Matthäus 5,17-20

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Matthäus 5,17-20
ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
Jesus – ein Reformator?
Predigt von Pfarrer Ralph Müller
gehalten am 3. November 2013
Schriftlesung: Genesis 12,1-7
Predigttext: Matthäus 5,17-20
„Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten
aufzulösen. Nicht um aufzulösen, bin ich gekommen, sondern um
zu erfüllen. Denn, amen, ich sage euch: bis Himmel und Erde vergehen, soll vom Gesetz nicht ein einziges Jota oder ein einziges
Häkchen vergehen, bis alles geschieht. Wer also auch nur eines
dieser Gebote auflöst, und sei es das kleinste, und die Menschen
so lehrt, der wird der Geringste sein im Himmelreich. Wer aber
tut, was das Gebot verlangt, und so lehrt, der wird gross sein im
Himmelreich. Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die
der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, werdet ihr
nicht ins Himmelreich hineinkommen.“
Liebe Gemeinde
Es ist eine Bibelstelle aus der Bergpredigt, die Sie bestimmt kennen. Sie ist alles andere als einfach! Jesus sagt: „Wer also auch
nur eines dieser Gebote auflöst, und sei es das kleinste, und die
Menschen so lehrt, der wird der Geringste sein im Himmelreich.“
Mit eigenen Worten heisst dies: Wenn man eines der Gebote auflöst, und sei es das kleinste, wird man trotzdem in den Himmel
kommen, aber dort nur eine geringe Rolle spielen. Am Schluss
sagt Jesus aber noch etwas ganz anderes: „Denn ich sage euch:
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Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer
nicht weit übertrifft, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.“ In eigenen Worten: Man kann vom Gesetz kleine Dinge
weglassen oder auflösen und kommt trotzdem noch ins Himmelreich. Aber übertrifft man die Gerechtigkeit der religiösen Obrigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten nicht, kommt man gar nicht
in den Himmel.
Wie sollen wir diesen schwierigen Bibeltext verstehen? Und was
hat er mit der Reformation zu tun? Um besser zu verstehen, warum die Reformation vor 500 Jahren vorangetrieben worden ist,
müssen wir das Verhalten der kirchlichen Obrigkeit von damals
gut anschauen. Es gibt eine dokumentierte Begebenheit, die sich
als gutes Beispiel eignet: Am Abend des 7. Oktobers 1517 sassen
in der Trinkstube „Die Zürcher Schiffleute-Zunft“ einige Leute
beieinander. Nur ein Jahr später wurde Zwingli ans Grossmünster
gewählt. Damals gab es noch kein Kino, keinen Fernseher oder
Verein, deshalb sassen die Leute am Abend entweder zu Hause
oder in den Wirtshäusern. Es wurde Karten gespielt und viel getrunken. In den Wirtshäusern sassen vor allem Männer und reiche
Söldner. Diese bekamen für ihre Dienste viel Geld, das dann in
den Wirtshäusern ausgegeben und vertrunken wurde.
Am 7. Oktober entbrannte im Wirtshaus eine hitzige Debatte. Dabei gerieten Hans Götz, von Beruf Seiler und Hans Klinger, ein
Geistlicher, aneinander. Klinger war Kaplan; ein Priester, der am
Spital arbeitete. Dieser Geistliche zückte das Schwert und erstach
den Seiler Hans Götz. Was damals passierte, ist schlimm. Was
aber danach noch weiter geschah, finde ich noch viel schlimmer.
Der zuständige Bischof von Konstanz hatte kurz zuvor die Geistlichen von Zürich aufgefordert, nicht so viel Karten zu spielen und
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in den Wirtshäusern zu sitzen. Aber das kümmerte die Obrigkeit
wenig! Im Gegenteil: Nach dem Totschlag zog sich der Geistliche
Hans Klinger zurück, fand Zuflucht im Kloster Einsiedeln und
entging somit dem Aufruhr, der durch die Bevölkerung ging. Der
päpstliche Legat Antonio Pucci erteilte Klinger sogar noch die
Absolution für seine Tat. Dieses Sittenbild hat die Reformation
weiter vorangetrieben. Die Menschen waren mit dem Verhalten
der Obrigkeit nicht einverstanden und unzufrieden. Die Familie
von Hans Götz ging bis 1518 vor weltliche Gerichte, gelangte an
den Rat und den Bischof von Konstanz und verlangte für diesen
Totschlag Gerechtigkeit. Doch man schenkte den Leuten kein Gehör. Das waren Dinge, die in der Bevölkerung grossen Unmut auslöste. Wir können das verstehen.
Ich fand es gestern am Radio auch sehr irritierend zu hören, dass
der deutsche Bischof Herbatz-van Elst von Limburg wieder in sein
Amt zurück möchte, da er zur Versöhnung bereit sei. Er hat 31
Millionen Euro verbaut, und darüber sind die Leute verständlicherweise entsetzt. Versöhnung und Vergebung ist eine Christenpflicht. Wir müssen uns immer wieder versöhnen und Gott immer
wieder um Vergebung bitten. Aber so einfach ist es nicht, vor allem wenn man nicht spürt, dass eine tiefe Einsicht und ein Wille
zur Veränderung da ist.
