- Unabhängig im Alter

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- Unabhängig im Alter
Jahrbuch Sucht_06
18.11.2005
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5.1 Suchterkrankungen im Alter
Hans-Jürgen Rumpf, Siegfried Weyerer
Zusammenfassung
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat das Jahr 2006 zum
Schwerpunktjahr erklärt. Das Motto lautet: »Unabhängig im Alter –
Suchtprobleme sind lösbar!«
Durch die sich ändernde Bevölkerungsstruktur nimmt die Bedeutung von Suchterkrankungen im Alter zu. Ältere Menschen weisen
hohe Raten von Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit in Zusammenhang mit den Substanzen Tabak, Alkohol und Benzodiazepine auf. Insbesondere in Allgemeinarztpraxen, Allgemeinkrankenhäusern und Altenheimen zeigen sich erhöhte Häufigkeiten. Derzeit
werden ältere Menschen mit Suchterkrankungen nicht adäquat versorgt. Sowohl in ambulanten als auch stationären Einrichtungen sind
die älteren Bevölkerungsgruppen deutlich unterrepräsentiert. Interventionsstudien haben hingegen aufzeigen können, dass die Prognose bei der Behandlung von substanzbezogenen Störungen im Alter gut ist. Proaktive Interventionen in Einrichtungen der
medizinischen Versorgung und der Altenpflege könnten einen geeigneten Zugang darstellen. Weiterhin sollte es Ziel sein, alten Menschen den Zugang zu Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe zu erleichtern.
Abstract
The German Center on Addiction Problems has declared the year
2006 as its theme year with the slogan »Independence in Old Age –
Addiction Problems Can Be Solved!«Due to demographic changes
in society, the problem of addictive diseases among the elderly is becoming increasingly important. High rates of use and misuse of, as
well as dependence upon tobacco, alcohol and benzodiazepines
have been observed among older age groups. Rates are elevated in
general practices, general hospitals, and old-age homes. To date, the
care of elderly individuals with substance-related disorders is not
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adequately addressed by the professional help system in Germany.
Older patients are underrepresented in inpatient and outpatient
treatment facilities. On the other hand, outcome data show for them
a good prognosis of treatment for substance-related disorders. Proactive interventions in primary health care settings and in residential homes for the elderly are promising alternatives. In addition, for
older age groups the access to treatment facilities needs to be simplified.
Einleitung
Substanzbezogene Störungen stellen in den älteren Bevölkerungsschichten ein bedeutsames Problem dar. Auch wenn die Häufigkeit
des Auftretens von riskantem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit z. B. für Alkohol und Tabak im Alter relativ zu jüngeren Menschen abnimmt (vgl. Rumpf & Weyerer, 2005), betreffen die Störungen große Bevölkerungsgruppen. Durch die sich ändernde
Bevölkerungsstruktur mit der stetigen Zunahme des Anteils älterer
Menschen nimmt auch die Bedeutung der Behandlung von Suchterkrankungen im Alter weiterhin zu. Hingegen werden derzeit in der
Suchtkrankenhilfe ältere Bevölkerungsgruppen nur selten behandelt. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick zur Häufigkeit
der Störungen, deren Behandlungschance und der Erreichbarkeit
der Zielgruppe. Dabei stehen jene Substanzen im Vordergrund, die
aufgrund ihres besonders häufigen Konsums im Alter relevant sind.
Wie auch in jüngeren Altersgruppen sind Tabak und Alkohol die
Substanzen, die am häufigsten konsumiert werden und zu Störungen wie Missbrauch und Abhängigkeit führen. Die Gruppe der Medikamente, insbesondere der Benzodiazepine, steht nach Tabak und
Alkohol an dritter Stelle. Hier kommt es im Alter zu einer weiteren
Zunahme der Prävalenz verglichen mit Jüngeren. Illegale Drogen
hingegen spielen in älteren Bevölkerungsgruppen (noch) keine bedeutende Rolle, so dass sie hier nicht behandelt werden.
