nicht darüber hinaus, einige Fotografien von den Bildern zu machen und verschiedene ihm bekannte Personen anzusprechen. Ist hierin ein
vollendetes Absetzen zu sehen? Die Beantwortung der Frage
hat Auswirkungen auf beide Tatvarianten eines Handelns auf
Seiten des Vortäters, da es zwar nicht zwingend, aber doch
nahe liegend ist, die strukturelle Problematik für Absatz und
Absatzhilfe parallel zu behandeln und nicht etwa für das
Absetzen einen Taterfolg und für die Absatzhilfe eine bloße
darauf gerichtete Tätigkeit zu verlangen. Anderenfalls würden kaum zu lösende Wertungswidersprüche auftreten: Obwohl sich der selbständig agierende Absetzer regelmäßig in
der aktiveren Rolle befindet, würde der Fall der erfolglosen
Absatzhilfe strenger (nämlich als Vollendung) als der Fall
des erfolglosen Absetzens (nämlich als Versuch) zu bestrafen
sein.19
Der BGH leitet zunächst überzeugend aus dem Wortlaut
ab, dass bereits die Gesetzesformulierung „absetzt“ einen Taterfolg verlangt und nicht – wie dies jahrzehntelanger Rechtsprechung entsprach20 – jede auf ein Absetzen gerichtete
Tätigkeit genügt.21 Überzeugend formuliert der BGH: „Im
Verkehr unter Kaufleuten, aus dem der Begriff stammt [gemeint ist der Absatz beziehungsweise die Absatzhilfe, Anm.
des Verf.], würde niemand davon sprechen, dass ein Händler
Waren abgesetzt hat, wenn er sich nur vergeblich um den
Verkauf bemüht hat“.22 Die bis dahin vorgenommene Interpretation, nach der gerade auch ein auf Absatz gerichtetes
Tätigwerden ausreicht, mag auf Grundlage der ursprünglichen
Gesetzesfassung des § 253 a.F., nach der die Tathandlung in
Bezug auf die gehehlte Sache darin bestand, dass der Täter
mit „zu deren Absatze bei anderen mitwirkt“ vertretbar gewesen sein. Spätestens mit der heutigen Formulierung sprengte
die Einbeziehung der auch vor dem Zeitpunkt der Tatvollendung liegenden Aktivitäten den Wortlaut und stellt insofern
eine verbotene Analogie zu Lasten des Täters dar. In der kurz
nach der Neufassung ergangenen Entscheidung BGHSt 27,
45 hatte der BGH noch den einigermaßen befremdlichen
Standpunkt vertreten, dass der Wortlaut auch die alternative
Deutung zulasse und angesichts dessen dem (angeblich) auf
die Einbeziehung jeder auf Absatz gerichteten Tätigkeit gerichteten Willen des Gesetzgebers besonders Gewicht zu-
19
Rengier (Fn. 17), § 22 Rn. 33, unter Hinweis auf BGHSt
27, 45 (51). Ferner Jäger, JA 2013, 951 (953). Siehe auch
Franke, NJW 1977, 857; Küper, JuS 1975, 633 (634 f.);
ders., NJW 1977, 58.
20
Siehe etwa BGHSt 27, 45 (50).
21
BGH NStZ 2013, 584 (585). Zust. Jahn, JuS 2013, 1044
(1046), der auf die fehlende Zitation des Art. 103 Abs. 2 GG
und des § 1 StGB hinweist. Anders aber Rosenau, NStZ
1999, 352.
22
BGH NStZ 2013, 584 (585). Vgl. bereits Berz, Jura 1980,
57 (65).
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komme.23 Wörtlich hieß es damals: „Wird ein Tatbestand
[…] nur zur Klarstellung in Teilpunkten neu gefasst, so darf
er zudem nicht so sehr nach dem Wortlaut ausgelegt werden,
wie ein Tatbestand, der vollkommen neu gestaltet worden
ist“.24 Ohne dies explizit zu machen, läuft eine solche Sichtweise auf eine mit Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB kaum vereinbare „Wortlautbindung light“ hinaus und es überrascht
kaum, dass diese Begründung im damaligen Schrifttum Kritik
hervorrief.25
Auch die historische Auslegung gebietet nicht, an der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung festzuhalten. In
dem damaligen Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom
11.5.1973 findet sich mit Blick auf die Erweiterung des bis
dahin allein auf das Mitwirken beim Absatz beschränkten
Hehlereitatbestandes um die Tatvariante des Absetzens der
Hinweis, dass jene Klarstellung nur dazu diene, dass Hehler
auch derjenige sein könne, der die Sache im Einverständnis
mit dem Vortäter selbständig auf dessen Rechnung absetze.26
Der 3. Strafsenat deutet dies so, dass der Gesetzgeber die bis
dahin (und seither) geltende Auslegung hierdurch habe nicht
festschreiben wollen.27 Bei genauer Lektüre wird jedoch deutlich, dass sich der Gesetzgeber zu hier maßgeblichen Fragen
in dem damaligen Gesetzesentwurf gar nicht verhalten hat.
Stattdessen ging es darum, auch durch erhebliche Selbständigkeitsgrade ausgezeichnetes Absatzverhalten strafrechtlich zu
erfassen und nicht etwa nur bloße unselbständige Hilfstätigkeiten. Der entscheidende Punkt besteht jedoch darin, dass
sich aus dem Willen des historischen Gesetzgebers nur insoweit Folgerungen für die Auslegung ergeben können, als diese
sich noch in den Grenzen des möglichen Wortsinnes bewegt,28
was bei dem extensiven vormaligen Verständnis gerade nicht
der Fall ist. Gerade vor diesem Hintergrund muss die in
BGHSt 27, 45 vorgenommene Relativierung der Bedeutung
des Wortlauts unter Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers
befremden, dem ein sachlich nicht gebotener Vorrang vor
dem Wortlaut eingeräumt wird.
Richtigerweise hebt der BGH auch die systematischen
Brüche zwischen den Tathandlungen auf Veräußerer- und Erwerberseite hervor,29 denn für das Handeln auf Erwerberseite
in Form des Ankaufens oder sonst Sich-oder-einem-DrittenVerschaffens wird unstreitig ein Übergang der Verfügungsgewalt verlangt.30 Dies gilt gerade auch für das Ankaufen,
das lediglich einen Spezialfall des Sich-oder-einem-DrittenVerschaffens darstellt: Nach einhelliger Auffassung reicht
hier der Abschluss des schuldrechtlichen Vertrages nicht aus,
sondern vielmehr kommt es auch hier auf die Erlangung der
Verfügungsgewalt an.31 Vor diesem Hintergrund leuchtet es
nicht ein, wieso für die Tathandlungen auf Veräußererseite
etwas anderes gelten sollte. Das Reichsgericht hatte unter
Bezugnahme auf die Vorgängervorschrift einen Unterschied
darin sehen wollen, dass der auf Veräußererseite Tätige in
einer anderen Beziehung zu der Sache stehe als der auf Erwerberseite Tätige, indem er seine rechtswidrige Absicht durch
„positives Handeln“ offen an den Tag lege.32 Überzeugend ist
das nicht, denn diese Absicht manifestiert sich gleichermaßen
auf Erwerberseite, da auch von dem Erwerber der Impuls
zum Weitertransfer des Hehlereigegenstandes ausgehen kann
beziehungsweise er offen tätig daran mitwirkt. Das Agieren
auf Erwerberseite ist daher nicht weniger „positiv“ als das auf
Veräußererseite.
Die Kehrtwende des BGH leuchtet ferner insoweit ein, als
die bisherige Interpretation darauf hinauslief, die in § 259
Abs. 3 StGB angeordnete Versuchsstrafbarkeit weitgehend
leerlaufen zu lassen33 oder aber – diesen Gesichtspunkt hebt
der BGH nicht einmal hervor – ungebührlich nach vorne zu
verlagern.34 Dass es anders als bei den Tathandlungen auf
Seiten des Erwerbers bei Absatz und Absatzhilfe nicht möglich sei, die einzelnen Stadien der auf Absatz zielenden Tätigkeiten voneinander abzugrenzen, wird vom BGH richtigerweise zurückgewiesen.35 Abgesehen davon, dass dies schon
der Sache nach nicht überzeugend ist (Wieso soll sich die
Markierung verschiedener deliktischer Stadien je nach Vortäter- und Erwerberseite unterschiedlich schwierig gestalten?),
zeigt die in § 259 Abs. 3 StGB vorgesehene Versuchsstrafbarkeit, dass dem Rechtsanwender vom Gesetzgeber im
Grundsatz derartige Abgrenzungen auferlegt werden. Im Übrigen sind auch keine Strafbarkeitslücken zu erwarten, da es
immer möglich ist, die auf Absatz gerichtete Tätigkeit in
Form des Versuchs zu bestrafen.
