Die Wahrheit über Sancho Pansa - Phil.-Hist. Fakultät

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Die Wahrheit über Sancho Pansa - Phil.-Hist. Fakultät
Universität Augsburg
Philologisch-Historische Fakultät
Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft
SS 2014
HS „Franz Kafka. Zürauer Aphorismen“
Dozent: Dr. Friedmann Harzer
Franz Kafka, „Die Wahrheit über Sancho Pansa“
Versuch einer Interpretation
Jana Lena Bückner
8. Semester, LA Gym. Deutsch, Geschichte, Sozialkunde
Modulsignatur : GyD 21 –NDL Nr.1
Von Parseval Straße 48
86159 Augsburg
0176/55415084
[email protected]
Inhalt
1 Hinführung zum Thema ........................................................................................................................ 3
2 Die Wahrheit über Sancho Pansa-Interpretationsansätze ................................................................... 4
2.1 Inhalt .............................................................................................................................................. 4
2.2 Historische Einordnung in das Jahr 1917....................................................................................... 4
2.3 Sprachliche Merkmale ................................................................................................................... 6
2.4 Machtstrukturen............................................................................................................................ 6
2.5 Mythisches Material ...................................................................................................................... 8
2.6 Gut-Böse Thematik ........................................................................................................................ 9
2.7 Mögliche Bezüge zur Beziehung und zum Briefwechsel mit Felice Bauer .................................. 10
3 Intertextuelle Bezüge zu anderen literarischen Werken .................................................................... 14
3.1 Inhaltliche Besonderheiten und Bezüge zum Ursprungswerk von Miguel de Cervantes ........... 14
3.1 Intertextuelle Bezüge zu anderen Texten aus dem Oktavheft G ................................................ 16
4 Fazit..................................................................................................................................................... 18
Literaturverzeichnis ........................................................................................................................... 19
Eidesstaatliche Erklärung................................................................................................................... 21
2
1 Hinführung zum Thema
„Ob man die Zeitung aufschlägt, einige Buchtitel ansieht oder Kunstwerke
betrachtet, überall trifft man sie: die hagere Gestalt mit der spitzen Lanze und
ihren rundlichen Begleiter Sancho Pansa.“1
Dieses Zitat verdeutlicht, wie bekannt die beiden mythischen Figuren Don Quichotte und
Sancho Pansa auch heutzutage noch sind. Vielerorts gibt es Verfilmungen, Aufführungen,
Denkmäler und einiges mehr, in denen sich die beiden widerfinden. Auch Redewendungen
wie zum Beispiel „Gegen Windmühlen kämpfen“ sind in aller Munde. Der Roman „El
ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha“ von Miguel de Cervantes gehört in Spanien
derzeit zur einer typischen und beliebten Unterrichtslektüre, auf die fast ein jeder Schüler in
seiner schulischen Laufbahn stößt. Weltweit gibt es zu dem Buch und den beiden
Hauptakteuren mehrere Rezeptionen und Deutungen. Seit Ludwig Tiecks Übersetzung aus
dem Spanischen, gibt es auch in Deutschland zahlreiche Kommentare und Interpretationen zu
Cervantes Werk. Es werden verschiedene thematische Aspekte aus dem Roman aufgegriffen,
modifiziert oder übernommen. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beispielsweise
greift in seiner „Ästhetik“ die Erzählform und den Stil von Cervantes auf.2
Auch Franz Kafka beschäftigte sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Roman sowie den
beiden Figuren Don Quichotte und Sancho Pansa. Insbesondere bezog er sie in seine
berühmten Aphorismen und Texte der Oktavhefte ein. Auch in dem von Max Brod aus
Kafkas Nachlass betitelten Text „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ geht es in einer
modifizierten Form um diese Figuren.
Die folgende Hauptseminararbeit fokussiert den Versuch einer Interpretation und Analyse der
Parabel „Die Wahrheit über Sancho Pansa“. Untersucht wird dabei, welche thematischen
Besonderheiten und Motive in dem Werk auftreten. Außerdem ist zu klären, welche
intertextuellen Bezüge es thematisch und inhaltlich gibt. Ziel der Arbeit ist es, sich sowohl
persönlich als auch wissenschaftlich mit dem Text „Die Wahrheit über Sancho Pansa“
auseinander zu setzen, um so verschiedene Perspektiven zu beleuchten.
1
Belarbi, Jamina u.a.: Don Quijote.
http://www.tu-chemnitz.de/phil/europastudien/swandel/madrid/erinnerung/wirueberuns.htm, zuletzt
abgerufen am 29.08.2014, S. 1.
2
Vgl. Gothart Mix, York/Strobel Jochen: Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer
Kulturtransfer- Romantische Wissenswelten. Quellen Und Forschungen Zur Literatur-Und Kulturgeschichte,
Berlin 2010, S. 156.
3
2 Die Wahrheit über Sancho Pansa-Interpretationsansätze
2.1 Inhalt
„Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der
Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abendund Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab,
derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten
aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho
Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann,
folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem
Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche
Unterhaltung bis an sein Ende.“3
„Die Wahrheit über Sancho Pansa“ ist ein Prosastück von Franz Kafka, welches am 21.