Tabak
Nach den Daten des Mikrozensus von 1999 beträgt die Rate der
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Männer
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16,4
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22,8
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Abbildung 1: Raucherraten in der Allgemeinbevölkerung
Raucher in der Gruppe 60- bis 69-Jährigen 16,4 %, der 70- bis 79Jährigen 9,7 % und bei Personen über 80 Jahre 5,4 % (John, 2004)
(Abb. 1). In allen Altersgruppen ist die Prävalenz bei Männern im
Vergleich zu Frauen höher. Daten zu Tabakabhängigkeit liegen aus
bundesweiten, repräsentativen Studien zu der Gruppe der älteren
Menschen nicht vor.
Die Gruppe der älteren Raucher ist charakterisiert durch einen hohen Konsum und eine starke Abhängigkeit (Rimer, Orleans, Keintz,
Christinzio&Fleisher, 1990) . Hieraus folgt, dass spezielle Hilfen
wie motivationale und/oder verhaltenstherapeutische Interventionen, evtl. begleitet von Nikotinersatztherapie, besonders wichtig
sind. Auf die spezifische Situation älterer Raucher zugeschnittene
Interventionen erwiesen sich in einer US-amerikanischen Studie als
effektiver als ein Standardprogramm. Die Abstinenzquoten betrugen
für die beiden Gruppen nach 12 Monaten 15 und 20 % (Rimer & Orleans, 1994). Der Rauchstopp im höheren Alter ist mit einer deutlichen Verringerung gesundheitlicher Folgen und einer geringen
Sterblichkeit verbunden (LaCroix & Omenn, 1992).
Im Suchthilfesystem bestehen bislang eher wenige in Anspruch
genommene Angebote für Raucher. Dies gilt gleichermaßen auch für
die älteren Bevölkerungsgruppen. Die Hauptdiagnose Tabakabhängigkeit machte in der Suchthilfestatistik von 2002 lediglich 0,1 %
aller Behandlungen aus (Welsch & Sonntag, 2003). Unter den statio191
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när Behandelten betrug der Anteil der Patienten ab 60 Jahre für den
Bereich Tabak 5,2 %. Bei den ambulanten Einrichtungen bestand die
Hauptdiagnose Tabakabhängigkeit in 0,6 % aller Fälle, eine Altersaufschlüsselung liegt nicht vor. Zu erwarten ist, dass die Prävalenz
von Rauchern und Nikotinabhängigen in Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung aufgrund der Folgeerkrankungen erhöht
ist und hier somit eine gute Erreichbarkeit besteht, die unbedingt zur
Motivation und Hilfe beim Rauchstopp genutzt werden sollte.
Alkohol
Der Konsum von Alkohol kann unabhängig von Störungen wie
Missbrauch oder Abhängigkeit erhebliche gesundheitliche und soziale Folgen haben. Derzeit am häufigsten werden die Grenzen der
British Medical Association genutzt, wonach ein Konsum von mehr
als 20 g (entspricht etwa 0,5 l Bier oder 0,2 bis 0,25 l Wein) reinen
Alkohols durchschnittlich pro Tag bei Frauen und 30 g bei Männern
als risikoreich gilt. Diese Grenzen gelten für gesunde Erwachsene
und sind nicht übertragbar auf ältere Menschen, bei denen sich die
Verstoffwechselung von Alkohol ändert und die Häufigkeit von Erkrankungen zunimmt. Eine Richtlinie für Menschen ab 65 Jahre besagt, nicht mehr als ein alkoholisches Getränk pro Tag zu konsumieren (National Institute of Alcoholism and Alcohol Abuse, 1995).
Bezogen auf die oben angegeben Grenzen von 20/30 g beträgt die
Häufigkeit riskanten Alkoholkonsums bei Personen ab 60 Jahren
nach den Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
26,9 % für Männer, 7,7 % für Frauen und 15,4 % für beide Gruppen
(Bühringer et al., 2000) (Abb. 2).