Unter Strafzumessungsaspekten ist eine solche Ungleichbehandlung ebenfalls nicht zu legitimieren, was gerade anhand der Absatzhilfe deutlich wird, bei der es sich materiell
um eine Beihilfe zum Absatz handelt, die vom Gesetzgeber
als täterschaftliche Tatbestandsalternative ausgestaltet wurde,
weil die Absatzbemühungen des Vortäters keine taugliche
Vortat darstellen können: Während Gehilfen auf Seiten des
Erwerbers im Gegensatz zum Absatzhelfer die obligatorische
Strafmilderung nach § 27 Abs. 2 S. 2 StGB zugutekommt,
führte die bisherige extensive Auslegung der Absatzhilfe dazu, dass ihm auch die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit
verloren geht.36 Hiergegen kann sicher eingewandt werden,
dass es nun einmal die Entscheidung des Gesetzgebers sei,
allein dem auf Seiten des Erwerbers tätigen Gehilfen eine
23
BGHSt 27, 45 (50). Ebenso Meyer, MDR 1975, 721 f.
BGHSt 27, 45 (50). Ebenso Meyer, MDR 1975, 721 f.
25
Franke, NJW 1977, 857 f.; Küper, JuS 1975, 633 (635 f.).
26
BT-Drs. 7/550, S. 253.
27
BGH NStZ 2013, 584 (586). Vgl. auch Zieschang (Fn. 6),
S. 403 (410).
28
Jäger, JA 2013, 951 (952 f.); Maier, in: Joecks/Miebach
(Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4,
2. Aufl. 2012, § 259 Rn. 105.
29
BGH NStZ 2013, 584 (585 f.).
30
BGH NStZ 2013, 584 (585).
24
31
Berz, Jura 1980, 57 (63 f.); Eisele (Fn. 14), Rn. 1153; Rengier (Rn. 17), § 22 Rn. 27; Wessels/Hillenkamp (Fn. 16),
Rn. 856.
32
RGSt 5, 241 (243).
33
BGH NStZ 2013, 584 (586).
34
Siehe hierzu Berz, Jura 1980, 57 (65).
35
BGH NStZ 2013, 584 (586). Siehe hierzu Wessels/Hillenkamp (Fn. 16), Rn. 864.
36
BGH NStZ 2013, 584 (586). Siehe auch Küper, JuS 1975,
633 (636).
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BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13
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solche Strafrahmenverschiebung zugutekommen zu lassen;
denn immerhin habe er die zugunsten des Vortäters erfolgende
Hilfeleistung als täterschaftliche Tatbestandsalternative ausgestaltet mit der Folge, dass eine solche Milderung eben ausgeschlossen sei.37 Gegen diesen Einwand können jedoch zwei
Argumente vorgebracht werden: Zunächst verhalten sich die
Motive des Gesetzgebers gar nicht zu dieser Frage, weshalb
insoweit bereits keine „bewusste“ gesetzgeberische Entscheidung vorliegt. Zudem blieb dem Gesetzgeber gar nichts anderes übrig als die auf Seiten des Vortäters erfolgende Hilfeleistung als täterschaftliche Tatbestandsalternative auszugestalten,
da der Vortäter sich eben nicht täterschaftlich wegen Hehlerei
strafbar machen kann. Vor diesem Hintergrund kann über die
fakultative Strafmilderungsmöglichkeit in § 23 Abs. 2 StGB
durchaus eine gewisse Harmonisierung zwischen der Sanktionierung des Hilfeleistenden auf Vortäter- und Erwerberseite
erreicht werden.
Schließlich spricht auch der Strafgrund der Hehlerei für
ein Verständnis, nach dem Absatz und Absatzhilfe einen Erfolg voraussetzen. Dieser Strafgrund wird nicht mehr in der
Restitutionsvereitelung gesehen,38 sondern vor allem in der
Aufrechterhaltung der durch die Vortat herbeigeführten rechtswidrigen Vermögenslage (sog. Perpetuierungstheorie).39 Dieses Unrecht ist noch nicht eingetreten, wenn der Täter lediglich auf Absatz gerichtete Tätigkeiten vornimmt, sondern erst
dann, wenn es zu einem Erfolg dieser Bemühungen gekommen ist. Dem BGH ist zuzustimmen, wenn er klarstellt, dass
in der Neuinterpretation der Merkmale des Absatzes und der
Absatzhilfe nicht unter der Hand die Hehlerei in einen Delikt
der Restitutionsvereitelung umgedeutet wird,40 denn auch bezogen auf die Aufrechterhaltung der durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenslage und die hierin liegende
Rechtsgutsverletzung sind durchaus unterschiedliche Intensitätsgrade denkbar, denen mit der veränderten Interpretation
des BGH Rechnung getragen wird. Sofern die Weiterverschiebung der Sache noch nicht abgeschlossen ist, ist die Perpetuierung noch nicht in einer die Vollendungsstrafe legitimierenden Weise gegeben. Am Ende trägt diese Kehrtwende
auch dazu bei, den Hehlereitatbestand im Hinblick auf die
Deliktskategorie einheitlich als Erfolgsdelikt zu verstehen,
während die frühere Interpretation des Absatzes beziehungsweise der Absatzhilfe jedenfalls hinsichtlich der Tathandlungen auf Veräußererseite auf ein Verständnis im Sinne eines
Tätigkeitsdelikts hinauslief.
richterliche Rechtsprechung zu Selbstkorrekturen in der Lage
ist – und das ist eine durchaus beruhigende Erkenntnis.
Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz
IV. Fazit
Alles in allem ist die Entscheidung des BGH sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zu begrüßen, weshalb zu
einem „Ewigkeitsproblem“ nunmehr ein gewisser Konsens
erzielt ist. Der Anfragebeschluss zeigt, dass auch die höchst37
In diesem Sinne Jäger, JA 2013, 951 (952).
In diesem Sinne das frühere Verständnis der Hehlerei als
Delikt der Restitutionsvereitelung, siehe hierzu Schröder, in:
Wegner (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld zum
80. Geburtstag, 1949, S. 161 (177); ders., MDR 1952, 68 (71).
39
BGH NStZ 2013, 584 (586).
40
Explizit BGH NStZ 2013, 584 (586).
38
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Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht
Carlos Nóbrega
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B uc hre ze ns io n
Alexander Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht,
Verlag C.H. Beck, München 2013, XXII, 239 S., €49,80
Das deutsche Recht hat sich in Portugal als wichtige Inspirationsquelle der gesamten Rechtsordnung etabliert.1 Im Gegensatz dazu ist das portugiesische Recht in Deutschland aus
mehreren Gründen weitgehend unbekannt. Dass der Grund
dafür allerdings im Fehlen eines Überblicks über das portugiesische Rechtssystem in deutscher Sprache zu suchen wäre,
lässt sich nicht mehr behaupten. Denn diese Lücke schließt
mit Bravour das hier rezensierte Buch.
Der Verf. Dr. Alexander Rathenau ist deutscher Rechtsanwalt und gleichzeitig portugiesischer „Advogado“. Wie der
Autor in seinem Werk unter der Rubrik „Juristische Berufe“
selbst erläutert, wird für die Anwaltszulassung in Portugal
und für die konsequente Berechtigung zur Bezeichnung „Advogado“ vorausgesetzt, dass der Rechtsanwalt aus der EU
„entweder die Aufnahmeprüfung der [portugiesischen] Anwaltskammer bestanden hat oder nachweisen kann, dass er
seit mindestens drei Jahren im portugiesischen und europäischen Recht beratend tätig ist“ (S. 19, § 3 Rn. 21).
Sein weitgefächertes Fachwissen aus der Praxis in beiden
Ländern und seine solide akademische Laufbahn ermöglichten ihm eine hochinteressante und lobenswerte Gesamtdarstellung des portugiesischen Rechts, die es als solche in deutscher Sprache noch nicht gab.2 Wir haben es also mit einem
erfolgreichen Pionierwerk zu tun.3
1
Siehe z.B. Jayme/Mansel (Hrsg.), Auf dem Wege zu einem
gemeineuropäischen Privatrecht - 100 Jahre BGB und die
lusophonen Länder, 1997.
2
Für eine Bestandaufnahme deutschsprachiger Schriften zum
portugiesischen Recht siehe v. Bar, Ausländisches Privatund Privatverfahrensrecht in deutscher Sprache, 9. Aufl. 2013.
Speziell zum Vertrags-, Mobiliarsachenrecht, Trust und zu den
gesetzlichen Schuldverhältnissen empfiehlt sich das Referenzwerk zur Weiterentwicklung des europäischen Privatrechts
mit zahlreichen Stellungnahmen zum portugiesischen Recht,
v. Bar/Clive, Principles, Definitions and Model Rules of
European Private Law, Draft Common Frame of Reference
(DCFR), Full Edition, 2009/2010, dort insb. das Verzeichnis
„Table of codes and statutes (Portugal)“ auf S. 6105-6130.
Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung. Gleichfalls in
deutscher Sprache empfiehlt sich die neue Reihe „Schriften
zum Portugiesischen und Lusophonen Recht“ des NomosVerlages, herausgegeben von Stephanie Müller-Bromley, teilweise in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Lusitanischen
Juristenvereinigung.
3
Ebenfalls als Pionierwerk anzusehen ist ein Sammelwerk in
englischer Sprache mit systematischer Darstellung des portugiesischen Rechts, das nach einer Initiative der Universidade
Nova de Lisboa entstanden ist, siehe Ferreira de Almeida/
Cristas/Piçarra (Hrsg.), Portuguese Law - An Overview, 2007.
Neuerdings ist eine Reihe von Monographien zum portugiesischen Recht in englischer Sprache im Hause Kluwer Law
International erschienen, wie z.B. Sinde Monteiro/Rangel de
Das Buch „Einführung in das portugiesische Recht“ ist in
der ebenso bekannten wie renommierten Schriftenreihe der
Juristischen Schulung des C.H. Beck-Verlags erschienen. In
fünf Kapiteln handelt das Werk von geschichtlichen und allgemeinen Aspekten des portugiesischen Rechtssystems (S. 121), vom öffentlichen Recht, insb. Verfassungs- und Verwaltungsrecht (S. 23-62), vom materiellen Strafrecht und Strafprozessrecht (S. 63-75), vom materiellen Zivilrecht und Zivilprozessrecht (S. 77-183) sowie vom Wirtschafts- und Steuerrecht (S. 185-235). Mit Hilfe detaillierter Inhalts- und Stichwortverzeichnisse und einer weiteren Gliederung in 22 Paragraphen wird der Leser schnell fündig.
Zu jedem Kapitel wird weiterführende Literatur dargestellt
und ggf. die Quellen der portugiesischen Gesetzgebung in
deutscher Übersetzung angegeben. Der deutschsprachige Leser
sei gewarnt, dass nur wenige portugiesische Gesetzestexte in
einer deutschen Fassung verfügbar sind. Vieles wurde bis
heute nicht übersetzt. Während die portugiesische Verfassung
sowie das Strafgesetzbuch in deutscher Übersetzung vorliegen,
ist eine vollständige Übersetzung z.B. des Zivilgesetzbuchs
bisher leider nicht vorhanden.4
Hilfreich für den Leser sind einige Vergleiche mit dem
deutschen Recht. In diesem Sinn werden Ähnlichkeiten und
Unterschiede erläutert. Zu den ersten gehört zum Beispiel die
Tatsache, dass auch Portugal eine parlamentarische Demokratie ist und dass die Gesetzgebung eine der Grundaufgaben
des Parlaments ist (S. 24, § 4 Rn. 5). Ein hervorgehobener
wichtiger Unterschied ist aber darin zu sehen, dass in Portugal
ferner die Regierung gesetzgebungsfähig ist (S. 15, § 3
Rn. 11 mit Verweis auf Art. 198 port. Verfassung über die
sog. „decretos-leis“).
Die portugiesische Verfassung ist umfangreicher als das
deutsche Grundgesetz. Sie umfasst 296 Artikel, während das
deutsche Grundgesetz sich mit 146 Artikeln begnügt (S. 23,
§ 4 Rn. 1). Die Anzahl an Regelungen ist selbstverständlich
kein Qualitätsmerkmal, aber der Verf. nimmt Stellung und
hält die portugiesische Verfassung an bestimmten Stellen für
fortschrittlicher (z.B. in Bezug auf Datenschutz; S. 29, § 4
Rn. 31 ff.). Als Besonderheit des portugiesischen Rechts wird
z.B. der Ombudsmann („provedor de justiça“) genannt (S. 28,
§ 4 Rn. 28 mit Verweis auf S. 45, § 5 Rn. 48 im Verwaltungsrecht). Mit diesen Anmerkungen wird der Leser auf Materien
aufmerksam gemacht, die großes rechtsvergleichendes Potenzial aufweisen.
Als besonders praxisrelevant erweisen sich z.B. die Informationen zu Baumaßnahmen unter der Rubrik „Öffentliches
Baurecht“ (S. 53, § 6 Rn. 2 ff.). Es folgen zahlreiche Anmerkungen, die von Interesse sind. Im portugiesischen Strafrecht
können juristische Personen Straftaten begehen (S. 64, § 7
Rn. 3). Der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch anlässlich
einer Straftat ist nach dem portugiesischen Strafprozessrecht
Mesquita, Insurance Law in Portugal, 2009, als Teil der International Encyclopaedia of Laws.
4
Dieses Manko wird auch in Portugal selbst wahrgenommen,
siehe z.B. Mota Pinto, Themis Edição Especial (Código Civil
Português - Evolução e Perspectivas Actuais), Revista da
Faculdade de Direito da UNL, 2008, 25 (insb. 28).
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Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht
Carlos Nóbrega
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in der Regel im Strafverfahren geltend zu machen (S. 69, § 8
Rn. 7).
Einen großen Teil seines Werks widmet der Autor dem
Zivilrecht. Der portugiesische Código Civil von 1966 entspricht in der Systematik dem deutschen BGB mit seinen fünf
Büchern. Inhaltlich gibt es viele Gemeinsamkeiten, aber auch
deutliche Unterschiede. Das portugiesische Kollisionsrecht
z.B. ist Gegenstand des Allgemeinen Teils (S. 78 ff., § 10) im
Buch I, selbst wenn einige Regelungen bekanntermaßen durch
das europäische Recht verdrängt wurden (S. 79, § 10 Rn. 2).
Das Buch II handelt von Schuldrecht im Allgemeinen und im
Besonderen. Die gesetzlichen Schuldverhältnisse (S. 89, § 12
Rn. 13 ff.) wie auch die Kreditsicherheiten bzw. dinglichen
Sicherungsrechte, etwa die Hypothek (S. 101, § 12 Rn. 40 ff.),
zählen zum Allgemeinen Schuldrecht. Die Grundschuld ist
dem portugiesischen Recht unbekannt. Sein Kapitel über das
Schuldrecht im Besonderen beginnt der Verf. mit dem Kaufvertrag; hier gibt er den Lesern wertvolle Informationen aus
der Praxis, sei es über den Kaufvorvertrag (S. 113, § 13
Rn. 13 ff.), den Verbrauchsgüterkauf (S. 114, § 13 Rn. 19 ff.)
und den Kaufvertrag betreffend Immobilien (S. 115, § 13
Rn. 22 ff.). Es folgen Schenkung, Leihvertrag, Miet- und
Pachtvertrag (unter Berücksichtigung der Reform im Jahr
2012), Leasingvertrag, Darlehen, Dienstleistungsverträge, einschließlich Auftrag, Verwahrungs- und Werkvertrag und
schließlich Maklervertrag (S. 118-134, § 13 Rn. 29-84).
Entsprechend der Systematik der Zivilkodifikation fährt
der Verf. mit dem Sachenrecht fort. Nach einer Darstellung
der Gliederung von Buch III (S. 135, § 14 Rn. 1) geht es zunächst um den Begriff der Sache. Richtigerweise wird darauf
hingewiesen, dass der Begriff der Sache bzw. „coisa“ sowohl
im BGB als auch im port. CC in dem jeweiligen Allgemeinen
Teil gefasst ist. Allerdings wird an dieser Stelle nicht erläutert, dass der port. CC außer einem allgemeinen Begriff der
Sache in Art. 202 Abs. 1 („alles, was Objekt von Rechtsverhältnissen sein kann“), eine Einschränkung auf körperliche
Gegenstände in Art. 1302 CC enthält (wonach „nur die körperlichen Sachen, Mobilien oder Immobilien, Objekt des zivilrechtlichen Eigentumsrechts sein können“). Die wichtigsten
Vorschriften über Besitz, Eigentum und sonstige dingliche
Rechte werden, wieder mit hilfreichem Bezug zur Praxis, erläutert. So erfährt der Leser, dass die Ersitzung von Immobilien (S. 138, § 14 Rn. 11) und selbst von Mobilien eine große
Rolle spielt (S. 142, § 14 Rn. 20), dass der gutgläubige Erwerb
von Immobilien im Einklang mit dem Grundbuchrecht möglich ist (S. 142, § 14 Rn. 21) und dass das portugiesische
Recht die beschränkten persönlichen Dienstbarkeiten nicht
kennt (S. 147, § 14 Rn. 31).