Somit schlage ich den Bogen zu unserem Wort, das wir heute
schon gehört haben: „Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, das
Gesetz aufzuheben.“ Ich möchte es in den Rahmen der damaligen
Zeit stellen. Damals gab es viele Vorschriften und Kirchengesetze.
Dieser katholische Geistliche hatte das Recht, dem Kaplan eine
Absolution zu erteilen und ihn als nicht schuldig zu erklären. Das
war in einem umfassenden Kirchengesetz festgehalten. Wie geht
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man mit diesem Gesetz um? Diese Frage stellten sich auch die
Reformatoren vor 500 Jahren. Die Reformatoren nahmen die Bibel
und haben sie gelesen. Es gibt Quellen und Dokumente, die besagen, dass früher die Geistlichkeit die Bibel gar nicht so gelesen
hat. Man folgte mehr den Kirchengesetzen, anstelle der Heiligen
Schrift. Es ist der Verdienst und die Erkenntnis der Reformatoren,
dass heute die Schrift gelesen und studiert wird. So hat Luther als
Mönch begonnen, die Bibel zu studieren. Daraus erhielt er eine
neue Kraft und eine neue Sicht für alles. Ich bin sicher, dass Luther auch über diese Bibelstelle gestolpert ist: „Glaubt nicht, dass
ich gekommen bin, das Gesetz aufzuheben.“
Was heisst das? Was das Gesetz − die Thora − ist, versteht man
am besten mit einer kleinen Anekdote. Ich habe sie in den Predigten von Pfarrer Klaus Guggisberg ein paar Mal gehört: Kinder
spielen in einem Hof, der von einer riesigen Mauer umgeben war.
Die Kinder waren glücklich in diesem Hof. Bis ein Kind auf die
Idee kam, zu fragen, was hinter dieser Mauer sei. Ein anderes sagte: Diese Mauer stört und wir können nicht dahinter schauen. Wir
wollen unsere Freiheit, die Mauer soll weg! Sie begannen, sie abzureissen. Als die Mauer weg war, merkten sie, dass sie auf einer
Insel lebten. Die Mauer hatte sie beschützt, damit sie nicht ins
Meer stürzten, denn die Insel fiel links und rechts steil hinunter.
Von da an getrauten sich die Kinder nicht mehr zu spielen. Sie
standen nur noch in der Mitte der Insel und klammerten sich fest
aneinander.
Um das biblische Gesetz zu erklären, finde ich dieses Beispiel sehr
einleuchtend. Das Gesetz soll uns Halt und Schutz geben. Es will
uns nicht einengen, wie wir das immer meinen. Mit völliger Freiheit können wir gar nicht umgehen. Jesus wollte sagen, dass uns
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das Gesetz als Mauer und Schutz dient, damit wir einen Halt haben. Wenn wir das kleinste Gebot wegnehmen, macht es uns unfrei, weil wir nicht mehr wissen, wo unser Halt ist und woran wir
uns orientieren sollen. Um wirklich frei zu leben, brauchen wir
unsere Grenzen.
Als meine Kinder ganz klein waren, habe ich das Buch „Kinder
brauchen Grenzen“ gelesen. Das hat mir am meisten geholfen.
Wenn die Kinder keine Grenzen kennen und haben, ‚chömed sie
nömm druss‘ − verstehen sie nichts mehr! Ein Kind ist ein offenes
Wesen, das in alle Richtungen gehen möchte. Wenn es nicht
weiss, wo ein Stopp ist, versteht es nicht mehr, wie es zu leben
hat. So ist es auch mit uns Erwachsenen. Jesus sagt etwas ganz
Entscheidendes, das uns zuerst irritiert: Er sei nicht gekommen,
das Gesetz aufzulösen, da wir es brauchen, um uns sicher zu fühlen und uns im Leben orientieren zu können. Jesus ist gekommen,
um das Gesetz zu erfüllen. Erfüllen kann man im Griechischen mit
vollkommen zu machen oder vollenden übersetzen.
Jesus will das Gesetz nicht nur erfüllen oder ganz ausführen. Er
betont hier, dass er aus dem Gesetz noch eine höhere Qualität machen will. Was meint Jesus damit? Jesus betont: Ich bin gekommen. Was meint er mit dem ‚Ich‘? Wie geht er in seinen Worten
mit dem Gesetz um? Es gibt die bekannte Bibelstelle, in der Jesus
jemanden am Sabbat heilt. Sie steht ganz zu Beginn des MarkusEvangeliums, dem ältesten Evangelium, das den anderen Evangelien als Vorlage diente. Die berühmte Stelle über den Sabbat steht
im zweiten Kapitel. Jesus heilt jemanden und die Pharisäer kritisieren ihn, da er am Sonntag niemanden heilen darf. Jesus sagt
darauf: „Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, nicht
der Mensch des Sabbats willen“ Markus 2,27. Da geht es genau
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um diese Gesetzlichkeit. Die Pharisäer werfen Jesus vor, ein Jota
wegzunehmen, da er am Sabbat heile. Am Sabbat dürfe man nichts
tun. Die Vollendung von Jesus liegt darin, dass er das Gesetz ganz
genau kennt. Aber das letztlich Entscheidende ist, dass er in der
möglichst vollkommenen Liebe handelt. Das ist das allerhöchste
Gesetz aller Gesetze! Ich kenne und ich weiss genau, was ich gesetzlich tun soll und was nicht, ich halte mich auch daran, aber in
der Interpretation und der Auslegung des Gesetzes wähle ich das,
was als Vollendung darüber steht: die Nächstenliebe! Das ist die
Vollendung. Mit diesem Wissen wird das Leben nicht einfacher.
