IV Exemplarische Interpretationen
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IV Exemplarische Interpretationen
Technik der Romaneröffnung IV Exemplarische Interpretationen 1 Wie gestaltet Goethe die Romaneröffnung? (Werthers Brief vom 4. Mai 1771) D er Brief eröffnet den Roman, und schon deshalb gebührt ihm besondere Aufmerksamkeit, kommt doch dem Romananfang im traditionellen Erzählen eine gewichtige expositorische Bedeutung zu. So ist es auch im vorliegenden Fall: Der Anfang enthält alle wichtigen Konstellationen des Textes in sich. Darüber hinaus gibt er eine Vielzahl von Hinweisen auf den Fortgang der Handlung. Der Brief ist in vier Absätze gegliedert, denen eine inhaltliche Grobgliederung entspricht. Die Ausgangssituation ist die folgende: Werther hat seinen Lebenskreis fluchtartig verlassen und schreibt an einen nicht namentlich bezeichneten »liebe[n] Freund«, dessen Vornamen »Wilhelm« der Leser erstmals im Brief vom 22. Mai 1771 erfährt. Als Grund für seine überstürzte Abreise macht Werther private Komplikationen geltend: eine lästige Liebesverwicklung sowie die Regelung einer Erbschaftsangelegenheit im Auftrag der Familie, in der er die ersten erfolgreichen Schritte bereits unternommen hat. Sein Aufenthaltsort ist eine nicht näher bezeichnete »Stadt«. Sie liegt in reizvoller Umgebung, die er besonders schätzt und in die er sich eingelebt hat. Der erste Absatz Der erste Absatz hat den Charakter eines fiktiven Dialogs. Der Verfasser schwankt zwischen Rechtfertigung (S. 9, Z. 5 bis 11) und Selbstbezichtigung (Z. 11–16) und schließt mit dem Vorsatz, sich zu bessern (Z. 16–26). Auffällig ist die starke Betonung des »Ich«, das 19 Mal als Personalpronomen – allein 97 Werthers Ausdrucksstil im kurzen ersten Satz zweimal – und zweimal als Possessivpronomen vorkommt. Dagegen steht nur viermal das partnerbezogene »Du« und nur einmal das kollektivierende »Uns«. Schon das verweist auf Werthers ausgeprägte Egozentrik. Zwar führt er das Wort »Freund« im Munde, jedoch gelingt es ihm nicht, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren. Die Sprache des Briefs ist stark rhetorisch gestaltet: Inversionen, emphatische Anreden, Ausrufe, rhetorische Fragen, Häufungen, Anaphern, Parenthesen, Ellipsen und Satzbrüche wechseln sich ab und drücken die gefühlsbetonte Haltung des Sprechers aus. Werthers Stilideal ist nicht ein ruhiger Sprachstil aus wohlgeformten Perioden, sondern ein unmittelbarer, der mündlichen Rede angenäherter Ausdrucksstil, mit dem sich die Textgattung Brief natürlich gut verträgt. Werther selbst kennzeichnet seinen Stil in Gegenüberstellung zum Kanzleistil des Gesandten als »leicht weg[gearbeitet], und wie es steht so steht es«. Von den Stilfiguren, die er verwendet, nennt er ausdrücklich die »Inversion[ ]« (24. Dezember 1771), die einen Regelbruch bedeutet, aber gerade deswegen als Mittel nachdrücklicher Betonung geeignet ist. Der erste Absatz ist ein Musterbeispiel für dieses Ideal des unmittelbaren, ungeglätteten Ausdrucks eines spontanen Gefühlsergusses. Die Stilmittel gehören durchweg dem affektiven Bereich an und dienen der Eindringlichkeit. Der Deutlichkeit halber sind die 14 Sätze des ersten Absatzes im Folgenden durchnumeriert. Die ersten drei Sätze sind unmittelbar an den Adressaten des Briefes gerichtete Ausrufe, deren Wirkung durch die Kombination mit weiteren Stilmitteln noch gesteigert wird. So beginnt (1) mit einer Inversion des Adverbs, das durch die Partikel »wie« zusätzlich betont wird. In (2) ist der Ausruf kombiniert mit der Adressatenanrede. (3) enthält wieder eine 98 Rhetorik der Eindringlichkeit Inversion, diesmal des Anredepronomens, und weist darüber hinaus eine Klimax auf (»liebe« – »unzertrennlich«). (3) bildet zusammen mit (1) eine Epanalepse: Der Beginn von (1) (»Wie froh bin ich […]«) entspricht dem Ende von (3) (»[…] und froh zu seyn!