In Bezug auf die Alkoholabhängigkeit weisen ältere epidemiologische Befunde eine Häufigkeit von 0,7 % »behandlungsbedürftigem Alkoholismus« in der Altersgruppe ab dem 65. Lebensjahr auf.
Bei den 70-Jährigen und Älteren, die Anfang der neunziger Jahre im
Rahmen der Berliner Altersstudie untersucht wurden, lag die Prävalenz einer Alkoholabhängigkeit oder eines Alkoholmissbrauchs bei
1,1 % (Helmchen et al., 1996). Im Vergleich zu älteren Menschen in
Privathaushalten ist der Anteil Alkoholkranker in Alten- und Altenpflegeheimen überdurchschnittlich hoch. Eine Untersuchung von
nahezu 2000 Mannheimer Heimbewohnern ergab, dass bei Heim192
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Abbildung 2: Häufigkeit riskanten Alkoholkonsums in der Allgemeinbevölkerung bei Personen ab 60 Jahre
eintritt 7,5 % der Bewohner (19,3 % der Männer und 3,8 % der Frauen) alkoholkrank waren (Weyerer, Schäufele & Zimber, 1999).
1995/96, 1997/98 und 2002/03 in 13 Mannheimer Altenpflegeheimen mit identischen Methoden durchgeführte Querschnittsstudien
ergaben folgendes Ergebnis: Ausgehend von den ärztlichen Diagnosen bei Heimeintritt wiesen zu allen drei Querschnitten etwa 10 %
der Bewohner und Bewohnerinnen eine Alkoholdiagnose nach ICD10 auf, wobei – ebenfalls stabil über die Zeit – ein Viertel der Männer und 5 % der Frauen betroffen waren (Weyerer, Schäufele &
Hendlmeier, im Druck). Zu allen drei Querschnitten zeigten die Bewohner, die bei Heimeintritt eine Alkoholdiagnose hatten, im Vergleich zu den Bewohnern und Bewohnerinnen ohne Alkoholdiagnose signifikante Unterschiede bei einer Reihe von Merkmalen:
• Das Alter zum Zeitpunkt des Heimeintritts war bei Alkoholkranken mit 62 Jahren wesentlich niedriger im Vergleich zu Nichtalkoholkranken (78 Jahre), ihre Verweildauer war um etwa ein Jahr
höher.
• Über die Hälfte der Alkoholkranken, aber nur jeder vierte Nichtalkoholkranke war ledig oder geschieden.
• Vermutlich auch aufgrund des geringeren sozialen Netzes erhielten Alkoholkranke signifikant seltener Besuch von Verwandten
und Angehörigen.
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• Innerhalb von sieben Jahren nahm in beiden Gruppen der Anteil
der Heimbewohner und -bewohnerinnen mit einer gesetzlichen
Betreuung zu, zu allen drei Zeitpunkten war der Anteil gesetzlich
Betreuter bei den Alkoholkranken höher als bei den Nichtalkoholkranken.
Verglichen mit den ärztlichen Alkoholdiagnosen bei Heimeintritt ist
die Prävalenz des aktuell von den Pflegekräften eingeschätzten Alkoholmissbrauchs 1995/96 mit 4,2 % (Männer: 7,5 %; Frauen:
3,1 %), 1997/98 mit 5,2 % (Männer: 11,8 %; Frauen: 2,9 %),
2002/2003 mit 2,2 % (Männer: 7,8 %; Frauen: 1,0 %) wesentlich
niedriger. Über die Hälfte, 2002/03 sogar zwei Drittel der Bewohner
und Bewohnerinnen, die zum Zeitpunkt der Heimaufnahme eine Alkoholdiagnose hatten, waren nach durchschnittlich etwa vier Jahren
alkoholabstinent. In Anbetracht der geringeren Verfügbarkeit von
Alkohol in den Einrichtungen und der erheblichen kognitiven und
physischen Beeinträchtigungen der Betroffenen ist dieses Ergebnis
jedoch nicht überraschend. Auch in den Fällen, in denen das missbräuchliche Trinken im Heim fortgesetzt wurde, kann davon ausgegangen werden, dass es im Vergleich zu der Zeit vor der Heimaufnahme reduziert wurde. Von den Bewohnern, die zum Zeitpunkt des
Heimeintritts keine Alkoholdiagnose hatten, stellte das Pflegepersonal bei 1,9 % (1995/96), 2,8 % (1997/98) und 1,2 % (2002/03) einen Alkoholmissbrauch fest.