Vielleicht sogar komplizierter, weil wir beiden Ansprüchen gerecht werden möchten!
Paul Grüninger war während des Zweiten Weltkriegs Polizeihauptmann in St. Gallen. Unzählig vielen Juden half er über die Grenze
zu kommen, versteckte sie und gab ihnen einen Pass. Er verlor
dabei seinen Posten, bekam keine Pension und starb verarmt. Erst
vor wenigen Jahren wurde er reputiert. Er hat nach der harten Auslegung des Gesetzes das Gesetz gebrochen. Aber mit seiner Liebeshaltung hat er das Gesetz zur Vollendung gebracht und viele
Menschen gerettet. Unser Leben wird nicht einfacher wenn wir
beides im Auge behalten.
Die Reformatoren Zwingli und Luther haben beides gesehen und
waren teilweise auch sehr gesetzlich. Aber Jesus wollte den Weg
der Nächstenliebe gehen. Die Liebe, als höchstes Prinzip von Jesus bei der Ausübung des Gesetzes, auch wenn es bedeutet, dass
das Gesetz für einen kurzen Moment anders ausgelegt wird. Das
wollte er uns mitgeben. Das wollten auch die Reformatoren. Liebe
Gemeinde, ich hoffe, Sie verstehen, was hier gemeint ist. Es ist
nicht einfach damit umzugehen, weil wir mit unserem Gewissen
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oder einer Situation in Not geraten können. Dann müssen wir uns
auf das tiefste Erkennen, das uns Gott und Jesus geschenkt haben,
abstützen: den Heiligen Geist. Er ist in manchen Momenten da
und zeigt uns die richtige Mitte, zwischen dem genauen Halten der
Gesetze und der zehn Gebote, aber doch im Namen der Nächstenliebe, etwas tun zu müssen. Das letztlich Entscheidende ist, dass
wir Gott und Jesus bitten: Schenk uns diesen Geist, damit wir genau wissen, was wir tun müssen.
Manchmal bitten wir mit Furcht und Zittern. Aber wenn wir das
Gebet voller Vertrauen tun: „Gott, Jesus, ihr seid mit mir. Ihr seid
ganz, ganz fest mit mir. Ihr seid eins, in diesem Geist, den ihr mir
schenkt, deshalb kann ich tapfer vorwärts gehen. Und vielleicht
mach ich etwas falsch, aber mit ganzer Ehrlichkeit und ganzem
Vertrauen möchte ich das tun.“ Dazu lade ich ein, es in unserem
Alltag zu versuchen und wahrzunehmen. Das ganz Entscheidende
ist, dass wir frühmorgens schon beten: „Herr Jesus, sei du mit mir.
Ewiger Gott, schenke mir deinen Geist, damit ich weiss, wo ich
hingehe.“ Lasst uns in Liebe Christen und Christinnen sein, da wo
wir leben. Von nun an bis in alle Ewigkeit. Amen.
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Psalm 46
Gott ist uns Zuflucht und Schutz,
eine Hilfe in Nöten, wohl bewährt.
Darum fürchten wir uns nicht, wenn die Erde schwankt
und die Berge wanken in der Tiefe des Meeres.
Toben mag, schäumen mag sein Wasser,
Berge mögen erzittern, wenn es sich bäumt. Sela
Eines Stromes Arme erfreuen die Gottesstadt,
die heiligste der Wohnungen des Höchsten.
Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken,
Gott hilft ihr, wenn der Morgen anbricht.
Nationen toben, Königreiche wanken,
er lässt seine Stimme erschallen, und die Erde erbebt.
Der HERR der Heerscharen ist mit uns,
eine Burg ist uns der Gott Jakobs. Sela
Kommt und schaut die Taten des HERRN,
der Entsetzen verbreitet auf Erden.
Der den Kriegen Einhalt gebietet
bis ans Ende der Erde,
der Bogen zerbricht, Speere zerschlägt
und Wagen im Feuer verbrennt.
Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin,
erhaben unter den Nationen, erhaben auf Erden.
Der HERR der Heerscharen ist mit uns,
eine Burg ist uns der Gott Jakobs. Sela
ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
St. Anna-Kapelle, St. Annagasse 11, 8001 Zürich
Gottesdienste: Sonntag 10.00 Uhr, Bibelstunden: Mittwoch 15.00 Uhr
Sekretariat St. Anna, Grundstrasse 11c, 8934 Knonau, Telefon 044 776 83 75

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