Ein Paradies – auch für Ratten

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Ein Paradies – auch für Ratten
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WISSEN | 75
13. J U N I 2 010
Die Inselgruppe Lord
Howe, 600 Kilometer
vor der australischen
Ostküste
Ein Paradies –
auch für Ratten
PETER HENDRIE/GETTY IMAGES; PA/OKAPIA
Im Pazifik soll eine Insel evakuiert werden, um der Rattenplage
ein Ende zu setzen. Heimische Tiere und Pflanzen werden davon
profitieren. Doch die 350 Einwohner sind alles andere als begeistert
Von Barbara Bierach
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Die Luft wird erzittern, Tod wird
über das Land kommen, die Menschen werden flüchten. Das
stammt nicht aus der Bibel, sondern beschreibt eine Maßnahme
zum Artenschutz aus dem zeitgenössischen Australien. Dort will
die Verwaltung der Inselgruppe
Lord Howe Island aus Helikoptern
und von Hand 42 Tonnen Rattengift
verteilen und der schwarzen Hausratte endlich und ein für alle Mal
den Garaus machen.
Deren Siegeszug begann am 15.
Juni 1918, als das Dampfschiff „Makambo“ am Nordende der LordHowe-Insel auf Grund lief, 600 Kilometer vor der australischen Ostküste. Das Schiff war schnell wieder flott, dennoch hatte die Havarie
fatale Folgen: Ratten verließen das
sinkende Schiff und rückten auf der
35 Quadratkilometer großen Insel
der einheimischen Fauna auf den
Leib – bis heute. Experten schätzen, dass im Südpazifik knapp 60
Prozent aller Fälle von Nestraub
auf das Konto der Spezies Rattus
rattus gehen. Fünf auf der Insel endemische Vogelarten starben aus,
darunter die Lord-Howe-Drossel,
der Lord-Howe-Spatz und die
Weißbrüstige Taube. Schwer gelitten haben ebenfalls nur auf der Insel beheimatete Eidechsen, Schnecken und Käfer.
Der Schiffsunfall der „Makambo“ ist heute fast vergessen, doch
die Nagetiere bedrohen noch immer die Artenvielfalt auf der Insel.
Nun soll das Gift Schluss machen
mit dem Rattenrennen. Aber das
klingt einfacher, als es ist. Denn
Ratten fühlen sich als Überlebenskünstler nicht umsonst so gut wie
überall auf der Welt wohl. Die Köder müssen flächendeckend ausliegen, nicht nur Buschland, Küste,
Wald und Wiesen abdecken, sondern auch jedes Gebäude, jede
Höhle, jede Felsspalte und alle aus
dem Meer ragenden Felsen. Überleben nur ein paar Ratten, so wäre
der Giftangriff umsonst. Die Nager würden sich sofort wieder
vermehren.
Rattengifte wie Brodifacoum sind hochgiftig, auch
für Menschen, Vögel und
Fische. Während des
Wenn die Ratten
kommen, beginnt
für viele Arten
der Kampf ums
Überleben
100 Tage dauernden, gesteuerten
Chemieunfalls müssen daher heimische Vögel eingefangen und in
Käfige gesteckt werden. Die Kühe
und Hühner der 350 Einwohner
werden aufs Festland verschifft.
Haustiere, die auf der Insel bleiben,
müssen Maulkörbe tragen, damit
sie keine Köder erwischen. Die Vorbereitungen sind so aufwendig,
dass die Giftattacke erst 2012 oder
2013 starten soll.
Wenn sie denn starten kann.
Denn um Erfolg zu haben, brauchen die Ranger die Unterstützung
der Inselbewohner, die mithelfen
müssen, damit ausnahmslos jede
Wiese, jede Scheune und jeder Keller mit Ködern bestückt wird. Einwohner wie Clive Wilson fordern
jedoch neben dem Natur- auch den
Menschenschutz: „Das Gift richtet
eine Menge Unheil an, und am Ende haben wir dann immer noch Ratten.“ Misstrauen gegen jede Einmischung der Behörden hat auf Lord
Howe Tradition, und viele Insulaner fanden es schon anstrengend,
dass die Insel 1982 von den UN zum
Welterbe erklärt wurde. Seither
sind Katzen, Ziegen und Schweine
von der Inselgruppe verbannt, und
die Bürger können nicht mehr ungestört auf die Jagd gehen. Ganz
von ungefähr kommt die Skepsis
der Leute nicht, denn bislang sind
die Versuche der Insulaner gescheitert, die Nager unter Kontrolle zu
bringen. 1922 beispielsweise wurden australische Maskeneulen auf
der Insel eingeführt, die aber nicht
die Ratten dezimierten, sondern
vor allem einheimische Vögel, Reptilien und Fledermäuse.
