Die Entdeckung der Langsamkeit

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Die Entdeckung der Langsamkeit
Königs Erläuterungen und Materialien
Band 427
Erläuterungen zu
Sten Nadolny
Die Entdeckung
der Langsamkeit
von Stefan Munaretto
Über den Autor der Erläuterung:
Stefan Munaretto wurde 1955 geboren. Er unterrichtet Deutsch
und Englisch an einem Gymnasium in Braunschweig und lebt mit
seiner Familie in Wolfenbüttel. Als Autor von Interpreta­tionen
und Lernhilfen zur Literatur und zum Film hat er mehrere Artikel
und Bücher veröffentlicht.
Hinweis:
Die Rechtschreibung wurde der amtlichen Neuregelung
von 2006 angepasst.
Zitate von Sten Nadolny müssen auf Grund eines Einspruches in der alten Rechtschreibung beibehalten werden.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
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werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung
für Unterrichtszwecke!
2. Auflage 2009
ISBN 978-3-8044-1814-1
© 2006 by Bange Verlag, 96142 Hollfeld
Alle Rechte vorbehalten!
Titelabbildung: Sten Nadolny © Ekko von Schwichow,
Joachim-Friedrich-Straße 33, 10711 Berlin.
Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk
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Inhalt
Vorwort .........................................................................
5
Sten Nadolny: Leben und Werk .................................
Biografie .........................................................................
Zeitgeschichtlicher Hintergrund .....................................
Angaben und Erläuterungen
zu wesentlichen Werken .................................................
8
8
10
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
2.7
Textanalyse und -interpretation .................................
Entstehung und Quellen .................................................
Inhaltsangabe .................................................................
Aufbau ...........................................................................
Personenkonstellation und Charakteristiken ...................
Sachliche und sprachliche Erläuterungen .......................
Stil und Sprache ..............................................................
Interpretationsansätze ....................................................
35
35
37
43
59
70
76
78
3.
Themen und Aufgaben ...............................................
86
4.
Rezeptionsgeschichte ...................................................
89
5.
Materialien ...................................................................
92
Literatur .......................................................................
96
1.
1.1
1.2
1.3
33
3
4
Vorwort
Vorwort
In Elias Canettis Buch Die Provinz des Menschen findet sich ein
Gedankenspiel, das von der Annahme ausgeht, der Mensch sei
„von einem bestimmten Zeitpunkt ab“ vollständig von der Realität
abgeschnitten worden:
„Ohne es zu merken, hätte die Menschheit insgesamt die Wirklichkeit
plötzlich verlassen; alles, was seitdem geschehen sei, wäre gar nicht
wahr; wir könnten es aber nicht merken. Unsere Aufgabe sei es nun,
diesen Punkt zu finden, und so lange wir ihn nicht hätten, müssten
wir in der jetzigen Zerstörung verharren.“1
Andere Schriftsteller haben die Frage nach diesem Punkt, an dem
die Wirklichkeit möglicherweise verschwunden ist, als anregendes
Rätsel empfunden und sich damit auseinandergesetzt. Auch der Leser von Die Entdeckung der Langsamkeit2 könnte leicht den Eindruck
gewinnen, Sten Nadolny habe sich der Aufgabe unterzogen, einen
Beitrag zur Lösung der von Canetti gestellten „Aufgabe“ zu finden.
Seine Antworten hätten dann vor allem etWahrnehmung und Verlust
was mit der menschlichen Wahrnehmung
der Wirklichkeit
zu tun. Der Roman präsentiert nämlich
eine Fülle von Figuren, denen die Realität entgleitet, weil sie sie
nicht mehr angemessen und ihren natürlichen Fähigkeiten entsprechend auffassen können. Besondere Bedeutung bei der Zerstörung
der Wirklichkeit wird der rasanten Entwicklung der modernen
Maschinen und Apparate, insbesondere in der Transport- und Kommunikationstechnologie, beigemessen. Zunächst sind es die Postkutschen, später die Dampfboote, Lokomotiven und Kameras, von
denen im Roman die Rede ist, die permanent das Sehen beschleunigen und damit Raum und Zeit im Bewusstsein des Wahrnehmenden
1
2
Canetti, Elias: Die Provinz des Menschen. 16. Au!age. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch
Verlag, 1976. S. 95.