In dieser Rezension wird verschiedentlich auf den „Leser“
rekurriert. Erfahrungsgemäß werden juristische Bücher eher
von Juristen gelesen, sei es in der Ausbildungsphase oder in
unterschiedlichen Bereichen der Praxis. Das vorliegende Einführungswerk ist jedoch vor allem dank seiner Paragraphen
über Familien- (S. 149-161, § 15) und Erbrecht (S. 162-170,
§ 16) auch für juristischen Laien von großem Wert. Die Folgen
der Eheschließung, neuerdings auch gleichgeschlechtlich möglich, sowie der Anerkennung einer faktischen Lebensgemeinschaft, das Adoptionsrecht, das Scheidungsrecht, die Unter-
haltspflichten, die elterliche Sorge einerseits sowie das gesamte Erbrecht können erheblich vom deutschen Recht abweichen. Die Betroffenen werden die durchweg zutreffenden
Informationen aus diesen Rechtsbereichen zu schätzen wissen.
Mit dem Zivilprozessrecht schließt der Autor die zivilrechtliche Materie ab (S. 171-183, § 17). An dieser Stelle sei auf
die Novellierung des Zivilprozessrechts in Portugal durch das
Gesetz Nr. 41/2013 vom 26.6.2013 hingewiesen.5 Reformbedürftig ist allerdings das Handelsgesetzbuch von 1888, wie
das Inkrafttreten von zahlreichen Sondergesetzgebungen beweist (S. 185-188, § 18). Mit dem Handelsrecht beginnt der
Verf. sein letztes Kapitel, welches das Gesellschaftsrecht
(S. 189-198, § 19), das Arbeitsrecht bzw. das Arbeitsgesetzbuch (S. 199-210, § 20), das Steuerrecht (S. 211-227, § 21)
und das Insolvenzrecht (S. 228-235, § 22) umfasst. Diese
letztgenannten Materien des Wirtschaftslebens wurden ebenso
wie das Immobiliarmietrecht infolge der Auflagen der so genannten „Troika“ (Vertreter der EU-Kommission, der EZB
und des IWF) umfassend reformiert, was der Autor größtenteils bereits in diesem Buch aufnehmen konnte. In einer hoffentlich bald zu erwartenden neuen Auflage ist gleichwohl
mit einer gründlichen Überarbeitung dieser letzten Kapitel zu
rechnen. Auch das Verbraucherrecht und die neueren Entwicklungen im Hinblick auf ein gemeinsames europäisches Kaufrecht werden gegebenenfalls ihren Platz in einer neuen Auflage finden.
Insgesamt ist dieses Werk nicht nur sehr empfehlenswert,
sondern geradezu unentbehrlich für all diejenigen, die sich
für das portugiesische Recht interessieren, jedoch mit der
portugiesischen Sprache (noch) nicht vertraut sind.6 Als wichtigste Beispiele für diese Zielgruppe sind vor allem diejenigen Studenten der Rechtswissenschaften hervorzuheben, die
sich auf einen Studienaufenthalt in Portugal vorbereiten, sowie Praktiker, die im Rahmen einer grenzüberschreitenden
Tätigkeiten mit rechtlichen Fragestellungen, Fachübersetzungen und Ähnlichem mit Bezug zu Portugal und dem portugiesischen Recht befasst sind. Wie bereits erwähnt, ist dieses
Buch weiter auch für diejenigen, die privat mit Portugal und
seinen Bewohnern verbunden sind, ein wahrer Gewinn.
Diese „Einführung in das portugiesische Recht“ ist naturgemäß für den deutschsprachigen Leser gedacht und wird mit
einer „deutschen Brille“ gelesen werden. Gerade aus diesem
Grund kann ein Einblick in das portugiesische Recht rechtsvergleichend hoch interessant sein,7 wie der Verf. mehrmals
einleuchtend belegt.8
5
Erfreulicherweise liefert der Verf. einen aktuellen Beitrag zu
dem Thema in deutscher Sprache, siehe Rathenau, ZfRV 2013,
277.
6
Umgekehrt für den portugiesisch-sprachigen Leser sei an
dieser Stelle auf andere Werke hingewiesen, wie z.B. Fisher,
O sistema jurídico alemão e sua terminologia, übersetzt aus
dem Englischen von Regina Lyra, 2013.
7
Zutreffend Baldus, GPR 2013, 302, wonach „die portugiesische Zivilrechtsdogmatik ohnehin ein Muster an komparatistischer Offenheit ist“. Siehe auch Grundmann, in: Grundmann/
Baldus/Herzog/Lebre de Freitas/Marques (Hrsg.), Rechtssys-
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Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht
Carlos Nóbrega
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„Portugal überzeugt in vielfältiger Hinsicht“, stellt Dr.
Alexander Rathenau in seinem Vorwort fest (S. V). Das Gleiche lässt sich zweifelsohne von seinem Buch sagen!
Wiss. Mitarbeiter Dr. José Carlos Nóbrega, Osnabrück
tem und Juristische Person - Sistema Jurídico e Pessoa Jurídica, 2012, S. 13-27.
8
Rathenau macht seinen Leser z.B. auf den Vergütungsanspruch im Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag aufmerksam (S. 93 § 12 Rn. 13, Fn. 13). Dieser Anspruch wird
in Deutschland von der herrschenden Lehre und Rechtsprechung anerkannt, wenn das Handeln des Geschäftsführers
seiner beruflichen Tätigkeit entspricht; in Portugal ist diese
Rechtsfolge bereits kodifiziert worden (Art. 470 i.V.m.
Art. 1158 port. CC). Die Lösungen des portugiesischen Rechts
können einen anregenden Beitrag zu rechtsvergleichenden
Studien darstellen und wurden dementsprechend im Rahmen
der Arbeiten der „Study Group on a European Civil Code“
mit großem Interesse berücksichtigt, siehe dazu Carlos Nóbrega, in: Olinda Garcia (Hrsg.), Estudos sobre incumprimento do contrato, 2011, S. 29-50.
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Link, Kirchliche Rechtsgeschichte
Traub
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B uc hre ze ns io n
Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2010, 281 S., €39,50
„Kirchliche Rechtsgeschichte“ – der Titel des juristischen
Kurz-Lehrbuchs mag für Studierende auf den ersten Blick
exotisch klingen. Doch schon der Untertitel „Kirche, Staat
und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen
bis ins 21. Jahrhundert“ gibt einen Eindruck von der Fülle
und Bedeutung des Inhalts. Unmittelbare Prüfungsrelevanz
hat das Werk im Rahmen rechtshistorischer oder religionsrechtlich ausgerichteter Schwerpunktbereiche. Darüber hinaus richtet es sich an Studierende, die historisch interessiert
sind oder ihre Ausbildung dazu nutzen wollen, ihren Blick
über die bloße Betrachtung der Dogmatik des geltenden Rechts
hinaus zu erweitern, um ein tieferes Verständnis der geschichtlichen und gesellschaftlichen Dimension des Phänomens Recht zu entwickeln.
Der Autor, Christoph Link, ist emeritierter Professor an
der Universität Erlangen-Nürnberg und war von 1986 bis
2001 Direktor des renommierten und traditionsreichen HansLiermann-Instituts für Kirchenrecht.
Link spannt in seinem Studienbuch einen weiten Bogen
und nimmt den Leser mit auf eine Reise durch zwei Jahrtausende kirchlichen Rechtslebens von der Urgemeinde in Jerusalem über das Mittelalter und das „Konfessionelle Zeitalter“
bis in das 20. Jahrhundert, ja sogar bis zu den aktuellen Entwicklungen und Problemen der Gegenwart.
Dabei ist es ihm ein besonderes Anliegen – wie er im
Vorwort zur 1. Auflage formuliert – das kirchliche Recht nicht
isoliert darzustellen, sondern in seiner Wechselbeziehung mit
den Wandlungen in Staat und Gesellschaft. Und tatsächlich
zeigt die Darstellung eindrucksvoll, dass eine isolierte Behandlung der historischen Entwicklung des Kirchenrechts
ebenso wenig möglich wäre, wie eine rechtshistorische Erzählung, die die Bedeutung der christlichen Kirchen ausblenden würde.
Nach einer kurzen Einführung über Grundlage und Legitimation des Kirchenrechts (§ 1) behandelt Link in den ersten
Kapiteln (§§ 2-4) die Bedeutung der Kirche in der antiken
Welt. Er beschreibt die Entwicklung von einer verfolgten und
unterdrückten Minderheit bis zur „Konstantinischen Wende“,
mit der die Grundlage für die Erhebung der Kirche zur Reichskirche und damit des Christentums zur Staatsreligion gelegt
wurde.
