Die aktuelle Situation von Flüchtlingen und Migranten in Italien
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Die aktuelle Situation von Flüchtlingen und Migranten in Italien
Gemeinsame Standards in der EU beim Flüchtlingsschutz – eine Fiktion ?! Schwerte 2.-4.12.2011 Judith Gleitze, borderline-europe, zur Situation in Italien [email protected], 0039 – 340 980 2196 1. Ankunft der tunesischen Flüchtlinge Nach dem Sturz des Diktators Ben Ali in Tunesien machen sich Tausende von Flüchtlingen auf nach Lampedusa. Tunesien hat zwar seinen Diktator vertrieben, doch damit ist noch lange keine Revolution gewonnen: hohe Arbeitslosigkeit, Chaos, Polizisten, die Bürger/innen angreifen, Soldaten, die anfangs Bevölkerung schützen, Ausgangssperren, Versorgungsengpässe – das ist das Bild nach dem 14. Januar 2011 bis heute, am 23. Oktober finden die ersten Wahlen statt. Die Angst und die Hoffnungslosigkeit lässt viele junge Menschen fliehen. In Europa findet man zwar gute Worte für den beginnenden Demokratisierungsprozess, nicht jedoch für die Flüchtenden. Immer wieder hört man: ihr habt eine Revolution gemacht, nun ist es doch in Ordnung! Keine Revolution bringt Änderung von einem Tag auf den anderen, 23 Jahre Herrschaft eines kleptokratischen Regimes sind nicht einfach wegzufegen. Lampedusa. Die erste Welle von 5000 jungen Tunesiern erreicht die Insel im Januar/Februar 2011. Die italienische Regierung weigert sich, das Auffanglager, welches über zwei Jahre mit einer Notbesetzung ausgestattet war und sofort betriebsbereit gewesen wäre, wieder zu öffnen. Die Flüchtlinge, durchnässt und durchgefroren, müssen auf der Straße schlafen. Erst nach massiven Protesten von Bürger/innen und von Flüchtlingsorganisationen wird das Lager dann doch wieder eröffnet. Die Regierung setzt auf Panikmache: in den Medien erscheinen nur noch Bilder ankommender Boote – bis zum 24.2.2011 sind 6000 Menschen angekommen, nicht 600.000! Der italienische Innenminister Roberto Maroni, Lega Nord, spricht dennoch von einem „biblischen Exodus“, Millionen werden kommen.... Die Flüchtlinge werden bisher nach und nach in eilig errichtete Lager, Zeltstädte und sonstige Unterbringungen in Italien verteilt. Diese Zentren, so wie der Hafenhangar von Pozzallo oder das Zelt in Porto Empedocle auf Sizilien sind faktisch ein rechtsfreier Raum. Es gibt keine ärztliche Versorgung, bis Ärzte ohne Grenzen Zugang erhalten. Am 1.3.2011 beschließt die Staatsanwaltschaft Agrigento, gegen alle Ankommenden Verfahren wegen illegaler Einreise einzuleiten – das bedeutet, das derzeit ca. 40.000 Verfahren anhängig sein müssten. Die illegale Einreise ist in Italien ein Straftatbestand geworden, auch wenn sich die Europäische Union gegen diese Gesetzesänderung ausgesprochen hatte. 1 Am 14. März besuchen die Rechtspopulisten und Europarlamentarier Marine Le Pen und Mario Borghezio Lampedusa. Vorschlag: man solle den Flüchtlingen auf See Wasser und Nahrung in die Boote werfen und sie dann zurückweisen. Bis Mitte März sind über 11.000 Ankünfte auf Lampedusa zu verzeichnen. Ende März eskaliert die Situation auf Lampedusa, denn die neue Strategie der italienischen Regierung heißt fortan: Nicht verteilen. Bis zu 6000 Flüchtlingen befinden sich fortan auf der von nicht einmal 6000 Menschen bewohnten Insel, die Zustände sind für alle Beteiligten unhaltbar. Die Flüchtlinge müssen draußen schlafen, errichten sich aus Plastikplanen Zelte, ihre Notdurft müssen sie auf den Felsen verrichten. Die Regierung will damit demonstrieren, dass es sich um einen Notstand handelt, dass Europa eingreifen und die Flüchtlinge übernehmen muss. Die EU lässt sich nicht erpressen, zum Einen zu Recht, da Italien sehr wohl 12.000 Flüchtlinge händeln können muss, zum Anderen jedoch nicht rechtens, denn es darf nicht sein, dass ein EU-Außengrenzland nur aufgrund seiner geographischen Lage die Versorgung allein übernehmen muss. Zudem hatte ganz Europa den Umsturz in Nordafrika gutgeheißen (auch wenn es vorher sehr wohl eine sehr gute Zusammenarbeit einiger Länder mit dem Ben Ali-Regime gab, vor allem mit Italien!). Italien ändert daraufhin erneut die Strategie und verteilt in neue Lager, die CAI (Centro di accoglienza ed identificazione, Aufnahme- und Identifizierungszentrum), die oftmals den Charakter einer Abschiebungshaft haben. Massive Revolten und Fluchtversuche sind die Folge. Im Laufe des Frühlings und Sommers lassen die Ankünfte aus Tunesien nach. Erst im Juli/August schnellen sie aufgrund der großen Unzufriedenheit im Lande wieder hoch. Tunesien hat aufgrund der eigenen Situation, aber auch aufgrund des Libyenkrieges einen Rückgang des Tourismus von knapp 40%1 zu verzeichnen, einigen Orts sogar mehr. Die Situation im Land ist instabil. Die Tunesier auf Lampedusa werden grundsätzlich von den restlichen Flüchtlingen getrennt gehalten, ihre Verteilung erfolgte weitaus weniger schnell als die der anderen, meist wird versucht, sie direkt von Lampedusa über einen sizilianischen Flughafen abzuschieben. Das betraf und betrifft auch minderjährige Flüchtlinge. Es kommt daher immer wieder zu Revolten, bei denen die Polizei jedoch äußerst hart gegen die unbewaffneten Tunesier vorgeht. Brüche, schwere Verletzungen und Traumata sind die Folgen. Fälle dazu werden später aufgegriffen. Im November 2011 werden 29 tunesische Asylsuchen abgeschoben, obwohl sie nach ihrer Ablehnung im Klageverfahren waren und aufschiebende Wirkung beantragt hatten. Laut italienischem Gesetz ist es nicht möglich, vor der Klageentscheidung abzuschieben. Doch die Polizei sowie die Ausländerbehörde brechen das Recht nunmehr täglich. 2. Libyenkrieg – Flucht von Flüchtlingen und Migranten aus dem Bürgerkriegsland Libyen Seit Februar 2011 demonstriert auch ein Teil der libyschen Bevölkerung gegen den langjährigen Machthaber Muammar al Gaddafi. Aufgrund der folgenden Bombardements der NATO, die die Rebellen unterstützen sollen, fliehen zahlreiche Menschen aus Libyen – allein 500.000 1 Helmut Dietrich: Tunesien nach dem Umsturz – politische Niederlagen, aber der Widerstand wächst, in: Tunesien zwischen Revolution und Migration, München August 2011 2 Flüchtlinge überqueren die Grenze nach Tunesien. Obwohl Tunesien sich selber im Umbruch befindet nimmt es die Flüchtlinge auf. Es entstehen mehrere Flüchtlingslager im Süden des Landes, zudem finden die meisten libyschen Flüchtlinge private Aufnahme in tunesischen Familien, so kommen allein in der Region Tataouine im südlichen Tunesien 55.000 Libyer/innen in Familien unter. In Folge entsteht auch das UNHCR-geführte Lager Shousha, das am 24.2.2011 nahe der tunesisch-libyschen Mittelmeergrenze eröffnet wird. Hier leben Flüchtlinge aus dem Subsahararaum, viele von ihnen waren vormals Gastarbeiter in Libyen (Nigerianer, Ghanaer, Ivorianer etc.), aber viele waren auch zuvor in libyschen Gefängnissen für Migranten unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt und konnten nun nach Tunesien flüchten (vor allem Eritreer, Somalier, Äthiopier). Die Situation in Shousha ist für die Flüchtlinge, die dort nun seit Monaten in der Wüste ausharren müssen, nicht erträglich. Diejenigen, die schon in Tripolis eine Möglichkeit hatten, beim UNHCR vorzusprechen, bevor dessen Büro im Sommer des letzten Jahres geschlossen wurde, erhielten in Tunesien umgehend resettlement-Papiere, wenn sie denn schon in Libyen eine Flüchtlingsanerkennung erhalten hatten. Doch die resettlement-Plätze genügen nicht, so wartet immer noch eine große Zahl auf ihre Verlegung. Diejenigen, die in ihre Heimatländer zurückkehren können, werden mithilfe der Heimatregierungen und des IOM (International Organization of Migration) ausgeflogen. Zurück bleiben die, die keinerlei Chance auf eine Rückkehr haben: z.B. Sudanesen, Bangladeshis, deren Regierung nichts für sie tut, Nigerianer, die an Kämpfen im Nigerdelta gegen die Ölmagnaten beteiligt und nach Libyen geflohen waren. All diesen