- Unabhängig im Alter
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Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 189 5.1 Suchterkrankungen im Alter Hans-Jürgen Rumpf, Siegfried Weyerer Zusammenfassung Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen hat das Jahr 2006 zum Schwerpunktjahr erklärt. Das Motto lautet: »Unabhängig im Alter – Suchtprobleme sind lösbar!« Durch die sich ändernde Bevölkerungsstruktur nimmt die Bedeutung von Suchterkrankungen im Alter zu. Ältere Menschen weisen hohe Raten von Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit in Zusammenhang mit den Substanzen Tabak, Alkohol und Benzodiazepine auf. Insbesondere in Allgemeinarztpraxen, Allgemeinkrankenhäusern und Altenheimen zeigen sich erhöhte Häufigkeiten. Derzeit werden ältere Menschen mit Suchterkrankungen nicht adäquat versorgt. Sowohl in ambulanten als auch stationären Einrichtungen sind die älteren Bevölkerungsgruppen deutlich unterrepräsentiert. Interventionsstudien haben hingegen aufzeigen können, dass die Prognose bei der Behandlung von substanzbezogenen Störungen im Alter gut ist. Proaktive Interventionen in Einrichtungen der medizinischen Versorgung und der Altenpflege könnten einen geeigneten Zugang darstellen. Weiterhin sollte es Ziel sein, alten Menschen den Zugang zu Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe zu erleichtern. Abstract The German Center on Addiction Problems has declared the year 2006 as its theme year with the slogan »Independence in Old Age – Addiction Problems Can Be Solved!«Due to demographic changes in society, the problem of addictive diseases among the elderly is becoming increasingly important. High rates of use and misuse of, as well as dependence upon tobacco, alcohol and benzodiazepines have been observed among older age groups. Rates are elevated in general practices, general hospitals, and old-age homes. To date, the care of elderly individuals with substance-related disorders is not 189 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 190 adequately addressed by the professional help system in Germany. Older patients are underrepresented in inpatient and outpatient treatment facilities. On the other hand, outcome data show for them a good prognosis of treatment for substance-related disorders. Proactive interventions in primary health care settings and in residential homes for the elderly are promising alternatives. In addition, for older age groups the access to treatment facilities needs to be simplified. Einleitung Substanzbezogene Störungen stellen in den älteren Bevölkerungsschichten ein bedeutsames Problem dar. Auch wenn die Häufigkeit des Auftretens von riskantem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit z. B. für Alkohol und Tabak im Alter relativ zu jüngeren Menschen abnimmt (vgl. Rumpf & Weyerer, 2005), betreffen die Störungen große Bevölkerungsgruppen. Durch die sich ändernde Bevölkerungsstruktur mit der stetigen Zunahme des Anteils älterer Menschen nimmt auch die Bedeutung der Behandlung von Suchterkrankungen im Alter weiterhin zu. Hingegen werden derzeit in der Suchtkrankenhilfe ältere Bevölkerungsgruppen nur selten behandelt. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick zur Häufigkeit der Störungen, deren Behandlungschance und der Erreichbarkeit der Zielgruppe. Dabei stehen jene Substanzen im Vordergrund, die aufgrund ihres besonders häufigen Konsums im Alter relevant sind. Wie auch in jüngeren Altersgruppen sind Tabak und Alkohol die Substanzen, die am häufigsten konsumiert werden und zu Störungen wie Missbrauch und Abhängigkeit führen. Die Gruppe der Medikamente, insbesondere der Benzodiazepine, steht nach Tabak und Alkohol an dritter Stelle. Hier kommt es im Alter zu einer weiteren Zunahme der Prävalenz verglichen mit Jüngeren. Illegale Drogen hingegen spielen in älteren Bevölkerungsgruppen (noch) keine bedeutende Rolle, so dass sie hier nicht behandelt werden. Tabak Nach den Daten des Mikrozensus von 1999 beträgt die Rate der 190 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 191 40 35 Männer 30 Frauen Gesamt 5 0 60–69 11,1 3,1 5,4 10 14,7 6,6 9,7 15 10,8 16,4 20 22,8 25 70–79 >79 Abbildung 1: Raucherraten in der Allgemeinbevölkerung Raucher in der Gruppe 60- bis 69-Jährigen 16,4 %, der 70- bis 79Jährigen 9,7 % und bei Personen über 80 Jahre 5,4 % (John, 2004) (Abb. 1). In allen Altersgruppen ist die Prävalenz bei Männern im Vergleich zu Frauen höher. Daten zu Tabakabhängigkeit liegen aus bundesweiten, repräsentativen Studien zu der Gruppe der älteren Menschen nicht vor. Die Gruppe der älteren Raucher ist charakterisiert durch einen hohen Konsum und eine starke Abhängigkeit (Rimer, Orleans, Keintz, Christinzio&Fleisher, 1990) . Hieraus folgt, dass spezielle Hilfen wie motivationale und/oder verhaltenstherapeutische Interventionen, evtl. begleitet von Nikotinersatztherapie, besonders wichtig sind. Auf die spezifische Situation älterer Raucher zugeschnittene Interventionen erwiesen sich in einer US-amerikanischen Studie als effektiver als ein Standardprogramm. Die Abstinenzquoten betrugen für die beiden Gruppen nach 12 Monaten 15 und 20 % (Rimer & Orleans, 1994). Der Rauchstopp im höheren Alter ist mit einer deutlichen Verringerung gesundheitlicher Folgen und einer geringen Sterblichkeit verbunden (LaCroix & Omenn, 1992). Im Suchthilfesystem bestehen bislang eher wenige in Anspruch genommene Angebote für Raucher. Dies gilt gleichermaßen auch für die älteren Bevölkerungsgruppen. Die Hauptdiagnose Tabakabhängigkeit machte in der Suchthilfestatistik von 2002 lediglich 0,1 % aller Behandlungen aus (Welsch & Sonntag, 2003). Unter den statio191 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 192 när Behandelten betrug der Anteil der Patienten ab 60 Jahre für den Bereich Tabak 5,2 %. Bei den ambulanten Einrichtungen bestand die Hauptdiagnose Tabakabhängigkeit in 0,6 % aller Fälle, eine Altersaufschlüsselung liegt nicht vor. Zu erwarten ist, dass die Prävalenz von Rauchern und Nikotinabhängigen in Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung aufgrund der Folgeerkrankungen erhöht ist und hier somit eine gute Erreichbarkeit besteht, die unbedingt zur Motivation und Hilfe beim Rauchstopp genutzt werden sollte. Alkohol Der Konsum von Alkohol kann unabhängig von Störungen wie Missbrauch oder Abhängigkeit erhebliche gesundheitliche und soziale Folgen haben. Derzeit am häufigsten werden die Grenzen der British Medical Association genutzt, wonach ein Konsum von mehr als 20 g (entspricht etwa 0,5 l Bier oder 0,2 bis 0,25 l Wein) reinen Alkohols durchschnittlich pro Tag bei Frauen und 30 g bei Männern als risikoreich gilt. Diese Grenzen gelten für gesunde Erwachsene und sind nicht übertragbar auf ältere Menschen, bei denen sich die Verstoffwechselung von Alkohol ändert und die Häufigkeit von Erkrankungen zunimmt. Eine Richtlinie für Menschen ab 65 Jahre besagt, nicht mehr als ein alkoholisches Getränk pro Tag zu konsumieren (National Institute of Alcoholism and Alcohol Abuse, 1995). Bezogen auf die oben angegeben Grenzen von 20/30 g beträgt die Häufigkeit riskanten Alkoholkonsums bei Personen ab 60 Jahren nach den Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 26,9 % für Männer, 7,7 % für Frauen und 15,4 % für beide Gruppen (Bühringer et al., 2000) (Abb. 2). In Bezug auf die Alkoholabhängigkeit weisen ältere epidemiologische