Zum Gebrauch des lateinischen Konjunktivs
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Zum Gebrauch des lateinischen Konjunktivs
Zum Gebrauch des lateinischen Konjunktivs Der Gebrauch des lateinischen Konjunktivs ist im Studium Latinum (14 G 2–3) sehr übersichtlich und zutreffend zusammengestellt. Hier sollen auf Wunsch von Teilnehmern vereinfachend die wichtigsten Aspekte des Gebrauchs der lateinischen Konjunktive übersichtlich und kurz vergegenwärtigt werden. Der Konjunktiv hat im Deutschen wie im Lateinischen keine einheitliche, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Funktionen, die sich aus praktischer Rücksicht nicht auf einen Nenner bringen lassen. Es ist deshalb – im Lateinischen wie im Deutschen – völlig irreführend, den Konjunktiv, wie es oft geschieht, als Möglichkeitsform“ zu bezeichnen. ” Weder im Deutschen noch im Lateinischen ist die potentiale, die Möglichkeitsfunktion gegenüber den anderen Funktionen des Konjunktivs besonders prominent. Zweckmäßigerweise unterscheidet man bei der Darstellung der Funktionen des Konjunktivs zunächst zwischen dem Konjunktiv im Hauptsatz und dem Konjunktiv in Gliedsätzen. 1 Konjunktiv in Hauptsätzen In Hauptsätzen lassen sich zwei Grundfunktionen des Konjunktivs unterscheiden, die freilich in vielfältiger Weise näher zu unterscheiden sind: • Der Konjunktiv als Modus des Begehrens, der zum Ausdruck bringt, dass jemand etwas möchte. Die Negation ist nē. Diese Funktion des Konjunktivs gliedert sich weiter: – Konjunktiv des Wunsches (optativischer Konjunktiv), der ausdrückt, dass jemand überhaupt etwas möchte, und oft mit ŭtı̆năm ‘wenn doch’ eingeleitet wird. Diese Funktion gliedert sich in erfüllbare und unerfüllbare Wünsche der Gegenwart und der Vergangenheit. * Als erfüllbar gedachte Wünsche können sich auf die Gegenwart oder die Vergangenheit beziehen: · Gegenwart: Konjunktiv Präsens – ŭtı̆năm sălvŭs rĕdĕăt ‘Wenn er doch heil zurückkommt!’ · Vergangenheit: Konjunktiv Perfekt – ŭtı̆năm sălvŭs rĕdı̆ĕrı̆t ‘Wenn er doch heil zurückgekommen ist!’ * Auch als unerfüllbar gedachte Wünsche können solche der Gegenwart oder der Vergangenheit sein: · Gegenwart: Konjunktiv Imperfekt – ŭtı̆năm sălvŭs rĕdı̄rĕt ‘Wenn er doch heil zurückkäme (was aber leider unmöglich ist)!’ © 2003 by Rainer Thiel, Marburg (Germany) · Vergangenheit: Konjunktiv Plusquamperfekt – ŭtı̆năm sălvŭs rĕdı̄ssĕt ‘Wenn er doch heil zurückgekommen wäre (was aber leider nicht geschehen ist)!’ – Konjunktiv der Aufforderung (Konjunktiv Präsens), der ausdrückt, dass jemand möchte, dass jemand etwas tut. Man unterscheidet dabei (etwas künstlich) die Aufforderung an die erste von der an die zweite und dritte Person: * Aufforderung an die erste Person (immer Plural): Hortativ – ĕāmŭs ‘gehen wir!’ ‘lasst uns gehen!’; ĕtı̆ăm ı̆n rēbŭs prŏspĕrı̄s sŭpĕrbı̆ăm fŭgı̆āmŭs ‘Meiden wir auch im Glück den Hochmut!’ * Aufforderung an die zweite (seltener) und dritte Person: Jussiv – cau ^tŭs sı̄s ‘sei vorsichtig’; vı̆dĕănt cōnsŭlēs, nē quı̆d dētrı̆mĕntı̄ rēs pūblı̆că căpı̆ăt ‘Die Konsuln mögen zusehen, dass der Staat keinen Schaden nimmt.’ * Verneinte Aufforderung an die zweite Person: Prohibitiv, wie die Umschreibung mit nōlı̄ auch als verneinter Imperativ gebraucht. – nē dŭbı̆tāvĕrı̆s ‘Zweifle nicht!’; nı̆hı̆l scrı̄psĕrı̆s ‘Schreib nichts!’ • Der Konjunktiv als Modus der Vorstellung, der eine Verbalhandlung als nicht real, sondern bloß möglich oder gar unwirklich hinstellt. Die Negation ist nōn. Diese Funktion des Konjunktivs gliedert sich daher weiter: – Potentialer Konjunktiv (Möglichkeit): Der Potentialis der Gegenwart ist häufig, der der Vergangenheit eher selten. * Gegenwart: Hier steht ohne Unterschied in der Bedeutung Konjunktiv Präsens oder Perfekt. – Hŏc nēmō crēdăt/crēdı̆dĕrı̆t ‘Dies dürfte wohl niemand glauben.’ * Vergangenheit (selten): Konjunktiv Imperfekt – crēdĕrēs . . . ‘Du hättest (man hätte) glauben können, . . . ’ – Irrealer Konjunktiv (Nichtwirklichkeit): Sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit sehr häufig. * Gegenwart: Konjunktiv Imperfekt – sı̆nĕ dŭcĕ ĕrrārēs ‘Ohne Führer würdest du in die Irre gehen’ (aber du hast einen Führer). * Vergangenheit: Konjunktiv Plusquamperfekt – sı̆nĕ dŭcĕ ĕrrāvı̆ssēs ‘Ohne Führer wärest du in die Irre gegangen’ (aber du hattest einen Führer). © 2003 by Rainer Thiel, Marburg (Germany) 2 Konjunktiv in Gliedsätzen In Gliedsätzen wird der Konjunktiv ebenfalls in einer ganzen Reihe von Funktionen verwendet. Hier ist zu merken, dass anders als beim Konjunktiv in Hauptsätzen die Wahl des Konjunktivs (Präsens, Perfekt, Imperfekt, Plusquamperfekt) ausschließlich vom Zeitverhältnis zum übergeordneten Hauptsatz abhängt. Hier ist es essentiell, zwei Typen von Tempora (Zeiten) zu unterscheiden, nämlich Haupttempora und Nebentempora: Haupttempora • Präsens, • Futur, • resultatives Perfekt; Nebentempora • historisch-narratives Perfekt, • Imperfekt, • Plusquamperfekt. Wie die Zeitverhältnisse des Gliedsatzes gegenüber dem übergeordneten Hauptsatz ausgedrückt werden, ergibt sich aus folgender Tabelle: Gleichzeitigkeit zu einem Haupttempus Konj. Präsens zu einem Nebentempus Konj. Imperfekt Vorzeitigkeit Konj. Perfekt Konj. Plusquamperfekt Die konjunktivischen Gliedsätze sind teils Subjektsätze (vertreten also das Subjekt des Hauptsatzes), teils Objektsätze (vertreten also das Objekt des Hauptsatzes), teils Adverbialsätze (vertreten also eine adverbiale Bestimmung im Hauptsatz). Es ist jedoch vorzuziehen, die Konjunktive im Gliedsatz zunächst nach ihrer Funktion zu gliedern. Im Konjunktiv stehen u. a. folgende Gliedsätze: • abhängige Fragesätze (Negation: nōn.) Sie stehen im Lateinischen (wie im Deutschen manchmal) immer und ausnahmslos im Konjunktiv. Man unterscheidet – Wortfragen, die durch ein Fragepronomen oder -adverb eingeleitet werden. – dı̄c, quı̆d fēcĕrı̆s ‘Sag, was du getan hast.’ – Satzfragen, meist durch nŭm ‘ob’ eingeleitet. – nĕscı̆ō, nŭm ămı̄cŭs vĕnı̆ăt ‘Ich weiß nicht, ob mein Freund kommt.’ – Doppelfragen, durch (ŭtrŭm/-nĕ) . . . an eingeleitet. – cōnsŭl ā nŭntı̆ı̄s pĕtı̄vı̆t, ŭtrŭm dŭx hŏstı̆ŭm ĕffūgı̆ssĕt ăn căptŭs ĕssĕt ‘Der Konsul fragte die Boten, ob der Kommandant der Feinde entkommen oder gefangen genommen worden sei.’ © 2003 by Rainer Thiel, Marburg (Germany) • abhängige Begehrungssätze, eingeleitet mit ŭt oder (verneint) mit nē: – Als abhängige Wunschsätze (Finalsätze) sind sie Subjekt/Objektsätze (ŭt ‘dass (nicht)’ oder Infinitiv) – văldē mĕā ı̆ntĕrĕst, ŭt tē vı̆dĕăm ’Ich bin sehr daran interessiert, dass ich dich sehe/dich zu sehen’ (Subjektsatz); Cae ^săr mı̄lı̆tēs mŏnŭı̆t, nē hı̄s rēbŭs tĕrrērĕntŭr ‘Caesar ermahnte die Soldaten, sich durch diese Dinge nicht erschrecken zu lassen’ (Objektsatz). – Als Absichtssätze (Finalsätze im engeren Sinne) sind sie Adverbialsätze (ŭt/nē ‘damit [nicht]’ bzw. ‘um [nicht] zu’ + Infinitiv) – ĕdı̆mŭs ŭt vı̄vāmŭs, nōn vı̄vı̆mŭs ŭt ĕdāmŭs ‘Wir essen, damit wir leben (um zu leben), (und) wir leben nicht, damit wir essen (um zu essen).’ • Folgesätze (Konsekutivsätze), eingeleitet mit ŭt ‘(so)dass’, Negation nōn. Sie können ebenfalls als Subjekt/Objektsätze oder als Adverbialsätze vorkommen: – ı̆tă ĕffı̆cı̆tŭr, ŭt hŏmı̆nēs ı̆n pācĕ vı̄vănt ‘So wird erreicht, dass die Menschen in Frieden leben (Subjektsatz); – Augŭstŭs ĕffēcı̆t, ŭt hŏmı̆nēs ı̆n pācĕ vı̄vĕrĕnt ‘Augustus erreichte (es), dass ^ die Menschen in Frieden lebten’ (Objektsatz); – Dı̆ŏnȳsı̆ŭs tăntā ădmı̄rātı̆ōnĕ căptŭs ĕst, ŭt căptı̄vŭm ăbsŏlvĕrĕt ‘Dionysius wurde von solcher Bewunderung ergriffen, dass er den Gefangenen frei ließ’ (Adverbialsatz). • Cŭm-Sätze. Durch cum eingeleitete konjunktivische Gliedsätze drücken einen unspezifischen inneren Zusammenhang oder eine nicht näher bezeichnete logische Verknüpfung der Verbalhandlung des Gliedsatzes mit der des Hauptsatzes aus. Erst im Deutschen muss in der Übersetzung dieses unspezifische logische Verhältnis spezifisch gedeutet werden. Dabei kommen ein kausales ‘weil,’ konzessives ‘obwohl’ (so auch seltener ŭt + Konj.) oder adversatives ‘während’ Verhältnis infrage; selten kann man auch im Deutschen das Verhältnis unspezifiziert lassen und mit ‘wobei’ übersetzen. Am häufigsten ist jedoch das historisch-narrative Verhältnis (Übersetzung: ‘als’ oder ‘nachdem’). Entsprechend spricht man (obwohl das betreffende Verhältnis eigentlich nicht in der Bedeutung von cŭm liegt) von cŭm cau ^sālĕ, cŭm cŏncĕssı̄vŭm, cŭm ădversātı̄vŭm und cŭm hı̆stōrı̆cŭm/nărrātı̄vŭm. • Kondizionalsätze oder Bedingungssätze (von lat. cŏndı̄cı̆ō ‘Bedingung,’ nicht von cŏndı̄tı̆ō ‘Würzung’), eingeleitet mit sı̄ ‘wenn’ oder (verneint) mit nı̆sı̄ ‘wenn nicht.’ Bei Sätzen, die aus einem mit (nı̆)sı̄ ‘wenn (nicht)’ eingeleiteten Nebensatz (sog. ‘Protasis’) und einem Hauptsatz (sog. ‘Apodosis’) bestehen, spricht man von einer ‘hypothetischen Periode.’ Für potentiale und irreale hypothetische Perioden gilt dasselbe, was oben zu den potentialen und irrealen Hauptsätzen ausgeführt wurde. © 2003 by Rainer Thiel, Marburg (Germany)