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„Die Nibelungen“ bei RTL: Die Jungfrauen mussten sterben - Medien - Feuilleton - ... Seite 1 von 3
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„Die Nibelungen“ bei RTL
Die Jungfrauen mussten sterben
Von Heike Hupertz
31. August 2008 Im mittelhochdeutschen „Annolied“, das
wohl kurz nach 1080 im bayerischen Kloster Siegburg
verfasst wurde, lässt der anonyme geistliche
Geschichtsschreiber, bevor er zur Verherrlichung des
Kölner Erzbischofs St. Anno kommt, die Welthistorie in
mehreren hundert Versen gleich zweimal hintereinander
Revue passieren. Nach der religiösen Fassung folgt die
profane Version, die gleichwohl in heilsgeschichtlicher
Eik (Benjamin Sadler) und Katharina
(Bettina Zimmermann) sind auf der
Jagd nach dem Schatz der Nibelungen
Perspektive gedeutet wird. Legte man die Maßstäbe
moderner Textkritik zugrunde, dann müsste man das
„Annolied“ wegen vorsätzlicher Geschichtsfälschung
umstandslos ins Reich der Fabel verbannen.
Da stammen die Franken in direkter Linie von den Trojanern ab, während sich in Köln die
Gräber von „eilf tusent megiden“ (elftausend Jungfrauen) finden lassen, die mitsamt der
bretonischen Königstochter Ursula um 450 von den Hunnen umgebracht worden seien –
zuvor war in der Legende nur von zehn Jungfrauen die Rede. Geschichtsschreibung aber
ist zu dieser Zeit selbstverständlich Geschichtsdichtung, und Mythos wie Christentum
dienen im Wesentlichen der Herrschaftslegitimation der Mächtigen. Im Gegenzug kann
man die bekannten literarischen Werke der mittelhochdeutschen Blütezeit auch als
Geschichtsbücher ihrer Zeit lesen. Auch im „Rolandslied“, im „Eneasroman“ des Heinrich
von Veldeke oder in der Parzivaldichtung des Wolfram von Eschenbach werden Belegbares,
Legendäres und Mythologisches bunt vermengt und – publikumswirksam aufgemischt.
RTL schreibt Geschichte
Wenn daher RTL nun zur munteren Schnitzeljagd durch die deutsche Geschichte und ihren
bekanntesten Mythos lädt und dabei das Schicksal des Nibelungenhortes in eine gänzlich
unerhörte, weisheitsgeschichtlich aber durchaus bemerkenswerte Perspektive bringt, sollte
man sich nicht weiter wundern, sondern den Sender vielmehr zu seiner vollendeten
Einfühlung ins mittelhochdeutsche Dichter-Selbstverständnis beglückwünschen. Sein
unbekümmert geschichtsklitterndes Verfahren nämlich hat sich der Drehbuchautor Derek
Meister offenbar bei den mittelhochdeutschen Werken abgeschaut.
Und so geht die ziemlich unterhaltsame Neufassung der
Historie in „Die Jagd nach dem Schatz der Nibelungen“: Um
770 fand der Frankenkönig Karl der Große, der sich ja
irgendwie die Zeit vertreiben musste, bis der Papst dreißig
Jahre später endlich bereit war, ihn zum ersten Kaiser des
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu krönen,
höchstderoselbst den Nibelungenschatz. Als aber seine
Karl der Große macht es den
Schatzsuchern nicht leicht: Viele Fallen
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Getreuen begannen, einander aus Gier und Neid
versperren den Weg zum Ziel
abzuschlachten, versammelte er seine engsten Mannen um
sich, denn man hatte noch Zeit, Fernsehen würde es so bald nicht geben, um allerhand
Rätselspiele auszudenken und Hinweise zu vier Schlüsseln an vier der schönsten
touristischen Orte Deutschlands zu verstecken. Dereinst sollte ein weiserer Mann, nämlich
Eik Meiers (Benjamin Sadler) sie finden, deuten und sich damit Siegfrieds Schwert
Balmung, Alberichs Tarnkappe, eine Phiole voll unsterblich machenden Drachenbluts und
Lastwagenladungen voll Gold und Juwelen anständig verdienen.
Vor das Abenteuer aber hatten die Götter und die Regie von Ralf Huettner den männlichen
Reifungsprozess ihrer Hauptfigur gesetzt. Acht Jahre bevor „Die Jagd nach dem Schatz der
Nibelungen“ einsetzt, verlor Meiers bei einem Unfall seine Frau, die fanatische
Schatzjägerin Maria (Milena Dreißig) und seinen besten Freund André (Stephan
Kampwirth). Allein hatte er seitdem seine Tochter Krimi (= Kriemhild, Liv Lisa Fries)
aufgezogen, schweren Herzens Abschied von der Archäologen-Feldarbeit genommen und
sich als Berater einer Tiefbaufirma verdingt. Nur ein Amulett mit dem Signum Karls des
Großen und einem verräterischen Drachenkopf war ihm geblieben. Sein lustiger Freund
Justus (Fabian Busch mit Indiana Jones-Hut) hingegen hütete im Museum einen
merkwürdigen Solidus, eine Münze aus der Zeit Karls.
Man nehme ein bisschen „Indiana Jones“
Die Jagd beginnt, als der schwerkranke Magnat Brenner
(Hark Bohm) von seinen Schergen Amulett und Solidus
rauben lässt. In den folgenden zwei Stunden erwarten den
Zuschauer hochwertige Aufnahmen der Rügener
Eik und Katharina scheint mehr zu
verbinden als nur die gemeinsame
Schatzsuche
Kreidefelsen, des Kölner Doms mitsamt sehr gelungenen
Bauten schauriger Katakomben, Besuche bei den
Externsteinen im Teutoburger Wald und in Schloss
Neuschwanstein nebst einer Zugspitzenbesteigung, eine
Menge Felsenkraxelei und Bettina Zimmermann als skeptische Museumsleiterin, die sich in
einer höchstwahrscheinlich symbolisch gedachten Einstellung hinter durchsichtigem
Duschvorhang episch gründlich den Staub der Archive vom Körper wäscht. All das – und
noch viel mehr – wird untermalt von der Filmmusik Klaus Badelts („Fluch der Karibik“).
Man hat sich nicht lumpen lassen: Ein wenig „Herr der Ringe“, Lara Croft und Dan Brown
hier, etwas „Indiana Jones“ und „Unsere schönsten deutschen Kulturdenkmäler“ dort. Wer
„Die Jagd nach dem Schatz der Nibelungen“ als hochwertig gefilmten Abenteuerspaß nicht
zu ernst nimmt, hat die besten Chancen auf einen unbeschwerten Fernsehabend. Wer sich
allerdings schon immer darüber geärgert hat, dass die kulturelle Unkenntnis immer
absurdere Resultate zeitigt, so dass selbst „Meyers Online Lexikon“ im Fall der
Nibelungenliedhelden Hagen von Tronje und Gunther statt richtig von Burgundenkönigen
nur von Burgunderkönigen (also von exquisiten Rotweinen) spricht, dem sei ein
besinnlicher „Nibelungenlied“-Lektüreabend und dabei besonders Hagens SiegfriedErzählung empfohlen: „Er sach so vil gesteines / (so wir hoeren sagen) / hundert
kanzwägene / ez möhten niht getragen; / noch me des roten goldes / von Nibelungen
lant.“
„Die Jagd nach dem Schatz der Nibelungen“ läuft am Sonntag bei RTL um 20.15 Uhr.
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Text: F.A.Z.
Bildmaterial: obs
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Annolied aus Bayern ? 31. August 2008, 19:07
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