Parallelgesellschaften

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Parallelgesellschaften
Parallelgesellschaften
Von Kadriye Bakşi
Parallelgesellschaften
Ich habe keine Zeit, um zu sagen: „Geh’ nicht hin, bloß nicht einmischen!“ Sonja springt wie
ein Fohlen zwischen Nicole und den massigen Typen. Aus zwanzig Metern Entfernung darf
ich mit ansehen, wie einer der Nicole zugedachten Schläge in Sonjas Gesicht platzt. Der
Kerl öffnet die Hintertür seines Schlittens und platziert seinen Pitbull behutsam auf den
Polstern. Nicole stößt er auf den Beifahrersitz. Aus der Hosentasche holt er ein Haargummi.
Während er sein Haar zum Zopf bindet, lässt er seinen Blick umherschweifen: Will sich hier
noch jemand einmischen! Dann steigt er in aller Ruhe in seinen Wagen und fährt davon.
Sonja liegt auf dem Asphalt vor dem Missionsgebäude, in dem sich der Schriftzug spiegelt:
„Jesus lebt.“ Jesus weiß, wo er leben soll. Wir aber vergessen es jeden Tag erneut.
„Nur ein leichter Schock“, sagen sie im St. Georg Krankenhaus. Als das Nasenbluten
gestoppt ist, rufe ich ein Taxi und schicke Sonja nach Hause. Eine kurze Streetwork-Schicht
heute Abend; kaum etwas von unseren Utensilien für die Stricherinnen ist verteilt; ich nehme
auch die Arbeitstasche meiner Kollegin und gehe zurück in die Einrichtung.
Martha begrüßt mich: „Die Lose sind schon gezogen. Die fünf Frauen, die hier schlafen,
stehen schon fest. Leyla ist nicht dabei – trotzdem geht sie nicht. Jetzt, zwei Minuten bevor
wir schließen, steht sie unter der Dusche.“
Leyla schreit ein türkisches Lied, ihre Stimme mischt sich mit dem Prasseln des Wassers.
„Kara tren gelmez olaaa..., düdügünü calmaz olaaa... .“
„Leyla, beeil’ dich, wir machen zu,“ sage ich auf Türkisch.
Plötzlich reißt sie den Vorhang zur Seite. Wiegt dieser Körper noch 35 Kilo? Ein von Stellen
übersäter Haut-und-Knochen-Haufen - ich kann das nicht sehen. Das ist ihr aber egal. Aus
dem zahnlosen Mund streckt sie mir die Zunge heraus, äfft mich nach: „... machen zu,
machen zu...rede nicht so wie meine Mutter!“, sagt sie auf deutsch.
„Es ist kein Spaß, Leyla, du kriegst Hausverbot. Bei der Auslosung hast du nicht gewonnen.
Geh’ zu „Alex“ zum Schlafen.
„Da fragen sie nach dem Ausweis. Dann werd’ ich abgeschoben.“
„Ach komm, welcher Obdachlose hat denn einen Ausweis, noch gestern hat Melanie dort
geschlafen.“
„Melanie ist Deutsche, du Blöde...die ist doch Deutsche!“ Sie richtet den Duschkopf auf mich.
Rechtzeitig springe ich zur Seite. Ich werde kaum nass, nur die Umgebung.
Vor der Dusche liegen ihre Klamotten, voll verdreckt und jetzt auch noch nass. Die blutigen
Sportschuhe daneben. Sie hat sie wohl tagelang nicht von den Füßen genommen.
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Von Kadriye Bakşi
Mit meinem schlechten Gewissen rufe ich aus dem Flur: „Ich suche für dich Kleider aus dem
Spendenzimmer. Welche Schuhgröße hast du?
Als ich zurückkomme, ist Leyla schon weg. Ich schaue aus dem Badezimmerfenster, das die
Frauen offen halten, um heimlich Crack zu rauchen. Tiefschwarze Nacht – mit offenem Mund
wartend, bereit zu schlucken, was man ihr hineinwirft. Die Stadt hat ihr Tagesgesicht
mitgenommen und ist längst gegangen. Dieser dunkle, augenlose Schlund bleibt dann immer
zurück. Und die Frauen begeben sich in ihn hinab wie in einer heiligen Zeremonie, in Rauch
und Tüll gehüllt.
Die Straßen wirken jetzt wie ausgetauscht. Ich wundere mich jede Nacht, wie ich, ohne mich
zu verlaufen, meine Arbeitsstelle und die U-Bahn-Station finde. Auch zählt zu den
Geheimnissen zwischen der Nacht und mir, dass ich vor der Dunkelheit eine verrückte Angst
habe. Das alles erzähle ich aber keinem.
„Gib die Anziehsachen Carmen“, sagt meine Kollegin, während sie den Boden trocken
wischt. „Leyla hat ihre Klamotten mitgenommen. Jetzt kriegt sie aber wirklich Hausverbot.“
„Ist es richtig, dass sie im Alex nach dem Ausweis fragen?“
„Ja, ich habe das auch neulich erfahren. Nach dem 11. September will die Innenbehörde die
Namensliste der dort schlafenden ausländischen Klienten. Der Sicherheit wegen... .“
„Aber von den Obdachlosen hat doch fast keiner Papiere. Wie halten sie Migranten und
Deutsche auseinander?“ Martha zuckt mit den Schultern.
Eine alte Angst erfasst mich am Rücken. Der alte blasse Angestellte in der
Ausländerbehörde stempelt endlich meinen Pass. Er steht auf und zieht mit der linken Hand,
an der zwei Finger fehlen, den schweren Fenstervorhang zur Seite. Das graue Gesicht des
Gebäudes gegenüber starrt nackt unter dem Regen. „Draußen ist Deutschland“, sagt er.
