Mit dem Fahrrad an den Atlantik

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Mit dem Fahrrad an den Atlantik
Fotos: © Nicole Kemper
RADREISE
Westwärts
Mit dem Fahrrad an den Atlantik
Saint Nazaire
Orléans
Mulhouse
Dole
Nevers
ravo!“, applaudiert das Publikum am Straßenrand,
wir winken fröhlich zurück – und wundern uns ein
weiteres Mal darüber, welche Begeisterung unser
Schneckentempo-Tour-de-France-Team im Land der Rennradler immer wieder auslöst. Voll bepackt und gegen den
Wind anstrampelnd,hinterlassen wir in Frankreich offensichtlich auch mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit
von zwölf Stundenkilometern gewaltigen Eindruck. Unser
Vorhaben,von Freiburg an die Atlantikküste zu radeln,wird
allerorts mit Interesse und Bewunderung quittiert:„Ah! De
Fribourg à l'Atlantique! 1300 kilomètres! C'est formidable!“
B
Auf einem Campingplatz lädt uns die Betreiberin zu einem Begrüßungs-Kir ein – mit dem hausgemachten Getränk huldigt sie jedem wackeren Radhelden, der bei ihr
Halt macht. Dabei sollte der Anblick von Fernradlern auf
unserer Strecke zwischen Freiburg und St. Nazaire mittlerweile ein vertrauter sein. Der insgesamt knapp 4000
Kilometer lange und zehn Länder überspannende „EuroVelo 6“, dessen westlichen Abschnitt wir befahren, ist
Teil eines riesigen europäischen Radfernwanderwegnetzes, das 1994 vom Europäischen Radfahrerverband ins
Leben gerufen wurde. Das fertige Projekt soll zwölf Radfernwege mit einer Länge von über 60.000 Kilometern
umfassen, zwei Drittel sind bereits ausgebaut.
,Unsere’ Nummer 6 verbindet das Schwarze Meer mit
dem Atlantik und folgt dabei den großen Flüssen Donau,
Rhein und Loire. Fährt man die gesamte Strecke von Ost
nach West, führt sie zunächst von Konstantinopel entlang der Donau über Belgrad, Budapest, Wien und Ulm,
um am Bodensee an den Rhein zu wechseln.
Für Freiburger liegt der Einstieg in den EuroVelo 6 somit
fast vor der Haustür: Kurz vor Mulhouse stoßen wir auf
4 | chilli | reise & freizeit | 07.2011
den Rhein-Rhone-Kanal und genießen höchsten RadlerkomFrankreich
fort – längst nicht alle Streckenabschnitte sind so perfekt
ausgestattet wie dieser. Die
Radwege entlang des Kanals
und des Flusses Doubs sind seit
2008 durchgängig asphaltiert, ausgezeichnet beschildert,
und erlauben es Radlern und Inline-Skatern nahezu mühelos, an Wiesen und kleinen Dörfern vorbeizusausen,
Hausboote zu überholen und die vielen schmucken
Schleusenwärterhäuschen zu passieren.
Die ersten 250 Kilometer stehen im Zeichen der Städtepartnerschaft, denn als erstes Highlight auf dem EuroVelo 6 erhebt sich nach vier Fahrtagen die beeindruckende Kulisse von Besançon über dem Fluss. Bootsreisende
tauchen unter der Stadt hindurch: Während der Doubs
eine große Schleife um die Hauptstadt der Franche-Comté legt, kürzt der Kanaltunnel unter der Zitadelle drei
Kilometer ab. Doch wer den schnellen Weg wählt, verpasst die belebte Altstadt und die vor drei Jahren zum
Weltkulturerbe der UNESCO erklärte Festungsanlage,
die als eine der schönsten Frankreichs gilt.
