Weiße Muschel aus Stahl und Beton

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Weiße Muschel aus Stahl und Beton
Arena-Porträt
Blick vom CN Tower auf den Dome beim Baseball. Die Markierungen auf dem Spielfeld verraten die Lage des Football-Feldes.
Foto: Christoph-Erik Mayer
Weiße Muschel aus Stahl und Beton
Der Bau des SkyDome in Toronto begründete eine neue Generation flexibler Domes.
A
uf den ersten Blick wirkt die Skyline von Toronto eher unspektakulär, für nordamerikanische
Verhältnisse jedenfalls. Graue Hochhäuser dominieren das Stadtbild. Doch auf
den zweiten Blick offenbaren sich Besonderheiten. So etwa ein riesiges weißes,
muschelartiges Gebilde zu Füßen des
CN Tower. Dieser ist mit 553,33 Metern
Höhe eines der höchsten Gebäude der
Welt - und lässt die Dimensionen des
Nachbarn etwas kleiner erscheinen, als
sie tatsächlich sind. Das jüngst in „Rogers Centre“ umbenannte Gebäude war
als „SkyDome“ Vorläufer einer ganzen
Generation von multifunktionalen Arenen mit variablem Dach und zumindest
für eine Weile selbst nur mit Superlativen
hinlänglich beschrieben.
Bei seiner Eröffnung im Jahre 1989
galt der Bau als futuristisch und war eine
weltweite Sensation. Inzwischen hat man
sich an gigantische Domes aller Art gewöhnt, doch seinen Platz in der Historie
hat der SkyDome sicher.
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Dessen Entstehungsgeschichte beginnt Ende der sechziger Jahre, als in
Toronto das Vorhaben, ein professionelles Baseball-Team in die Stadt zu holen,
Gestalt annahm. Die Liga allerdings antwortete lapidar: „First, get a decent stadium, then we will see about a team“. So
funktionierte das damals und eigentlich
noch immer: Zuerst muss die „Kandidatenstadt“ ein passendes Stadion präsentieren, erst dann macht sich die Leitung
der Liga Gedanken über eine eventuelle
Lizenzvergabe an ein neues Team.
Die Toronto Argonauts, das Football
Team der Canadian Football League
(CFL), bestand seinerzeit schon und
konnte einen reichen Erfahrungsschatz
bezüglich unzähliger Schlammschlachten im zugigen Exhibition Stadium erzählen, eine Stätte, über die Toronto seit
1879 verfügte.
1976 dann bekam die größte Stadt Kanadas ein Baseball-Team, die Blue Jays,
die ihre Heimspiele ebenfalls im „Ex“
austrugen. Nach Jahren der „Rain Outs“
(Spielausfällen wegen Regens) war klar,
dass Toronto dringend einen zeitgemäßen Schauplatz für beide Teams brauchte
- und für eine Metropole mit über vier
Millionen Einwohnern wäre dieser allemal standesgemäß. Zum Beginn der
Baseballsaison 1988 sollte das Projekt
realisiert sein. Einige Lokalpolitiker
mahnten, die Anziehungskraft des Publikumsmagneten solle im Sinne der Belebung des Stadtzentrums wirken, anstatt
Einheimische und besonders auch Touristen in Konsumlaune von dort wegzulocken. Aus den USA gab es einige Beispiele für Stadien auf der „grünen Wiese“ und
verlassenen Stadtzentren. So wählte man
schließlich das Gelände am CN Tower,
auf dem die kanadische Metropole fortan
gleich zwei Top-Attraktionen präsentieren konnte.
Vier Modelle standen am 12. Dezember 1985 in der Endauswahl. Das Modell
des Architekten Rod Robbie machte das
Rennen, das Budget von 175 Millionen
can. Dollar entsprach exakt der Vorgabe.
Stadionwelt 03/2005
Arena-Porträt
Foto: Rössel
Weißer Riese
Ausschlaggebend für die Entscheidung
war allerdings, dass 100 Prozent des
Spielfeldes und 91 Prozent der Sitzplätze
wahlweise überdacht oder unüberdacht
genutzt werden konnten.
Damit ergaben sich völlig neue, bisher nicht gekannte Möglichkeiten für
die Hometeams: Zum einen kamen die
Zuschauer bei entsprechend günstiger
Wetterlage in den Genuss beliebter Freiluftveranstaltungen, zum anderen wurde
mehr als eine Option für stürmische Tage
und die harten kanadischen Winter geschaffen.
Die beiden Teams unter einem Dach
unterzubringen, stellte keine exorbitante
logistische Herausforderung dar, zumal
die Planer auf Anschauungsmaterial und
Erfahrungsberichte zurückgreifen konnten. Bereits seit 1965 war ein vergleichbares Betriebskonzept im AstroDome in
Houston (Texas) erfolgreich praktiziert
worden.
