William Blake

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William Blake
Stephan Landis
William Blake
Poet eines utopisch-freiheitlichen Glaubens
Unter den Menschen, meinte der englische Lyriker W.H. Auden,
gibt es zwei Sorten: Die einen schauen und träumen rückwärts;
sie suchen Vollkommenheit in einer urtümlichen Vorzeit, in einem
unberührten Arkadien oder in einem Garten Eden vor dem Fall,
in einer agrarischen Welt ohne Technik und Geld und moralischen
Zerfall. Die anderen, aufsässig und kämpferisch, richten ihren
Blick auf den fernen Horizont der Zukunft, projizieren ihre Hoffnungen auf eine Utopie, oft in Gestalt einer Stadt, Symbol der
grossen Erneuerung.
Poeten, vermutet man mit gutem Grund, gehören im Allgemeinen zur Gattung der Konservativen. Sanfte Seelen, die sie sind,
schlagen sie die Töne des Heimwehs an; sie suchen nach Geborgenheit. Ihre Sache ist es, das ruhelose Herz mit einer harten Welt
zu versöhnen, indem sie es in grünen Nischen heimisch machen.
Mit der Einfühlung in die Kreatur lehren sie Leiden, Sterben, Ergebung; sie evozieren Vergangenes, um ihre Zeitgenossen demütig zu machen, komponieren pastorale Harmonien als Alternative
zu einer dissonanten Gegenwart.
Die Sphäre der Hochkultur allgemein neigt, entgegen ihrem
eigenen Selbstbild, zur Nostalgie, auch und gerade dort, wo sie
dem formalen Experiment und der philosophischen Radikalität
huldigt. Die intellektuelle Avantgarde von Aristophanes bis Heidegger kultiviert den Überdruss an der Zivilisation. Die Utopie
dagegen wird der Naivität verdächtigt oder des Machbarkeitswahns. Vielleicht ist sie noch am ehesten in populäreren Spielarten zu finden. Und hier oft in überraschenden Kontexten.
Die Last night der Proms, einer populären Konzertreihe, die jeden Sommer in London stattfindet, ist ein solcher Kontext. Das
Publikum an diesem Abend gleicht der Fangemeinde eines Fussballderbys und erwartet jedes Jahr die gleiche Mischung von klassischen Ohrwürmern und patriotischen Schmachtfetzen, von
Tschaikowsky bis Elgar. Da mag mancher die Nase rümpfen und
argwöhnen, hier werde bloss Affirmatives konsumiert, ein rückwärtsgewandter Nationalismus bedient, mit «Rule Britannia»
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und «God save the Queen». Doch mitten in dieser Feier abgelebter imperialer Grösse steht ein fremder Gast, die Vertonung
eines Gedichts von William Blake:
And did those feet in ancient time
Walk upon England’s mountains green?
And was the holy Lamb of God
On England’s pleasant pastures seen?
And did the Countenance Divine
Shine forth upon our clouded hills?
And was Jerusalem builded here
Among these dark Satanic mills?
Bring me my bow of burning gold:
Bring me my arrows of desire:
Bring me my spear: O clouds unfold!
Bring me my chariot of fire.
I will not cease from mental fight,
Nor shall my sword sleep in my hand
Till we have built Jerusalem
In England’s green and pleasant land.
Das ist so nationalistisch, gewiss, wie die anderen Hymnen des
Abends. Und auch die Pastorale ist da, in «Englands grünem,
schönen Land». Doch wenn das Publikum mitsingt, huldigt es
nicht einer sanft-nostalgischen Vision. Der Traum vom grünen
England wird vielmehr zum Schauplatz der Auseinandersetzung,
intellektueller Unruhe und endzeitlicher Hoffnung. Blake mobilisiert dafür eine Bildwelt, die die Apokalyptik ebenso in den Dienst
nimmt wie kriegerische und sexuelle Metaphern – alles unter dem
Vorzeichen seines «geistigen Kampfes». Er führt damit zugleich
ins zentrale Drama seines Werkes ein. William Blake ist zwar bereits 1757, einige Jahre früher als die anderen Hauptvertreter der
englischen Romantik, geboren. Doch er schlägt das Leitmotiv ihrer grossen poetischen Debatte bereits mit Macht an: die Dichotomie von Geist und Natur.
