Der traurige Clown
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Der traurige Clown
1.Einleitung „Sprechen – Schreiben – Schweigen“1 Kurt Tucholsky starb am 21. Dezember 1935 in einem Krankenhaus in Göteborg an den Folgen einer Schlafmittelvergiftung. Er war einer der bekanntesten und wichtigsten politischen Publizisten und Satiriker der Weimarer Republik, und er war ein Chronist seiner Zeit. Er schrieb Unmengen: Artikel, Essays, Gedichte, Reportagen, Romane und sogar Chansons. Seine Artikel und Beiträge für die führenden Publikationsmedien der Weimarer Zeit waren wegweisend. Der Schriftsteller analysierte die politische und soziale Situation in Deutschland zwischen den Weltkriegen mit überragender Klarheit und Schärfe. In seinen Beiträgen entlarvte er das hinter der Fassade einer Republik weiterhin wirkende System der konservativen preußisch-deutschen Eliten in Politik, Justiz und Militär, die mit verbissener Hartnäckigkeit daran arbeiteten, die ungeliebte Demokratie zu einer Farce werden zu lassen. Er konnte jedoch mit den Hunderten von Beiträgen, die er während dieser kurzen Jahre der Weimarer Republik in den unterschiedlichsten Zeitungen veröffentlichte, nicht den Rechtsruck und schließlich das Abgleiten in die Diktatur verhindern. Desillusioniert von der Wirkungslosigkeit seines Kampfes für Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit verließ er Deutschland bereits Jahre vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Im schwedischen Exil verstummte der aufrechte Pazifist. Im Spätsommer 1932 erschien sein letzter gedruckter Artikel. Im Bewusstsein seines völligen Versagens wählte er in letzter Konsequenz den Selbstmord. In diesem Buch zeichne ich Tucholskys Weg in das Schweigen nach und gehe den Ursachen für sein Verstummen auf den Grund, die nicht allein in dem Gefühl der Vergeblichkeit seiner Mahnungen zu suchen sind. Ich untersuche die Faktoren, die dazu beitrugen, dass einer der aktivsten Publizisten der Weimarer Zeit und einer der leidenschaftlichsten Verteidiger einer fragilen Demokratie die Feder aus der Hand legte, in einem Moment, als gerade seine Stimme nötig gewesen wäre, um den Widerstand gegen den aufkommenden Faschismus zu stärken. Ich habe mich dabei für eine Methode entschieden, die die biographischen Aspekte in den Vordergrund hebt. Der Fokus dieser Untersuchung wird somit auf das Leben des Schriftstellers gelegt, bzw. auf die Verschriftlichung seiner Lebensstationen. Ganz bewusst habe ich seine psychischen und physischen Erkrankungen nachgezeichnet, weil sie für seine schriftstellerische Entwicklung von immanenter Bedeutung waren. Es war daher wichtig, seine eigenen sich 1 Letzte Seite von: Kurt Tucholsky: Sudelbuch. Abbildung in: Richard von Soldenhoff (Hg.): Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild. Weinheim / Berlin 1987. S. 256 8 Einleitung ständig wiederholenden Aussagen zu seinem Befinden in seiner Korrespondenz durch die Hervorhebung einschlägiger Briefstellen deutlich zu machen. Gebetsmühlenartig spricht er in seinen Briefen, in denen eine private, von den Regeln der Orthographie unabhängige Sprache und auch der Berliner Dialekt als Stilmittel Verwendung finden, von seiner permanenten Müdigkeit, ständig klagt er über Depressionen und Nasenbeschwerden, und immer wieder betont er, er habe mit allem nicht mehr zu tun. Es sind diese permanent wiederkehrenden klagenden Äußerungen, die zu seinem Refrain werden. Am Ende versteigt er sich in seitenlange Krankheitsbeschreibungen. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren waren die Briefe und die Q-Tagebücher ein letztes verbliebenes Sprachrohr für seine Wahrnehmung des Zeitgeschehens. Sie spiegeln den Seelenzustand des Autors wider und erhellen die Gründe für die Weigerung, weiterhin als Schriftsteller tätig zu sein. Auch Marcel Reich-Ranicki spricht im Fall Tucholsky von „Schreiben als Sucht“2 und hat wiederholt auf den Zusammenhang zwischen seiner seelischen Verfassung und seiner literarischen Produktion hingewiesen: Auf die psychische Konstitution Tucholskys ist auch die erstaunliche Zahl seiner meist kleinen Arbeiten zurückzuführen. Von innerer Unrast getrieben, kannte er weder Geduld noch Ausdauer. ( ) Diese Reizbarkeit, die er mit masochistischer Lust bis zu den äußersten Grenzen steigerte, ähnelte wohl einer Zwangsneurose. Gezwungen, unaufhörlich die Feinheiten der Sprechweise und somit das Lächerliche und Komische seiner Mitmenschen wahrzunehmen, muss er sicherlich gelitten haben wie ein Komponist, der sich nicht der auf ihn einstürmenden Motive erwehren konnte.3 Die Analyse der Werke Tucholskys wurde hier absichtlich ausgelassen, weil seine Veröffentlichungen in dieser Hinsicht bereits ausreichend und vielseitig bearbeitet wurden.4 Gerade in den letzten Jahren sind wichtige Arbeiten zur Werkanalyse erschienen. Im Jahre 2002 wurde der Sammelband Kurt Tucholsky. 2 3 4 Marcel Reich-Ranicki: Ein Deutscher ohne Deutschland, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 18.01.2011. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/fragen-sie-reichranicki/fragen-sie-reich-ranicki-ein-deutscher-ohne-deutschland-1582547.html. Zugriff am 15.3.2012. Marcel Reich-Ranicki: Ein Kleinkunsttalent des größten Formats, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 10.01.2011. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/fragen-siereich-ranicki/fragen-sie-reich-ranicki-ein-kleinkunsttalent-des-groessten-formats1573355.html. Zugriff am 15.3.2012. Vor allem: Renke Siems: Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys. Heidelberg 2004.; Sabina Becker, Ute Maack (Hg.): Kurt Tucholsky. Das literarische und publizistische Werk (2002); Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Reinbek 1998; Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen. Reinbek 1998; Gerhard Zwerenz: Kurt Tucholsky. Biographie eines guten Deutschen. München 1979; Helga Bemmann: Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild. Berlin 1990. Einleitung 9 Das literarische und publizistische Werk, herausgegeben von Sabina Becker und Ute Maack, veröffentlicht; hier werden seine Bücher, seine Lyrik und seine Beiträge zur Literaturkritik auf der Grundlage der neuen kritischen Gesamtausgabe und unter Berücksichtigung der letzten Erkenntnisse der Forschungsliteratur hinreichend beleuchtet. Im Jahre 2004 erschien zudem Renke Siems akribische Untersuchung mit dem Titel Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys. Die Werke Tucholskys sind mit diesen ziemlich aktuellen Forschungsarbeiten sehr gut und erschöpfend analysiert worden, so dass eine erneute Vertiefung in die Analyse nicht notwendig war. Aus diesem Grund habe ich mein Augenmerk ganz bewusst auf eine andere Seite fokussiert. Um die Ursachen für das Schweigen dieses Autors besser verstehen zu können, ist die Sichtung seiner Biographie, also Tucholskys Eigenaussagen und sein von der Forschung nachgezeichneter Lebensweg, mit dem besonderen Blick auf Ereignisse und Entwicklungen, die zu seinem Rückzug und letztlich zu seiner Selbstauflösung beitrugen, unbedingt von Nöten. Der Weg in das Schweigen wird hier als eine Art performative Praxis verstanden, die sich sowohl im öffentlichen, wie auch im privaten Raum abspielt und von dem Schriftsteller immer wieder aufs Neue inszeniert wird. Ich habe mich entschieden, dem Forschungsstand kein eigenes Kapitel zukommen zu lassen, sondern ihn gleich in der Einleitung zu präsentieren, damit die bereits bearbeiteten Felder an Deutlichkeit gewinnen. Die Forschung zu Kurt Tucholsky fand ihren