Bewohner und Bewohnerinnen mit Alkoholproblemen stellen eine
besondere Herausforderung für die Pflegekräfte dar: Die Hälfte all
jener mit aktuellem Alkoholmissbrauch zeigte ein aggressives und
unkooperatives Verhalten gegenüber dem Pflegepersonal; bei der
Gruppe ohne Alkoholmissbrauch traten diese Probleme dagegen nur
bei etwa einem Viertel auf. Auf die mit Alkoholproblemen verbundenen besonderen Anforderungen sind die Pflegekräfte nur unzureichend vorbereitet. Die Schulung des Pflegepersonals im Umgang
mit Alkoholkranken, eine adäquate personelle Ausstattung sowie
eine konsiliarische Beratung durch qualifizierte Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen von Suchtberatungsstellen sind dringend erforderlich (Weyerer, Schäufele & Hendlmeier, im Druck).
Auch in Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung ist
eine hohe Prävalenz von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit zu
verzeichnen. In Hausarztpraxen beträgt die Prävalenz in der Alters194
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gruppe der 65- bis 75-Jährigen 4,5 % (Männer: 7,7 %; Frauen:
3,2 %) (Hill, Rumpf, Hapke, Driessen & John, 1998). Im Allgemeinkrankenhaus weisen bei den 65- bis 69-Jährigen 7,2 % eine Alkoholabhängigkeit oder einen -missbrauch, bei den 70- bis 79-Jährigen betrug die Rate 3,8 %, bei den über 80jährigen Patienten 1,7
% (Rumpf, Bromisch, Botztet, Hill, Hapke & John, 1998). Insgesamt zeigten in der Gruppe ab 65 Jahre 8,1 % der Männer und 0,6
% der Frauen eine sichere alkoholbezogene Störung und weitere 5,2
% (Männer) bzw. 2,5 % (Frauen) eine Verdachtsdiagnose (John,
Hapke, Rumpf, Hill & Dilling, 1996).
Die Prognose für die Behandlung von Alkoholabhängigkeit im Alter ist gut (Lemke & Moos, 2003a, 2003b; vgl. Oslin, 2004). Auch
Kurzinterventionen im Rahmen von Hausarztkontakten konnten
sich als effektiv erweisen (Fleming et al., 1999). Im Vergleich zu jüngeren Alkoholabhängigen weisen die älteren eine geringere Anzahl
alkoholbezogener Probleme auf (Lemke & Moos, 2003b) und haben
eine weniger ausgeprägte Abhängigkeit.
In den Behandlungseinrichtungen spielt die Gruppe der älteren
Patienten mit alkoholbezogenen Störungen eine untergeordnete
Rolle, die nicht allein durch die sinkende Prävalenz erklärbar ist.
Der Anteil der Alkoholabhängigen ab 60 Jahren innerhalb der ambulanten Hilfen liegt unter 5 %, (Welsch & Sonntag, 2003). Bei den
stationär Behandelten betrug der Anteil der Patienten ab 60 Jahren
5,2 %.
Medikamente
Auf Grundlage einer bundesweiten Repräsentativerhebung zum
Konsum und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei 18- bis 59Jährigen (Kraus & Augustin, 2001) ergibt sich bei konservativer
Schätzung eine Prävalenz von mindestens 1,9 Millionen Arzneimittelabhängigen in Deutschland. Die Einnahme psychotroper Substanzen ist jedoch bei den 60-Jährigen und Älteren im Vergleich zu
den jüngeren Altersgruppen überdurchschnittlich hoch. Da bei über
drei Viertel aller Medikamentenabhängigen Benzodiazepine beteiligt sind, werden wir uns im Folgenden hauptsächlich auf diese
Stoffgruppe konzentrieren.