Seither legt die Inselverwaltung
regelmäßig Giftköder aus – für umgerechnet 45 000 Euro im Jahr. Die
Bürger meinen nun, wenn man die
Nager unbedingt dezimieren wolle,
müsse man einfach mehr Köder
ausbringen. „Doch regelmäßig so
viel Gift auszubringen birgt die Gefahr der
Immunität unter den
Ratten“, sagt Insel-Ranger
Hank Bowen.
„Der Einmalschlag ist weit
weniger umweltbelastend als ein
Dauereinsatz von
Gift, zumal wir
die
Schädlinge
damit ein für alle
Mal los wären.“
Der Blitzkrieg soll nun
umgerechnet 5,5 Millionen Euro
kosten. Rund 20 Kilogramm Köder
pro Hektar werden ausgelegt. Stephen Wills, Chef der Inselregierung, sagt dazu: „Lord Howe ist einer der schönsten Plätze dieser Erde, und deswegen ist die Insel dieses aufwendige Programm auch
wert.“ Zumal die Ausgabe auch die
größte Einnahmequelle der Insel
sichert: den Tourismus. Gäste sehen schließlich auch lieber seltene
Seevögel als Ratten.
Mit dem Geld wird beispielsweise Lebensraum erkauft für den
Dryococelus australis. Dieses auch
als „Baumhummer“ bekannte Wesen gilt als das „seltenste Insekt der
Welt“. In den 1920er-Jahren wurde
es sogar schon einmal für ausgestorben erklärt. 2001 wurden jedoch
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30 Stück des bis zu 15 Zentimeter
langen und 25 Gramm schweren
Stabinsekts auf einer winzigen
Nachbarinsel von Lord Howe entdeckt. Diese letzten Überlebenden
gilt es nun zu bewahren. Erholen
sollen sich auch ein endemischer
Skink (Leiolopisma lichenigera)
und ein heimischer Gecko (Phyllodactylus guentheri), die im Moment
nur noch auf einigen Inselchen der
Gruppe überlebt haben.
Profitieren sollen auch die LordHowe-Waldralle und Sperlingsvögel wie der Golden Whistler, der
Silvereye und der Currawong.
Schutz gewähren soll die Aktion
auch seltenen Seevogelarten, darunter der Providence-Sturmvogel,
der ausschließlich auf der Lord-Howe-Inselgruppe brütet. Aber auch
die Gelege der Kermadec und der
schwarz geflügelten Sturmvögel
sollen künftig von Rattenzähnen
unbehelligt bleiben, ebenso wie die
Nester verschiedener Sturmtaucher wie der Flesh-footed Shearwater oder der Wedge-tailed Shearwater. Auch Feenseeschwalben sollen
in Zukunft in Ruhe brüten.
Stephen Wills, Chef der Inselregierung, gibt zu, dass seine Giftmischer-Aktion „ziemlich radikal“ sei,
meint aber, es gebe keinen anderen
Weg, der Rattenplage Herr zu werden. Der bekannte australische
Biologe Tim Flannery ist ebenfalls
hoffnungsfroh: „Es gibt eine gute
Chance, dass die Aktion die Insel in
einen nahezu ursprünglichen Zustand zurückversetzt.“ Hoffnung
machen die Vorbilder. Nur hundert
Meter vor der Ostküste Australiens
liegt Brush Island, ein 46 Hektar
großes Naturschutzgebiet. Hier
wurden die Ratten 2005 erfolgreich
ausgerottet, und jetzt ist das Inselchen die Gegend mit der höchsten
Dichte an Seevögeln im australischen Bundesstaat New South
Wales. Der Gebietsmanager des
National Park and Wildlife Service,
Mike Jarman, berichtet begeistert
von dem „erstaunlichen Sprung“,
den die Natur gemacht habe, nachdem sie die Ratten los war.
Gute Ergebnisse können auch die
Neuseeländer vorweisen, die inzwischen 90 Inseln vor ihren Küsten von nagenden Schädlingen befreit haben, um endemische Arten
wie den Kiwi, flugunfähige Papageien oder auch große Echsen wie
den Tuatara zu schützen. 1988 gestartet, haben die Aktionen nun insgesamt rund 20 000 Hektar insulare
Flächen von allen Nagern befreit,
wie Jude Gilbert vom Great Barrier
Island Charitable Trust berichtet.
Sein Fazit lautet: Der ständige Gifteinsatz zur Rattenkontrolle fordert
mehr Opfer als eine kurze, aber radikale Vergiftung.
Das Ergebnis einer Giftaktion
kann Oasen der Artenvielfalt schaffen, wie beispielsweise auf Ulva Island, einer Nebeninsel von Stewart
Island tief im Südpazifik. Heute leben hier mit dem Saddleback, dem
Stewart-Island-Rotkehlchen und
dem Kakariki-Papagei einige der
seltensten Vogelarten der Welt.
Klappt das ganz ähnliche Projekt
auf Lord Howe Island, könnte die
Beschreibung der Inselwelt künftig
sogar wieder nach Bibel klingen,
nach Paradies zum Beispiel.
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