Oktober 1917 entstand. Im Alter von 34 Jahren und nach der Diagnose von
Lungentuberkulose, formuliert Kafka diesen Text. Veröffentlicht und mit einem Titel
versehen, wurde „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ 1931 gemeinsam mit vier weiteren
parabolischen Texten und den Zürauer Aphorismen Kafkas engem Freund Max Brod.4
Die kurze Parabel gliedert sich in zwei Sätze. Im ersten Teil wird beschrieben, dass die
Hauptperson des Geschehens namens Sancho Pansa einen Teufel besitzt. Dieser wird von
Sancho Pansa als Don Quichotte benannt. Mit Hilfe von einigen Ritter- und Räuberromanen
schafft es Sancho Pansa, den Teufel von sich abzulenken und ihn irrsinnige Taten veranstalten
zu lassen. Einen Schaden trägt von diesen Handlungen jedoch niemand davon.
Im zweiten Teil des Prosastücks wird geschildert, dass Sancho Pansa ein freier Mann ist.
Dennoch folgt er Don Quixote freiwillig bis zum Tod auf seinen Wegen, da dies für ihn sehr
unterhaltsam und zudem auch von Nutzen ist.5
2.2 Historische Einordnung in das Jahr 1917
Im Juli 1917 verlobt sich Kafka bereits zum zweiten Mal mit Felice Bauer. Im August
bekommt er jedoch die Diagnose einer Lungentuberkulose. Nachdem seine Bitte um die
3
Kafka, Franz: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt/Main 2008,
S. 167.
4
Vgl. Heißenbüttel, Helmut: Sancho Pansas Teufel. Die Umkehrung als Denkfigur im Werk Franz Kafkas, in:
Höllerer, Walter/Miller, Norbert (Hrsg.), Sprache im technischen Zeitalter 88, 1983, S. 340.
5
Vgl. Heißenbüttel, Sancho Pansas Teufel, S. 341.
4
Versetzung in den Ruhestand nicht genehmigt wird, zieht er vorübergehend in Form eines
Erholungsurlaubes zu seiner Schwester Ottla. Sie wohnt im nordböhmischen Zürau und
bewirtschaftet dort einen kleinen Hof. Zwar lebt Kafka gemeinsam mit seiner Schwester und
den anderen Bewohnern des landwirtschaftlichen Betriebes - die meiste Zeit des Tages ist
jedoch von gewollter Einsamkeit geprägt. Er liest regelmäßig und bekommt gelegentlich
Besuch von Bekannten, darunter auch von seinem Freund Max Brod. Mit zunehmender
Distanz zu seinem bisherigen Leben in Prag, beschließt Kafka aufgrund seiner
Lungenkrankheit die Verlobung zu Felice Bauer erneut und endgültig aufzulösen.
Obwohl Kafka eigentlich beschlossen hatte, während seiner Zeit in Zürau nicht literarisch zu
arbeiten, beginnt er ab Oktober des Jahres 1917 wieder mit dem Schreiben. Es entstehen eine
Vielzahl von Notizen, darunter einige mit aphoristischen Zügen. Zudem entwirft er manchmal
kurze Anfänge von Erzählungen und Parabeln, die später alle gemeinsam in den Oktavheften
veröffentlicht werden.6 Die von Max Brod in Kafkas Nachlass veröffentlichten Prosatexte aus
seiner Zeit in Zürau, darunter auch der Text „Die Wahrheit über Sancho Pansa“, weisen
deutliche Unterschiede zu seinen vorherigen Romanen und Erzählungen auf. Von den einst
expressionistisch angehauchten Texten ist in diesen keine Rede mehr. Statt üppiger
Erzählungen finden sich im Oktavheft G vor allem kurze, parabolische Texte wider.
Es scheint, als habe Kafka „eine Vorliebe für abstraktere Formen entwickelt, für die Kunst
der Parabel, die metaphorische Zuspitzung philosophischer Probleme und vor allem für die
Form des Paradoxons, dem er ganz neue Effekte abgew[innt].“7
Eine weitere Besonderheit ist die Tatsache, dass diese Texte den Leser nicht nur zum Denken
anregen, sondern ihm die Aufforderung geben, individuelle Denkprozesse zu praktizieren.
Kafka verwendet ähnliche und mehrfach die gleichen Motive. Auch nach seiner Zeit in Zürau
beschäftigt er sich insgesamt zweimal erneut mit den fiktiven Ansätzen.
Das unterscheidet diese Texte und somit auch die Parabel „Die Wahrheit über Sancho Pansa“
von anderen Werken aus seinem Nachlass und macht deutlich, welchen hervorgehobenen
Stellenwert sie einnehmen.8
6
Vgl. Alt Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2008, S.454 f.
Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt/Main 2008, Abschnitt 20.
8
Vgl. Engel, Manfred: Das späte Werk. Zürauer Aphorismen, in: dies. (Hrsg.), Kafka-Handbuch. Leben – Werk
– Wirkung, Stuttgart 2010, S. 282ff.
7
5
2.3 Sprachliche Merkmale
Die kurze Parabel gliedert sich, wie in Punkt 2.1 bereits erwähnt wurde, in zwei Sätze. Im
ersten Satz geht es um eine Überlistung und im zweiten Satz wird der Zustand nach dieser Tat
beschrieben. Der primäre Abschnitt enthält die Hauptinformationen des Geschehens. Die
Wortwahl ist sehr nüchtern und sachlich gehalten. Der Satz ist hypotaktisch mit Hilfe von
mehreren Nebensätzen aufgebaut und stimmt zeitlich und kausal überein. 9 Als erstes wird der
Grund der Überlistung „durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane“10
beschrieben. Danach gibt Kafka das Ergebnis der Überlistung, seinen Teufel „derart von sich
abzulenken“11, bekannt. Schließlich geht er auf die direkte Folge ein, „daß dieser dann
haltlos die verrücktesten Taten aufführt[…]“12. Das Gesagte wird nicht mit anderen
beziehungsweise vorhergehenden Informationen verknüpft, sondern logisch mit Hilfe von
Präpositionen und Konjunktionen wie z.B. „ durch“13 entwickelt.