Untersuchungen zur Verordnung und zur Einnahme von Benzo195
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diazepinen belegen einen exponentiellen Anstieg mit zunehmendem
Alter, wobei die Rate unter den Frauen überdurchschnittlich hoch ist
(Weyerer, Schäufele & Zimber, 1998). Ergebnisse aus der Berliner
Altersstudie ergaben, dass bezogen auf die 70-Jährigen und Älteren
24,6 % mit Psychopharmaka behandelt wurden, wobei allein 13,2 %
auf Benzodiazepin-Anxiolytika entfielen (Helmchen et al., 1996).
Etwa 90 % der mit Benzodiazepinen Behandelten nehmen diese
Arzneimittel als Dauermedikation (länger als sechs Monate) und zu
etwa der Hälfte täglich ein. Eine häufigere Einnahme dieser Medikamente ist nicht automatisch mit schädlichem Gebrauch/Abhängigkeit gleichzusetzen, auch wenn die Verschreibungsgrundlage
hier oft etwas unklar erscheinen mag.
Besonders hohe Prävalenzraten von Langzeitverordnungen mit
Benzodiazepinen werden bei älteren Patienten mit Schlafstörungen
sowie institutionalisierten älteren Menschen erreicht. In einer repräsentativen Studie von nahezu 2.000 Bewohnern in Mannheimer Alten- und Altenpflegeheimen lag die Prävalenz des Benzodiazepingebrauchs (bezogen auf einen Zeitraum von vier Wochen) bei
15,6 %, wobei nahezu zwei Drittel diese Medikamente – bezogen
auf einen Zeitraum von sechs Monaten – täglich mit einer durchschnittlichen Diazepam-Äquivalenzdosis von 8,8 mg einnahmen
(Weyerer et al., 1998).
Für die Entwicklung einer Benzodiazepinabhängigkeit gibt es
eine Reihe von Risikofaktoren (Wolter-Henseler, 1996). Die Wahrscheinlichkeit für eine Benzodiazepinabhängigkeit ist bei Personen
mit einer vorbestehenden Suchterkrankung erhöht. Das Risiko ist
auch dann besonders hoch, wenn Behandlungsdauer und Dosis
zunehmen. Neben der Chronizität und Schwere der mit Benzodiazepinen behandelten Symptome spielen zusätzlich psychosoziale
Belastungen eine wesentliche Rolle. Die Einnahme von Benzodiazepinen wird begünstigt durch bestimmte Erwartungen des Patienten hinsichtlich psychotroper Wirkungen. Auf Seiten der verordnenden Ärzte – quantitativ spielen hier Hausärzte (Allgemeinpraktiker
und Internisten) die größte Rolle – sind dabei folgende Faktoren bedeutsam: nicht reflektierte Verschreibung von Benzodiazepinen,
fehlende Arzt-Patient-Beziehung, Verschreibung ohne Indikation,
mangelhafte Berücksichtigung von Persönlichkeit und Biografie der
Patienten und fehlendes Problembewusstsein hinsichtlich der Gefahren von Langzeit- bzw. Hochdosisverordnungen. Benzodiazepi196
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ne können dabei bereits nach relativ kurzer Einnahmezeit (d. h. nach
wenigen Wochen) und selbst bei gering erscheinender Dosierung
(low-dose-dependence) abhängig machen.