Menschen bleibt nun nur die Asylantragstellung über den UNHCR in Shousha, doch das dauert Monate. In einem Gespräch mit einem eritreischen Flüchtling, der bereits seit Mai 2011 in Shousha lebt, berichtet dieser, der UNHCR habe ihm gesagt, vor März, April nächsten Jahres würde für ihn nichts entschieden. So ergeht es nach Interviews mit Flüchtlingen vor Ort allen. Appelle an die europäischen Regierungen, Flüchtlinge aus den Grenzlagern in Tunesien und Ägypten herauszuholen, verhallen ungehört. So sitzt auch eine weitere Gruppe von Palästinensern in einem Nachbarlager von Shousha seit Monaten fest – Ägypten lässt sie nicht nach Gaza einreisen, niemand will sie haben. Die ersten Flüchtlinge aus Libyen erreichen am 27. März Lampedusa. In der Folge sind auch viele unter ihnen, die von Libyen nach Tunesien geflohen sind und sich dann in ihrer Not entschlossen haben, nach Libyen zurückzukehren und dort ein Boot nach Italien zu besteigen. Die ersten Flüchtlinge aus Libyen erreichen am 27. März Lampedusa. Viele von ihnen berichten, dass man sie zu geringeren Kosten hat fahren lassen, manche sagen, die Polizei Gaddafis habe sie förmlich in die Boote getrieben. Die Ausweglosigkeit und der Zwang, dann schließlich ein Boot zu besteigen, fordert im Laufe des Jahres an die 2000 (bekannte) Opfer, Tunesier wie andere Flüchtlinge, im Kanal von Sizilien. 3 Die Flüchtlinge, die über Libyen kommen, werden von Anfang an anders behandelt: so werden sie z.B. nicht in den hinteren „Käfig“ des Männertraktes von Lampedusas Zentrum Contrada Imbriacola gesperrt, sondern von den Maghrebinern ferngehalten. Nichtsdestotrotz müssen bei einer Überbelegung im Mai, von der wir uns mit eigenen Augen überzeugen konnten, und sicher auch zu späteren Zeitpunkten, die Flüchtlinge draußen unter den Bäumen schlafen, Kopf an Kopf mit wilden Hunden, die über die Insel streifen und anscheinend Zutritt zum Lager haben. Ende Juli gibt Innenminister Roberto Maroni die aktuelle Ankunftsstatistik heraus: 48.000 Ankünfte, davon 24.769 aus Tunesien, 23.267 aus Libyen (abgefahren). 13.667 sind seit Anfang des Jahres abgeschoben worden. Im August erhöhte sich die Zahl der Ankommenden um einige Tausend Flüchtlinge. 2 Am 28.9.2011 gibt das Innenministerium die neue Gesamtzahl der Ankünfte heraus: 60.656, davon sind 51.596 Flüchtlinge auf den Inseln Lampedusa und Linosa angelandet.3 . 3. Die neue rechtliche Lage Frontex Am 19./20. Februar startet die Frontex-Mission „Hermes“ im Kanal von Sizilien. Aufgrund der vielen Ankünfte bis dato sollen sie weitere Ankünfte melden, verhindern...niemand kann uns genau sagen, was Frontex eigentlich tut. Die italienische und die maltesische Küstenwache sind in die Operation einbezogen, zwei Flugzeuge sind auf der Nachbarinsel Pantelleria stationiert. Tagelanges Bemühen und Telefonate mit allen zuständigen Stellen der Agentur und des italienischen Innenministeriums, sich mit den entsprechenden Beamten in einem Aufnahmezentrum auf Sizilien, in denen Verbindungsbeamte angeblich freiwillige Befragungen mit Flüchtlingen durchführen, oder auf Lampedusa zu treffen, verlaufen im Nichts. Die transparente Grenzschutzagentur lässt sich nicht in die Karten schauen. Bis heute ist nicht klar, was genau Frontex mit Hermes erreichen will und erreicht hat. Dennoch wurde die Mission bis Ende August verlängert.4 Inzwischen arbeiten Frontex-Agenten nach Angaben des Antirassistischen Netzwerks Catania auch im Großlager Mineo. Das Netzwerk beanstandet völlige Unklarheit über die Aufgabe der Agenten und zu welchem Zwecke sie welche Interviews durchführen sei auch den Flüchtlingen gegenüber nicht erklärt worden.5 Eine kleine Anfrage der Partei Die Linke beinhaltet unter anderem auch die Frage nach den Aktivitäten von Frontex nach 2 http://www.programmaintegra.it/modules/news/article.php?storyid=6024, 5.8.2011: am 5.8. zählte man 51.881 Ankünfte, allein am 14.8. sind weitere 2000 angelandet. Angeblich, laut diversen Presseberichten, sind bisher (Stand Ende August) ca. 57.000 Flüchtlinge auf Lampedusa angekommen. 3 http://www.interno.it/mininterno/export/sites/default/it/sezioni/sala_stampa/notizie/immigrazione/00000 70_2011_09_29_informativa_Viale_al_Senato.html 4 http://www.frontex.europa.eu/newsroom/news_releases/art103.html, http://www.frontex.europa.eu/hermes_2011_extended/background_information/ 5 http://siciliamigranti.blogspot.com/2011/08/la-situazione-attuale-mineo.html 4 dem 31. August 2011. Der Antwort vom 04.10.2011 ist zu entnehmen, dass der Einsatz bis Jahresende verlängert wurde.6 Rechtliche Änderungen aufgrund des „Notstands Nordafrika“ Ab Februar 2011 erlässt die italienische Regierung einen Erlass nach dem anderen, um die Situation des so genannten „Notstands Nordafrika“ in den Griff zu bekommen. Wie immer arbeitet der Staat mit Notstandsgesetzen, und wieder einmal war es nicht abzusehen, dass Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien kommen könnten (sic!). Mithilfe dieser Notstandgesetze ist es möglich, sich über geltende Gesetze und Regelungen hinwegzusetzen. Am 12. Februar wird per Dekret der „Notstand Migration“ in Italien ausgerufen. Zwei Tage später werden die ersten Überlegungen angestellt, ein Großlager für Flüchtlinge in einer ehemaligen, abgelegenen US-Militärbasis auf Sizilien zu eröffnen. Am 18.Februar wird der nächste Erlass des italienischen Ministerrats veröffentlicht (OPCM 3924): darin wird festgelegt, dass neue Strukturen geschaffen werden müssen, und es eines Kommissars bedarf, der das alles koordiniert. Benannt wird der damalige Präfekt von Palermo, Caruso. Das Dekret besagt außerdem, dass Punkte der Rückführungsrichtlinie wie kollektive Verhaftungen und Abschiebungen, die dort ausdrücklich untersagt sind, keine Beachtung finden müssen, da man sich ja in Zeiten des Notstandes befindet. Am 2. März wird die ehemalige US-Basis für staatliche Zwecke angemietet, von einer privaten Firma, die dafür 360.000 € Mietkosten im Monat erhält, das Rote Kreuz, als erster Betreiber eingesetzt, soll 3 Millionen Euro monatlich bekommen. Proteste von Flüchtlingsorganisationen werden laut. Ebenfalls am 2. März entscheidet die italienische Regierung, Geld an die tunesische Regierung zu zahlen, damit diese ihr „Flüchtlingsproblem“ händeln kann – die Worte des italienischen Innenministers dazu sind eindeutig: Lieber helfen wir mit Geld, dann bleiben die Flüchtlinge wenigstens dort. Ein wichtiger Wendepunkt ist das Ministerialdekret vom 5. April 2011: Hiermit wird für alle tunesischen Flüchtlinge, die bis zum 5.4.2011 Mitternacht eingereist sind möglich, einen Antrag auf befristeten Aufenthalts- und Reisepapiere für den Schengenraum zu stellen. Das Dekret löst große Empörung in Ländern wie Frankreich aus, die befürchten, dass nun alle Tunesier zu ihnen kommen (denn Frankreich ist aufgrund der Kolonialgeschichte und den Verwandtschaftsbeziehungen dorthin tatsächlich das Reiseziel der meisten Tunesier). Frankreich reagiert prompt und schließt, wie andere EU-Länder auch, die Grenzen. Einreisen darf mit dem Papier nur, wer genügend Geld und einen Pass aufweist. In Folge entsteht ein Flüchtlingscamp an der italienisch-französischen Grenze bei Ventimiglia. 6 19.09.2011 – Kleine Anfrage – Drucksache Nr. 17/6991, Situation der subsaharischen Flüchtlinge in Libyen und Tunesien, Antwort Drucksache 17/7270. 