Im Gegensatz dazu ist der zweite Satz entsprechend seines Inhaltes parataktisch und ruhiger
konzipiert. Er beschreibt den Zustand nach der Überwindung von Sancho Pansas Teufel,
welcher sich nicht mehr verändert. Der Rhythmus geht gegenüber dem ersten Satz dadurch
zwar verloren, aber das epische Moment bleibt bis zum Schluss erhalten. Durch das letzte
Wort „Ende“14 ist der Satz als auch die Handlung zeitlich abgeschlossen und klingt aus.15
2.4 Machtstrukturen
In den ersten Worten der Erzählung wird zugleich die Person Sancho Pansa genannt. Er ist die
Haupt- und gleichzeitig die einzige Person des Geschehens. Kafka schreibt aus dessen
Perspektive und Don Quichotte tritt lediglich als Teufel auf. Zudem ist Sancho Pansa Don
Quichottes Schöpfer und er hat die Macht über „seinen Teufel, dem er später den Namen Don
Quichotte g[ibt]“16. Das Zitat verdeutlicht noch einmal das Zugehörigkeitsverhältnis und die
Mächteverteilung, die zwischen den beiden herrscht. Es geht um Sancho Pansas eigenen
9
Vgl. Naumann, Dietrich: Kafkas Auslegungen, in: Grimm, Reinhold (Hrsg.), Literatur und Geistesgeschichte.
Festgabe für Heinz Otto Burger, Berlin 1968, S. 305.
10
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 167.
11
Ebd. S. 167.
12
Ebd. S. 167.
13
Ebd. S. 167.
14
Ebd. S. 167.
15
Vgl. Naumann, Kafkas Auslegungen, S. 306.
16
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 167.
6
Teufel, Don Quichotte. Sanchos Macht wird dadurch deutlich, da er es schafft,
Don
Quichotte so abzulenken, „ daß dieser dann die verrücktesten Taten aufführt[…]“17.
Sancho Pansa stellt für Kafka keine literarische Figur dar, sondern es handelt sich in seinem
Text um einen, „freien Mann“18, einen Mensch aus „Fleisch und Blut“.19 Don Quichotte
hingegen wird nicht näher beschrieben. Er ist, wie es oft bei Franz Kafka vorkommt, lediglich
als Teil von Sancho Pansas „Ich“ zu deuten. Dieses „Ich“ ist wiederrum in sich gespalten.
Sancho Pansa bildet die Realität der beiden Komponenten und Don Quichotte seine Fantasie.
Es kommt zu einer doppelten Version der Autorenexistenz. Diese Form taucht auch in Freuds
Auffassung des Dichters auf. Kafka gelingt es so, die „teuflische“ Seite des „Ichs“ in der
literarisch separaten und fiktionalen Figur Don Quichotte von außen zu betrachten.20Obwohl
die beiden Seiten sich unterscheiden und Sancho Pansa die Macht über Don Quichotte hat,
bilden sie eine Einheit, wie die zwei Seiten einer Medaille.
Sancho Pansa hat sich seiner Überlegenheit jedoch „nie gerühmt“21. Stattdessen stellt er sich
mit seinem Teufel gedanklich auf eine Stufe. Das schafft eine Verbindung zum
ursprünglichen Don Quichotte Motiv im Roman von Miguel de Cervantes, worauf im Punkt
3.1 noch genauer eingegangen wird. Zusätzlich werden bestimmte Traditionskomponenten
wie beispielsweise die traditionelle Vorstellung des spanischen Ritters und seines Kumpanen
beim Leser hervorgerufen und die mythische Don Quichotte Deutung wird nicht verworfen.22
Zudem ist Sancho Pansa der Gefährte des Don Quichotte und „folgt[…] gleichmütig,
vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl“23. Er begleitet Don Quichotte also
aus moralischen Gründen und freiwillig, obwohl er ihm eigentlich, bezüglich der
Machtstruktur überlegen ist und ihn nicht begleiten müsste. Auch er „hat[…] davon eine
große und nützliche Unterhaltung“24. Diese Textstelle zeigt, dass er für sein Verhalten
belohnt wird, indem die Taten von Don Quichotte ihn „bis an sein Ende“25 unterhalten.26
17
Ebd., S. 167.
Ebd., S. 167.
19
Vgl. Allemann, Beda: Zeit und Geschichte im Werk Kafkas, Göttingen 1998, S. 133.
20
Vgl. Engel, Manfred/Auerochs Bernd: Kafka Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2010, S. 355.
21
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 167.
22
Vgl. Austria, Vivat: Schönwiese-Kafka-Roth-Stifter, Amsterdam 1985, S. 66.
23
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 167.
24
Ebd., S. 167.
25
Ebd., S. 167.
26
Vgl. Ebd., S. 65.