Im nächsten großen Abschnitt zeichnet der Autor das Bild
der Kirche im Mittelalter (§§ 5-9). Neben den wichtigen Entwicklungsschritten wie der Entstehung des Eigenkirchenwesens, dem Investiturstreit und dem Großen Abendländischen
Schisma widmet er dem klassischen kanonischen Recht ein
eigenes Kapitel (§ 6). Das in dieser Zeit entstandene Corpus
Juris Canonici als umfassende kirchliche Rechtssammlung galt
in der römisch-katholischen Kirche bis zur Ablösung durch
den Codex Juris Canonici im Jahr 1918. Zu Recht betont
Link, dass das kanonische Recht nicht nur innerhalb der Kirchen Bedeutung hatte, sondern ebenfalls Gebiete des – nach
heutigem Verständnis – „staatlichen“ Rechts behandelte wie
das Erb- und Eherecht, das Prozess- und das Strafrecht. In
dieser Zeit bildete sich das kanonische Recht neben dem
Römischen Recht („Corpus Juris Civilis“) als zweiter großer
Traditionsstrom der europäischen Rechtsgeschichte heraus,
das tiefe Spuren in der neuzeitlichen Rechtsordnung hinterlassen hat. Als prägnantes Beispiel weist Link darauf hin,
dass der Grundsatz „pacta sunt servanda“ in der Kanonistik
wurzelt, und damit der Typenzwang und die Formstrenge des
Römischen Rechts überwunden und die Verbindlichkeit und
Klagbarkeit formloser, „nackter“ Verträge („pacta nuda“)
durch-gesetzt wurde.
Der dritte Abschnitt des Lehrbuchs ist dem Zeitalter der
Reformation und Konfessionalisierung (§§ 10-14) gewidmet.
Detailreich beschreibt Link die umwälzenden Veränderungen
in der Folge von Luthers legendärem Thesenanschlag am
31.10.1517 an der Wittenberger Schlosskirche. Dabei gelingt
es dem Verf., den inneren Zusammenhang zwischen den theologischen Grundlagen von Luthers Theologie („sola fide, sola
gratia, sola scriptura“; Zwei Reiche-Lehre) und den äußeren
Konsequenzen für die Kirche und das Recht aufzuzeigen und
damit verständlich zu machen, warum die Reformation nicht
nur eine Glaubenskrise, sondern auch eine Verfassungskrise
des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation ausgelöst
und die Einheit des mittelalterlichen Corpus Christianum gesprengt hat.
Im vierten Abschnitt werden unter der Überschrift „Die
Kirche und das Entstehen des ‚Modernen Staates‘“(§§ 15-17)
weitere bedeutende Wegsteine wie der Dreißigjährige Krieg,
der Westfälische Frieden und die Toleranzpatente Josephs II.
geschildert.
Als gravierenden Einschnitt und Beginn eines neuen Abschnitts der deutschen Kirchen- und Kirchenrechtsgeschichte,
gar als „letzte[s] Grundgesetz des Alten Reiches“ charakterisiert der Verf. den Reichsdeputationshauptschluss vom 25.2.
1803 (§ 17). Er berichtet von dem Verlust von Territorialherrschaft (Herrschaftssäkularisation) und Vermögenswerten
(Vermögenssäkularisation) der geistlichen Reichsfürsten und
zeigt die gravierenden Konsequenzen für die katholische
Kirche in Deutschland auf. Das abschließende Urteil Links
über die Folgen dieser Erschütterungen für die Kirche fällt
trotz des Verlusts weltlicher Macht, oder gerade deswegen
positiv aus. Er attestiert der katholischen Kirche jener Zeit
eine geistliche Erneuerung, die das kirchliche Leben aufblühen ließ und spricht davon, dass der Reichsdeputationshauptschluss die deutsche katholische Kirche „zu sich selbst befreit“ habe. Diese Ausführungen Links (S. 123 f.) lesen sich
wie ein Beitrag zu der Diskussion um die „Entweltlichung
der Kirche“, die die (erst nach Erscheinen des Lehrbuchs gehaltene) „Freiburger Rede“ von Papst Benedikt XVI. angestoßen hat.
Im folgenden Abschnitt wendet sich der Verf. dem „langen 19. Jahrhundert“ zu (§§ 18-24). In den Erläuterungen
über die evangelische Kirche im 19. Jahrhundert kann er aus
seinem Reichtum an profunden Kenntnissen schöpfen und
auf viele eigene Forschungsleistungen zurückgreifen. Nicht
weniger kenntnisreich sind seine Ausführungen über die für
die katholische Kirche bedeutenden Ereignisse der zweiten
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Link, Kirchliche Rechtsgeschichte
Traub
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Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere den Kulturkampf
(S. 151 ff.) und das Erste Vatikanische Konzil (S. 159).
Im Anschluss daran schildert Link die Umwälzungen des
20. Jahrhunderts (§§ 25-29). Von besonderer Bedeutung für
das jetzige Verhältnis von Staat und Kirche sind dabei die
Hinweise auf den Kulturkompromiss der Weimarer Verfassung, also jene Vorschriften, die teilweise gem. Art. 140 GG
Bestandteil des Grundgesetzes und damit noch heute vollgültiges Verfassungsrecht sind. Treffend wird das staatskirchenrechtliche System von Weimar als Ausgleichsordnung (S. 181)
charakterisiert. Das Verbot der Staatskirche gem. Art. 137
Abs. 1 WRV wird nicht zum übergeordneten Leitprinzip erhoben, gegenüber dem alle anderen Vorschriften als eng auszulegende und begründungsbedürftige Ausnahmen angesehen
werden. Vielmehr stellt Link das Staatskirchenverbot neben
andere Bestimmungen der Weimarer Verfassung, die eine positive Neutralität und die Möglichkeit zur Kooperation zwischen Staat und Religionsgesellschaften garantieren, wie das
kirchliche Besteuerungsrecht, der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach oder die Militär- und Anstaltsseelsorge.
In einem eigenen Kapitel zeichnet Link das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus
nach. Neben den Auswirkungen auf die beiden Großkirchen
werden dabei auch die Verfolgung der „Zeugen Jehovas“ und
der Vernichtungsfeldzug gegen das Judentum beschrieben.
Links Darstellung der kirchlichen Rechtsgeschichte endet
nicht mit diesem dunklen Kapitel, sondern er führt den Leser
bis an die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit heran.
Dabei schildert der Autor zunächst die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche in den Nachkriegsjahren und
nennt als prägende normative Grundlagen neben den staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes die zahlreichen Kirchenverträge und Konkordate. Den Abschluss des
Werkes bildet ein kurzer Blick auf die Entwicklungen nach
der deutschen Wiedervereinigung. Hier scheut Link kein klares Wort, wenn er mit kurzen Strichen den Streit um das
Unterrichtsfach „LER“ in Brandenburg, den Konflikt um die
bayerischen Schulkreuze und die Herausforderungen des
Islam für das deutsche Staatskirchenrecht skizziert.
Das Fazit und der Ausblick von Link klingen optimistisch:
das deutsche Staatskirchenrecht sei elastisch genug, den neuen
Herausforderungen zu genügen, weil es nicht kirchliche Privilegien festschreibe, sondern einen freiheitlichen Ordnungsrahmen für das Wirken aller Religionsgemeinschaften bereitstelle.
Links „Kirchliche Rechtsgeschichte“ ist keine blutleere
Aneinanderreihung historischer Fakten, sondern engagierte
Geschichtsschreibung eines Autors, der seine tiefe Verwurzelung im Protestantismus nicht versteckt. Dass ihm bei aller
wissenschaftlichen Distanz die Religionsfreiheit, deren Ursprünge im „jus emigrandi“ des Augsburger Religionsfriedens
von 1555 liegen, eine Herzensangelegenheit ist, zeigt sein
persönlicher Ausruf „Was die Versagung eines solchen ‚Jus
emigrandi‘ bedeutet, wissen alle Bürger der ehemaligen
DDR!“ (S. 78).
Wie wichtig das Anliegen dieses Werkes ist, die kirchliche
Entwicklung in ihrer Wechselbeziehung zu Staat und Gesellschaft zu präsentieren, hat das Bundesverfassungsgericht in
anderem Zusammenhang, nämlich in seiner Entscheidung
über die Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen
formuliert: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen
und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung
seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und
die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe
heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen.
Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“
Man möchte ergänzen: Diese Denktraditionen und Sinnerfahrungen können auch den vorwiegend aufs weltliche
Recht blickenden (angehenden) Juristen nicht gleichgültig
sein. Die „Kirchliche Rechtsgeschichte“ von Link bietet in
hervorragender Weise einen vertieften Einblick in diesen bedeutenden Bestandteil europäischer Rechtskultur – wissenschaftlich fundiert und zugleich interessant und spannend
geschrieben.