Im Gegensatz zu Konsumenten illegaler Drogen oder Alkohol
wird alten Menschen mit einem dauerhaften »Low-dose«-Benzodiazepingebrauch kaum bewusst, dass sie eine – vom Arzt verordnete
– Substanz mit Suchtpotenzial missbräuchlich anwenden oder sogar
abhängig werden könnten. Es ist deshalb nicht überraschend, dass
entsprechende stationäre Einweisungen selten aufgrund der Diagnose »Benzodiazepinabhängigkeit«, sondern vielmehr wegen anderer psychiatrischer Erkrankungen, zumeist Depressionen, erfolgen. Ein Entzug sollte vor allem dann erwogen werden, wenn sich
unter laufender Einnahme von Benzodiazepinen die psychischen
Symptome verschlechtern bzw. die Benzodiazepine ihre Wirkung
verlieren. In den letzten Jahren wurden einige wenige Studien hinsichtlich der Wirksamkeit von Therapien bei Benzodiazepinabhängigkeit veröffentlicht, die einheitlich sehr bedeutsame langfristige
Abstinenzraten in folgenden Gruppen fanden: 63 % bei älteren Patienten mit chronischen Schlafstörungen (Morin et al., 2004), 58–62
% bei Allgemeinarztpatienten mit Langzeitgebrauch von Benzodiazepinen (Voshaar et al., 2003), 13–27 % bei schwer Abhängigen mit
hoher Dosis oder gleichzeitig bestehender Alkoholabhängigkeit
(Vorma, Naukkarinen, Sarna & Kuoppasalmi, 2002). Diese Befunde legen nahe, dass die Entzugsbehandlung bei Benzodiazepinen,
auch bei älteren Menschen, mit einer guten Prognose erfolgen kann.
Trotz der guten Prognose muss davon ausgegangen werden, dass
nur wenige Personen mit einer Medikamentenabhängigkeit Behandlungsangebote in Anspruch nehmen. Nach Zahlen der Suchthilfestatistik von 2003 wiesen 1,0 % der Behandelten in ambulanten und
0,8 % in stationären Einrichtungen die Erstdiagnose der Abhängigkeit von Sedativa oder Hypnotika auf (Sonntag & Welsch, 2004). 9,4
% der wegen Sedativa/Hypnotika stationär Behandelten waren 60
Jahre und älter (Welsch & Sonntag, 2003).
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Fazit
Die drei hier beschriebenen Substanzgruppen führen häufig zu Abhängigkeit oder Missbrauch in der Gruppe der älteren Menschen.
Die Therapieprognosen sind generell gut, z. T. besser als bei jüngeren Betroffenen. Der Therapieerfolg lässt sich steigern, wenn die
Intervention spezifisch auf die ältere Personengruppe zugeschnitten
wird. In der Suchthilfe ist die Gruppe der älteren Patienten unterrepräsentiert. Eine besonders deutliche Unterversorgung zeigt sich für
die Abhängigkeit von Tabak und Medikamenten. Erhöhte Prävalenzen für alle drei Substanzen lassen sich in Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung finden, hier ist auch eine gute Erreichbarkeit dieser Gruppen gegeben. Dies spricht für proaktive, auf die
Personen zugehende, Maßnahmen mit Hilfe systematischen Screenings aller Patienten. Abzuwägen ist der Aufwand in Abhängigkeit
zur jeweiligen Prävalenz solcher Maßnahmen. Insbesondere in den
hohen Altersgruppen sind diagnostische Maßnahmen in solchen
Fällen auf die Gruppe derjenigen zu beziehen, die mit einer spezifischen Auffälligkeit hierfür geeignet erscheinen. Neben Hausarztpraxen und Krankenhäusern kommen insbesondere auch Altenheime für proaktive Interventionen in Frage. Insgesamt muss sich die
Suchthilfe durch die sich ändernde Bevölkerungsstruktur vermehrt
auf die Gruppe der älteren Suchtkranken einstellen. Derzeit sind entsprechende Angebote nur punktuell vorhanden. Insbesondere muss
den älteren Betroffenen der Zugang zu Hilfen erleichtert werden.
Das kommende Schwerpunktjahr der Deutschen Hauptstelle für
Suchtfragen (DHS) wird sich der Frage von Sucht im Alter unter
dem Motto »Unabhängig im Alter – Suchtprobleme sind lösbar!«
widmen. Es ist zu hoffen, dass diese Initiative nicht nur zu einer besseren Behandlung suchtkranker älterer Menschen beiträgt, sondern
auch wichtige Impulse für die bislang sehr defizitäre Forschung auf
dem Gebiet »Sucht und Alter« geben wird.
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