Befunde eine Häufigkeit von 0,7 % »behandlungsbedürftigem Alkoholismus« in der Altersgruppe ab dem 65. Lebensjahr auf. Bei den 70-Jährigen und Älteren, die Anfang der neunziger Jahre im Rahmen der Berliner Altersstudie untersucht wurden, lag die Prävalenz einer Alkoholabhängigkeit oder eines Alkoholmissbrauchs bei 1,1 % (Helmchen et al., 1996). Im Vergleich zu älteren Menschen in Privathaushalten ist der Anteil Alkoholkranker in Alten- und Altenpflegeheimen überdurchschnittlich hoch. Eine Untersuchung von nahezu 2000 Mannheimer Heimbewohnern ergab, dass bei Heim192 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 193 40 35 Männer 30 Frauen 25 Gesamt 26,9 20 15 15,4 10 5 7,7 0 Abbildung 2: Häufigkeit riskanten Alkoholkonsums in der Allgemeinbevölkerung bei Personen ab 60 Jahre eintritt 7,5 % der Bewohner (19,3 % der Männer und 3,8 % der Frauen) alkoholkrank waren (Weyerer, Schäufele & Zimber, 1999). 1995/96, 1997/98 und 2002/03 in 13 Mannheimer Altenpflegeheimen mit identischen Methoden durchgeführte Querschnittsstudien ergaben folgendes Ergebnis: Ausgehend von den ärztlichen Diagnosen bei Heimeintritt wiesen zu allen drei Querschnitten etwa 10 % der Bewohner und Bewohnerinnen eine Alkoholdiagnose nach ICD10 auf, wobei – ebenfalls stabil über die Zeit – ein Viertel der Männer und 5 % der Frauen betroffen waren (Weyerer, Schäufele & Hendlmeier, im Druck). Zu allen drei Querschnitten zeigten die Bewohner, die bei Heimeintritt eine Alkoholdiagnose hatten, im Vergleich zu den Bewohnern und Bewohnerinnen ohne Alkoholdiagnose signifikante Unterschiede bei einer Reihe von Merkmalen: • Das Alter zum Zeitpunkt des Heimeintritts war bei Alkoholkranken mit 62 Jahren wesentlich niedriger im Vergleich zu Nichtalkoholkranken (78 Jahre), ihre Verweildauer war um etwa ein Jahr höher. • Über die Hälfte der Alkoholkranken, aber nur jeder vierte Nichtalkoholkranke war ledig oder geschieden. • Vermutlich auch aufgrund des geringeren sozialen Netzes erhielten Alkoholkranke signifikant seltener Besuch von Verwandten und Angehörigen. 193 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 194 • Innerhalb von sieben Jahren nahm in beiden Gruppen der Anteil der Heimbewohner und -bewohnerinnen mit einer gesetzlichen Betreuung zu, zu allen drei Zeitpunkten war der Anteil gesetzlich Betreuter bei den Alkoholkranken höher als bei den Nichtalkoholkranken. Verglichen mit den ärztlichen Alkoholdiagnosen bei Heimeintritt ist die Prävalenz des aktuell von den Pflegekräften eingeschätzten Alkoholmissbrauchs 1995/96 mit 4,2 % (Männer: 7,5 %; Frauen: 3,1 %), 1997/98 mit 5,2 % (Männer: 11,8 %; Frauen: 2,9 %), 2002/2003 mit 2,2 % (Männer: 7,8 %; Frauen: 1,0 %) wesentlich niedriger. Über die Hälfte, 2002/03 sogar zwei Drittel der Bewohner und Bewohnerinnen, die zum Zeitpunkt der Heimaufnahme eine Alkoholdiagnose hatten, waren nach durchschnittlich etwa vier Jahren alkoholabstinent. In Anbetracht der geringeren Verfügbarkeit von Alkohol in den Einrichtungen und der erheblichen kognitiven und physischen Beeinträchtigungen der Betroffenen ist dieses Ergebnis jedoch nicht überraschend. Auch in den Fällen, in denen das missbräuchliche Trinken im Heim fortgesetzt wurde, kann davon ausgegangen werden, dass es im Vergleich zu der Zeit vor der Heimaufnahme reduziert wurde. Von den Bewohnern, die zum Zeitpunkt des Heimeintritts keine Alkoholdiagnose hatten, stellte das Pflegepersonal bei 1,9 % (1995/96), 2,8 % (1997/98) und 1,2 % (2002/03) einen Alkoholmissbrauch fest. Bewohner und Bewohnerinnen mit Alkoholproblemen stellen eine besondere Herausforderung für die Pflegekräfte dar: Die Hälfte all jener mit aktuellem Alkoholmissbrauch zeigte ein aggressives und