Wordsworth, Coleridge, Shelley, Keats, alle werden sie umgetrieben von dieser Frage: Wie verhalten sich Imagination und Natur
zueinander? Findet die Einbildungskraft, die allen Romantikern
heilig ist, ihren Ort in Naturfrömmigkeit, poetischer Rezeptivität
und Ergebung in die natürlichen Grenzen (das wird der Weg des
todkranken, tragisch früh gereiften Keats sein) – oder in der Diastase des Geistes zur vorfindlichen Welt? Keiner wird die Frage so
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leidenschaftlich eindeutig beantworten wie Blake: «So etwas wie
natürliche Frömmigkeit gibt es nicht. Der natürliche Mensch ist
der Feind Gottes», schleudert er William Wordsworth entgegen,
der mit diesen Begriffen hantierte. Das ist eine Exkommunikation
moderner Naturdichtung – und ein kühner Sprung über den Abgrund der Subjektivität, den diese Dichtung aufreisst und den keiner so hartnäckig erkundet hat wie Wordsworth selbst.
Ein grosser Religionskritiker
Blake überspringt den Abgrund der Neuzeit im Namen christlichen
Geistes – aber nicht im Namen traditioneller Religiosität. Religion
als Kirche, als Tradition und Institution ist für Blake ein Zwangssystem. Er ist als christlicher Dichter zugleich ein klassischer Religionskritiker der Moderne, in einem Zug zu nennen mit Marx,
Freud und Nietzsche. Der Modus von Blakes Religiosität ist nicht
Unterwerfung und Verehrung, sondern – ganz in der Tradition der
englischen Dissenters und seiner Heimatstadt London – der Protest; Protest gegen die etablierte Staatskirche, gegen soziale, politische, moralische, sexuelle Repression, gegen die Welt, wie sie ist.
Gott als Garant von Konventionen und patriarchaler Tyrann erscheint bei Blake unter dem Namen Nobodaddy, der auf Freud
(ebenso wie auf Beckett) vorausweist. Denn die religiöse Repression
frisst sich in die Seelen der Menschen, bedient sich infantiler Bedürfnisse und verhindert die Entwicklung menschlicher Potentiale:
Why art thou silent and invisible
Father of jealousy
Why dost thou hide thyself in clouds
From every searching Eye?
Why darkness and obscurity
In all thy words and laws
That none dare eat the fruit but from
The wily serpent’s jaws?
Blake, leidenschaftlicher Beobachter und Anhänger der amerikanischen und der französischen Revolution, ist der schärfste neuzeitliche Kritiker der Religion als Herrschaftsinstrument – und
sieht sie zugleich, mit den englischen Radikalprotestanten, als
Kraft der Emanzipation. Die Trennlinie zieht Blake mit der Gnosis innerhalb der christlichen Trinität, zwischen dem Vatergott
und Jesus. Jesus steht in Opposition zum starren Patriarchen,
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wird zur Symbolfigur für eine andere, bessere Religion, die Blake
faktisch mit der menschlichen Imagination identifiziert. Religion
ist Poesie, nicht starre Struktur, sondern weltverwandelnde Kraft.
Sie stellt Blake nicht nur der Kirche entgegen, sondern auch der
neuen Macht, die für ihn den lebendigen Geist verrät und knechtet: dem Rationalismus der frühneuzeitlichen Wissenschaft, der
ursprünglich zwar als Kritiker religiöser Autorität angetreten,
nun aber für Blake mit seiner Betonung statischer Strukturen
selbst zur intellektuellen Fessel geworden war.
Dynamische Inszenierungen des Dualismus
Der Dualismus von Geist und Natur, von Imagination und Struktur, von Freiheit und autoritärer Fixierung ist der Motor von
Blakes Denken. Doch in seinem Schaffen, das neben der Poesie
auch bildende Kunst, nämlich Malerei und Reliefradierung, umfasst, wird dieser Dualismus in immer neuen Konstellationen als
Konflikt inszeniert und verwandelt sich dabei selbst. Die Symbole, die Blake in seinem lebenslangen «mental fight» verwendet,
bleiben in dialektischer Bewegung, und keiner Identifikation kann
man sich je sicher sein.
Eine der spannendsten Auseinandersetzungen trägt Blake mit
John Milton aus. Der letzte der grossen europäischen Epiker ist
der Übervater der ganzen englischen Poesie bis weit ins 19. Jahrhundert; doch mit Blake und der Romantik erreicht der intertextuelle Dialog mit Milton eine Dichte und Leidenschaft, die in der
Weltliteratur kaum eine Parallele kennt.