18
7
2.5 Mythisches Material
„Deux erreurs.1. Prendre tout littéralement.2. Prendre tout spirituellement.´´ (dt. „Zwei
Irrtümer.1. Alles buchstäblich aufzufassen.2. Alles geistlich aufzufassen.“)27Die im Zitat
Pascal Pensees verwendete Aporie wird auch in Kafkas eingehender Beschäftigung mit dem
Mythos deutlich. Seine nacherzählten Texte beinhalten sowohl die Aspekte des überlieferten
Materials, als auch dessen Deutungsgeschichte.28Ähnlich wie bei den Texten Prometheus und
Poseidon, greift Kafka auch hier zu dem Verfahren der Neu-Interpretation, um den Mythos
von seinen traditionellen Auslegungen zu entbinden. Es vollzieht sich eine Neufassung von
bekannten und weltliterarischen Motiven aus der klassischen Mythologie. In diesem Fall
kommt es zur Umstrukturierung des bekannten Ritters von der traurigen Gestalt aus der
spanischen Mythologie. Auch die Verwendung von Motiven aus dem Alten Testament ist
typisch für diese Entstehungszeit, worauf in Punkt 2.6 noch näher eingegangen wird.29
Franz Kafka selbst besaß eine 1912 veröffentlichte Ausgabe des ursprünglichen Don
Quichotte Werkes. In seiner Version von „Die Wahrheit über Sancho Pansa“, dreht er das
hierarchische Verhältnis der Mythos-Figuren um. Sancho Pansa ist der Spiritus Rector der
Erzählung und schafft es durch seine List, dass „dieser dann haltlos die verrücktesten Taten
ausführt[…]“30. Kafka wendet in seiner Parabel das Verfahren „der Askesis“ von Harold
Bloom an. Der Hypotext wird dabei reduziert und auf bestimmte Grundzüge beschränkt. In
der Parabel geht es um die Entwicklung einer teuflischen Eskapade. Die ironische Qualität,
die Kafkas Mythosinterpretation aufweist, wird ebenfalls durch diese verwendete Technik
belegt.
Während seiner Zeit in Zürau beschäftigt sich Kafka vielfach mit verschiedenen Mythen des
antiken Griechenlands und löst sie in seinen Umdeutungen von ihren festen Traditionen. Es
bleiben damit jedoch nur wenige Zusammenhänge zwischen dem überlieferten Material und
der neuen Version vorhanden. Laut Foucault verliert jedoch alles, „was nicht im Medium der
Sprache aufbewahrt werden kann […] seinen Sinn und tritt in den Fluß des Vergessens
zurück.“31 Kafka verwendet die Fragmente der Überlieferung und setzt diese neu zusammen.
Daraufhin kommt es zu einer großen Unterscheidung zwischen dem alten und dem neuen
Sinn. Diese Methode entspricht dem Konzept der „bricolage“, welches Claude Levi Strauss in
27
Kruse, Margot : Beiträge zur französischen Moralistik, Berlin 2003, S. 127.
Vgl. Alt, Der ewige Sohn, S. 572.
29
Vgl. Allemann, Beda: Zeit und Geschichte im Werk Kafkas, Göttingen 1998, S. 133.
30
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 167.
31
Alt, Der ewige Sohn, S. 573.
28
8
seiner strukturalen Anthropologie anwendet. Bei diesem Verfahren kommt es zu einer
Reorganisation von unmittelbar zur Verfügung stehenden Zeichen.32
Neben Kafka gibt es einige andere Autoren, die sich ebenfalls mit diesem Verfahren
beschäftigen und Mythen in verschiedene Richtungen deuten. Ein Beispiel dafür ist
Kierkegaards Text „Furcht und Zittern“ indem er vier Versionen der Geschichte von
Abrahams Prüfung von Gott beschreibt. Ein Ziel von Kierkegaard ist in diesem
Zusammenhang die religiöse Bedeutung für den einzelnen Menschen und die Historie des
Glaubens. In der Parabel „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ werden, im Gegensatz zu
Kierkegaards Text, keine richtungsweisenden Inhalte vorgegeben. Lediglich die Veränderung
von einzelnen Bestandteilen, wie zum Beispiel die Umdeutung der mythischen Figur Don
Quichotte, ist erkennbar. Diese Veränderungen haben eine komplett neue Erzählung zur
Folge, wie im vorliegenden Text die Taten des Teufels.
Kafka sind mythische Zentralgestalten der Moderne, wie beispielsweise der griechische Gott
Dionysos, nicht bekannt. Da er ein jüdischer Schriftsteller ist und sich nur mit seiner Religion
und dessen Behandlung der verschiedenen Mythen auseinandersetzt, ist sein Wissen darüber
beschränkt. In der jüdischen Religion wurde die mythische Tradition zur damaligen Zeit nicht
aktualisiert, sondern nur zerlegt und transformiert.33
2.6 Gut-Böse Thematik
Der während seiner Zeit in Zürau und durch seine Krankheit bedingte Lebenswandel,
veranlasst Kafka dazu, sich mehr mit dem Sinn des Existierens im Jetzt und der
Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er widmet seinen Aphorismen und Texten einen
persönlichen Bestandteil seines „Ichs“ und beschäftigt sich mit Fragen nach Gott und dem
Tod. Das Gegensatzpaar Gut und Böse treten in diesem Zusammenhang sehr häufig in seinen
literarischen Werken auf.34 Nietzsche bezieht die beiden Begriffe auf die Maske der Sprache
und schreibt dazu: „ Alles, was tief ist liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar
einen Hass auf Bild und Gleichnis.“35
32
Vgl. Alt, Der ewige Sohn, S. 573.
Vgl. Alt, Der ewige Sohn, S. 574.