unkooperatives Verhalten gegenüber dem Pflegepersonal; bei der Gruppe ohne Alkoholmissbrauch traten diese Probleme dagegen nur bei etwa einem Viertel auf. Auf die mit Alkoholproblemen verbundenen besonderen Anforderungen sind die Pflegekräfte nur unzureichend vorbereitet. Die Schulung des Pflegepersonals im Umgang mit Alkoholkranken, eine adäquate personelle Ausstattung sowie eine konsiliarische Beratung durch qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Suchtberatungsstellen sind dringend erforderlich (Weyerer, Schäufele & Hendlmeier, im Druck). Auch in Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung ist eine hohe Prävalenz von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit zu verzeichnen. In Hausarztpraxen beträgt die Prävalenz in der Alters194 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 195 gruppe der 65- bis 75-Jährigen 4,5 % (Männer: 7,7 %; Frauen: 3,2 %) (Hill, Rumpf, Hapke, Driessen & John, 1998). Im Allgemeinkrankenhaus weisen bei den 65- bis 69-Jährigen 7,2 % eine Alkoholabhängigkeit oder einen -missbrauch, bei den 70- bis 79-Jährigen betrug die Rate 3,8 %, bei den über 80jährigen Patienten 1,7 % (Rumpf, Bromisch, Botztet, Hill, Hapke & John, 1998). Insgesamt zeigten in der Gruppe ab 65 Jahre 8,1 % der Männer und 0,6 % der Frauen eine sichere alkoholbezogene Störung und weitere 5,2 % (Männer) bzw. 2,5 % (Frauen) eine Verdachtsdiagnose (John, Hapke, Rumpf, Hill & Dilling, 1996). Die Prognose für die Behandlung von Alkoholabhängigkeit im Alter ist gut (Lemke & Moos, 2003a, 2003b; vgl. Oslin, 2004). Auch Kurzinterventionen im Rahmen von Hausarztkontakten konnten sich als effektiv erweisen (Fleming et al., 1999). Im Vergleich zu jüngeren Alkoholabhängigen weisen die älteren eine geringere Anzahl alkoholbezogener Probleme auf (Lemke & Moos, 2003b) und haben eine weniger ausgeprägte Abhängigkeit. In den Behandlungseinrichtungen spielt die Gruppe der älteren Patienten mit alkoholbezogenen Störungen eine untergeordnete Rolle, die nicht allein durch die sinkende Prävalenz erklärbar ist. Der Anteil der Alkoholabhängigen ab 60 Jahren innerhalb der ambulanten Hilfen liegt unter 5 %, (Welsch & Sonntag, 2003). Bei den stationär Behandelten betrug der Anteil der Patienten ab 60 Jahren 5,2 %. Medikamente Auf Grundlage einer bundesweiten Repräsentativerhebung zum Konsum und Missbrauch psychoaktiver Substanzen bei 18- bis 59Jährigen (Kraus & Augustin, 2001) ergibt sich bei konservativer Schätzung eine Prävalenz von mindestens 1,9 Millionen Arzneimittelabhängigen in Deutschland. Die Einnahme psychotroper Substanzen ist jedoch bei den 60-Jährigen und Älteren im Vergleich zu den jüngeren Altersgruppen überdurchschnittlich hoch. Da bei über drei Viertel aller Medikamentenabhängigen Benzodiazepine beteiligt sind, werden wir uns im Folgenden hauptsächlich auf diese Stoffgruppe konzentrieren. Untersuchungen zur Verordnung und zur Einnahme von Benzo195 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 196 diazepinen belegen einen exponentiellen Anstieg mit zunehmendem Alter, wobei die Rate unter den Frauen überdurchschnittlich hoch ist (Weyerer, Schäufele & Zimber, 1998). Ergebnisse aus der Berliner Altersstudie ergaben, dass bezogen auf die 70-Jährigen und Älteren 24,6 % mit Psychopharmaka behandelt wurden, wobei allein 13,2 % auf Benzodiazepin-Anxiolytika entfielen (Helmchen et al., 1996). Etwa 90 % der mit Benzodiazepinen Behandelten nehmen diese Arzneimittel als Dauermedikation (länger als sechs Monate) und zu etwa der Hälfte täglich ein. Eine häufigere Einnahme dieser Medikamente ist nicht automatisch mit schädlichem Gebrauch/Abhängigkeit gleichzusetzen, auch wenn die Verschreibungsgrundlage hier oft