Der Puritaner des 17. Jahrhunderts bleibt für Blake ambivalent: Verkörperung theologischer Repression, weil er das Christentum in das Korsett einer rationalistischen Hierarchie presse:
Gottvater bleibt in «Paradise Lost» Sieger über die Rebellion
der gefallenen Engel, – doch nur um den Preis, dass Milton seine
eigenen poetischen Energien einem autoritären Moralismus opfert. Denn im Innersten, so Blake, steht der Erzpoet und Anhänger von Cromwells Revolution auf der Seite Satans. Neben der
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sublimen Poesie des grossen Rebellen bleiben Gottes Syllogismen blass. Der Böse hat die besseren Verse, weil er die tiefsten
Energien nicht unterdrückt. «Die Strasse zum Exzess führt zum
Palast der Weisheit», sagt Blake. In der Triebverdrängung dagegen bilden sich, so seine Analyse lange vor Freud, psychische,
kulturelle, soziale Abszesse; in einem seiner bekanntesten Gedichte beschreibt Blake das Wachsen des Giftbaums, der sich
aus Nichtgesagtem bildet.
Die kühne Miltondeutung hält bis heute die Forschung in
Schwung und bringt akademische Neuorthodoxien regelmässig
in Nöte. Doch Blake lässt es damit nicht bewenden. Sein Streit
mit Milton ist so heftig, seine Identifikation mit ihm so intensiv,
dass er ihn in einem eigenen Versepos zur Titel- und Hauptfigur
macht und ihn seine Fehler korrigieren lässt: Der Poet von «Paradise Lost» ist zwar im Himmel, aber unglücklich; er erkennt, dass
es seine Aufgabe ist, auf die Erde zurückzukehren, sein moralistisches Selbst abzulegen und sich mit seiner wahren Inspiration, die
er verraten hat, zu versöhnen. Die Mission des Dichters ist die
Befreiung revolutionärer Energie, letztlich die Rettung der Welt.
Dies alles spielt sich auf der Bühne einer komplexen Privatmythologie ab, zu deren Elementen die Geographie Britanniens und Israels ebenso gehören wie eine Fülle allegorischer Figuren. Die
Lektüre ist nicht einfach; die Belohnung dafür sind immer wieder
bestürzende Einsichten und Momente grosser Poesie.
Unerschöpftes Potenzial
Letztlich bleibt Blake seltsam irisierend und irritierend. Sein Hang
zur gnostischen Scheidung von Geist und Natur, von Jesus und
Altem Testament, seine heftige Ablehnung des newtonschen Rationalismus befremden zuweilen ebenso wie seine visionären Bilder,
die einem vorkommen, als hätten sie mit der sichtbaren Welt ganz
gebrochen. Doch Blake ist ein Unruheelement mit unerschöpftem
Potenzial: mit der Treffsicherheit seiner Kritik, der intellektuellen
Kraft seiner Umwertung der Werte lange vor Nietzsche; mit dem
silbernen Licht seiner lyrischen Grazie, die man am besten in den
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Kurzgedichten erkundet, etwa in den berühmten «Songs of Innocence and Experience» oder den «Auguries of Innocence»:
To see a world in a grain of sand,
And a heaven in a wild flower,
Hold infinity in the palm of your hand,
And eternity in an hour.
Die Unbedingtheit, mit der Blake auf die Wirklichkeit der Möglichkeit, auf den Geist setzt, verschlägt einem den Atem. Auch die
Pastorale braucht ihr Utopia, sonst wird die Luft in Arkadien stickig. William Blake ist ein kräftiger Windstoss für eine Spätmoderne, die lieber zurück als vorwärts schaut und die das Freiheitsprojekt der Neuzeit manchmal am liebsten ad acta legen möchte.
Kurz vor seinem Tod im Jahr 1827, in einem lichten Moment
inmitten der Qualen der Agonie, soll Blake plötzlich zu seiner
Frau gesagt haben: «Kate, du warst mir eine gute Frau. Ich will
dich zeichnen.» Er tat es, legte die Feder nieder – und begann zu
singen: «Hallelujahs and songs of joy and triumph», schreibt ein
Zeuge. «His bursts of gladness made the room peal again.» William Blake starb in der Freiheit des Geistes.
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