5 Da inzwischen die Proteste gegen die Behandlung der Flüchtlinge immer lauter werden erlässt die Regierung mit dem Runderlass 1305 am 1. April ein Verbot für alle Journalisten, Organisationen und sonstigen Unterstützergruppen, die Aufnahme- und Abschiebungslager zu betreten. Nur genannte Organisationen, in diesem Falle z.B. UNCHR, IOM, Rotes Kreuz, dürfen in die Zentren. Eine italienweite Kampagne für die Pressefreiheit folgt. Am 7. April leistet sich der italienische Staat ein Dekret, das den Notstand in Nordafrika ausruft! Ein weiteres Dekret (Nr. 3933) folgt am 13. April und beschreibt die weiteren Notstandsmaßnahmen, die zu ergreifen sind: der Leiter des Zivilschutzes wird hiermit zum Notstandskommissar ernannt, das bedeutet, ab 1.7.2011 fällt ein Großteil der Koordinierung der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten in die Hände des Zivilschutzes. Nur eine Woche später werden die CAI, die Aufnahmelager (Zeltstädte) für die Tunesier/Maghrebiner, die in Sizilien, Kampanien und der Basilikata eröffnet worden waren, von einem Tag zum anderen in Abschiebungshaftanstalten umgewandelt (OPCM 3935). Mit dem Ministerialdekret vom 16. Juni schließlich soll die Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG umgesetzt werden: Haftverlängerung auf 18 Monate ist nun möglich. Freiwillige Ausreisen sind nur vorgesehen, wenn der Migrant z.B. über einen Pass verfügt. Das Dekret wird am 2. August Gesetz. Das Bekanntwerden der Haftverlängerung und deren Durchführung auch bei Migranten und Flüchtlingen, die nicht abgeschoben werden können, zieht eine Reihe von Revolten in den Abschiebungsgefängnissen, u.a. mit schweren Selbstverletzungen und Verletzungen durch Polizeiübergriffe, durch das ganze Land nach sich. Am 01.10.2011 folgt ein weiterer Runderlass im Namen des Zivilschutzes, der besagt, dass alle im Verfahren abgelehnten Asylsuchenden, die keine Klage einreichen, die Aufnahmezentren umgehend zu verlassen haben, ihnen wird die Abschiebungsverfügung ausgestellt und man wird sie dann wahrscheinlich in Abschiebungshaft nehmen. Da Problem ist, dass seit Sommer für die Klageverfahren allein an Gerichtskosten ca. 350 € aufgebracht werden müssen, was sich die Flüchtlinge nicht leisten können. Zudem lehnen die Asylkommissionen (zumindest in Sizilien) sehr viele Gesuche ab (Kollegen berichten von 50 bzw. 90% Ablehnungen in den beiden Kommissionen). Dieser Erlass birgt ein Pulverfass. Die Angestellten in den Zentren sind schlecht informiert, haben Angst, dass Revolten ausbrechen könnten, was zur Folge hat, das die Carabinieri massive Streifen innerhalb der Aufnahmezentren laufen.7 7 Fulvio Vassallo Paleologo, Jurist, 7.11.2011 auf Facebook, https://www.facebook.com/profile.php? id=553836925, Runderlass unter: : http://www.meltingpot.org/articolo17062.html 6 4. Die massivsten Probleme 4.a. Die Unterbringung Aufgrund des „Notstands Nordafrika“ wurden ab März neue Lager zur vorübergehenden Unterbringung geschaffen. 110 Millionen € hat die Protezione Civile, der Zivilschutz, dafür zugesagt bekommen. Das Großlager Mineo auf Sizilien, die ehemalige US-Basis, wird gegen die Proteste einiger Bürgermeister der umliegenden Gemeinden Mitte März eröffnet. Es soll ein neues Aufnahmezentrum für Asylsuchende werden, und so werden Asylsuchende aus Zentren in ganz Italien hierher verlegt – ohne Klärung, welche Asylkommission denn jetzt für sie zuständig ist, herausgerissen aus teilweise gewachsenen Strukturen in anderen Regionen Italiens. Mineo soll DAS Aufnahmelager für Asylsuchende werden. Da rechtlich jedoch nichts geklärt ist, die für die Region zuständige Asylkommission dankend ablehnt, da sie eh überlastet ist, müssen die Flüchtlinge wochenlang warten, bis sich überhaupt eine Kommission bildet und ihre Fälle, die teilweise längst in anderen Kommissionen in Bearbeitung waren, behandelt werden. Kurden beschweren sich uns gegenüber, dass sie schon ein Jahr in Crotone (Kalabrien) auf ihren Bescheid gewartet hätten, nun fange alles von vorne an. Auch nach Monaten funktioniert das Aufnahmezentrum Mineo nicht. Am 25. August berichtet das Antirassistische Netzwerk Catania, dass im Auftrag von borderline-europe ein monitoring in Mineo macht, dass die Zahl der Anhörungen zwar endlich mehr geworden seien (nach der Sommerpause (!) 10-15 am Tag, doch es fehlten die Dolmetscher, es sei völlig unklar, nach welchen Kriterien wer wann gehört wird, es komme zu Massenablehnungen (vor allem Flüchtlinge, die in Libyen gelebt haben und von dort aufgrund des Krieges geflohen sind – fast alle wurden abgelehnt, obwohl viele on ihnen nicht in ihre Heimatländer zurückkönnen). Auch die Lebensbedingungen in Mineo haben sich nicht geändert: die Asylsuchenden können das nächstgelegene Dorf (11 km) nur zu Fuß erreichen oder müssen 2 € für einen Shuttlebus bezahlen, Geld, das sie nicht haben. Inzwischen wurde der Bus auch wieder eingestellt. Dadurch jedoch besteht keinerlei Kontakt zur italienischen Bevölkerung. In einem offenen Brief vom 29. August schildern die Flüchtlinge, die aus Libyen hierher gekommen sind, ihre Situation: Das Essen ist schlecht, wir können nicht mit unseren Verwandten zu Hause kommunizieren (kein Telefon bzw. keine Telefonkarten, die ihnen eigentlich zustehen), acht, zehn Monate auf die Anhörung warten, ohne das Geringste zu tun zu haben, keine freie Anwaltswahl.8 Es gibt nur wenige Anwälte für 3500 Flüchtlinge. Im Juli versuchen sieben Flüchtlinge, sich das Leben zu nehmen. 9 Anwälte schildern, dass fast alle ihre Klienten psychische Probleme haben.10 Am 1.9. übernimmt ein lokaler Verbund verschiedener Vereinigungen den Betrieb. Sie haben keinerlei Erfahrung in der Migrationsarbeit, doch sie haben die Ausschreibung in einer ungeahnten Schnelligkeit genau zur Hauptferienzeit 8 http://siciliamigranti.blogspot.com/2011/08/lettera-aperta-degli-ospiti-del-cara-di.html http://www.terrelibere.org/terrediconfine/4276-sette-tentati-suicidi-al-cara-di-mineo-anni-di-attesa-per-lasilo 10 RA Filippo Finocchiaro bei einem Treffen der Anwaltsvereinigung ASGI am 09-09-2011 in Palermo. 9 7 Mitte August gewonnen, und das, wo vorher monatelang Chaos herrschte und man sich fragt, wie eine Zusage so schnell erfolgen konnte. Mitte November unterhalten wir uns erneut mit Vertretern des Antirassistischen Netzwerks über die Situation in Mineo: ab September hätte sich mit der neuen Betreiberschaft alles ändern müssen, da die Einrichtung nicht als Notstandsunterkunft, sondern als reguläre Aufnahme (CARA) für Asylsuchende gilt. Die Probleme sind weiterhin dieselben wie vorher. Angeblich werde nun das vorgeschriebene Taschengeld ausgezahlt, doch kaufen könne man davon nur Zigaretten und Telefonkarten beim Kioskbesitzer innerhalb des Zentrums. Diesem wird die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung nachgesagt, er gehört zu einer mafiosen Familie des Ortes. Nach der Ankunft der tunesischen Flüchtlinge wurden neue Zentren improvisiert, es gibt keine rechtliche Grundlage für diese: Centro di accoglienza ed identificazione (CAI) – Aufenthalts- und Identifizierungszentrum, Zeltstädte, in die Tunesier und andere Maghrebiner über Wochen eingesperrt wurden. Einzig die Region Toskana hat sich geweigert, Zeltstädte zu nutzen, hier wurden die Flüchtlinge in festen Strukturen untergebracht. In Chinisia, einem bodenverseuchten Fleckchen Erde auf einer alten Militär-Fluglandepiste in der Nähe der sizilianischen Stadt Trapani werden bis zu 700 Tunesier in das Zeltlager verbracht und warten dort auf den Aufenthaltstitel. Als sich ein junger Mann bei einem Fluchtversuch den Fuß bricht, diskutiert die Leitung (eine Caritasnahe Organisation), was man mit ihm machen soll – mit dem Gipsfuß könne er hier nicht bleiben, sobald es regnet weiche der Boden derart auf, dass der Schlamm den Gips kaputt machen würde. Andere Tunesier werden in das Aufnahmelager für Asylsuchende Salina Grande gebracht und dort tagelang in eine Turnhalle gesperrt, wie sich später herausstellt, sind auch Minderjährige darunter. Aus drei der CAI werden dann per Dekret am 21. April CIET – zeitweilige Abschiebungshaftzentren, so auch Chinisia. Das Lager Manduria in Apulien, eine Zeltstadt mit 3500 Plätzen, dient erst zur Unterbringung der Tunesier, dann wird es geräumt und in ein Übergangslager verwandelt. Flüchtlinge, die aus Libyen in Lampedusa anlanden, werden oftmals erst hierhin gebracht, egal ob Frauen, Männer oder Kinder. Erst dann werden sie in weitere Zentren verlegt. Der fortwährende Wechsel der Bestimmungen der Zentren, das unnötige und aufwändige Verlegen von Flüchtlingen quer durch Italien, die chaotischen Zustände in den Zentren, die mangelhafte Versorgung, sozial wie legal, zeichnet die neue Art der Unterbringung in Italien aus. Eine besondere Blüte treibt der Mangel an Plätzen ab Sommer 2011: Der Zivilschutz bietet Hotelbesitzern oder sonstigen interessierten Organisationen und Einzelpersonen, die Platz haben, an, Migranten unterzubringen. Immerhin gebe es gutes Geld dafür. 