Schon hier wird klar, dass die eingeplanten vier Wochen
viel zu knapp bemessen sind: Besançon ist nur eine von
unzähligen Stationen,die zur kulturellen Radlerpause einladen. Auf unserem Weg liegen unter anderem das mittelalterliche Nevers mit seinen engen Gässchen, prächtigen Sakralbauten und dem feudalen Herzogspalast, die
Universitätsstädte Orléans und Tours mit ihren berühmten Kathedralen und die belebte Großstadt Nantes. Und
nicht zuletzt werden wir das gesamte Loiretal mit über
400 Schlossanlagen durchfahren. Unter anderem radeln
Besançon
RADREISE
wir direkt auf die imposante Kulisse des größten Loireschlosses zu, das
ursprünglich als Jagdsitz erbaute
Schloss Chambord mit über 400 Räumen und einem weitläufigen Wildpark. Neben den weltberühmten
touristischen Zielen erwarten uns
aber auch noch bezaubernde Uferstädtchen, herausgeputzte Weinorte,
pittoreske Felsenbehausungen und
verschlafene Dörfchen mit besichtigungswürdigen Kirchen.
Faszinierend ist auch das Gewirr von
Wasserwegen, das uns quer durch
Frankreich begleitet. Die großen Flüsse sind mit vielen kleinen Kanälen
verbunden, sodass der Radweg an
den Atlantik in Frankreich lückenlos
und quasi bergab an Wasserstraßen
entlangführt: Vom Doubs gelangen
wir über den Rhein-Rhone-Kanal an
die Saône, der Canal du Centre führt
weiter zur Loire. In den Loirestädtchen Digoin und Briare treffen wir
auf besondere Glanzstücke der französischen Kanalbaukunst: Hier überqueren die Schiffe den Fluss auf aufsehenerregenden Kanalbrücken.
Fernab der touristischen Anziehungspunkte wird es oft auch angenehm
einsam. Menschenverlassene Gegenden lassen an gespenstische Endzeitszenarien denken. Gibt es abgesehen von den Mitgliedern der
allgegenwärtigen Froschorchester
und den Tausend Mücken,die uns im
Gesicht kleben, überhaupt noch weiteres Leben auf unserer Route? Ja.
Abends auf dem Campingplatz bauen neben uns Fritz und Regina aus
Köln ihr rotes Minizelt auf. Ursprüng-
Die Kanalbrücke in Digoin: der Loire-Seitenkanal überquert die Loire.
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Kleine Angel-Stelzenhütten, sogenannte
Carrelets, an der Loiremündung.
lich wollten sie ans Mittelmeer radeln. Doch in Mulhouse erfuhren sie
zufällig vom EuroVelo-Projekt und
änderten ihre Route, um Loireschlösser und Atlantikküste zu erkunden
und später entlang der Pyrenäen
zum geplanten Ziel zu gelangen.
Eine glückliche Entscheidung, findet
Regina, nur die Fahrtrichtung würde
sie gerne ändern: „Immer Gegenwind, das ist schlimmer als Berge.“
Der drahtige Radler Joe aus Amerika
ist von der Wegeführung abseits der
Autostraßen hingegen weniger angetan:„I'm totally pissed of EuroVelo 6!“, wettert er, nachdem er der
Route im Loiretal einen Tag im Zickzack und im stetigen Auf und Ab
über Weinberge gefolgt war und für
seine Begriffe viel zu wenig Kilometer
sammelte. Auf dem Fernradweg treffen sich Reisende aus aller Welt: Die
jüngsten lassen sich vom Vater im
Kinderanhänger ziehen, das holländische Paar auf dem Campingplatz in
Amboise ist bereits in den Siebzigern.
Nach drei Wochen auf dem EuroVelo 6 trennen sich an der Loiremündung die Wege: Das große Ziel, der
Atlantik, ist erreicht! Während die
Kölner in Richtung Biarritz weiterfahren, gönnen wir uns ein paar
Strandtage, bevor wir im TGV gen
Straßburg den Rückweg im Zeitraffer erleben. Nach sechs Stunden
Zugfahrt sind wir fast wieder zu
Hause und sehen freudig po-schonenden, radfreien Zeiten entgegen.
Obwohl – eigentlich könnten wir
hier doch noch schnell auf den EuroVelo 5 gen Rom aufspringen ...
Nicole Kemper
www.eurovelo6.org
chilli | reise & freizeit | 07.2011 | 5

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