etwas unklar erscheinen mag. Besonders hohe Prävalenzraten von Langzeitverordnungen mit Benzodiazepinen werden bei älteren Patienten mit Schlafstörungen sowie institutionalisierten älteren Menschen erreicht. In einer repräsentativen Studie von nahezu 2.000 Bewohnern in Mannheimer Alten- und Altenpflegeheimen lag die Prävalenz des Benzodiazepingebrauchs (bezogen auf einen Zeitraum von vier Wochen) bei 15,6 %, wobei nahezu zwei Drittel diese Medikamente – bezogen auf einen Zeitraum von sechs Monaten – täglich mit einer durchschnittlichen Diazepam-Äquivalenzdosis von 8,8 mg einnahmen (Weyerer et al., 1998). Für die Entwicklung einer Benzodiazepinabhängigkeit gibt es eine Reihe von Risikofaktoren (Wolter-Henseler, 1996). Die Wahrscheinlichkeit für eine Benzodiazepinabhängigkeit ist bei Personen mit einer vorbestehenden Suchterkrankung erhöht. Das Risiko ist auch dann besonders hoch, wenn Behandlungsdauer und Dosis zunehmen. Neben der Chronizität und Schwere der mit Benzodiazepinen behandelten Symptome spielen zusätzlich psychosoziale Belastungen eine wesentliche Rolle. Die Einnahme von Benzodiazepinen wird begünstigt durch bestimmte Erwartungen des Patienten hinsichtlich psychotroper Wirkungen. Auf Seiten der verordnenden Ärzte – quantitativ spielen hier Hausärzte (Allgemeinpraktiker und Internisten) die größte Rolle – sind dabei folgende Faktoren bedeutsam: nicht reflektierte Verschreibung von Benzodiazepinen, fehlende Arzt-Patient-Beziehung, Verschreibung ohne Indikation, mangelhafte Berücksichtigung von Persönlichkeit und Biografie der Patienten und fehlendes Problembewusstsein hinsichtlich der Gefahren von Langzeit- bzw. Hochdosisverordnungen. Benzodiazepi196 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 197 ne können dabei bereits nach relativ kurzer Einnahmezeit (d. h. nach wenigen Wochen) und selbst bei gering erscheinender Dosierung (low-dose-dependence) abhängig machen. Im Gegensatz zu Konsumenten illegaler Drogen oder Alkohol wird alten Menschen mit einem dauerhaften »Low-dose«-Benzodiazepingebrauch kaum bewusst, dass sie eine – vom Arzt verordnete – Substanz mit Suchtpotenzial missbräuchlich anwenden oder sogar abhängig werden könnten. Es ist deshalb nicht überraschend, dass entsprechende stationäre Einweisungen selten aufgrund der Diagnose »Benzodiazepinabhängigkeit«, sondern vielmehr wegen anderer psychiatrischer Erkrankungen, zumeist Depressionen, erfolgen. Ein Entzug sollte vor allem dann erwogen werden, wenn sich unter laufender Einnahme von Benzodiazepinen die psychischen Symptome verschlechtern bzw. die Benzodiazepine ihre Wirkung verlieren. In den letzten Jahren wurden einige wenige Studien hinsichtlich der Wirksamkeit von Therapien bei Benzodiazepinabhängigkeit veröffentlicht, die einheitlich sehr bedeutsame langfristige Abstinenzraten in folgenden Gruppen fanden: 63 % bei älteren Patienten mit chronischen Schlafstörungen (Morin et al., 2004), 58–62 % bei Allgemeinarztpatienten mit Langzeitgebrauch von Benzodiazepinen (Voshaar et al., 2003), 13–27 % bei schwer Abhängigen mit hoher Dosis oder gleichzeitig bestehender Alkoholabhängigkeit (Vorma, Naukkarinen, Sarna & Kuoppasalmi, 2002). Diese Befunde legen nahe, dass die Entzugsbehandlung bei Benzodiazepinen, auch bei älteren Menschen, mit einer guten Prognose erfolgen kann. Trotz der guten Prognose muss davon ausgegangen werden, dass nur wenige Personen mit einer Medikamentenabhängigkeit Behandlungsangebote in Anspruch nehmen. Nach Zahlen der Suchthilfestatistik von 2003 wiesen 1,0 % der Behandelten in ambulanten und 0,8 % in stationären Einrichtungen die Erstdiagnose der Abhängigkeit von Sedativa oder Hypnotika auf (Sonntag & Welsch, 2004). 