40-46 € pro Erwachsenen pro Tag, 67 € für unbegleitete Minderjährige und sogar 80 € für unbegleitete Minderjährige in so genannten Übergangsstrukturen. Das hat dazu geführt, dass Bauernhöfe, 8 abgehalfterte Hotels, sonstige fragwürdige Einrichtungen nun plötzlich Flüchtlinge aufnehmen. In der sizilianischen Stadt Piazza Armerina haben sich die Flüchtlinge nun beschwert: Keinerlei soziale Betreuung, der Koch habe noch niemals im Leben etwas mit Kochen zu tun gehabt, nach Wochen tragen die Neuankömmlinge noch die kaputten Schuhe ihrer Reise.11 Das Antirassistische Forum Palermo berichtet von einem Besuch in Zentren in der Region Palerrmo: es gibt keine Sozialarbeiter, keine Dolmetscher, keinerlei Beratungsmöglichkeit, keine jugendgerechten Angebote in den Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige. Es handelt sich hier um ein Dach über dem Kopf mit dem die „Betreiber“ gutes Geld verdienen. Die Anwaltsvereinigung ASGI (Juristische Studien zur Migration) kritisiert in ihrem im Herbst erscheinenden Buch, dass Italien kein koordiniertes und funktionierendes Aufnahmesystem habe. Jede Region verfahre unterschiedlich, je nach finanziellen Kapazitäten und nach „Organisationstalent“, welches wiederum an politische Kontexte gebunden sei. Zudem sei es unbedingt erforderlich, spezielle Maßnahmen für vulnerable Gruppen einzurichten. Das wochenlange „Parken“ von Flüchtlingen in quasi rechtsfreien Räumen müsse sich unbedingt ändern, da es auch „eine mögliche Verletzung des Europäischen Rechts darstelle. Jedes Ausländerbehörde (die bei der Polizei angesiedelt sind) müsse so schnell wie möglich die Asylersuchen entgegennehmen und den Antrag ausfüllen und weiterleiten. Jeder Flüchtling müsse sofort nach der Äußerung des Wunsches einer Asylantragstellung in ein adäquates Unterbringung verbracht werden. Ebenso müssen Informationen und Dolmetscher gewährleistet werden.12 4.b. Die Probleme der tunesischen Flüchtlinge Die Probleme der tunesischen Flüchtlinge sind mannigfaltig. 1) Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis: Die Tunesier, die vor dem 5. April 2011eingereist sind, haben die sechsmonatige Aufenhaltserlaubnis erhalten, sofern sie innerhalb der Frist beantragt wurde. Haben sie dies nicht getan, werden sie werden sie nach einer Identifizierung durch den tunesischen Konsul in Palermo abgeschoben (laut Vertrag mit der tunesischen Regierung, der am 25. März in Tunis ausgehandelt wurde). Haben sie das Papier erhalten, müssen sie das Aufnahmelager, in dem sie sich befinden, umgehend verlassen – sprich, sofort. Sie verfügen über keinerlei Mittel, keine Fahrkarten, sie wissen nicht wohin. Das führt dazu, dass sich im April 2011 eine untragbare Situation auf italienischen Bahnhöfen entwickelt: Hunderte von Tunesiern campieren auf den Bahnsteigen, da man sie ohne Fahrkarte nicht einsteigen lässt. Nächtelang bekommen sie nichts zu essen, keinen Schlafplatz, wissen nicht weiter. Unglaubliche Szenen der Verzweiflung spielen sich vor unseren Augen ab – alles hat man überstanden, das 11 http://www.zeroviolenzadonne.it/rassegna/pdfs/8639b04af4cd400b480d3035531ab1ab.pdf 12 Il diritto alla protezione, studio sullo stato del sistema di asilo in Italia e proposte per una sua evoluzione, ASGI, noch unveröffentlichter Vorabdruck, August 2011 9 Meer bezwungen, den Aufenthaltstitel erhalten, und nun geht es nicht weiter. Nur mithilfe von Flüchtlingsorganisationen, die sich immer wieder, jeden Tag auf’s Neue, für die Ausstellung der Fahrkarten mit den Präfekturen, den Ausländerbehörden und der Bahn auseinandersetzen müssen, gelingt es endlich, die Tunesier reisen zu lassen. 2) Das Problem UNHCR Alle Tunesier, die Italien nach dem 5. April erreicht haben, werden erst in Lampedusa und dann in italienischen Abschiebungshaftanstalten inhaftiert. Wenn möglich, werden sie umgehend nach Tunesien ausgeflogen. Oftmals jedoch verbringen sie Wochen und Monate in Haft, ohne zu wissen, warum. Viele von ihnen wollen einen Asylantrag stellen, doch gegen jede Konvention gestattet man es vielen von ihnen nicht. Gabriele del Grande, der den Blog fortress europe betreibt, berichtet im Juli 2011 von einem Besuch in der neuen Haftanstalt Chinisia, Sizilien. Haftprüfungstermin. Es stellt sich heraus, dass einige der Tunesier in Lampedusa den Wunsch bekundet hatten, einen Asylantrag zu stellen. Ein Anruf beim UNHCR-Büro auf der Insel bestätigt die Angaben, als der Richter die Aufzeichnungen dazu gern gefaxt haben möchte verweigert sich der UNHCR. Das Büro in Rom habe das so bestimmt. Kurzum: der UNHCR weigert sich, sich um tunesische Flüchtlinge zu kümmern, da es sich ihrer Meinung nach durchweg um Wirtschaftsflüchtlinge handele, doch es gibt sehr wohl auch Asylantragsteller unter ihnen, die natürlich unter das Mandat des UNHCR fallen würden. Per se wird eine Nationalität ausgenommen – und das von einem Flüchtlingshilfswerk. Leider bestätigte sich diese Handhabung auch in anderen Zentren wie der Erstaufnahme Pozzallo auf Sizilien, in dem tunesischen Flüchtlinge gefangen gehalten werden (dabei handelt es sich nicht um eine Haft!), um von hier aus direkt über Catania nach Tunis abgeschoben zu werden (Pozzallo wird Ende September nach Protesten der Kommune geschlossen). Es kommt immer wieder zu Protesten und zu Prozessen gegen die Protestierenden. Wie sich herausstellte ist der UNHCR nicht vor Ort gewesen, um potentielle Asylsuchende zu hören. 13 3) Das Problem der Zurückweisungen Schon die Abschiebungen nach Tunis sind, wie sich in Gesprächen mit einigen in Tunesien aufgesuchten Flüchtlingen zeigte, nicht rechtmäßig. Wir haben erfahren, dass sie Asylanträge stellen wollten und das auch schriftlich niedergelegt hatten. In einem anderen Fall wurde eine kleine Gruppe von Tunesiern aus Frankreich nach Italien zurückgeschoben, und trotzdem sie im Besitz der sechsmonatigen Aufenthaltserlaubnis waren, nach Tunis ausgeflogen. In letzterem Fall besonders perfide: man hat sie ein italienisches Dokument unterschreiben lassen, das, wie sich später herausstellte, ihre freiwillige Rückkehr besagte. Ein Dolmetscher ist nicht zugegen. Die Polizei hat ihnen Angst gemacht. Sie haben unterschrieben. 13 http://siciliamigrants.blogspot.com/2011/07/asylsuchende-in-abschiebelagern-unhcr.html 10 Am Abend des 21. August berichten uns Mitarbeiter unseres Monitoring-Projektes auf Lampedusa von einer Ankunft tunesischer Flüchtlinge. Vier von ihnen müssen ärztlich versorgt werden, die restlichen ca. 102 Tunesier werden jedoch umgehend wieder aus dem Hafen herausgefahren und auf offener See tunesischen Einheiten übergeben. Auf die lautstarken Proteste reagiert die italienische Regierung lapidar mit „das ist im bilateralen Abkommen mit Tunesien enthalten.