archithese Lob der Elastizität

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archithese Lob der Elastizität
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Mensa in Karlsruhe
Moltkestrasse
Karlsruhe, Deutschland
© Karin Heßmann / ARTUR IMAGES
Lob der Elastizität
SAMMLUNG
archithese
ARCHITEKTIN
Die neue Mensa in Karlsruhe ist ein markantes, unübersehbares Gebäude. Das
Jürgen Mayer H.
Prinzip der Elastizität, aus dem der Architekt die Ursprungsidee entwickelt hat,
bestimmt auch den Umgang mit Konstruktion und Materialität. Nicht zuletzt oszilliert BAUHERRIN
Vermögen und Bau
das Werk zwischen Kunst und Architektur.
Baden-Württemberg
von Hubertus Adam
Seit 1890 wurde in Karlsruhe Fussball gespielt – der aus England importierte Sport gab
einem zuvor unbenannten Platz einen Namen; er hiess nun Engländerplatz und gilt als
einer der ersten Bolzplätze Süddeutschlands. Lokalen Überlieferungen zufolge fand hier
1899 ein frühes «Länderspiel» gegen eine Auswahl aus England statt. Der Engländerplatz
liegt westlich des Schlosses der einstigen badischen Residenzstadt, zwischen den radial
vom Schlossturm als dem geometrischen Zentrum der barocken Idealstadt ausstrahlenden
Strassenachsen Moltkestrasse und Knielinger Allee. Damit ist er Teil einer porösen
Stadtkante: Hier prägt nicht mehr eine kompakte Blockstruktur die Bebauung, sondern ein
lockeres Ensemble zumeist öffentlicher Bauten, darunter die Sporthalle der Pädagogischen
Hochschule, das Haus der Jugendverbände, die Jugendherberge und die aus der
Fachhochschule hervorgegangene Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft. Nach
Norden vermittelt der Engländerplatz zu den Park- und Grünbereichen, welche das
Schloss auf der Nordseite umgreifen und sich im ausgedehnten Forst des Hardwalds
fortsetzen.
Von der Stütze zur Fläche
STATIK
Arup Deutschland
LANDSCHAFTSPLANUNG
Karl Bauer
FUNKTION
Hotel und Gastronomie
WETTBEWERB
2004
BAUENDE
2007
MITARBEIT PLANUNG
Andre Santer, Julia Neitzel, Sebastian
Finckh, Wilko Hoffmann, Dominik
Schwarzer, Ingmar Schmidt,
Jan-Christoph Stockebrand, Daria
Trovato, Marcus Blum
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Im südlichen Bereich des Engländerplatzes ist jetzt eine neue Mensa entstanden, die sich
zur Moltkestrasse hin orientiert, vom Studentenwerk betrieben wird und vor allem der nahe
gelegenen Hochschule für Technik und Wirtschaft, aber auch der Pädagogischen
Hochschule sowie der Akademie der bildenden Künste dient. Anfang 2004 hatte der junge
Berliner Architekt Jürgen Mayer H. den offenen Realisierungswettbewerb mit einem
Konzept gewonnen, das die Jury unter Vorsitz von Arno Lederer als «eigenwillige,
kraftvolle, architektonische Antwort» eingestuft hatte. Skepsis herrschte indes hinsichtlich
der Kosten: «Der unkonventionelle Ausdruck ist nicht mit ganz gewöhnlichen Bauteilen zu
realisieren, und das Mass der Aufwändungen dadurch schwer einschätzbar.»
Ein Videoclip auf der Homepage von Jürgen Mayer H., der 2002 mit dem Stadthaus
Scharnhauser Park auf den Fildern bei Stuttgart bekannt wurde, illustriert die Grundidee,
die den Ausgangspunkt für das Konzept des Bauwerks in Karlsruhe darstellt. Zwei Platten
liegen aufeinander und sind durch eine zähe, klebrige, elastische Masse miteinander
verbunden. Hebt man die obere Platte dieser Sandwichkonstruktion an und neigt sie nach
© Roland Halbe / ARTUR IMAGES
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Mensa in Karlsruhe
vorne oder hinten, so ergeben sich elastische, fadenartige Gespinste, welche die Kanten
der beiden Platten miteinander verbinden. Mayer H. übertrug diese Vorstellung in den
grossen Massstab: Die Mensa, die nicht unterkellert ist, ruht auf einer leicht trapezoiden
Bodenplatte von ungefähr vierzig Metern Breite und 55 Metern Tiefe. Die beiden
Längsseiten stehen parallel zueinander, die Vorderfront dazu im rechten Winkel. Aus dem
orthogonalen Gefüge schert allein die Rückseite aus – der Architekt thematisiert auf diese
Weise die unterschiedliche Ausrichtung der beiden Strassenachsen, zwischen denen sich
der Engländerplatz aufspannt.