Anfang in den späten fünfziger Jahren mit den Biographien von Klaus Peter Schulz, Hans Prescher und Karl Kleinschmidt, und mit den ersten gesammelten Werken Tucholskys durch Fritz J. Raddatz in den sechziger Jahren. Seit den achtziger Jahren konnte man eine deutliche Intensivierung der Forschung beobachten. Tucholskys Leben und Schaffen ist in den wegweisenden Biographien von Gerhard Zwerenz, Helga Bemmann, John William King, Bernd W. Wessling, Fritz J. Raddatz, Richard von Soldenhoff, Michael Hepp und neuerdings Rolf Hosfeld sehr gut ausgeleuchtet worden. Vor allem die Biographie von Michael Hepp ist, neben dem immer noch unvergleichlichen Essay von Fritz J. Raddatz, auch nach über zwanzig Jahren das wichtigste Standardwerk. Zu den interessantesten Neuerscheinungen im Bereich der biographischen Untersuchungen gehören Es war wie Glas zwischen uns. Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky (2010) von Klaus Bellin, in welchem Tucholskys Frauenbeziehungen untersucht werden, die Biographie Tucholsky. Ein deutsches Leben (2012) von Rolf Hosfeld und das Büchlein von Regina Scheer Kurt Tucholsky. „Es war ein bisschen laut“ (2008), das in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ mit der Unterstützung des Kurt Tucholsky Literaturmuseums Schloss Rheinsberg veröffentlicht wurde. Zu den wichtigen, älteren Publikationen, die 10 Einleitung sich mit seinem Werk und Wirken beschäftigen, zählen die Sammelbände Kurt Tucholsky. Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung (1981), herausgegeben von Irmgard Ackermann, und Kurt Tucholsky heute. Rückblick und Ausblick (1991), ebenfalls von Irmgard Ackermann mit Klaus Hübner. Zu erwähnen ist außerdem Hans J. Beckers Buch Mit geballter Faust. Kurt Tucholskys „Deutschland, Deutschland über alles" (1978), eine Untersuchung zu Tucholskys umstrittensten Werk. Die Exiljahre in Schweden fanden vielfach Berücksichtigung, nämlich in Olle Hamberts Publikation Mythen. Tucholsky und die schwedischen Behörden (1994), in dem Buch Gute Witwen weinen nicht. Exil. Liebe. Tod. Die letzten Jahre Kurt Tucholskys (2000)5, das Gerhard Zwerenz selbst als biographischen Roman bezeichnet, sowie in Beate Schmeichel-Falkenbergs Veröffentlichung Kurt Tucholskys letzte Tage in Schweden, 1929 - 1935 aus dem Jahre 1988. Interessante Einzelaspekte bieten auch die folgenden Veröffentlichungen, deren Titel bereits für sich selbst sprechen: Eva Philipoff: Kurt Tucholskys Frankreichbild (1978), Anton Austermann: Kurt Tucholsky. Der Journalist und sein Publikum (1985), Annemarie Stoltenberg: Ich bin doch nicht Euer Fremdenführer. Tucholsky und seine Buchkritiken (1990), Wilhelm Greiner: „Bei euch in Amerika - bei uns in Europa. Kurt Tucholskys Amerikabild (1994), Georg Foerstner: Kollektivbeleidigung, Volksverhetzung und „lex Tucholsky“. Eine Untersuchung zu Äußerungsdelikten und Meinungsfreiheit (2002), Renke Siems: Distinktion und Engagement. Kurt Tucholsky im Licht der „Feinen Unterschiede“ (2004), Uwe Wiemann: Kurt Tucholsky und die Politisierung des Kabaretts: Paradigmenwechsel oder literarische Mimikry? (2004). Die Forschung über Tucholskys vielfältiges Wirken als Publizist und Schriftsteller hat im Rahmen des Erscheinens der neuen Gesamtausgabe der Texte und Briefe (1996 - 2011) während der letzten Jahre einen erneuten Aufschwung erhalten. Renke Siems folgt in Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys einer überaus interessanten Herangehensweise: er untersucht seine Texte im Kontext ihrer jeweiligen Signaturen (Pseudonyme) und sieht sich in seinem Forschungsansatz bewusst als „Gegenpol zur Studie Beate Porombkas“6 Verspäteter Aufklärer oder Pionier einer neuen Aufklärung? Kurt Tucholsky (1890 - 1935) (1990). In dem Sammelband Kurt Tucholsky. Das literarische und