Wiss. Mitarbeiter Thomas Traub, Köln
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ZJS 4/2014
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Das argumentum ad absurdum und seine Bedeutung in examensrelevanten
Meinungsstreitigkeiten
Von Wiss. Mitarbeiter Holger Stellhorn, Münster*
I. Einleitung
Viele Juristen lieben es, das argumentum ad absurdum aus
dem rhetorischen Arsenal zu holen. Wie leicht kann man eine
Gegenmeinung ins Schwanken bringen: Man zeige auf, welche absurden Folgen sie mit sich bringt – Folgen, die der
Gesetzeslogik, der Gerechtigkeit oder dem gesunden Menschenverstand widersprechen – dann verfehlt der rhetorische
Pfeil sein Ziel nicht. Hat man dem Gegner so den argumentativen Blattschuss verpasst, ist er schnell gefallen. Entsprechend
beliebt ist das argumentum ad absurdum in Rechtsprechung
und Literatur. Wer aber genauer hinschaut, wird erkennen,
dass es oft nicht so elegant überzeugt. Wie man ein argumentum ad absurdum erkennt, es auf seine Überzeugungskraft
prüft und in examensrelevanten Meinungsstreitigkeiten verwendet, möchte dieser Beitrag zeigen. Dazu geht er auf den
Begriff und den Ursprung des Absurditätsarguments ein (II.),
stellt seine Gültigkeitsvoraussetzungen dar (III.) und zeigt an
jeweils zwei Beispielen aus dem Straf-, Zivil- und Öffentlichen Recht, wie man mit ihm argumentieren kann (IV.).
II. Begriff und Ursprung
Beim argumentum ad absurdum handelt es sich um einen
indirekten Beweis: Statt die Überzeugungskraft der eigenen
Ansicht zu untermauern, zerstört man die der Gegenansicht,
indem man ihre absurden Konsequenzen offenlegt. Oft wird
das Absurditätsargument nicht als erstes genannt, sondern flankiert die Hauptargumente der eigenen These. Man erkennt es
an der Formulierung, die Gegenansicht sei „untragbar“, „unannehmbar“, „unhaltbar“ oder „widersinnig“.1 Schopenhauer
bezeichnete es als Apagoge: „wir nehmen seinen [des Gegners] Satz als wahr an, und nun zeigen wir, was daraus folgt
[…], [dass] nun eine Konklusion entsteht, die offenbar falsch
ist“; „widerspricht sie einer ganz unbezweifelbaren Wahrheit
gradezu, so haben wir den Gegner ad absurdum geführt.“2
Bereits in der antiken Rhetorik war das argumentum ad
absurdum bekannt und bewährt. Es beruhte auf der Maxime
der Folgenberücksichtigung („quidquid agis, prudenter agas,
et respice finem“ – „Was auch immer du tust, tue es klug und
bedenke das Ende“).3 Eines der ältesten Beispiele bringt
Platon in der Apologie des Sokrates:4 Sokrates war der Gott* Der Verf. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Janbernd Oebbecke).
1
Nachweise bei Diederichsen, in: Paulus/Canaris/Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag,
S. 155 (157).
2
Schopenhauer, Eristische Dialektik oder die Kunst, Recht
zu behalten, Nachdruck 1991, S. 22 f.
3
Wacke, in: Gerkens (Hrsg.), Mélanges Fritz Sturm, Bd. 1,
1999, S. 547.
4
Nach Daube, Roman Law, Linguistic, Social and Philosophical Aspects, 1969, S. 176 ff.
losigkeit angeklagt. Der Ankläger Meletos erwähnte, dass Sokrates an übermenschliche „daimonische“ Wesenheiten glaube. Sokrates führt die Anklage ad absurdum: Da daimonia
göttliche Wesenheiten seien, müsse er auch an Götter glauben.
„Gibt es jemanden, der zwar an Wirkungen von göttlichen
Wesen (daimonia) glaubt, an göttliche Wesen (daimones)
selbst jedoch nicht?“ – „Wenn ich also an die Realität von
göttlichen Wesen glaube, wie du behauptest, und wenn diese
göttlichen Wesen eine Art von Göttern sind, habe ich dann
nicht recht, wenn ich sage, dass du ein Rätsel vorträgst […],
da du behauptest, dass ich nicht an Götter glaube und gleichwohl doch wieder an Götter glaube?“5 So konnte er zumindest
den Vorwurf der Gottlosigkeit rhetorisch entkräften.
III. Gültigkeitsvoraussetzungen
Das argumentum ad absurdum überzeugt nur, wenn es folgende Voraussetzungen6 erfüllt:
1. Absurditätspostulat
Die aufgezeigten Folgen der Gegenansicht müssen tatsächlich
absurd (dem Wortsinn nach widersinnig) sein, nicht bloß unerwünscht oder zweifelhaft. Im engen Sinne absurd ist eine
Folge, die ihren eigenen Grundannahmen widerspricht (wie
der Gottlosigkeitsvorwurf gegenüber Sokrates). Juristisch unsinnig ist eine Folge aber auch, wenn sie der Gesetzesregelung
entgegensteht (Beispiel: Die subjektive Ansicht der „Falschaussage“ nach § 153 StGB setzt sich in Widerspruch zu § 161
StGB.7) Im weiteren Sinne absurd sind Folgen, die sich nicht
mit einer verständigen Wertung vereinbaren lassen, wenn etwa
ein bösgläubiger Besitzer im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis
besser stehen würde als ein redlicher.
Wie entkräftet man ein Absurditätsargument? Häufig reicht
schon Folgendes: Man lege dar, warum die Folge nicht absurd sei. Im Strafrecht ist die Formel beliebt, man müsse
„Strafbarkeitslücken schließen.“ Dahinter steht die Überlegung, es sei widersinnig, ein allgemein als strafwürdig empfundenes Verhalten nicht zu bestrafen. Diese Folge ist aber
nicht absurd: Das Strafrecht kann als ultima ratio nicht jedes
gefühlt strafwürdige Verhalten unter Strafe stellen, es hat
fragmentarischen Charakter.8
5
Nach Platon, Apologie, 27c/27d.
Nach Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens,
3. Aufl. 2014, S. 190 ff.
7
Vgl. Katzenberger/Pitz, ZJS 2009, 659 f.: „Würde man mit
der rein subjektiven Theorie ein Wissen bzgl. der Falschheit
verlangen, wäre der Tatbestand der fahrlässigen Falschaussage quasi überflüssig: Der Täter würde nahezu immer wissentlich und damit vorsätzlich handeln.“
8
Walter, Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2009, S. 204.
Zum Argument der Strafbarkeitslücke Kertai, JuS 2011, 976.
6
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2. Folgerichtigkeitspostulat
Die absurde Konsequenz muss folgerichtig aus der Gegenansicht folgen, sie darf nicht nur behauptet sein. Wer absurde
Folgen bloß konstruiert, bedient sich der „Konsequenzmacherei“: „Man erzwingt aus dem Satze des Gegners durch falsche
Folgerungen und Verdrehung der Begriffe Sätze, die nicht
darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind“.9
3. Exklusivitätspostulat
Das argumentum ad absurdum gelingt nur, wenn außer der ad
absurdum geführten Ansicht nur die eigene Ansicht vertreten
werden kann, es darf keine dritte Option zur Lösung des
Problems geben. Bei mehr als einer Gegenansicht muss man
jede von ihnen widerlegen – das ist der Nachteil des indirekten Beweises: Er kann nur die Schwächen der anderen Ansichten aufzeigen, nicht die Stärke der eigenen. Um das Absurditätsargument zu entkräften, genügt es also, eine dritte
Ansicht in die Argumentation einzubringen.
4. Vollständigkeitspostulat
Die eigene Ansicht muss die absurde Folge in jedem denkbaren Fall vermeiden; es darf keine Möglichkeit ersichtlich sein,
in der die absurde Folge auch auf Grundlage der eigenen
These eintritt. In diesem Fall ist die vorgeschlagene Lösung
nämlich kein Mittel, ein widersinniges Ergebnis zu verhindern.
5. Ausschließlichkeitspostulat
Das Ausschließlichkeitspostulat fordert: Das absurde Ergebnis kann nur verhindert werden, indem man die Gegenthese
vollständig aufgibt. Kann die Gegenthese die Absurdität vermeiden – etwa durch enge Auslegung oder teleologische Reduktion –, dann verliert das argumentum ad absurdum seine
Gültigkeit.
IV. Beispiele in juristischen Meinungsstreitigkeiten
1. Strafrecht
a) „Blutbadargument“
Das berühmteste argumentum ad absurdum ist Bindings „Blutbadargument“. Es wurde anhand des Falles Rose-Rosahl10 entwickelt:
Fall: Rosahl beauftragt Rose, den Schliebe zu töten. In der
Dämmerung sieht Rose einen Mann, den er für Schliebe
hält, und erschießt ihn. In Wirklichkeit handelt es sich um
einen anderen (Harnisch).
