À bout de soufflé (Atemlos) (Jean
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À bout de soufflé (Atemlos) (Jean
À bout de soufflé (Außer Atem) (Jean‐Luc Godard, 1960) • Jean‐Luc Godard (geb. 1930) – gutbürgerliche Herkunft – Besuch von Filmclubs, die in den späten 40er Jahren in Paris populär werden, lernt den Kritiker André Bazin kennen • Im Umfeld von Bazin trifft spätere Nouvelle‐Vague‐ Regisseure wie Francois Truffaut, Jacques Rivette, Claude Chabrol, Eric Rohmer • Kritische Aufsätze in Cahiers du cinéma, der von Bazin im Jahre 1951 gegründeten Filmzeitschrift – In Cahiers werden die theoretischen Positionen des sog. Autorenkinos entwickelt, das in den 60er Jahren von den Theoretikern umgesetzt wird • Einige Kurzfilme in den 50er Jahren, Tätigkeit als Cutter – Godard gilt neben Truffaut (1932‐1984) als der einflussreichste Regisseur der sog. Nouvelle Vague (Neue Welle) der 60er Jahre • Truffaut geht einen eher gemäßigten Weg; Godard wird zunehmend radikal und ist immer weniger um den Gunst des Publikums bemüht • Außer Atem ist der bekannteste (und wohl auch zugänglichste) Film von Godard • Theorie des Autorenkinos – Filme sollen die persönliche Weltsicht eines Autoren wiedergeben,vergleichbar mit Literatur oder Malerei • Alexandre Astruc: caméra‐stylo (die Kamera als Schreibstift) – der Autor soll eine starke Persönlichkeit sein, der diese Weltsicht auf alle Mitarbeiter überträgt und in eine erkennbare Richtung lenkt • Muss nicht immer der Regisseur sein; Filme der Marx‐Bros. sind beispielsweise immer Marx‐Bros.‐Filme, egal wer Regie führt – Franz. Theoretiker begannen, Hollywood‐Filme unter diesem Aspekt zu interpretieren; neben distinktiven Gestalten wie Welles verleihen sie Alfred Hitchcock, Howard Hawks, John Ford und anderen Hollywood‐Studioregisseuren Autorenstatus; im franz. Kulturraum wird vor allem Jean Renoir als Autor betrachtet • starke Aufwertung des Hollywood‐Kinos im Sinne des Kunstkinos – Die Autorentheorie weicht von Bazins Vorstellung von Realismus ab, wonach es Aufgabe des Films ist, die Wirklichkeit mit möglichst zurückhaltenden („unsichtbaren“) künstlerischen Mitteln zu zeigen • Möglichkeiten der Montage (des Schnitts) werden wieder entdeckt • Die Kultur der 60er Jahre und die Nouvelle Vague – Krise der politischen Restauration (Algerienkrieg, Vietnam, Bürgerrechtsbewegung in den USA, Befreiungsbewegungen in der III. Welt, Aufarbeitung der Nazivergangenheit in Deutschland, Entstalinisierung im Ostblock) • Höhepunkt ist das Jahr 1968; massive Studentenrevolte in Frankreich und Deutschland; Antikriegsproteste in den USA; Unruhen in den schwarzen Ghettos in den USA; Prager Frühling – Aufkommen der Jugend‐ und Popkultur • Infragestellung der Hochkultur bzw. Nivellierung des Unterschieds zwischen Hoch‐ und Popkultur – sexuelle Revolution • Unterminierung und später Aufgabe der Zensur in Hollywood – Beat‐Generation („On‐the‐Road‐Ethos“ des Improvisierens bzw. der freien Selbstentfaltung abseits der gesellschaftlichen Normen) – Jazz (Improvisation) • Nouvelle vague – 1959‐Ende der 60er Jahre; einige ausgewählte Beispiele • Die Enttäuschten ("Le Beau Serge", Claude Chabrol, 1958) • Hiroshima, mon amour (Alain Resnais, 1959) • Sie küssten und sie schlugen ihn ("Les Quatre cents coups", François Truffaut, 1959) • Außer Atem ("À bout de souffle", Jean‐Luc Godard, 1960) • Paris gehört uns ("Paris nous appartient", Jacques Rivette, 1960) • Letztes Jahr in Marienbad ("L'année dernière à Marienbad", Alain Resnais, 1961) • Cleo ‐ Mittwoch zwischen 5 und 7 ("Cléo de 5 à 7", Agnès Varda, 1961) • Lola (Jacques Demy, 1961) • Die Geschichte der Nana S. ("Vivre sa vie", J.