In diesem Erläuterungsband wird nach der bekannten Taschenbuchausgabe des Romans zitiert,
welche den Regeln der alten Rechtschreibung folgt: Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit. 39. Au!age. München: Piper, 2005 (Serie Piper, Bd. 700).
Vorwort
5
Vorwort
vernichten. Den Punkt, an dem dieser Vorgang einsetzte und nach
dem Canetti fragt, würde Nadolny im Zeitalter der Frühindustrialisierung ansiedeln, als Wissenschaft und Technik einen unerhörten
Aufschwung nahmen, was dramatische Umwälzungen in der Gesellschaft zur Folge hatte. Damals kam die Schnelligkeit erst richtig in
die Welt. Weil u. a. plötzlich die Eisenbahn die zuvor mögliche Reisegeschwindigkeit vervielfachte, gilt die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Kulturwissenschaft als der entscheidende Einschnitt
im raum-zeitlichen Bewusstsein des Menschen. Es ist die Zeit des
„ersten Schocks“, wie Wolfgang SchivelFrühindustrialisierung:
busch schreibt, alle späteren technischen
Zeit des „ersten Schocks“
Entwicklungen fänden in seinem „Windschatten“ statt.3 So präsentiert auch Nadolny das Zeitalter in seinem
Roman. Der Wirklichkeitsverlust durch die virtuellen Welten von
heute stellt gegenüber den Technologien, denen John Franklin in
Nadolnys Roman ausgesetzt ist, nur eine quantitative Steigerung
dar, nichts grundsätzlich anderes. Eine Erklärung für das verbreitete
Interesse an Die Entdeckung der Langsamkeit könnte darin bestehen,
dass dieser zweihundert Jahre alte Beschleunigungsschock noch
heute nachwirkt und bei aller scheinbaren Gewöhnung an die immer schnellere Welt nicht bewältigt ist.
Die Entdeckung der Langsamkeit erforscht also, wann und warum
es zum Verschwinden der Wirklichkeit kam, erinnert andererseits
aber auch an das, was verlorengegangen ist. Nadolnys Roman hat
einer breiten Leserschaft bewusst gemacht, dass es einen Reichtum
an Erfahrung und Zeit jenseits von Tempowahn und Rastlosigkeit
geben kann. Er spielt außerdem durch, was sich hätte entwickeln
können, wenn es an dem entscheidenden „Punkt“ der Geschichte
mehr Vertreter einer sanften Aufklärung und eines für Natur und
Menschen verträglichen technischen Fortschritts wie seinen John
Franklin gegeben hätte. Dies dürfte der zweite Grund für den Erfolg
3
6
Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und
Zeit im 19. Jahrhundert. München/Wien: Hanser, 1977. S. 44.
Vorwort
Vorwort
des Romans sein: Er vermittelt mit seiDas humane Prinzip der
nem humanen Prinzip der Langsamkeit
Langsamkeit
auch die Hoffnung, dass wir (in Canettis
Worten) nicht für immer „in der jetzigen Zerstörung verharren“
müssen.