“ Während der Ausfahrt aus dem Hafen springt ein junger Mann von Bord und rettete sich schwimmend ans Ufer. Er verletzt sich dabei am Knöchel. Raffaella Cosentino von der Agentur Redattore Sociale legt in ihrem Artikel offen, dass diese Art von Zurückweisungen des öfteren vorkommen. Diese Informationen hat die Journalistin von Einsatzkräften erhalten, die an den Seenotrettungen beteiligt sind, aber nicht genannt werden möchten. Sie berichten, dass sie zur Beobachtung hinausfahren, die Boote der Flüchtlinge werden „target“ genannt (!) Ist ein Boot ausgemacht wird die Finanzpolizei als Grenzsicherer hinzugezogen und diese prüft, ob es sich um Tunesier handelt. Wenn es sich ihrer Meinung nach um solche handelt, wird die Marine hinzugezogen. Diese übernimmt die Flüchtlinge und übergibt sie an tunesische Einheiten. Die Flüchtlinge werden kollektiv identifiziert – das heißt, die Militärs gehen nach Aussehen und Hautfarbe, um zu bestimmen, woher sie kommen. Es gibt keinerlei individuelle Identifizierung auf See. So gibt denn auch der junge Mann, der abgeschoben werden sollte und im Hafen von Bord springt, an, er sei kein Tunesier, sondern ein Saharawi!14 4) Gewalt gegen Tunesier und andere Flüchtlinge Immer wieder berichten uns die Flüchtlinge von brutalen Polizeimaßnahmen in den Zentren, vor allem auf Lampedusa. Ein aus Italien abgeschobener Tunesier zeigt uns Fotos und Videos, die mit dem Mobiltelefon gemacht sind: Blutspritzer sind auf Boden und Wänden zu sehen. Es handelt sich dabei nicht nur um Repressionen gegen revoltierende Tunesier. Die Flüchtlinge berichten uns unabhängig voneinander, dass die Polizisten mit Gesichtsmasken in den geschlossenen Teil des Lagers kommen und zuschlagen, sobald sie eine Bewegung entdecken, die ihnen Anlass zu geben scheint. Besonders eklatant ist der Fall des jungen Nizar. Verheiratet mit einer Holländerin möchte er eine Familienzusammenführung beantragen, die holländische Botschaft gibt ihm jedoch kein Visum. Er nimmt ein Boot nach Lampedusa. Dort wird Nizar wochenlang festgehalten und dann in Chinisia inhaftiert. Seine hochschwangere Frau reist ihm nach, versucht, ihren Mann zu sehen. Da er seine Stimmer erhebt und daher in Lampedusa im Visier der Ordnungskräfte ist, wird ihm bei einer Revolte die Nase verletzt. Weitere Flüchtlinge, die am Rande stehen und sich gar nicht an den Protesten beteiligen, werden mit Schlagstöcken geprügelt, verschiedene Zeugen berichten uns von schweren Angriffen der bewaffneten Ordnungskräfte. Als Nizars Frau in Chinisia wegen eines Schwächeanfalls ins Krankenhaus und dann nach Holland zurück gebracht werden muss, entschließt er sich zu fliehen. Kurz darauf 14 http://www.terrelibere.org/4327-lampedusa-da-mesi-respingimenti-in-mare-ecco-come-litalia-viola-leleggi-internazionali 11 stellt sich heraus, dass er ein Schengenvisum hatte, was man ihm aber nicht mitteilte und was die Behörden auch nicht zu interessieren schien. Eine Mitarbeiterin von Terre des Hommes bestätigt im August 2011 Prügel an Minderjährigen. Gewalt, physisch wie psychisch, wird auch bei den Abschiebungen angewandt: so berichten uns abgeschobene Tunesier in Tunis, dass sie an Händen und Füßen gefesselt in das Flugzeug gesetzt wurden, beide Fesseln miteinander verbunden, so dass sie nicht gerade sitzen konnten. An jeder Seite einen Polizisten, die Fenster geschlossen, sie wussten nicht, wohin der Flug geht. In Palermo wagt es einer der Tunesier nach über 8 Stunden ohne Essen und Trinken, sich zu beschweren, die Polizei, so schildern seine Mitreisenden, hat ihn zu Boden geworden, einen Stiefel auf den Nacken gesetzt und dann mit dem Schlagstock geprügelt. Unserem Gesprächspartner in Tunis, der das alles bezeugen kann, sind im Krankenhaus in Tunis psychosomatisch bedingte Traumata sowie die Schlagstockprügel auf dem Rücken attestiert worden. 4.c. Problem unbegleitete Minderjährige Mit der kompletten Umstellung des Aufnahmesystems wurde auch die Behandlung und Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geändert. Im Dekret vom 18. Mai wird der Generaldirektor des Arbeits- und Sozialministeriums, Natale Forlani, als Leiter des neuen Verteilungssystems für unbegleitete Minderjährige eingesetzt, Grundlage hierfür ist wiederum das Ministerialdekret vom 13. April 2011 (OPCM 3933). Artikel 5 des Dekretes 3933 vom 13. April legt eine Finanzierung von 500 Plätzen mit bis zu 80€/Tag/Platz fest. Am 17. Mai wird ein Katalog für die Behandlung der unbegleiteten Minderjährigen herausgegeben. 15 Der Ablauf ist klar geregelt: Ankunft, Altersfeststellung (kein Hinweis auf das Wie, Handwurzelröntgen ist üblich), suchen einer Übergangseinrichtung durch die Sicherheitskräfte, wenn das nicht möglich ist, erfolgt eine Meldung beim bei der Regierung ansässigen Komitee für unbegleitete Minderjährige, beim Jugendgericht und beim Vormundschaftsrichter. Diese sollen den Jugendlichen umgehend in eine so genannte Überbrückungsstrukturen, die im ganzen Land zu finden sind, zuweisen. Wenn dann eine richtige Identifizierung, die (erfolglose) Suche nach Eltern oder anderen Verwandten in Italien, eine medizinische Untersuchung, die über die Kommune laufen, abgeschlossen sind, werden sie in jugendgerechte Einrichtungen verteilt (die über das Komitee gesucht werden). Dort beginnt dann die ganze bürokratische Meldung beim Vormundschaftsgericht etc. Am 13. Juli legt ein Runderlass fest, dass sich die Regionen, ausgeführt durch den Zivilschutz, um die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge kümmert, die einen Asylantrag stellen wollen (wenn sie volljährig sind), das Ministerium unter Forlani hingegen kümmert sich um die unbegleiteten Minderjährigen, die keine Asylanträge stellen wollen. In Gesprächen mit dem Zivilschutz ist deutlich geworden, dass es – zumindest in der Provinz Palermo - keinerlei Zusammenarbeit der beiden Behörden gibt. 15 http://www.lavoro.gov.it/NR/rdonlyres/587ED4F7-DCC7-434C-BE19ECCE5E3CC8E2/0/procedura_collocamento_minori.pdf 12 So steht es auf dem Papier. Was passiert tatsächlich? Seit Jahresbeginn sind laut Save the Children ca. 2200 Jugendliche angekommen, davon sind ca. 10% von Eltern / Verwandten begleitet.16 Terres des Hommes wir auch Save the children kritisieren den Umgang mit den Minderjährigen auf Lampedusa, aber auch in anderen Zentren seit Monaten.17 Leider äußerst sich Save the Children nicht so kritisch, wie es zu wünschen wäre.18 Der Journalist Fabrizio Gatti, der für das Wochenmagazin „Espresso“ schreibt (ähnlich dem deutschen „Spiegel“) hat die letzte Juliwoche 2011 auf Lampedusa verbracht. In Zusammenarbeit mit Terre des Hommes deckt er auf, was dort geschieht (Terre des Hommes hat zwei Mitarbeiterinnen vor Ort, die seit Juni 2011 ein monitoring zu Jugendlichen in den Zentren auf Lampedusa betreiben) . Am 8. September 2011 erscheint der „Espresso“ mit dem Titel „Das Gefängnis der Kinder“. Hier berichtet Gatti von begleiteten wie unbegleiteten Minderjährigen: für jede Windel müssen die Eltern das Personal im Zentrum fragen, Salbe und andere Medikamente, die dringend notwendig wären, gibt es nur in Kleinstmengen und nicht ausreichend. 114 unbegleitete Minderjährige befinden sich Ende August im zweiten Zentrum, der ex-Militärbasis Loran am äußersten Ende der Insel, unter stark strahlenden Antennen, die dort immer noch im Einsatz sind. Die letzten Monate bestätigen das, was auch Gatti recherchiert hat: die unbegleiteten Jugendlichen werden zum Teil über Wochen nicht umverteilt, es kommt zu Protesten. Anfang September bricht erneut eine Revolte im Zentrum Contrada Imbriacola auf Lampedusa aus, wo Erwachsene und Jugendliche gemeinsam (wenn auch zum Teil mit Zäunen getrennt) untergebracht sind. Die Anwältin Alessandra Ballerini, die für die Organisation Terre des Hommes die Situation der Minderjährigen auf Lampedusa als Rechtsberaterin über den Sommer begleitete, berichtet, dass einige unbegleitete Minderjährige bis zu 64 Tagen im Lager festgehalten wurden. Die Behörden erzählenden tunesischen Flüchtlingen immer wieder, man würde sie nach Rom ausfliegen, es handelt sich aber tatsächlich um Abschiebungen. Dadurch kommt es zu Revolten, bei denen auch immer wieder Minderjährige durch Steinwürfe einerseits, durch Schlagstockeinsätze andererseits verletzt werden. In sogenannten Erstauffanglagern wie der Hafenhangar von Pozzallo, Sizilien, oder auch in Asylsuchendenzentren wie Mineo wird die Situation der Minderjährigen als schwierig beschrieben, unter anderem, da sie mit den Erwachsenen zusammen untergebracht sind. 16 http://www.savethechildren.it/IT/Tool/Press/Single?id_press=378 http://siciliamigrants.blogspot.com/2011/07/terre-des-hommes-lampedusa-und-die.html, http://siciliamigrants.blogspot.com/2011/07/revolte-auch-auf-lampedusa.html 18 L’accoglienza temporanea dei minori stranieri dei minori stranieri non accompagnati arrivati via mare a Lampedusa nel contesto dell’emergenza umanitaria Nord Africa, Otkober 2011, http://images.savethechildren.it/IT/f/img_pubblicazioni/img157_b.pdf. Das mag daran liegen, das Save the Children als Projekt im Verbundprojekt PRAESIDIUM (mit dem UNCHR; IOM, Rotes Kreuz) vom Innenministerium bezahlt wurde. Doch der Titel „Zeitweiliger Aufenthalt ungleiteter minderjähriger Ausländer, die über See während des humanitären Notstands Nordafrika nach Lampedusa gekommen sind“ lässt nichts Gutes vermuten – Minderjährige können auch in Italien nicht abgeschoben werden, hier von zeitweiligem Aufenthalt zu sprechen ist missverständlich. 