34
Vgl. Marsal, Eva/Speck, Regina: Gut/Böse – Ein Januskopf?, Frankfurt/Main 2008, S. 224.
35
Egert, Andreas: Vgl. Vom Werden und Wesen des Aphorismus. Essays zur Gattungsproblematik bei
Lichtenberg und Nietzsche, Oldenburg 2005, S. 47.
33
9
Auch „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ ist von dieser Paarung in abgewandelter Form
geprägt. Kafka spielt damit, dass die Umkehrung des Don Quichotte Verständnisses
selbstverständlich für den Leser ist. Er wendet eine Technik an, bei der einige Aspekte zwar
verborgen und geheim bleiben, gleichzeitig aber auf
sogenannte „hermetische
Chiffrierungen“ verzichtet wird. Das heißt, es werden keine geheimnisvollen Symbole
verwendet, die die Wirklichkeit verästeln könnten. Kafkas Sichtweise ähnelt hier stark dem
Bild „La reproduction interdite“ aus dem Jahr 1937, von René Magritte. Dort geht es auch um
die Position eines Spiegelbeobachters, der sich jedoch nicht von vorne, sondern wiederholt
von hinten sieht.36
Im Bezug auf die Dialektik zwischen Gut und Böse, kann eine Verbindung zum
Sündenfallmythos Kirkegaards gezogen werden. Auch Kafka beschäftigt sich eingehend und
vor allem während seinem Aufenthalt in Zürau, mit der Theologie und hat die Auffassung,
das Individuum befindet sich in „der Welt“ in einem sündhaften Abschnitt.37 Die Thematik
der Begriffe Gut und Böse kann von den Motiven Gnade und Sünde abgeleitet worden sein.
Dennoch ist diese Materie nicht eindeutig greifbar, da in der theologischen Interpretation
selbst viele Grenzen vorhanden sind.38
2.7 Mögliche Bezüge zur Beziehung und zum Briefwechsel mit Felice Bauer
Franz Kafkas Briefwechsel ist ein wichtiger Bestandteil von seinen literarischen Werken.
Besonders der zwischen 1912 und 1917 vollzogene und ausführliche Schriftverkehr zwischen
ihm und Felice Bauer zeigt, dass der Brief für Kafka nicht primär der Reflexion seiner
Existenz dient. Seine Schriftstücke können auch als Bindeglied zwischen seinem Wunsch der
literarischen Arbeit und der Möglichkeit, diese Tätigkeit in den Alltag einzubauen, gesehen
werden. „Das Schreiben“ definiert diese Verbindung zwischen seiner biografischen Ebene
und der schriftstellerischen Tätigkeit Kafkas. Es bildet ein sehr markantes Charakteristikum
seiner Werke. Für ihn stellt schreiben die zentrale Rolle dar und diese Tätigkeit bedeckt alle
anderen Lebensbereiche. Die Aktion „des Schreibens“ kann mit einem Fetischcharakter
gleichgesetzt werden.
36
Vgl. Alt, Der ewige Sohn, S. 567.
Vgl. Kwon, Hyuck Zoon: Der Sündenfallmythos bei Franz Kafka, Würzburg 2006, S. 27.
38
Vgl. Romanowski-Rollmann, Hanna: Existenz und Transzendenz bei Kierkegaard und Kafka, Berlin 2014, S.
156ff.
37
10
Franz Kafka lernt Felice Bauer im August 1912 bei seinem guten Freund Max Brod kennen.
Die beiden verbinden ähnliche Interessen, wie beispielsweise das der Literatur. Nach diesem
Treffen beginnen sie sich immer wieder Briefe zu schreiben, da Felice in Berlin lebt und
Kafka im entfernten Prag. Schon der erste Brief an Felice Bauer verdeutlicht, dass das
Verfassen und Versenden selbst eine zentrale Rolle des Schriftverkehrs repräsentiert.39
„Zum Lohn dafür erwarte ich auch niemals, daß Briefe pünktlich kommen; selbst
wenn ich einen Brief täglich neuer Spannung erwarte, bin ich niemals enttäuscht,
wenn er nicht kommt und kommt er schließlich, erschrecke ich gern.“40
Die hier vorhandene leichte Vermischung Kafkas Schreibvorganges mit der Nennung von
persönlichen Schwächen, wie zum Beispiel. „erschrecken“, nimmt im späteren Verlauf des
Briefwechsels noch stark zu. Zwischen den beiden Personen entwickelt sich eine
Liebesbeziehung, die jedoch vorrangig auf dem Schriftverkehr basiert. „Ohne es vielleicht zu
wollen, sicherlich ohne es in aller Tragweite zu erfassen, bestimmt das Fräulein aus dem
fernen Berlin das Leben Kafkas“.41 Die Schriftstücke beeinträchtigen in großem Maße die
literarische Arbeit von Franz Kafka. Sie setzen in ihm zeitweise Energien frei und wirken als
Inspirationen, haben aber auch Phasen der Verzweiflung und des Nicht-Schreibens zur Folge.
Das Jahr 1912 wird auch als Jahr des literarischen Durchbruchs bezeichnet. In diesem
Zusammenhang entsteht beispielsweise auch die berühmte Erzählung „Die Verwandlung“.