Rose unterliegt einem unbeachtlichen error in persona, er ist
strafbar wegen vollendeter Tötung. Rosahl wollte aber nicht,
dass ein Unbeteiligter getötet wird. Wie wirkt sich nun der
error in persona des Haupttäters auf den Anstifter aus? Soll er
wegen vollendeter oder nur versuchter Anstiftung bestraft
werden? Nach der Unbeachtlichkeitstheorie ist der Irrtum des
Haupttäters auch für den Anstifter unbeachtlich, Rosahl hätte
9
Kunstgriff Nr. 24 bei Schopenhauer (Fn. 2), S. 50.
Preußisches Obertribunal GA 7 (1859), 322.
10
eine vollendete Anstiftung begangen.11 Die aberratio ictusLösung vertritt, das Werkzeug habe wie ein Pfeil sein Ziel
verfehlt, Rosahl sei wegen versuchter Anstiftung strafbar.12
Die Wesentlichkeitstheorie fragt danach, ob das Tatgeschehen
wesentlich von der Vorstellung des Anstifters abweicht (dann
sei die Anstiftung im Versuchsstadium geblieben).13
Bindings Blutbadargument richtet sich gegen die Unbeachtlichkeitslösung: Erschieße Rose mehrere Personen, immer
im Glauben, den richtigen zu treffen, müsste Rosahl der „Anstifter zu dem ganzen Gemetzel“14 sein, obwohl er nur einen
Menschen töten lassen wollte. Überzeugt dieses Argument?
Es scheint in der Tat absurd, den Anstifter für ungleich mehr
Taten zu bestrafen, als er sich vorstellte. Seine Verantwortung für das „Gemetzel“ lässt sich auch folgerichtig aus der
Unbeachtlichkeitslösung herleiten. Das Blutbadargument hält
aber das Vollständigkeitspostulat nicht ein:15 Dieselbe absurde Folge träte auch dann ein, wenn Rose auf den (richtigen)
Schliebe geschossen, aber einen oder mehrere Nebenstehende
getroffen hätte – diese aberrationes ictus entsprächen Rosahls
Auftrag; auch in diesem Fall wäre er für das Gemetzel verantwortlich. Die Ablehnung der Unbeachtlichkeitslösung beseitigt das absurde Ergebnis also nicht; die Lösung muss vielmehr darin liegen, Rosahls Anweisungen an Rose genauer zu
untersuchen, wie es die Wesentlichkeitstheorie tut.
b) Nötigungsnotstand
Fall: A droht B mit dem Tode, wenn er nicht den C
schlage. B greift den C an.
Darf sich C gegen den Angriff wehren? Sein Notwehrrecht
hängt davon ab, dass B rechtswidrig handelt, also nicht seinerseits gerechtfertigt ist. Die Rechtfertigungslösung geht davon
aus, B sei wegen Notstands (§ 34 StGB) gerechtfertigt,16
während die Entschuldigungslösung vertritt, B sei allenfalls
nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt.17
Das Absurditätsargument der Entschuldigungslösung lautet: „Das Vertrauen in die Geltungskraft der Rechtsordnung
würde zutiefst erschüttert, wenn dem Angegriffenen (C) Abwehrrechte gegen den Genötigten (B) vollständig versagt
blieben“.18 Muss man dieser Argumentation folgen? In der
Tat „hätte das unschuldige […] Opfer […] kein Notwehrrecht
gegen den Genötigten […]. Das ist zwar richtig. Es ist aber
nicht absurd.“19 Das Opfer (C) kann sich nämlich nach den
11
So das Preußische Obertribunal GA 7 (1859), 322 (336 f.).
Dehne-Niemann/Weber, Jura 2009, 373 (378).
13
BGHSt 37, 214.
14
Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 3, 1918
(Nachdruck 1965), S. 214 Fn. 9.
15
Puppe (Fn. 6), S. 197 f.; ebenso Dehne-Niemann/Weber,
Jura 2009, 373 (377).
16
Z.B. Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2013,
Kap. 17 Rn. 18 ff.
17
Z.B. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
43. Aufl. 2013, Rn. 443.
18
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 17), Rn. 443.
19
Walter (Fn. 9), S. 203 (Hervorhebung durch Verf.).
12
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Das argumentum ad absurdum und seine Bedeutung
Notstandsregeln (§ 34 StGB) verteidigen. Ihm das scharfe
Schwert der Notwehr zu versagen, ist angesichts der Schutzwürdigkeit des Genötigten (B) auch nicht untragbar. Mit einem anderen Absurditätsargument kann man umgekehrt die
Entschuldigungslösung angreifen: Würde A nicht B, sondern
einen Dritten mit dem Tode bedrohen, könnte B sich auf
keinen entschuldigenden Notstand stützen, da die Gefahr
nicht ihm selbst oder einer nahestehenden Person droht – „es
liegt auf der Hand, dass dies nicht richtig sein kann.“20
(bereits „entstandenes Pfandrecht“?) und der Systematik (Vergleich mit § 366 Abs. 3 HGB) finden.
b) Nutzungsersatz bei nichtiger Veräußerung
Mitunter verwendet man das argumentum ad absurdum, um
das Gesetz selbst zu korrigieren, wenn es zu absurden Folgen
führt.
Fall: E verkauft und übereignet ein bebautes Grundstück
an D. Der schuldrechtliche Vertrag ist unwirksam, die
Übereignung aber wirksam. D hat zwischenzeitlich Miete
eingenommen.
2. Zivilrecht
a) Gutgläubiger Erwerb des Unternehmerpfandrechts
Fall: E verkauft dem B ein Auto unter Eigentumsvorbehalt. B bringt das Auto nach einem Unfall zur Reparatur
in die Werkstatt des W. Als B die ausstehenden Kaufraten
nach wiederholter Aufforderung nicht zahlt, tritt E vom
Vertrag zurück und verlangt von W die Herausgabe des
Wagens.
W kann die Herausgabe verweigern, wenn er ein Recht zum
Besitz (§ 986 Abs. 1 S. 1 BGB) hat. Möglicherweise steht
ihm ein Werkunternehmerpfandrecht zu. Nach § 647 BGB
hat W kein Pfandrecht erworben, denn das Auto war nicht
„Sache des Bestellers“. Umstritten ist aber, ob W das Pfandrecht gutgläubig nach §§ 1257, 1207, 932 ff. BGB erworben
haben könnte. Ein Teil des Schrifttums lässt den gutgläubigen
Erwerb zu,21 doch die überwiegende Ansicht lehnt ihn ab.22
Sie argumentiert gegen den Gutglaubenserwerb des Pfandrechts: Um sein Auto zu bekommen, müsste E die Werkvertragssumme auslösen. Es sei aber untragbar, dass er sogar für
wirtschaftlich sinnlose Aufwendungen haften müsse,23 dann
wäre der Werkvertrag ein unzulässiger Vertrag zulasten Dritter.24
Ein Vertrag zulasten unbeteiligter Dritter widerspricht in
der Tat der Regelungssystematik des BGB. Mit guten Gründen
kann man die Absurdität aber auch zurückweisen: Der Vorbehaltsverkäufer hat regelmäßig ein Interesse daran, dass die
Sache funktionstüchtig bleibt. Er hat auch nicht die Stellung
eines Unbeteiligten, da er sein Eigentum willentlich aus der
Hand gegeben und der Gefahrensphäre des B überlassen hat25
– daher ist es nicht absurd, dass er die Werkvertragssumme
bezahlt. Das argumentum ad absurdum führt also nicht weiter;
die Lösung muss man in dem Wortlaut des § 1257 BGB
20
Frister (Fn. 16), Kap. 17 Rn. 19.
Z.B. Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 55 Rn. 40;
Wiegand, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 3, §§ 1204-1296, 15. Aufl. 2009, § 1257
Rn. 14.
22
BGHZ 34, 153; Prütting, Sachenrecht, 35. Aufl. 2014,
Rn. 790.
23
Henke, AcP 161 (1962), 1 (30).
24
Peters/Jacoby, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 2, §§ 631-651, 15. Aufl. 2013, § 647
Rn. 16.
25
Kraft, NJW 1963, 741 (744).
21
ALLGEMEINES
Bereicherungsrechtlich kann E neben der Rückübereignung
des Grundstücks auch die Herausgabe der gezogenen Nutzungen, also die Mieteinnahmen verlangen (§ 818 Abs. 1 BGB).