‐L. Godard, 1962) • Jules und Jim ("Jules et Jim", F. Truffaut, 1962) • Die Außenseiterbande ("Bande à part", J.‐L. Godard, 1964) • Elf Uhr nachts ("Pierrot le fou", J.‐L. Godard, 1965) • Die untreue Frau ("La femme infidèle", Claude Chabrol, 1969) • Meine Nacht bei Maud ("Ma nuit chez Maud", Éric Rohmer, 1969) • Merkmale der Nouvelle‐vague‐Filme Drehen vor Ort Gebrauch von Handkameras urbane Milieus (Paris) Skepsis gegenüber Autorität Unterminierung und Aufbrechung narrativer Muster (gegen das Erzählkino) – oberflächlich bzw. scheinbar willkürlich oder sprunghaft handelnde Personen; Unterminierung der psychologischen Motivierung – Selbstreferentialität – – – – – • • • • Charakter spricht mit dem Publikum (Metalepse) Regisseur macht auf seine eigenen Verfahren aufmerksam Eigenzitate, Insiderzitate Speziell bei Godard: der Jump Cut Außer Atem • In À bout de souffle ist Godard bemüht, normale erzähltechnische und filmtechnische Konventionen zu unterwandern – Film erscheint „spontan“ und sprunghaft durch schnitt‐bedingte Ellipsen (ausgelassene Handlungselemente, etwa beim Autoklau am Anfang oder beim Mord) – Kamera‐Einstellungen entsprechen häufig nicht der Norm • als Michel flüchtet, kommt eine Weitaufnahme, also hat man keine Möglichkeit, an ihn „heranzukommen“ und sich mit ihm zu identifizieren • Jump Cuts sorgen für ein „nervöses“, sprunghaftes Gefühl, das dem Lebensstil der Protagonisten gut entspricht • Als Michel die Schönheit von Patricia im Auto preist, sehen wir nur ihren Hinterkopf (Störung einer Identifikationsmöglichkeit) – Ton (der nachsynchronisiert und keineswegs „spontan“ ist) wird bewusst mit „Störungen“ wieder gegeben • eine Sirene stört mehrmals das Gespräch zwischen Patricia und Michel in ihrer Wohnung – Selbstironie • es kommen 2 Irisblenden vor, die man seit der Stummfilmzeit selten sieht • Metalepse: Michel spricht direkt mit uns, den Zuschauern, d.h. Godard verwischt bewusst die Grenze zwischen Film und Realität – Selbstreferentialität • Filmzitate: Godard erscheint als Passant, der die Polizei auf Michel aufmerksam macht; gleichsam ein Hitchcock‐Zitat (Hitchcock trat stets in den eigenen Filmen kurz auf) • Insider‐Witze: ein Mädchen versucht Michel eine Kopie des Cahiers du cinéma zu verkaufen, was er dankend ablehnt (Cahiers war das Hausorgan von Godard und anderen Vertretern der Nouvelle Vague) Außer Atem • Michel und Patricia leben in einer narzissistischen Welt von Ideal‐Bildern, an denen sie sich zu orientieren versuchen – Filmplakate (Bogart als Vorbild für Michel) – Gemälde (Renoir für Patricia) – Spiegel aller Art (Narzissmus der beiden Protagonisten, die keine „echten“ Vorbilder kennen) – Verflachung der Charakterpsychologie; keine Tiefendimension mehr, sondern Posen, Grimassen, Rollen • Michel und Patricia haben keine bestimmten Ziele, sondern versuchen sich im Leben stets neu zu positionieren – diese Positionierung ist nur quasi ernst zu nehmen • selbst im Sterben wirkt Michel wie die schlechte Parodie eines Gangsters • Der Film stellt sexuelle Intimität auf eine Weise her, die im romantischen Hollywoodfilm nicht möglich ist – Szene in Patricias Wohnung dauert fast ein Viertel des Filmes – Diese Intimität ist bedingt durch die Unentscheidbarkeit zwischen Liebe und Sex bzw. entsteht durch die „Verflachung“ der Charakterpsychologie • führt Sex zu Liebe oder Liebe zu Sex? – unlösbares Hauptthema der Wohnungsdiskussion