Kafka weist in Bezug auf Frauen Angst vor zu viel Nähe auf. Die letzte Instanz der Freiheit
bewahrt er sich dadurch, dass die Beziehungen zwischen ihm und seinen Frauen überwiegend
aus Briefen bestehen. Es kommt mit Felice Bauer zu insgesamt zwei Verlobungen, die jedoch
am Ende beide wieder aufgelöst werden, da die Beziehung sich als schwierig herausstellt und
einige Krisen beinhaltet.42 Nachdem im Jahre 1917 seine Lungentuberkulose festgestellt
wird, interpretiert Kafka diese Krankheit als Folge von starken und vor allem psychischen
Anspannungen in der Beziehung mit Felice Bauer. Er beschäftigt sich mit Themen wie dem
Leben und dem Tod und reflektiert die Beziehung zu Felice Bauer und sein eigenes „Ich“.
Auch in dieser Zeit spiegelt sich sein psychisches Befinden in seinen Briefen und als Folge
39
Vgl. Schärf, Christian: Kafka als Briefschreiber. Briefe an Felice und Briefe an Milena, in: Von Jagow,
Bettina/Jahraus, Oliver (Hrsg.), Kafka Handbuch, Göttingen 2008, S. 72.
40
Schärf, Kafka als Briefschreiber, S. 74.
41
Kraiczi, Florian: Der Einfluss der Frauen auf Kafkas Werk. Eine Einführung, Bamberg 2008, S. 52.
42
Vgl. Kraiczi, Der Einfluss der Frauen auf Kafkas Werk, S. 50.
11
daraus auch in seinen literarischen Werken wieder, da er das private nicht von seinen
literarischen Arbeiten zu trennen vermag.43
In den unter Max Brod später veröffentlichten sogenannten „Betrachtungen über Sünde, Leid,
Hoffnung und den wahren Weg“, finden sich diese Themen unter anderem in den Aphorismen
und parabolischen Texten modifiziert wieder. Im argumentativen Kontext von „Die Wahrheit
über Sancho Pansa“ geht es um „das Teuflische“ und „das Böse“ und dessen täuschende oder
wirkliche Analogie zum „Guten“. Das sich orientieren an der sogenannten „sinnlichen Welt“
kann zwei Folgen mit sich bringen. Es kann ebenso bewirken, in dieser Welt
ein
gewissenhaftes und gesellschaftlich soziales Leben zu führen. Das zeigt sich beispielsweise
im Gründen einer eigenen Familie. Ebenso kann man sich in der sinnhaften Welt verlieren.
Franz Kafka selbst zieht damit eine Verbindung zur „Kunst-Lebens-Problematik“ und zu
seiner Beziehung mit Felice Bauer. In seinem Brief vom 30.September 1917 beschreibt er
Felice die zwei in ihm wirkenden Kräfte von Gut und Böse, die vertauscht sind. „Diese zwei,
die in mir kämpfen, oder richtiger, aus deren Kampf ich bis auf einen kleinen gemarterten
Rest bestehe, sind ein Guter und ein Böser; zeitweilig wechseln sie diese Masken […].“44
Diese Gedankengänge können die Grundlage für die Umstrukturierung der Don Quichotte
Auffassung sein. Ein weiterer Aspekt aus dem Brief ist Kafkas Beschreibung seines
Selbstbildes.45
„Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, daß ich nicht
eigentlich danach strebe ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht
zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und
Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundliegenden Vorlieben, Wünsche,
sittlichen Ideale zu erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen und
mich in ihrer Richtung möglichst bald dahin zu entwickeln, daß ich durchaus
allen wohlgefällig würde […].“46
In diesem Briefausschnitt wird deutlich, dass Kafka sich nach Anerkennung sehnt. Es ist sein
Wunsch, die Menschen von außen als Unbekannter zu beobachten und dabei ohne Gefahr zu
sein.
43
Vgl. Schillemeit, Jost: Kafka-Studien, Göttingen 2004, S. 165.
Siguan, Marisa/Wagner, Karl: Transkulturelle Beziehungen. Spanien und Österreich im 19. und 20.
Jahrhundert, Amsterdam 2004, S. 61.
45
Vgl. Engel, Kafka Handbuch, S.
46
Alt, Der ewige Sohn, S. 654.
44
12
Dieser Auszug bezieht sich auf Kafkas Tiergeschichten, welche die Lebensweise eines
Individuums betrachten, dass durch bestimmte künstlerische oder wissenschaftliche Arbeiten
in gesellschaftlicher Isolation, fern von der Gemeinschaft lebt. Die Textstelle beschreibt somit
die Sicht seines eigenen schriftstellerischen Lebens. Wie bereits in Punkt 2.4 erläutert wurde,
handelt es sich im Text „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ eben um diese unterschiedlichen
Aspekte ein und desselben Ichs. Es geht um die Beobachtungen der „teuflischen“ Seite von
außen, also aus der Distanz, die Don Quichotte bildet. Er bezieht folglich die genannten
Inhalte auf den Don Quichotte Text und projiziert seine Gedanken auf die literarische
Arbeit.47
Im Dezember 1917 entscheidet Kafka, die Beziehung mit Felice Bauer nicht weiter aufrecht
erhalten zu können. Deshalb löst er zum zweiten und letzten Mal die Verlobung mit ihr auf.48
47
48
Vgl. Alt, Der ewige Sohn, S. 654.
Vgl. Schillemeit, Jost: Kafka-Studien, 2004, S. 165.