9,4 % der wegen Sedativa/Hypnotika stationär Behandelten waren 60 Jahre und älter (Welsch & Sonntag, 2003). 197 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 198 Fazit Die drei hier beschriebenen Substanzgruppen führen häufig zu Abhängigkeit oder Missbrauch in der Gruppe der älteren Menschen. Die Therapieprognosen sind generell gut, z. T. besser als bei jüngeren Betroffenen. Der Therapieerfolg lässt sich steigern, wenn die Intervention spezifisch auf die ältere Personengruppe zugeschnitten wird. In der Suchthilfe ist die Gruppe der älteren Patienten unterrepräsentiert. Eine besonders deutliche Unterversorgung zeigt sich für die Abhängigkeit von Tabak und Medikamenten. Erhöhte Prävalenzen für alle drei Substanzen lassen sich in Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung finden, hier ist auch eine gute Erreichbarkeit dieser Gruppen gegeben. Dies spricht für proaktive, auf die Personen zugehende, Maßnahmen mit Hilfe systematischen Screenings aller Patienten. Abzuwägen ist der Aufwand in Abhängigkeit zur jeweiligen Prävalenz solcher Maßnahmen. Insbesondere in den hohen Altersgruppen sind diagnostische Maßnahmen in solchen Fällen auf die Gruppe derjenigen zu beziehen, die mit einer spezifischen Auffälligkeit hierfür geeignet erscheinen. Neben Hausarztpraxen und Krankenhäusern kommen insbesondere auch Altenheime für proaktive Interventionen in Frage. Insgesamt muss sich die Suchthilfe durch die sich ändernde Bevölkerungsstruktur vermehrt auf die Gruppe der älteren Suchtkranken einstellen. Derzeit sind entsprechende Angebote nur punktuell vorhanden. Insbesondere muss den älteren Betroffenen der Zugang zu Hilfen erleichtert werden. Das kommende Schwerpunktjahr der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) wird sich der Frage von Sucht im Alter unter dem Motto »Unabhängig im Alter – Suchtprobleme sind lösbar!« widmen. Es ist zu hoffen, dass diese Initiative nicht nur zu einer besseren Behandlung suchtkranker älterer Menschen beiträgt, sondern auch wichtige Impulse für die bislang sehr defizitäre Forschung auf dem Gebiet »Sucht und Alter« geben wird. Literatur Bühringer, G., Augustin, R., Bergmann, E., Bloomfield, K., Funk, W., Junge, B., Kraus, L., Merfert-Diete, C., Rumpf, H.-J., Simon, R., Töppich, J. (2000). Alkoholkonsum und alkoholbezogene Störungen in Deutschland. Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft Fleming, M. F. (et al.) (1999). Brief physician advice for alcohol problems in older adults: a randomized community-based trial. Journal of Family Practice, 48, 378–384. Helmchen, H., Baltes, M. M., Geiselmann, B., Kanowski, S., Linden, M., Reischies, F. M., 198 Jahrbuch Sucht_06 18.11.2005 15:39 Uhr Seite 199 Wagner, M., Wilms, H. U. (1996). Psychische Erkrankungen im Alter. In: Mayer, K.U., Baltes, P.B. (Hrsg.). Die Berliner Altersstudie Berlin: Akademie Verlag. 185–219. Hill, A., Rumpf, H.-J., Hapke, U., Driessen, M., John, U. (1998). Prevalence of alcohol dependence and abuse in general practice in Germany – a representative study. Alcoholism: Clinical and Experimental Research, 22, 935–940. John, U. (2004). Berechung des Rauchstatus nach Alter aus dem Mikrozensus 1999; unveröffentlichte Daten. Greifswald: Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin. John, U., Hapke, U., Rumpf, H.-J., Hill, A., Dilling, H. (1996). Prävalenz und Sekundärprävention von Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit in der medizinischen Versorgung. Baden-Baden: Nomos Verlags-Gesellschaft. Kraus, L., Augustin, R. (2001). Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland 2000. Sucht, 47, 7–86. LaCroix, A. Z., Omenn, G. S. 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