Vorwort
7
1.1 Biogra!e
1. Sten Nadolny: Leben und Werk
1.1 Biogra!e
Jahr
Ort
1942
Zehdenick/
Havel
Ereignis
Alter
Am 29. Juli geboren als Sohn der
Schriftsteller Burkhard und Isabella Nadolny
1961
Traunstein
Abitur an einem humanistischen
19
Gymnasium
bis 1976 München,
Studium in Geschichte und Po34
Göttingen,
litologie; Abschluss mit einer
Tübingen und Promotion über AbrüstungsverBerlin
handlungen in der Weimarer Republik
1974–
Berlin
Tätigkeit als Lehrer an einem 32–35
1977
Gymnasium in Spandau
1980
Klagenfurt
Ingeborg-Bachmann-Preis für ein
38
Kapitel aus dem unveröffentlichten Roman Die Entdeckung der
Langsamkeit
1981
Netzkarte (Roman)
39
1983
Die Entdeckung der Langsamkeit
41
(Roman)
1985
Neumünster
Hans-Fallada-Preis
43
1986
Vallombrosa
Premio Vallombrosa (italienische
44
(Toskana)
Auszeichnung für ausländische
Literatur)
1990
Selim oder die Gabe der Rede (Ro48
man);
Das Erzählen und die guten Absichten. Münchner Poetik-Vorlesungen im Sommer 1990
8
1. Sten Nadolny: Leben und Werk
1.1 Biogra!e
Jahr
Ort
Ereignis
1992
St. Louis
„Writer in Residence“ an der
Washington University
Ein Gott der Frechheit (Roman)
Ernst-Hoferichter-Preis
Er oder Ich (Roman)
Das Erzählen und die guten Ideen.
Die Göttinger und Münchener Poetik-Vorlesungen;
Amnea. Oder: Die fliegende Teetasse (eine Art Comic mit Zeichnungen des Graffiti-Künstlers
Loomit, zu der Nadolny die Geschichte schreibt);
Gastprofessur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (bis 2002)
Ullsteinroman
Jakob-Wassermann-Literaturpreis
Tätigkeit als Mainzer Stadtschreiber (Preis der Sender ZDF und
3sat sowie der Stadt Mainz, verbunden mit dem Wohnrecht im
Stadtschreiber-Domizil im Gutenberg-Museum)
1994
1996
1999
2001
München
Leipzig
2003
2004
2005
Fürth
Mainz
1. Sten Nadolny: Leben und Werk
Alter
50
52
54
57
59
61
62
63
9
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Industrialisierung
Zwischen 1780 und 1850 kommt es zu einem Einschnitt in der
Geschichte, der ähnlich gravierende Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen der Menschen hat wie zuvor wohl nur die „Neolithische
Revolution“, jene Übergangsphase, in der Jäger und Sammler dazu
übergingen, sesshaft zu werden und Ackerbau und Viehzucht zu
treiben. Doch während die neue Existenzform in der Steinzeit mehrere Jahrtausende lang benötigte, um sich allein über Europa auszubreiten, und die Menschen entsprechend viel Zeit hatten, um sich
daran anzupassen, hat die Industrialisierung innerhalb nur weniger
Massiver historischer Einschnitt Generationen „die Welt überfallen, unsere
ganze Existenz umgekrempelt, die Strukturen aller bestehenden Gesellschaften über den Haufen geworfen“4. Vor der Industrialisierung arbeiteten 80 % der erwerbstätigen
Bevölkerung in der kaum mechanisierten Landwirtschaft und waren überwiegend mit der Produktion von Nahrungsmitteln für den
Bedarf der näheren Umgebung beschäftigt (Subsistenzwirtschaft).
Noch im 17. Jahrhundert benötigte man eine fünfköpfige Bauernfamilie, um durchschnittlich 1,4 Stadtbewohner zu ernähren.5 Bis
1800 kommt es zu einer erheblichen Steigerung der Produktivität
auf dem Lande. Gleichzeitig ist eine große Bevölkerungszunahme zu
verzeichnen und in deren Gefolge massenhafte Landflucht, die die
Menschen in die schnell wachsenden Städte führt, wo sie hoffen,
Arbeit in den Fabriken zu finden.
Die Frühindustrialisierung ist gleichzeiEntstehung einer neuen
tig die sogenannte „Sattelzeit“, in der die
Mentalität
vormoderne Mentalität durch eine neue
4
5
10
Cipolla, Carlo M.: Die industrielle Revolution in der Weltgeschichte. S. 50. In: Kocka, J. u. Mütter,
B. (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. München: Bayrischer
Schulbuchverlag, 1984. S. 43–51.
Blickle, Peter: Bauer. S. 152. In: Van Dülmen, Richard (Hg.): Das Fischer Lexikon. Geschichte.
Aktualisierte Au!age. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003. S. 150–161.
1. Sten Nadolny: Leben und Werk