Alle Varianten möglich
Foto: Rössel
Bei Bedarf werden die Tribünen auf eine andere Position gerollt.
Stadionwelt 03/2005
Foto: Rössel
Foto: Rössel
So kann das Rechteck des FootballFeldes mühelos in ein baseballtaugliches
„V“ umgewandelt werden. Zwei Tribünen-Anordnungen im Unterrang mit jeweils 9.000 Plätzen, allesamt auf Rollen,
können die Betreiber beliebig hin und
her schieben und somit schnell den sich
teils täglich wechselnden Anforderungen anpassen. Der Pitchers Mount, also
der kleine Hügel, von dem der Pitcher
(Werfer) seine „Ball-Geschosse“ abfeuert, wird bei Bedarf mittels einer WasserHydraulik im Handumdrehen auf- und
abgepumpt. Den Spielfeldbelag, den so
genannten „Astroturf“, den beide Teams
verwenden, kann eine Crew aus dreißig
Arbeitern innerhalb von zwölf bis vierzehn Stunden verlegen.
Außer den 81 garantierten SaisonHeimspielen der Blue Jays (zuzüglich
eventueller Playoffs) und der Hand voll
Football Matches bestehen nicht enden
wollende Möglichkeiten, das Terrain für
jede nur erdenkliche Veranstaltung zu
nutzen. Für die Zuschauerränge existieren
Dutzende von Kongurations-Schemen,
die sich mühelos und schnell umsetzen
lassen. Eine kurzfristige Indoor-Leichtathletik-Veranstaltung? Phil Collins auf
Welttournee? Die Wrestler in town? Eine
Ausstellung mit fünfzig Heißluftballons?
Michael Jordan mit den Chicago Bulls zu
Gast? Europäische Fussballklubs in Nordamerika unterwegs auf dem Weg zu neuen Käuferschichten? Eine Convention mit
10.000 Teilnehmern? Oder ist etwa die
Eishockeyhalle für die heimischen Maple
Leafs zu klein geworden? Kein Problem,
auf all diese Wünsche hat das Rogers
Centre die passende Antwort, kann �
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Arena-Porträt
das maßgeschneiderte „Venue“ aus dem
Ärmel schütteln. Bis hin zur geschlossenen Gesellschaft im kleineren Kreis und
abgehängten Rängen.
Bei einer Veranstaltungsstätte dieser
Kategorie versteht es sich, dass man von
diversen Restaurants und Bars, darunter dem Hard Rock Café, das Geschehen
genüsslich verfolgen und es sich dabei
kulinarisch gut gehen lassen kann. Und
vom anliegenden Hotel mit 350 Zimmern bieten immerhin 70 eine direkte
Sicht auf das Spielfeld – und gelegentlich auch umgekehrt, was in einigen
ganz pikanten Situationen schon zur Erheiterung des Publikums führte…
Straffe „Dachorganisation“
Im Rogers Centre sind technische Ranessen en masse verarbeitet. Hauptattraktion ist seit jeher aber das Dach.
Vom Spielfeld aus gesehen, bendet sich
dessen Scheitelpunkt in einer Schwindel
erregenden Höhe von fast 100 Metern.
Um für eine gute Akustik zu sorgen,
stattete man das Dach mit einer klangabsorbierenden Metallschale aus. Die helle
Farbgebung des Daches stammt von einer dünnen, als Wind- und Wetter-Dämmung angebrachten PVC-Membran.
Die Gesamtkonstruktion setzt sich
aus vier einzelnen, voneinander un-
abhängigen Panels zusammen. Panel
Nummer 4 (1.679 Tonnen) bildet dabei
einen starren, unbeweglichen Fixpunkt
und hat, wie auch Panel 1 (2.193 t), die
Form eines Halbkreises. Die Panels 1 – 3
fahren auf insgesamt 54 achtachsigen
„Bogies“ (das sind kleine Wagen auf
robusten Stahlrollen, die auf den ersten
Blick an die Gespanne einer Gespensterbahn erinnern) auf der obersten Stadionmauer. Panel Nummer 1 bewegt sich
kreisförmig im Uhrzeigersinn um 180
Grad in Richtung Panel 4, die Panels 2
(3.058 t) und 3 (2.658 t), die jeweils die
Form eines Rechtecks haben, werden
dagegen geradeaus nach hinten über
Panel 4 geschoben. Panel 1 schiebt sich
am Ende seines gezogenen Halbkreises
zwischen die Panels 2 und 4.