17 13 Ein Problem ist die Findung von Unterbringungsstrukturen für Minderjährige. Bis 2008 hat es vor allem in Sizilien viele Einrichtungen, gute wie schlechte, für unbegleitete Minderjährige gegeben. Mit dem Abkommen Libyen-Italien 2009 sind nur sehr wenige Flüchtlinge nach Italien gekommen. Damit wurden die Einrichtungen zum Teil wohl geschlossen. Doch laut dem Verantwortlichen der Sozialdienste von Agrigento, Sizilien, Dottor Graceffa, ist es mehr als verwunderlich, dass angeblich keine Einrichtungen gefunden werden.19 Agrigento war zuvor eine der Provinzen, die die meisten Jugendlichen aufgenommen hatte (zu dieser Provinz gehört auch Lampedusa), die Einrichtungen könnten sehr wohl wieder aktiviert werden. Auch die Provinz Triest meldet leere vorhandene Einrichtungen.20 Nun kümmert sich jedoch der Zivilschutz um Plätze für die Asylsuchenden, das Arbeits- und Sozialministerium um welche für die Anderen. Der Zivilschutz gibt an, keinerlei Übersicht über die Zentren des Ministeriums zu haben. Zudem gibt es immer noch die Zweitaufnahme für Asylsuchende, auch Jugendliche, die eigentlich von dem dafür zuständigen Zentralkomitee, angesiedelt bei der Regierung, bezahlt werden müssten. Doch nach der Umstellung waren diese Einrichtungen nun seit Monaten auf die Mittel. Der Zivilschutz ist nicht zuständig, das Ministerium angeblich auch nicht, die Kommunen müssen zahlen und können dies oft nicht. Aufgrund dieser Nicht-Zusammenarbeit bleiben Hunderte von unbegleiteten Minderjährigen unauffindbar – man weiß nicht, in welchen Einrichtungen sie gelandet sind und wie viele von ihnen auch von dort geflüchtet sind. In der Provinz Palermo befinden sich mehrere dieser „schnell umfunktionierten“ Unterkünfte für potentielle Asylsuchende und unbegleitete Minderjährige – Landbauernhöfe, Hotels mit nicht ausgebildetem Personal und eine Einrichtung der Caritas, die im September 2011 über 130 Jugendliche zu versorgen hatte, ebenfalls ohne über das dafür geeignete Personal zu verfügen. Da es sich um „Übergangseinrichtungen“ handelt wird den Jugendlichen außer einem Bett über dem Kopf nichts weiter zuteil, niemand kümmert sich um ihren Aufenthalt (da es sich um Übergangsstrukturen handelt, muss das auch nicht geschehen) es gibt keine Kontrollinstanz und es bleibt zu befürchten, dass die meisten Jugendlichen einfach in den Übergangsstrukturen gehalten werden, bis sie volljährig sind. Die Kosten werden laut dem Dekret 3933 übernommen, für unbegleitete Minderjährige, wie schon erwähnt, bis zu 80 €/Tag. Darin sollten Sozialarbeiter, Dolmetscher etc. enthalten sein, wir haben in keiner der Einrichtungen Ähnliches vorgefunden. Ein weiteres Problem stellt sich für die Asylsuchenden Minderjährigen: wenn sie nicht den ganzen bürokratischen Weg über die Meldung beim Jugendgericht, Zuweisung eines Platzes in einer Einrichtung für minderjährige Asylsuchende etc. gegangen sind, haben sie mit der Volljährigkeit keinerlei Rechte mehr und können abgeschoben werden. Da viele der Jugendlichen bei Ankunft 16,17 Jahre alt sind und nichts in den Einrichtungen geschieht, droht eine flächendeckende Abschiebung der jungen Menschen bei Volljährigkeit. 19 Doktor Graceffa auf einer Tagung von Juristen und NGOs in Agrigento, Sizilien am 11.6.2011 Fulvio Vassallo Paleologo, 6.9.2011, MINORI STRANIERI NON ACCOMPAGNATI ANCORA IN STATO DI ABBANDONO – ATTO SECONDO, unveröffentlicht. 20 14 Die Situation der Minderjährigen, speziell der unbegleiteten Minderjährigen ist derzeit mehr als unbefriedigend, eine Besserung ist derzeit nicht abzusehen. Das scheint jedoch auch der Leiter des Zivilschutzes, Franco Gabrielli so zu sehen, die Situation der unbegleiteten Minderjährigen sei ein „Notstand im Notstand“. Mit einem Ministerialdekret vom 26. Juli wird bestimmt, dass das Projekt PRAESIDIUM, zusammengesetzt aus UNHCR, IOM, Save the Children und Rotem Kreuz, die Situation in den neuen Übergangsstrukturen beobachten soll.21 Dennoch bedarf es vor allem einer Zusammenarbeit aller beteiligten Behörden und Organisationen, um die Situation der Flüchtlinge, insbesondere der unbegleiteten Minderjährigen zu verbessern. Regionen wie z.B. Sizilien haben immer noch kein regionales Gesetz zur Migration, das den lokalen Behörden ein weitaus schnelleres und effektiveres Handeln ermöglichen würde. 5. Massive Rechtsbrüche – eine kleine Auswahl kurz gefasst Seenotrettung: In mehreren Fällen ist bekannt geworden, dass Schiffe der NATO, die vor Libyen kreuzten, Flüchtlinge trotz Meldung nicht gerettet haben. Ein Beitrag der Deutschen Welle bringt die Diskussionen der letzten Monate auf den Punkt. Anfang August ist ein mit 370 Menschen besetztes Boot aus Libyen gestartet und havariert. 100 Flüchtlinge verhungern und verdursten: „Überlebende eines vor der libyschen Küste havarierten Bootes hatten vom grauenvollen Tod von rund 100 Flüchtlingen berichtet, die auf See verhungert oder verdurstet seien. Ihre Leichen seien anschließend über Bord geworfen worden. Die Nachrichtenagentur Ansa berichtete, die Regierung in Rom habe die NATO um Unterstützung bei der Rettung der Flüchtlinge gebeten, nachdem ein zypriotischer Schlepper die italienischen Behörden auf das vor der Insel Lampedusa umhertreibende Boot aufmerksam gemacht habe. Ein in 30 Seemeilen Entfernung fahrendes NATO-Kriegsschiff habe jedoch nicht reagiert. Letztlich wurden die überlebenden Flüchtlinge von der italienischen Küstenwache in Sicherheit gebracht. Sie waren am Freitag vergangener Woche östlich von Tripolis aufgebrochen, um den anhaltenden Bürgerkriegswirren in Libyen zu entkommen. An Bord des 20 Meter langen Bootes sollen sich mehr als 300 Menschen befunden haben.“22 Der italienische Außenminister Franco Frattini forderte Aufklärung. Die NATO streitet den Fall nicht ab, betonte aber stattdessen, dass sie doch auch mehrere Flüchtlinge aus Seenot gerettet habe. Die Nichtrettung im Fall von Seenot ist laut den Seerechtskonventionen (wie SAR und SOLAS) unterlassene Hilfeleistung. Massenabschiebungen und Zurückweisungen auf See Die kollektive Abschiebung von tunesischen Flüchtlingen, die keinerlei Chance auf die Stellung eines Asylantrages haben ist rechtswidrig. Laut der Genfer Flüchtlingskonvention hat jeder Mensch das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Ob er dann positiv entschieden wird ist eine andere Frage. 