„Hier gibt es keine Sonne und keine Faulheit. Nur wer arbeitet, kann hier bleiben.“
Mein Rücken schmerzt.
„Schade, ich habe Leyla nicht geglaubt.“
„Und was ändert es, wenn du ihr glaubst. Bei der Auslosung hat sie nicht gewonnen. In
Hamburg gibt es 3000 Obdachlose, wir haben aber nur Schlafplätze für fünf.“ Die Stimme
meiner Kollegin ist nüchtern. Ich bin eine Eselin. Warum habe ich denn immer noch nicht
angefangen, meine philosophische Abhandlung zu schreiben mit dem Titel ,Über die
Ungerechtigkeit, die nicht Gleichgestellten gleich zu behandeln’?
Die Nachtwache mache ich mit unserer Jahrespraktikantin. Die Gewinnerinnen der heutigen
Auslosung haben sich schon auf den Schlafcouches lang gemacht. Im Licht der Nachtlampe
sehe ich, dass Lilly mit Schuhen schläft. Wir räumen die Küche auf, später schreibe ich die
wichtigsten Sachen ins Dienstbuch: Nicoles Zuhälter hat Sonja geschlagen.
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Von Kadriye Bakşi
Mindestens drei Tage kann sie nicht arbeiten. Leyla hat Carmens Klamotten mitgehen
lassen. Lilly hat wahrscheinlich Stellen an den Füßen. Es wäre gut, wenn sie sie unserer
Ärztin zeigt. Die Unterhosen von H&M haben wir heute unter den Frauen verteilt. Zucker und
Maggi sind fast leer, nicht vergessen, morgen einzukaufen.
Die Liege im Krankenzimmer können wir abwechselnd benutzen. Zuerst schicke ich die
Praktikantin zum schlafen. Die Tageswäsche muss ich noch desinfizieren und in die
Waschmaschinen packen. Vorher aber kontrolliere ich das Atmen der einzelnen schlafenden
Frauen. Ich kann das nicht oft genug machen. Mein Albtraum ist, dass mir eine im Schlaf
stirbt.
Jetzt sind auch die Wäschetrockner zu Ende gelaufen. Von draußen hört man St. Georg. Im
Regen Frauengeschrei, Hundegebell... . Ab und zu bringen Polizeiautos von den Straßen
aufgelesene Besoffene in die Alkohohlambulanz nebenan. Ich höre Schimpfereien und
Gestöhne. Irgendwann nehme ich nichts mehr wahr, der Schlaf drückt mich noch tiefer in
den Schreibtischstuhl. Meine Mutter kommt in ihrem blauen Trenchcoat, blutjung. Sie zeigt
mir die Hürriyet-Zeitung. „Guck“, sagt sie, „das ist das verschollene Mädchen Leyla. Man
findet sie immer noch nicht.“
Ich erwache von der Berührung des Papiers in meinem Gesicht. Anita. Komplett angezogen.
Zeigt die Wanduhr über der Tür schon fünf Uhr? Ich mache Licht an. Die schwarzen
Strümpfe von Anita haben lange Laufmaschen.
„Ich kann ohne Brille nicht lesen“, sagt sie. „Gestern haben sie mir dies hier auf der
Polizeiwache gegeben.“ Sie kann gar nicht lesen und schreiben.
„Das ist ein Platzverweis“, sage ich. „Du darfst auf der Kirchenallee vor dem Schauspielhaus
nicht mehr stehen.“
„Ich hab’ dort gar nicht gearbeitet. Ich wollte mich mit meiner Schwester treffen. Sie soll mich
hier nicht sehen.“ Ihre Stimme bebt. Unter dem Arm hält sie die rote Tasche fest, deren
Träger mit einer Sicherheitsnadel befestigt ist. Ihre Hände zittern. Ich lösche das Licht. Sie
lässt sich in einen Stuhl neben mir sinken. Gelbes Licht von außen schimmert in ihren
Haaren. Ihre Traurigkeit steckt mich an. Ich drücke sie. Ich fühle ihr von Schweiß nasses
Gesicht.
„Donnerstag bin ich hier. Wenn du kommst, können wir deine Haare behandeln, und ich
schneide sie dir“, sage ich.
„Das wär’ prima, danke dir! Ich muss jetzt aber gehen, ich habe so einen Affen...kann nicht
mehr schlafen.“
Im Monitor sehe ich sie aus unserer Eingangstür in die Dunkelheit verschwinden.
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Von Kadriye Bakşi
Es ist jetzt halb sieben, ich gehe Richtung S-Bahnhof. In der Rostockerstraße, in einem
Hauseingang, bewegt sich eine große blaue Plastiktüte. Mensch! Kann ich mich vielleicht
schnell erschrecken. Die Tüte dreht sich und „Abrakadabra“, sich streckend und gähnend,
kriecht eine junge Frau hervor. Ihre langen schwarzen Haare fegen über den vermüllten
Gehweg. Nein, nicht Leyla, es ist Renate.
„Guten Morgen“, wünschen wir uns. Freundlich lächelnd.
Die Stadt beginnt allmählich, ihre Tagesmaske aufzusetzen. Helle Gebäude, nackte Bäume
– so unschuldig wirken sie. Auch die umherlaufenden Menschen begrüßen den
wunderschönen Wintermorgen als wüssten sie nichts von der Nacht.
Bevor ich mit dem ARD Morgenmagazin einschlafe, höre ich die Worte unseres
Bundesinnenministers. Er sagt, viele Ausländer in diesem Land hätten sich nach all diesen
Jahren immer noch nicht integriert und lebten in Parallelgesellschaften. Ich fühle mich
angesprochen. Hat er vielleicht Recht? Ich schmunzle.
„Du hast vielleicht’ne Ahnung von Parallelgesellschaften“, sage ich leise.