Was aber wäre, wenn E unerkannt geisteskrank ist, sodass
auch die dingliche Eigentumsübertragung unwirksam ist? In
diesem Fall ist E Eigentümer geblieben, zwischen ihm und D
besteht ein Eigentümer-Besitzer-Verhältnis. Nach § 993 Abs. 1
Hs. 2 BGB muss der redliche Besitzer aber keine Nutzungen
herausgeben. Absurde Folge: Der Eigentümer, der sein Eigentum verloren hat, steht besser als derjenige, der es behalten
hat – ein klarer Wertungswiderspruch.26 Hier erfüllt das Absurditätsargument alle Gültigkeitsvoraussetzungen: Es ist tatsächlich absurd, den Eigentümer, der sein Eigentum nicht verloren hat, schlechter zu stellen. Die absurde Konsequenz lässt
sich auch nicht anders vermeiden, als die gesetzliche Regelung anzupassen. Dementsprechend wird vertreten, entweder
§ 988 BGB auf den rechtsgrundlosen Besitzer analog anzuwenden oder die Sperrwirkung des § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB
gegenüber dem Bereicherungsrecht aufzugeben.27
3. Öffentliches Recht
a) Rücknahmefrist des § 48 Abs. 4 VwVfG
Eines der umstrittensten Probleme des Allgemeinen Verwaltungsrechts ist die Frist zur Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte nach § 48 Abs. 4 VwVfG. Beginnt die Jahresfrist erst zu laufen, wenn die Behörde sämtliche Tatsachen ermittelt hat, insbesondere auch ermessensrelevante Gesichtspunkte? Dann würde der Jahreszeitraum für die bloße Entscheidung, ob der Verwaltungsakt aufgehoben wird, gelten;
eine solche Entscheidungsfrist vertritt die Rechtsprechung.28
Die herrschende Lehre sieht in § 48 Abs. 4 VwVfG hingegen
eine Bearbeitungsfrist: Bereits ab dem ersten Anhaltspunkt
für eine Rechtswidrigkeit müsse die Behörde tätig werden und
das Rücknahmeverfahren innerhalb eines Jahres erledigen.29
Für die These der Bearbeitungsfrist führt die Lehre ein
gewichtiges argumentum ad absurdum an: Sonst könnte die
Behörde die Rücknahmefrist durch immer neue Ermittlungen
26
Wacke (Fn. 3), S. 547 (566).
Vgl. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 24. Aufl. 2013,
Rn. 600: „Dieses unsinnige Ergebnis lässt sich […] auf zwei
Wegen korrigieren“.
28
BVerwGE 70, 356 (362); BayVGH BayVBl. 1980, 501 f.
29
Statt aller Ehlers/Kallerhoff, Jura 2009, 823 (834).
27
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strecken und so die Regelung unterlaufen.30 Gegen dieses Argument wenden das BVerwG und Sodan/Ziekow ein, es hänge
nicht allein vom Willen der Behörde ab, die Entscheidungsreife herbeizuführen.31 Haben sie das Absurditätsargument
damit entkräftet? Zunächst ist zu klären, worin die absurde
Folge bestehen soll: Mit der Formel, die Regel werde unterlaufen, ist gemeint, es sei absurd, wenn eine Frist keinerlei
Druck zur Beschleunigung entfalte – „Es kann aber nicht
Wille des Gesetzgebers sein, die Frist weitgehend zur Bedeutungslosigkeit degenerieren zu lassen.“32 Der Einwand des
Bundesverwaltungsgerichts und von Sodan/Ziekow lässt sich
dahingehend deuten, dass sie die Absurdität verneinen: Eine
Frist, die keinen Druck entfaltet, sei dann nicht absurd, wenn
das eigene Verhalten nichts zur Entscheidungsreife beitragen
kann.
Dieser Einwand würde treffen, wenn seine Annahme richtig wäre. Allerdings ist ein solcher Fall, in dem die Behörde
durch eigene Ermittlungen keinerlei Beitrag zur Entscheidungsreife bringen kann, nur schwer vorstellbar – sie könnte
ihre Auskunftsbefugnisse nutzen oder ein Schweigen des
Begünstigten zu seinem Nachteil auslegen; zudem geht der
Gesetzgeber bei der Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO
selbst davon aus, dass die Behörde sogar einen unbekannten
Sachverhalt innerhalb von drei Monaten ermitteln kann.33
Das Absurditätsargument der Bearbeitungsfrist-Vertreter wurde daher nicht überzeugend widerlegt, es ist das stärkste Argument gegen eine Entscheidungsfrist.
c) Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten bei freigestellten Bauvorhaben
Im Baurecht hat sich die weitgehende Verfahrensliberalisierung auf den Rechtsschutz des Nachbarn ausgewirkt: Benötigt
der Bauherr keine Baugenehmigung mehr, kann der Nachbar
gegen ein Vorhaben, das seine subjektiv-öffentlichen Nachbarrechte verletzt, keine Anfechtungsklage mehr erheben. Ihm
bleibt nur die Möglichkeit, die Baubehörde zum Einschreiten
aufzufordern. Während aber bei einer Anfechtungsklage jeder
Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Normen die Baugenehmigung zu Fall bringen kann, steht ein repressives Einschreiten
regelmäßig im Ermessen der Behörde; im Bauordnungsrecht
hat man nur bei schweren Beeinträchtigungen einen Anspruch
auf Einschreiten.34
Man könnte daher vertreten, das Entschließungsermessen
zum Einschreiten zugunsten des Nachbarn eines genehmigungsfreigestellten Bauvorhabens sei auf Null zu reduzieren.
Wer das tut, argumentiert folgendermaßen: Der Nachbar dürfe
bei einer Genehmigungsfreistellung nicht schlechter stehen als
30
Ehlers/Kallerhoff, Jura 2009, 823 (834); Erbguth, JuS
2002, 333; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl.
2011, § 11 Rn. 35a; Schoch, NVwZ 1985, 880 (882); Stadie,
DÖV 1992, 247 (250).
31
BVerwGE 70, 356 (363); Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 6. Aufl. 2014, § 82 Rn. 13.
32
Stadie, DÖV 1992, 247 (250 f.).
33
Stadie, DÖV 1992, 247 (251).
34
BayVGH NVwZ-RR 1994, 631 f.; VGH BW VBl. BW
1992, 103 f.
bei einem genehmigungsbedürftigen Bauvorhaben.35 Die unbeabsichtigten Folgen der Gesetzesänderung werden ad absurdum geführt: Man müsse verhindern, dass eine Gesetzesnovelle Auswirkungen hat, die sie ausdrücklich nicht bezweckt. Dieses Absurditätsargument erfüllt alle Gültigkeitsvoraussetzungen: Die Folge, den Nachbarn eines genehmigungsfreigestellten Vorhabens schlechter zu stellen als den
eines genehmigungsbedürftigen, ist erkennbar unsinnig; sie ergibt sich auch folgerichtig aus der herkömmlichen Ermessensdogmatik.
Allerdings wird ein anderes argumentum ad absurdum
gegen die These der Ermessensreduktion vorgebracht: Die
absurde Folge würde eintreten, dass sich der Nachbar gegen
einen Schwarzbau schlechter zur Wehr setzen könnte als gegen freigestellte Vorhaben, da bei einem Schwarzbau die
allgemeinen Regeln für ein behördliches Einschreiten gelten
(Ermessensreduktion nur bei unzumutbarer Beeinträchtigung).36 Diese Argumentation erfüllt allerdings nicht das Folgerichtigkeitspostulat: Auch nach der herkömmlichen Auslegung hat der Nachbar einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, was bei Schwarzbauten in der Regel einen Anspruch auf Einschreiten bedeutet.37 Das Absurditätsargument der Ermessensreduktions-Vertreter wurde daher
nicht entkräftet; es verwundert nicht, dass ihr weite Teile der
Rechtsprechung folgen.38
V. Fazit
Das argumentum ad absurdum ist nicht so treffsicher, wie es
scheint: Beim Streit um den error in persona des Haupttäters,
den Nötigungsnotstand und den gutgläubigen Erwerb des
Unternehmerpfandrechts konnte es nicht überzeugen. Stark ist
es nur, wenn es tatsächlich einen logischen Widerspruch aufzeigt, schwach hingegen, wenn sich über die angeblich untragbare Folge streiten lässt.39 Man kann es entkräften, indem
man zeigt, dass die Folgen gar nicht absurd sind, eine dritte
Lösung möglich ist oder das absurde Ergebnis durch eine andere Auslegung vermieden wird. Da es so leicht angreifbar
ist, taugt es nur als zweitbestes Argument;40 besser unterstützt
man die eigene Ansicht mit den anerkannten Auslegungsmethoden, als die gegnerische These zu zersetzen.
35
BayVGH NVwZ 1997, 923; Degenhart, NJW 1996, 1433
(1436 ff.); Martini, DVBl. 2001, 1488 (1492); Numberger,
BayVBl. 2008, 741 (744).
36
Bock, DVBl. 2006, 12 (15); Borges, DÖV 1997, 900 f.;
Decker, JA 1998, 799 (805).
37
Martini, DVBl. 2001, 1488 (1493).
38
BayVGH NVwZ 1997, 923; VGH BW BauR 1995, 219 f.;
OVG SN NVwZ 1997, 922.
39
Vgl. Diederichsen (Fn. 1), S. 177.
40
Vgl. Daube (Fn. 4), S. 189.
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