21 22 ebda. http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15299436,00.html 15 Weiterhin sind Abschiebungen mit erzwungenen Unterschriften, die eine freiwillige Ausreise bestätigen, was dem Flüchtling aber aufgrund der nicht vorhandenen Übersetzung nicht klar war, nicht legal. Die Zurückweisungen auf See sind laut einem Abkommen legal, aber laut non-refoulement Gebot nicht. Gewalt gegenüber Flüchtlingen, aber auch Mitarbeitern von Organisationen Jegliche Repression ist natürlich abzulehnen, schreiten die Ordnungskräfte bei Revolten in den Zentren und Abschiebungshaften ein, muss eine Verhältnismäßigkeit gewahrt werden – die Flüchtlinge und Migranten sind UNBEWAFFNET! Dennoch kommt es immer wieder zu massiven Prügeln, die physische wie psychische Verletzungen zur Folge haben. Am 24. August greift ein Mitglied der Ordnungskräfte einen Arzt an, der sich um einen angekommenen Flüchtling auf der Mole im Hafen von Lampedusa kümmert. Eine Weiterbehandlung des verletzten Mannes wird untersagt, dieser wird mit Gewalt von den Ordnungskräften in den Bus gezwungen, der die Flüchtlinge in das Aufnahmezentrum fährt.23 Keinerlei Struktur in der Aufnahme und Unterbringung Anwaltsvereinigungen u.a. kritisieren, es gäbe keinerlei nationale Koordinierung der Unterbringungssysteme, keinerlei Programme für besonders Schutzbedürftige, keine gesicherter Zugang zum Verfahren gebe. Man müsse endlich Programme und eine einheitliche Asylgesetzgebung im Lande schaffen.24 Jugendliche in nicht geeigneten Strukturen und in Haft Jugendliche werden zunehmend in so genannten Übergangsstrukturen „geparkt“, bis sie 18 sind. Das entspricht nicht der Kinderrechtskonvention, die auch Italien unterzeichnet hat. Es gibt keine legale und soziale Versorgung. Die Jugendliche gehören auch in Italien nicht in Haft. Die Zentren auf Lampedusa sind faktisch Haftanstalten25, teils bis zu 64 Tagen dort festgehalten. Es gab den Versuch einiger Strukturen, die Eltern das Sorgerecht zu entziehen, denn ein unbegleitetes minderjähriges Kind schafft eine größere Verdienstmöglichkeit, noch mehr verdienen kann man mit Adoptionsvermittlung. Immer wieder verlassen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge die Strukturen und machen sich allein auf den Weg. Ein neuer Runderlass vom Oktober 2011 besagt, dass in Obhut oder unter Vormundschaft genommene Minderjährige sowie diejenigen, die weniger als zwei Jahre im Lande sind, erst Aufenthaltsgenehmigung im Alter von 18 Jahren erhalten, wenn die 23 http://siciliamigranti.blogspot.com/2011/08/abuso-di-potere-lampedusa-chi-tace.html Il diritto alla protezione, studio sullo stato del sistema di asilo in Italia e proposte per una sua evoluzione, ASGI, noch unveröffentlichter Vorabdruck, August 2011 25 Das besagt auch der neue Bericht des Europäischen Rates vom 30.9.2011 nach einem Bescuh auf Lampedusa: http://assembly.coe.int/CommitteeDocs/2011/amahlarg03_REV2_2011.pdf 24 16 Zentralkommission für Minderjährige dem zugestimmt hat.26 Das richtet sich vor allem gegen tunesische Minderjährige, die in den meisten Fällen keine Zustimmung erhalten werden. Keine Haft ohne Beschluss eines Friedensrichters Auch Erwachsene dürfen nicht ohne Haftbeschluss einfach in den Zentren auf Lampedusa oder in Abschiebungshaftzentren festgehalten werden. Das geschieht jedoch immer wieder, vor allem bei Flüchtlingen aus dem Maghreb. Rechtsanwälte haben oftmals keinen Zugang zu den Klienten In den letzten Monaten ist es immer wieder vorgekommen, dass Rechtsanwälte keinen Zugang zu ihren Klienten hatten. Das betrifft vor allem die neuen Einrichtungen wie Übergangsstrukturen an Häfen oder neue Haftanstalten. Selbst als ein Anwalt das Gespräch mit der zuständigen Präfektur sucht weigert sich der Präfekt, ihm mitzuteilen, wohin man seinen Klienten gebracht hat. Besonders perfide in diesem Fall: der Klient hat ein Schengenvisum und keiner in der Ausländerbehörde will es gewusst haben. Keine freie Anwaltswahl Großzentren wie das neu eingerichtete Mineo auf Sizilien ermöglichen den Flüchtlingen keinerlei freie Wahl eines Anwalts – sie können aufgrund der Lage nicht einmal in die nächste größere Stadt fahren und sich informieren. Gäbe es keine NGOs, die Rechtsberatung vor Ort anbieten, wären sie allein auf die „Freunde der Freunde“ angewiesen, die man ihnen im Zentrum nennt. Kein Zugang für Presse und Flüchtlingsorganisationen in Flüchtlings- und Abschiebungszentren Der Erlass 1305 vom 1. April 2011 entspricht nicht der Pressefreiheit und der Transparenz, die in der Flüchtlingsunterbringung notwendig ist. Zuvor konnten Anträge für einen Besuch bei den Präfekturen gestellt werden, inzwischen sind Hilfe und Informationsvermittlung faktisch unmöglich. Mangelhafte ärztliche Versorgung Immer wieder klagen Flüchtlinge über mangelnde ärztliche Versorgung. Ärzte ohne Grenzen und Emergency, die ihre Mitarbeit auch in den neuen Zentren angeboten haben, sind nicht zugelassen worden. Frauen, die auf Lampedusa angekommen und dann aufgrund ihrer Schwangerschaft nach Palermo geflogen wurden, sind von der Polizei rund um die Uhr bewacht worden, Dolmetscher gab es fast nie. Einige hatten Telefonkarten auf Lampedusa bekommen, um zumindest kurz zu Hause anzurufen (und so sieht die Konvention auch vor), andere nicht. Niemand spricht mit ihnen, viele sind sehr besorgt um ihre Ehemänner, doch niemand hilft ihnen.27 Der Zivilschutz hätte sie als Asylsuchende schon im Krankenhaus registrieren und ihnen 26 27 Runderlass des italienischen Innenministeriums vom 10.10.2011, 400/1/2011/12.214/32 http://siciliamigrants.blogspot.com/2011/06/man-nennt-sie-lampedusanerinnen.html 17 eine Unterkunft suchen müssen. Das ist nicht geschehen, und diese Frauen sowie ihre Neugeborenen erhielten aufgrund der nicht erfolgten Registrierung keine Unterkunft. Das hat sich aufgrund der Anzeige durch das Antirassistische Forum Palermo zum Glück geändert. Last but not least Italien lebt und liebt den Notstand, da er die Türen zu allem öffnet, was man nicht auf Dauer regeln kann oder aber nicht im Sinne des Flüchtlings regeln möchte. Schluss mit der Notstandsgesetzgebung! Die neuesten Ereignisse im September 2011 Freispruch im Berufungsverfahren für die tunesischen Fischer Über vier Jahre hat das Verfahren gedauert. Am 8.8.2011 hatten die beiden tunesischen Kapitäne Abdelbasset Zenzeri und Abdelkarim Bayoudh 44 Migranten aus Seenot gerettet und wurden, da sie diese ins nächstgelegene Lampedusa gebracht hatten, verhaftet. Ein Prozess folgte, sie wurden in erster Instanz vom Gericht in Agrigento wegen Widerstand gegen ein Kriegsschiff zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Der weitaus schwerwiegendere Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise wurden fallengelassen. Am 21.September tagte das Berufungsgericht in Palermo. In seinem Plädoyer sprach sich Staatsanwalt Umberto De Giglio für einen Freispruch der beiden Kapitäne aus. Es sei unverständlich, warum das Gericht in Agrigento die beiden von dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise freigesprochen, den damit zusammenhängenden Vorwurf des Widerstandes aber beibehalten habe. Stattdessen sprach das Appellationsgericht, 3. Sektion, die Fischer von allen Vorwürfen frei, da die Tat der Seenotrettung keinen Straftatbestand, sondern eine Notwendigkeit darstelle. Die Anwälte Leonardo Marino und Giacomo La Russa zeigten sich erleichtert, vier Jahre Arbeit, keinerlei Honorar, nun endlich sei Gerechtigkeit gesprochen http://siciliamigranti.blogspot.com/2011/09/dopo-quattro-anni-di-processo.html, europe.de/news/news.php?news_id=115, worden. http://www.borderline- http://ilmr.de/2011/pressemitteilung-%E2%80%93-langst- falliger-freispruch-der-tunesischen-lebensretter, Brand auf Lampedusa: Auffanglager zerstört - Schwimmende Gefängnisse in Palermo Wieder einmal brennt das Auffanglager auf Lampedusa. Dieses Mal wird nicht nur ein Block zerstört, wie im Jahr 2009, sondern große Teile des Zentrums werden unbewohnbar. Vier Tunesier werden als Rädelsführer verhaftet, sicher ist jedoch immer noch nicht, was genau geschehen ist. Hintergrund der Proteste sind die langen Haftzeiten ohne Haftverfügungen. Einige der Tunesier saßen schon seit Wochen im Zentrum fest, ohne dass man sie über den weiteren Verlauf informiert hätte. Ca. 1300 Menschen wurden vor dem Brand hier gefangen gehalten, obwohl es sich um eine Erstaufnahmelager und keine Haft handelt. Der UNHCR, so deren Sprecherin Laura Boldrini, habe die Regierung zudem mehrfach darauf aufmerksam 18 gemacht, dass das Lager überbelegt sei. Aufgrund des