13
3 Intertextuelle Bezüge zu anderen literarischen Werken
3.1 Inhaltliche Besonderheiten und Bezüge zum Ursprungswerk von Miguel de
Cervantes
Miguel de Cervantes Saavedra wurde vermutlich am 29. September 1547 in Alcalá de
Henares geboren. Um sich der damaligen politischen Situation in Spanien zu widersetzen,
verfasste er den ersten Teil seines Romans „El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha“
(dt. Der Sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha), welcher im Jahre 1605
veröffentlicht wurde. 1615 folgte der zweite Teil. Dieser umfangreiche Roman gilt bis heute
als bekanntester Text der spanischen Literaturgeschichte und macht Miguel de Cervantes zum
Nationalschriftsteller. Nach der Bibel ist dieser Roman mit etwa 3.000 Ausgaben in 60
verschiedenen Sprachen das am häufigsten übersetzte Buch der Welt.49 Don Quichote
symbolisiert für die Spanier den nationalen Genius und ist vergleichbar mit Goethes Faust für
die Deutschen. Zu Don Quichotte gibt es zahlreiche Denkmäler und Inszenierungen, die zur
Legendenbildung beitragen.50
Die Erzählung handelt von dem Landjunker Hidalgo Alonso Quijano el Bueno, welcher in
einem Dorf der Mancha lebt. Durch die umfassende Lektüre von Ritterromanen inspiriert,
fasst er den Entschluss, sich als Ritter auf Abenteuer zu begeben.
"Kurz, der gute Junker versank so tief in seine Lektüre, dass er die Nächte von
Untergang bis Aufgang und die Tage von Aufgang bis Untergang damit zubrachte
und sich endlich durch zu viel Lesen und zu wenig Schlaf das Gehirn so
ausdörrte, dass er den Verstand verlor. Er füllte sich den Kopf mit allem an, was
er in seinen Büchern fand, als da sind: Verzauberungen, Fehden, Schlachten,
Herausforderungen, Wunden, Zärtlichkeiten, Liebeshändel, Seestürme und andre
Tollheiten mehr; und so tief arbeitete er sich hinein, dass ihm endlich dieser Wust
49
Vgl. Belarbi, Jamina u.a.: Miguel de Cervantes.
http://www.tu-chemnitz.de/phil/europastudien/swandel/madrid/erinnerung/wirueberuns.htm, zuletzt
abgerufen am 29.08.2014.
50
Vgl. Belarbi, Jamina u.a.: Don Quijote.
http://www.tu-chemnitz.de/phil/europastudien/swandel/madrid/erinnerung/wirueberuns.htm, zuletzt
abgerufen am 29.08.2014.
14
von Hirngespinsten, den er las, als die verbürgteste Geschichte von der Welt
erschien."51
Eine Barbierschüssel dient ihm als Helm und ein abgemagerter Gaul als Reitpferd. Er gibt
sich selbst den Namen Don Quijote. Am Anfang reist er allein, später wird er von einem
Bauer namens Sancho Pansa als sein Knappe begleitet. Gemeinsam erleben der verträumte,
magere Don Quijote und der gutherzige, beleibte Sancho Pansa auf seinem Esel viele
Abenteuer. Diese basieren größtenteils auf Verwechslungen. Wirtshäuser sind in Don
Quijotes Augen prächtige Schlösser und Windmühlen werden für ihn zu gegnerischen Riesen.
Nach einigen Niederlagen und wegen seinem bevorstehenden Tod, nimmt Don Quijote
wieder seine eigentliche Person an und kehrt nach Hause zurück. Erst kurz vor seinem Tod
erkennt der Ritter den Unsinn der Bücher.52
Franz Kafka greift in seinem parabolischen Text „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ einige
Aspekte des ursprünglichen Romans heraus, wandelt diese jedoch ab. Wie in Punkt 2.4
erläutert wurde stellt Sancho Pansa für Kafka keine literarische Figur dar, sondern einen
Mensch. Es vollzieht sich inhaltlich eine radikale Umdeutung des überlieferten Materials und
es kommt zu einem Perspektivenwechsel.53 Nicht Cervantes ist in Kafkas Erzählung der
Autor des Don Quijote, sondern Sancho Pansa ist dessen Schöpfer. Subjekt und Objekt
werden also vertauscht, da Kafka aus der Perspektive von Sancho Pansa schreibt und Miguel
de Cervantes aus Don Quijotes Perspektive heraus erzählt.
Auch das hierarchische Verhältnis wurde bereits in Punkt 2.4 aufgegriffen. Im Gegensatz zu
Kafkas Text, verwendet Cervantes Don Quichotte als Ritter und Sancho Pansa als sein
Knappe, der unter ihm steht. Die Hierarchie ist in den beiden Werken komplett gegensätzlich
dargestellt. Dennoch entspricht das Mittel und Ergebnis des Textes auch bei Kafka noch dem
Don Quichote Verständnis. Seine Streifzüge sind immer noch die Folge übermäßiger Lektüre
von Ritter- und Räuberromanen. Die Taten bleiben wie bei Cervantes harmlos. Sancho Pansa
51
Cervantes, Saavedra Miguel: Don Quixote. Vollständige deutsche Ausgabe unter Benutzung der anonymen
Übertragung von 1837. Besorgt von Konrad Thorer. 3 Bde., Leipzig 1908, S. 61.
52
Vgl. Belarbi, Jamina u.a.: Miguel de Cervantes.
http://www.tu-chemnitz.de/phil/europastudien/swandel/madrid/erinnerung/wirueberuns.htm, zuletzt abgerufen
am 29.08.2014.
53
Vgl. Allemann, Zeit und Geschichte im Werk Kafkas, S. 133.