Die Dachfläche fällt von Süden – also der Front zur Moltkestrasse – Richtung Norden ab.
An der Vorderfront beträgt die Höhe des Gebäudes zehn Meter, an der Rückfassade sind
es nur noch sechs. Verbunden werden die beiden Ebenen durch unterschiedlich geneigte
Stützen, die zum Teil zu V-, Y-, H- oder A-förmig anmutenden Konfigurationen verbunden
sind. Jürgen Mayer H. interessiert sich seit langem für Datensicherungsmuster,
übereinander gedruckte Buchstaben- und Zahlenkolonnen, die sich zum Beispiel in
Briefumschlägen für Kontoauszüge finden. Das Verhältnis von offenen und geschlossenen
Flächen wandelt sich an der Mensa sukzessive: Vorne sind die Stützen hoch und
umschliessen grosse Freiräume, nach hinten wird, entsprechend dem Absenken des
Dachs, der Anteil von Durchbrüchen geringer, die Stützen verdichten sich zu Wänden.
Diese Verschiebung der Proportionen verweist auf die interne Logik des Gebäudes, in dem
sich ein Publikums- und ein Produktionsbereich miteinander verschneiden. Der
Publikumsbereich gliedert sich in verschiedene Zonen: Auf den loggiaartigen Aussenraum
folgt die zwei Geschosse übergreifende Mensahalle, die sich in den eigentlichen
Speiseraum auf der Ostseite und eine Café-Lounge auf der Westseite gliedert. Hinter einer
offenen Stützenschicht schliesst sich ein weiterer Speisesaalbereich an, der sich in einen
Erdgeschoss- und einen Emporenbereich gliedert, schliesslich folgt die Speiseausgabe im
Zentrum des Gebäudes, die dreiseitig von den Produktionsbereichen umgeben ist. Dazu
gehören auf der einen Seite die Küche und auf der anderen Seite die Spülräume, aber
auch Lagerräume, Umkleiden und – ganz im nordwestlichen Zwickel – das Büro.
Insgesamt bietet die Mensa 480 Sitzplätze. Bei dreifachem Wechsel können somit täglich
bis zu 2000 Studierende mit Essen versorgt werden.
Einen besonderen Reiz stellt bei gutem Wetter die in das Dach eingeschnittene
Aussenterrasse dar, die von den Sitzbereichen auf der Galerieebene aus zu erreichen ist.
Man kann von hier aus auf die zum Teil bepflanzten Dachflächen blicken, aber dank der
Neigung des Dachs auch nach Norden, also in Richtung Park.
Materialwechsel
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Mensa in Karlsruhe
Ursprünglich war es geplant, das gesamte Gebäude in Beton auszuführen. Als das sich als
nicht finanzierbar erwies, schwenkte Jürgen Mayer H. auf Stahl um. Weil aber auch eine
derartige Konstruktion die Kosten gesprengt hätte, wurde die Mensa schliesslich als
Holzbau realisiert. Jürgen Mayer H. geht es nicht um die heute ohnehin nicht mehr
konsequent verfolgbare Materialgerechtigkeit, sondern um ein optisch-räumliches Konzept,
das auch bei einer anderen Konstruktionsweise konstant bleiben konnte. Wände und
Stützen bestehen aus präfabrizierten, mit Mineralwolle gefüllten Hohlkastenelementen, die
im Publikumsbereich sechzig, im Produktionsteil indes dreissig Zentimeter stark sind und
vor Ort mit einer zwei Millimeter starken Haut aus Polyurethan versehen wurden. Diese
Schicht verleiht dem Gebäude eine homogene Oberfläche und verbirgt die Materialität.
Indem die konstruktiv-tektonische Fügung visuell eliminiert wird, gewinnt das Volumen eine
skulpturale Qualität und wirkt letztlich massstabslos. Vergleiche mit der Soft-edge-Ästhetik
der Siebzigerjahre drängen sich auf, was nicht zuletzt am artifiziellen Gelbgrün (RAL 1000)
des Polyurethan liegt. Das Gebäude irritiert: Es wirkt visionär und retrospektiv zugleich,
eine Mischung aus Futurismus und Gotik, und es oszilliert zwischen Architektur und
Plastik. Dabei simulierte Jürgen Mayer H. Unterzüge als gliedernde Elemente selbst dort,
wo sie konstruktiv nicht nötig waren. Die Elastizität bestimmt mihin nicht nur die
Ausgangsidee des Gebäudes, sondern auch den Umgang mit Material und Konstruktion
sowie seine kategoriale Verortung.
archithese, 03.04.2007
WEITERE TEXTE
Mensa in Karlsruhe, Rainer Franke, Baumeister, 02.03.2007
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