Brandes müssen die Migranten das Lager verlassen, einige versammeln sich auf der Mole am Hafen, andere auf dem Sportplatz. Alles verläuft ausgesprochen ruhig, die Tunesier schreiben Transparente, auf denen zu lesen ist: „Freiheit“ und „Entschuldigung Lampedusa“. Doch es kommt zu Ausschreitungen. Eine kleine Gruppe Tunesier versammelt sich, nachdem sie von Landleuten von deren Abschiebung erfahren hat, um eine Tankstelle, einige sollen angeblich gedroht haben, einige Gasflaschen in der Nähe der Tankstelle in die Luft jagen zu wollen, wenn man sie abschieben wolle. Teile der lampedusanischen Bevölkerung übernehmen die Arbeit der Polizei, bevor auch diese schließlich eingreift und gemeinsam mit den „Bürgerwehren“ auf die unbewaffneten tunesischen Flüchtlinge einschlägt. Sie werden zudem nach Zeugenaussagen bespuckt, getreten, beschimpft. Doch die Wut der Lampedusaner trifft nicht nur die Flüchtlinge, auch Mitarbeiter von humanitären Organisationen wurden bedroht. Francesca Materozzi, die für die Vereinigung ARCI knapp drei Monate lang auf der Insel war und Zugang zum Lager hatte, berichtet borderline-europe, dass sie das Haus nicht mehr verlassen kann. Alexandre Georges, ein Frankokanadier, der seit einigen Monaten auf der Insel lebt und dort sein humanitäres Projekt „Kayak für das Recht auf Leben“ durchführt, wird am helllichten Tag angegriffen und mit einer leeren Bierflasche bedroht, bespuckt und geschubst. Der Fotoreporter Alessio Genovese, für das Monitoring-Projekt der evangelischen Kirche im Rheinland/Borderline Sicilia/borderline-europe 10 Tage auf Lampedusa, zeigt die Situation auf einigen seiner Fotos: http://fortresseurope.blogspot.com/2011/09/scusa-lampedusa.html Hier eine Videoaufnahme des Polizeieinsatzes: http://fortresseurope.blogspot.com/2011/09/alessio-genovese-da-lampedusa.html Die Insel wird innerhalb von wenigen Tagen von Migranten „befreit“ – plötzlich ist es möglich, die Flüchtlinge zu verlegen, auch die ca. 100 Minderjährigen, die sich zum Teil in der Loran-Basis befanden. Seit dem 26.9.2011 sind die Zentren definitiv leer. Die unbegleiteten Minderjährigen werden angeblich in für sie bestimmte Einrichtungen gebracht (meist Übergangseinrichtungen, in denen sie eigentlich nur wenige Tage bleiben sollten, was faktisch aber nicht geschieht), die Tunesier hingegen, auch die 75, die in diesen Tagen in Richtung Lampedusa unterwegs sind und sofort nach Porto Empedocle umgeleitet werden, werden auf drei Fähren der Gesellschaften Moby Lines und Grimaldi verbracht. Diese erreicht am 23.9. den Hafen von Palermo, an Bord 650-700 Tunesier sowie wahrscheinlich auch Marokkaner und Libyer. Rechtsanwälten und Menschenrechtsorganisationen wird der Zugang verwehrt. Seit dem 23.9. protestieren Menschenrechtsgruppen täglich am hochgesicherten Hafen gegen diese schwimmenden Gefängnisse. Das Innenministerium ordnete die Verlegung an eine weit außerhalb gelegene Mole an, die nicht mehr so leicht erreichbar ist. Doch die Fotos, die am ersten Abend gemacht werden können, sprechen für sich: Tunesier zeigen sich mit Handschellen am Fenster. Angeblich sind sie alle freiwillig an Bord gegangen. http://fortresseurope.blogspot.com/2011/09/le-fascette.html Der Videofilmer Enrico Montalbano filmt die ersten Deportationen am 24.9. von der „Moby 19 Vincent“: http://www.youtube.com/watch?v=5qVtpNSTrKc&feature=share Die Moby Fantasy verlässt am Wochenende den Hafen und brachte 221 Migranten nach Sardinien ins Lager Elmas. Was nun mit ihnen passiert ist ungewiss. Am 25.9. besucht der Abgeordnete Tonino Russo von der Demokratischen Partei beide Schiffe und berichtet öffentlich, alles sei bestens, sie „schlafen in den Kabinen“, vielleicht sei die Freiheitsberaubung nicht ganz legal, fügt er ganz am Ende an. Am darauffolgenden Tag besuchen die Abgeordneten Alessandra Siragusa und Pino Apprendi, ebenfalls Demokratische Partei, die Schiffe – ihr Bericht fällt jedoch ganz anders aus: inhumane Zustände, alle müssen sich in einem großen Saal aufhalten (Moby Vincent) bzw. in zwei kleinen (Audacia). Keine Duschen, keine Kabine, Laken auf dem Boden. Keine Information, keine Haftbeschlüsse. Unter ihnen fünf Minderjährige und eine schwangere Frau. Eine Gruppe von Bürgern, darunter auch eine Vertreterin von borderline-europe und Borderline Sicilia, reichen am 27.9. einen Untersuchungsantrag bei der Staatsanwaltschaft Palermo ein. Diese eröffnet sofort ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Haft. Die Moby Vincent mit nunmehr 120 verbliebenen unfreiwilligen Passagieren läuft noch am selben Nachmittag von Palermo aus und bringt ihre menschliche Fracht in den südsizilianischen Hafen Porto Empedocle, unangenehm bekannt durch den Fall der Cap Anamur vor sieben Jahren, die an der selben Mole lag. Die Abgeordnete Siragusa meldete das Gesehene sofort in Rom, der damalige Innenminister Maroni jedoch widerspricht ihr – das stimme alles nicht. In Porto Empedocle erhalten weder der UNHCR noch Save the children Informationen über den Verbleib der Migranten, vier der unbegleiteten Minderjährigen sollen sich hier an Bord befinden. Im laufe des nächsten Tages werden die Passagiere allesamt in Busse verfrachtet, nach Palermo zurückgebracht und von hier nach Tunesien abgeschoben. In Lampedusa sind seither keine Ankünfte zu verzeichnen (oder es wird nicht darüber berichtet), das Lager ist leer. Die Route in das südliche Libyen (über Niger und Sudan) sind durch Kämpfe versperrt, im Norden Libyens gibt es derzeit niemanden, der die Abfahrten organisiert. Statistik Das Innenministerium hat am 12.9.2011 ein außerplanmäßiges Rückführungsabkommen über drei Wochen mit der tunesischen Regierung abgeschlossen. Bis zum 8.10.11 werden daraufhin 1.490 Tunesier abgeschoben, die gesamten Anzahl der Abschiebung nach Tunesien beträgt laut Pressemeldungen vom 28.4.-14.11.2011 3.380, die Zahl der gesamtem Abschiebungen (seit Jahresbeginn bis zum 27.9.2011) 16.566.28 28 http://www.interno.it/mininterno/export/sites/default/it/sezioni/sala_stampa/notizie/immigrazione/00000 70_2011_09_29_informativa_Viale_al_Senato.html, Assabah 18.11.2011 [http://www.assabah.com.tn/pdf/1321607487_1.pdf] 20 Laut des tunesischen Konsulats in Palermo haben 13.000 Tunesier Aufenthaltspapiere erhalten, 7000 nicht (andere Quellen nennen andere Zahlen, es sind auch mehr als 20.000 in 2011 angelandet). 859 Tunesier seien ertrunken/gestorben, 120 verschwunden. 29 Ca. 11.800 Tunesier werden im Laufe des Oktober 2011 ihren sechsmonatigen Aufenthalt verlieren, wenn sie keine Arbeit nachweisen können.30 Doch der Notstand ist nach einem Dekret vom 6.10.2011 noch einmal bis zum 31.12.2012 verlängert worden, damit sind auch die Aufenthaltserlaubnisse verlängerbar. Die aktuelle Asylstatistik findet sich hier: http://www.cir-onlus.org/eurostat%20primo%20trimestre %202011.htm. Demnach haben bis Ende September 3.985 Flüchtlinge Asyl beantragt ( im Vergleich dazu 2010: 2.720). Die meisten Asylanträge wurden von Tunesiern gestellt: 2.165, gefolgt von Afghanen (250), Pakistanern (230) , Nigerianern (225) und Türken (215).31 Gemeinsame Standards in der EU beim Flüchtlingsschutz – eine Fiktion ?! Nach den Ereignissen in Italien im Jahre 2011, und spätestens hier, muss deutlich werden, dass eine europäische Flüchtlingspolitik weit entfernt von gemeinsamen Standards ist! Jedes Land hat weiterhin seine eigenen Rechte und seine eigenen Zonen der Rechtlosigkeit. Eine gemeinsam Ebene ist außer in der Abschottungsfrage kaum erkennbar. 29 Assabah 18.11.2011 [http://www.assabah.com.tn/pdf/1321607487_1.pdf] http://www.nachrichten.at/nachrichten/weltspiegel/art17,730734 31 http://www.programmaintegra.it/modules/news/article.php?storyid=6024, 5.8.2011: am 5.8. zählte man 51.881 Ankünfte, allein am 14.8. sind weitere 2000 angelandet. Angeblich, laut diversen Presseberichten, sind bisher (Stand Ende August) ca. 57.000 Flüchtlinge auf Lampedusa angekommen. 30 21