15
ist immer noch der Gefährte des Dons, da er ihn nach wie vor freiwillig begleitet. Die
Traditionskomponenten des spanischen Mythos werden folglich auch bei Kafka beibehalten.54
3.1 Intertextuelle Bezüge zu anderen Texten aus dem Oktavheft G
Im Oktavheft G gibt es neben dem Text „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ noch zwei weitere
Stellen, die Don Quichotte und Sancho Pansa beinhalten. Der erste Text ist ein aphoristisches
Notat, welches am 19. Oktober 1917 von Franz Kafka verfasst wurde: „Das Unglück Don
Quijotes ist nicht seine Phantasie, sondern Sancho Pansa.“55 Am 21. Oktober schreibt er
dann „Die Wahrheit über Sancho Pansa“. Bereits am frühen Morgen des 22. Oktober entsteht
der nächste und letzte Eintrag, welcher mit dem Namen „Don Quijotes Selbstmord“ betitelt
ist. Betrachtet man die Texte in Bezug auf den Roman von Miguel de Cervantes, ist deutlich
erkennbar, dass der erste Aphorismus eine Umkehrung und gleichzeitig eine Neubewertung
des Don Quijote aufweist. Der inhaltliche Kontext zur Kritik an der Ungeduld und der
größten Sünde der Menschen, den die benachbarten Aphorismen beinhalten, wird auch hier
aufgegriffen. Es geht wie auch in „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ um die Taten des Don
Quichotte und der Perspektivenwechsel bleibt erhalten. Um „fünf Uhr nachts“ entsteht der
letzte Eintrag:
„Eine der wichtigsten Don Quichottischen Taten, aufdringlicher als der Kampf
mit der Windmühle, ist der Selbstmord. Der tote Don Quichotte will den toten
Don Quichotte töten; um zu töten, braucht er aber eine lebendige Stelle, diese
sucht er nun mit seinem Schwerte ebenso unaufhörlich wie vergeblich. Unter
dieser Beschäftigung rollen die zwei Toten, als unauflöslicher Purzelbaum, durch
die Zeiten.“56
Dieses Zitat stellt eine Weiterdichtung von Miguel de Cervantes Werk da, weil der
Selbstmord des Don Quichotte eine neue Komponente des Geschehens bildet, die im Roman
nicht vorhanden ist. Der Grundgedanke und die Autorenexistenz erhalten eine erneute
Negativierung, was zudem ganz dem grundlegenden Gehalt des Briefwechsels mit Felice
Bauer entspricht.
Die Parabel „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ kann auch eigenständig und ohne Bezug auf
die umliegenden Einträge mit dem gleichen Argumentationskontext betrachtet werden, da er
54
Vgl. Heißenbüttel, Sancho Pansas Teufel, S. 340f.
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 162.
56
Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 167.
55
16
in sich literarisch geschlossen ist. Für das Don Quichotte Verständnis ist es dennoch von
Vorteil.57
57
Vgl. Engel, Kafka Handbuch, S. 354f.
17
4 Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Franz Kafkas Parabel „Die Wahrheit über Sancho
Pansa“ viele Interpretationsmöglichkeiten bietet. Durch die Auswahl von verschiedenen
thematischen Schwerpunkten, konnten in dieser Seminararbeit mehrere Perspektiven
beleuchtet werden.
Die Einbettung des Textes in den historischen Kontext des Jahres 1917 ermöglichte einen
autobiografischen Bezug zu Kafkas Leben zur Entstehungszeit des behandelten Textes.
Thematische Schwerpunkte wie beispielsweise die Behandlung der Mächteverhältnisse
zwischen den beiden Personen Sancho Pansa und Don Quichotte schafften Klarheit über
Kafkas Autorenexistenz. Gleichzeitig verwiesen sie auf das von Kafka verwendete,
umgewandelte, mythische Material des Don Quichotte und bildeten die Grundlage einer
umfassenden Interpretation. Zudem hat das Wissen über die Verwendung des Mythos für
intertextuelle Bezüge zu anderen Werken eine große Bedeutung. Die Bearbeitung des
Gliederungspunktes 2.7 beispielsweise machte deutlich, dass die Bezüge zu Kafkas
Beziehung mit Felice Bauer und vor allem der Briefwechsel mit ihr, zentrale Themen der
Interpretation darstellen.
Der in Gliederungspunkt 3 gespannte Bogen zu den interkulturellen Bezügen des Textes zu
anderen Werken bildete eine Verbindung zum literaturhistorischen Kontext von Miguel de
Cervantes Roman. Außerdem wurden die in Punkt 2 bearbeiteten Themen erneut gestützt. Das
Wissen um die beiden Ko-Texte aus dem Oktavheft G lieferte weitere wichtige Informationen
zur von Kafka verwendeten Don Quichotte Auffassung und rundete somit den Versuch einer
umfassenden Interpretation zum Text „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ ab.
Weiterführend und abschließend ist zu sagen, dass ein Vergleich zwischen Kafkas
Interpretation des Don Quichotte Mythos und Texten mit anderen Auslegungen sehr
interessant für Kafka Forscher wäre. Im Rahmen dieser Seminararbeit, war das jedoch leider
nicht möglich.
18
Literaturverzeichnis
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Cervantes, Saavedra Miguel: Don Quixote. Vollständige deutsche Ausgabe unter Benutzung
der anonymen Übertragung von 1837. Besorgt von Konrad Thorer. 3 Bde., Leipzig 1908.
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Eidesstaatliche Erklärung
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