Wer die nüchterne Beschreibung des
gleichsam wuchtigen wie gleitenden
Vorgangs schwer nachvollziehen kann,
kommt bei einem Toronto-Aufenthalt
mit etwas Glück in den Genuss der LiveDemonstration. Das Technik-Event dauert 20 Minuten, gehört jedoch nicht zum
Standardprogramm der „Rogers Centre
Tour Experiece“, die man sich zum Preis
von 12,50 Dollar gönnen kann.
Im April 2001 ereignete sich allerdings
eine Panne. Bei einem Routine-Test des
Daches kollidierten zwei der drei beweglichen Panels, und Einzelteile elen auf
das Spielfeld. Die Spieler der Kansas City
Chiefs, gerade bei der „Batting Practice“,
kamen mit einem gehörigen Schrecken
davon, doch die anstehende Partie musste abgesagt werden.
Im Großen und Ganzen aber hat man
die zwischen Himmel und Spielfeld waltenden Kräfte im Griff. Dass dies nur auf
einer ausgesprochen soliden Basis möglich ist, versteht sich: Das Skelett des
Stadions besteht aus 48 Rippen. Zusätzlich wurden die Fundamente mit tief in
die Erde ragenden Ankern abgesichert.
Die Träger der Nordseite des Gebäudes
benötigen den größten Halt, da dort alle
vier Panels verstaut werden, wenn das
Dach komplett geöffnet ist. Durch das
einseitige Gewicht dieser beiden zusätzlichen „Klötze“ wirken solch starke
Kräfte, dass das Gebäude ohne die in die
Erde gebohrten Steinanker regelrecht
umkippen würde.
Darauf, dass dies niemals geschehen
wird, vertraut TelekommunikationsMogul und Besitzer der Toronto Blue
Jays Ted Rogers. Ob seine KonzernStrategie sich als ebenso nachhaltig
erweisen wird wie die Tragwerkskonzeption, erweist sich in der Zukunft. Jedenfalls gab Rogers am 2. Februar 2005
den Erwerb der Namensrechte am ExSky-Dome und fortan „Rogers Centre“
bekannt. ��Steffen Rössel
Daten und Fakten Toronto SkyDome / Rogers Centre
Baubeginn: 03.10.1986
Bauzeit: 32 Monate
Eröffnung: 03.06.1989
Architekten: Rod Robbie & Michael Allen
Ausführendes Bauunternehmen:
Ellis-Don Construction
Internet: www.rogerscentre.com
Höchster Punkt vom Spielfeld zum Dach:
91,25 m (entspricht der Höhe eines
31-stöckigen Gebäudes)
Höhe der Nordwand: 22,40 m
Höhe der Ost- u. Westwand: 40,35 m
Höhe der Südwand: 30,80 m
Diese scheinbar „schiefen“ Daten resultieren aus den anliegenden Straßen und
Plätzen, die sich auf unterschiedlicher
Höhe befinden.
Beton: 11.0000 m³
Stahl: 15.400 Tonnen
Zeitgleich eingesetzte Kräne: 13
„prestressing strands“: 770 Tonnen
„formwork“: 325.000 m²
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Gewicht des SkyDome: 315.000 Tonnen
Gesamtgewicht der Dachkonstruktion:
9.588 Tonnen
Gewicht der 4 Panels: 7.909 Tonnen
Dachfläche: 3,2 Hektar
Anzahl der rostresistenten, mit Bienenwachs versehenen Schrauben, die für die
Dachpanels verwendet wurden: knapp
150.000
Geschwindigkeit beim Öffnen/Schließen
des Daches: 71 feet pro Minute
Kapazität gesamt: 65.673
Kap. Baseball: 51.517
Kap. Football: 53.506
Kap. Basketball: 37.000
Kap. Konzerte: 10.000 – 55.000
Größe des Videoboards: 10 x 35 Meter,
420.000 Glühbirnen
Kosten des SkyDome Komplexes inkl.
Hotel, Infrastruktur etc.: 580 Mio. can.
Dollar, davon Kosten für den SkyDome
„only“ 175 Mio. can. Dollar
Bodenbelag: AstroTurf-8 (1989),
FieldTurf (2005)
Heimvereine
Toronto Blue Jays (Baseball)
Toronto Argonauts (Football)
Gesamtfläche des SkyDome Komplexes:
5,14 Hektar
Gesamtvolumen mit geschlossenem
Dach: 1,6 Mio. m³
Durchmesser des Gebäudes: 674 feet
Anzahl der bisherigen Events: über 2.000
Anzahl der Events im Jahr 1997: 302
Anzahl der bisherigen Besucher:
über 50 Mio.
Mobile Tribünen
Foto: Rössel
Stadionwelt 03/2005

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