«). So wird ein nachdrücklicher Bogen geschlagen, der das scheinbare Paradox von gleichzeitiger Anziehung und Abstoßung hervorhebt: Werther ist froh, weg zu sein, obwohl er doch seinen vertrautesten Freund verlassen hat. (4) hat als schlichter Aussagesatz die Funktion einer kurzen Ruhepause, bevor neues rhetorisches Feuerwerk gezündet wird. Dieses besteht aus einer Kette rhetorischer Fragen – (5), (8) bis (12) –, die durch Ausrufesätze – (6) und (13) – und einen emphatischen Aussagesatz mit Inversion – (7) – unterbrochen werden. Der Eindruck lebhafter Sprechweise wird durch die zweimalige abwägende »Und doch«-Markierung noch verstärkt, durch die entlastende und belastende Momente einander gegenübergestellt werden: (7) und (8) vs. (9) bis (12). Offensichtlich kommt der Sprecher über die Frage, inwieweit er für die unglückliche Liebesaffäre verantwortlich ist, nicht mit sich ins Reine. Das signalisiert auch die Aposiopese in (12), der unvermittelte Abbruch des Satzes, der etwa diesen Sinn vermittelt: Es ließen sich noch weitere Schuldmomente anhäufen, ohne dass die Schuldfrage dadurch geklärt wäre. Eine Exclamatio mit Interjektion setzt den Schlusspunkt hinter das das erregte Stakkato dieses Abschnitts. Die beiden Schlusssätze bieten ausgedehnte Perioden. Sie nehmen mit zehn Zeilen fast den gleichen Raum ein wie die acht Sätze des mittleren Abschnitts. Dementsprechend wechselt der Inhalt. Der Sprecher bekundet seine Absicht, sich von den Turbulenzen der Vergangenheit abzuwenden und sein Leben in ein ruhiges Fahrwasser zu lenken. Dazu ist eine Änderung der Einstellung zu den Dingen erforderlich. Diese Entschlossenheit kommt in (13) durch Anaphern zum Aus99 Kalkulierte Unmittelbarkeit und stilistische Vielfalt druck (»Ich will, […] ich verspreche, […] ich will […], will […]; ich will […]«). Der Charakter der Lebhaftigkeit bleibt durch zwei Ausruf-Parenthesen gewahrt. Hat (13) parataktischen Charakter, so gewinnt (14) durch Hypotaxe (durch einen Konditionalsatz und am Ende einen Komparativsatz) sowie durch den sentenzartigen Abschluss ein besonderes Gewicht. Der Absatz, der beim ersten Lesen den Eindruck von Spontaneität und unreflektiertem Drauflosschreiben vermittelt, erweist sich demnach bei genauerer Betrachtung als kunstvolles Stilgebilde aus drei unterschiedlichen Teilen: zunächst der Darstellung einer gegenwärtigen Befindlichkeit, die durch ein Gefühlsparadoxon geprägt ist; einer unruhigen inneren Auseinandersetzung im Mittelteil; und einem ruhigen gedanklichen Abschluss aus gutem Vorsatz und Reflexion. Die enorme Spannbreite stilistischer Möglichkeiten ist Kennzeichen der Werther‘schen Briefe überhaupt. Das Spektrum erstreckt sich vom hymnischen Aufschwung der Naturschilderung (10. Mai, 21. Juni und erste Hälfte des Briefs vom 18. August 1771) über das inbrünstige Gebet, das pathetische Bekenntnis (16. Juli 1771), den sachlichen Bericht und die satirisch-sarkastische Schilderung (15. März 1772) bis zum zerrissenen Stimmungsbild und Aufschrei der Verzweiflung (zweite Hälfte des Briefs vom 18. August 1771). Zurück zum ersten Absatz: Werthers Situation lässt sich begrifflich auf zwei Gegensatzpaare bringen: Anziehung – Abstoßung und Vergangenheit – Gegenwart. Der erste Satz steht im Zeichen der Abstoßung: Werther ist »froh«, seinen Lebenskreis verlassen zu haben. Der zweite Satz leitet zum Gegenpol über, indem er den Schlüsselbegriff des Romans einführt, den Begriff »Herz«. Aus der Ambivalenz des menschlichen Herzens erklärt Werther im dritten Satz die Gefühlsparadoxie, von seinem engsten Freund getrennt und dennoch froh zu sein. Den Pol der Anziehung bildet Werthers Bedürf100