publizistische Werk (2002), der von Sabina Becker und Ute Maack herausgegeben wurde, sind chronologisch Aufsätze versammelt, welche seine Buchveröffentlichungen sowie seine Lyrik, aber auch 5 6 Neuauflage mit neuem Titel von Gerhard Zwerenz: Eine Liebe in Schweden. Roman vom seltsamen Spiel und Tod des Satirikers K.T. . München 1980. Renke Siems: Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys. Heidelberg 2004. S. 7. Einleitung 11 seine politische Publizistik und seine Literaturkritik, d.h. also die gesamte Breite seines schriftstellerischen Ausdrucks, untersuchen. Die Kurt-TucholskyGesellschaft trägt mit ihren Konferenzbänden zu ihren jährlichen Tagungen und ihren Rundbriefen regelmäßig zur Aktualität der Tucholsky-Forschung bei. Bislang war die Forschung auf die von Mary-Gerold Tucholsky und Fritz J. Raddatz herausgegebene Ausgabe der gesammelten Werke und auf mehrere Bände mit ausgewählten Briefen angewiesen. Seit 1996 erscheint die bereits erwähnte kritische Gesamtausgabe der Texte und Briefe Tucholskys, herausgegeben von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker. Die auf 21 Bände angelegte, mit einem ausführlichen Kommentar versehene Gesamtausgabe geht, so die Editoren, „um die Hälfte über die bisherigen Editionen“7 hinaus; die Briefe Tucholskys erscheinen hier zudem erstmals ungekürzt. Für die Forschung eröffnen sich mit diesem Apparat selbstverständlich völlig neue Perspektiven. Die Gesamtausgabe der Texte und Briefe habe ich als neues Referenzwerk für meine Untersuchung herangezogen. Im Folgenden werde ich meine Vorgehensweise darlegen. Tucholskys Weg in das Schweigen ist meiner Meinung nach ein komplexes Phänomen, dem ich mich von fünf Seiten annähern möchte. Aus diesem Grund ist diese Arbeit in fünf Kapitel untergliedert. Im ersten Kapitel verschaffe ich mir einen Überblick über seinen Lebensweg mit Augenmerk auf diejenigen Ereignisse, die dazu beigetragen haben, dass der rührige Journalist und Schriftsteller keinen Sinn mehr im publizistischen Kampf sah. Mit der Entwicklung des politischen Publizisten Tucholsky befasse ich mich im zweiten Kapitel. Ich zeichne seinen Weg als Publizist und Schriftsteller nach. Er hat Beiträge für die verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, vor allem für die berühmte „Weltbühne“. Er war ein Vielschreiber und benutzte gleich fünf verschiedene Pseudonyme. Er hat nicht nur als Journalist Hunderte von Artikeln, Essays und Reportagen veröffentlicht, sondern beherrschte auch die kleine Form der Gedichte und Chansons. Als Romanautor schrieb er die Besteller Rheinsberg – Ein Bilderbuch für Verliebte und Schloß Gripsholm. Die Reiseliteratur bediente er mit dem Bericht von einer Reise in die französisch-spanische Grenzregion mit dem Titel Ein Pyrenäenbuch. Sein umstrittenstes und politischstes Buch Deutschland, Deutschland über alles war ein letztes Aufbäumen vor dem scheinbar Unausweichlichen. Ihm schien das Schicksal des unerhörten Mahners bestimmt zu sein. Enttäuscht von der Wirkungslosigkeit seiner jahrelangen, stetigen Warnungen zog sich der engagierte Autor bereits vor dem Ende der Weimarer Republik zurück und schrieb nicht mehr. Es stellt sich daher die Frage, warum ein bis dahin so entschiedener 7 Kurt Tucholsky Gesamtausgabe. Marginalien. Zusammengestellt von Michael Hepp. Privatdruck. Reinbek 1996. S. 14. 12 Einleitung Schriftsteller freiwillig verstummte, noch bevor in ganz Deutschland die Bücher brannten. Der nächste Aspekt der Untersuchung, mit dem ich mich dann im dritten Kapitel meiner Arbeit beschäftige, ist Tucholskys Verhältnis zu den Juden und zu seinem eigenen Judentum, mit dem er heftig haderte und das ihn bis in seine letzten Stunden, trotz seiner wiederkehrenden Darlegungen, er habe damit nichts zu tun, permanent beschäftigte. Seine immerzu wiederholten Vorwürfe gegenüber dem Verhalten vieler Juden, besonders nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, lassen vermuten, dass er stark unter der passiven und fatalistischen Haltung vieler Juden litt. Seine scharfen und heftig umstrittenen Angriffe brachten ihm den Ruf eines jüdischen Antisemiten ein. Es ist zu klären, inwiefern Tucholskys augenscheinlich gestörtes Verhältnis zu seinem Judentum ein Ausdruck für die Flucht vor sich selbst war und eine weitere Ursache für seine Selbstliquidation als produzierender Autor und als menschliche Existenz. Im vierten Kapitel untersuche ich den ebenso nicht zu vernachlässigenden Aspekt, der in sein Verhältnis zu den Frauen, die in seinem Leben eine Rolle spielten, liegt. Ich gehe der Frage nach, warum dieser Damenliebling, der vielfach auch als Erotomane bezeichnet wurde, die Nähe der realen Frauen nicht ertragen konnte. Lediglich aus der Ferne, auf dem Papier wurde die große Liebe gelebt. Seine erotische Aktivität, sein Zwang zur permanenten sexuellen Bestätigung, der ihm den Ruf eines von Erotik besessenen Mannes eintrug, beruhte gewiss nicht allein auf sexuellen Versagensängsten. Ich möchte darlegen, dass auch seine Unfähigkeit, die Nähe geliebter Personen auszuhalten, von ihm als ein Ausdruck für sein Versagen in jeglicher Beziehung wahrgenommen wurde und ebenfalls zu der tragischen Wendung beitrug. Im fünften und letzten Kapitel werde ich der Hypothese auf den Grund gehen, dass das Gefühl, auf ganzer Linie gescheitert zu sein, sich als Depression auf seine Seele niederschlug. In seinem Umfeld wurden seine Depressionen oft als Launen abgetan und seine Krankheiten als Hypochondrie diffamiert. Er hatte jahrelang selbst zu dem Bild des lebenslustigen, immer zu Scherzen aufgelegten Spaßvogels beigetragen, wenn er in der Öffentlichkeit und im Privaten den Clown markierte; er verbreitete „eine Atmosphäre der Heiterkeit, die im krassen Widerspruch zu seiner aus Freudlosigkeit und Selbstmordgedanken gemischten Stimmung“8 stand. Der Eindruck, den wir von Tucholsky in seinen letzten Lebensjahren gewinnen, steht sehr im Gegensatz zu dem kolportierten Bild des Spaßmachers. Die ständigen Erkrankungen, unter denen er vor allem in der Spätphase seines Lebens zu leiden hatte, weisen auf einen psychosomatischen Zusammenhang hin; die Leiden hatten, so ist anzunehmen, seelische Ursachen. Offensichtlich verschärften sich nach den vielen Rückschlägen die letztendlich chronischen Erkrankungen der 8 Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Reinbek 1998. S. 76. Einleitung 13 Atemwege und des Bauchbereichs. In dieser Krankheitsentwicklung scheint sich Tucholskys Weg vom Kampf bis zu seinem Verstummen wegen der Vergeblichkeit und Wirkungslosigkeit seiner Bemühungen widerzuspiegeln. Dem ehemals unerschrockenen Publizisten entglitt im Bewusstsein des eigenen Versagens offenbar der letzte Rest an Lebenssinn, er war geschwächt von den häufigen Operationen, deprimiert und ohne Einkünfte in seiner Existenz bedroht. Tucholskys Briefe, in den späten Jahren seine einzige sprachliche Ausdrucksmöglichkeit, enthalten wertvolle Informationen über die Gründe, die letzten Endes zu seinem Selbstmord führten. Die Aussagen in den Briefen zu seinem Befinden, zum Zeitgeschehen und zu seiner eigenen Verortung werden von mir kritisch betrachtet und hinterfragt. Meine Untersuchung soll zeigen, wie diese verschiedenen Faktoren, die doch letztlich bestimmt waren von dem Gefühl insgesamt versagt zu haben, zusammenwirkten und den überzeugten Pazifisten Tucholsky, der in den führenden Printmedien der Weimarer Republik omnipräsent gewesen war, so in die Sinnkrise führten. Damit soll eine Forschungslücke geschlossen werden, bzw. der Forschungstand ergänzt werden.