Osteopathie
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therapie Osteopathie Teil II Die Gründerväter und klinische Aspekte von Christian Hartmann Einleitung Nach der ausführlichen Beschreibung von A. T. Stills Philo sophie der Osteopathie im letzten Artikel werden nun zu nächst kurz jene zwei Osteopathen vorgestellt, die maßgeb lichen Anteil an der Weiterentwicklung der Osteopathie hat ten. Danach wird genauer auf Behandlungsphilosophie, Be handlungssetting, Untersuchung und Techniken eingegan gen. Der Artikel schließt mit einem Hinweis zur Indikation bzw. zur fachlichen Kooperation. Ich möchte hier betonen, dass es innerhalb der Osteopa thie bis heute keine verbindlichen Curricula, Definitionen und auch Terminologie gibt. Zwar bin ich um Neutralität bemüht, kann aber hinsichtlich klinischer Aspekte eine gewisse Sub jektivität nicht vermeiden. Stills Erben John M. Littlejohn (1865-1947) übertrug ab 1898 die bis dahin streng anatomisch bestimmte Anatomie auf die Phy siologie und transformierte die eher philosophischen Über legungen seines Lehrers Still mittels brillanter Forschungs arbeiten in die Wissenschaftssprache des 20. Jahrhunderts. Damit wurde er nicht nur zum Mitbegründer der modernen Biomechanik, seine Forschungsarbeiten belegten erstmals auch den über vegetative Reflexbögen vermittelten Zusam menhang zwischen Läsionen des Bewegungsapparats und viszeralen Erkrankungen. In seinem Werk „Psychophysio logie“ (1899) greift er zudem der modernen psychosoma tischen Medizin voraus. [10] Seine größte Leistung bestand aber darin, dass er trotz exzellenter analytischer Forschungs arbeit den Menschen niemals als ganzheitliches Wesen aus den Augen verlor und die Kernkompetenz der Heilung ganz im Sinne von Still stets einer nicht nachweisbaren schöpfe rischen Kraft im Menschen – er nannte sie „Lebenskraft“ – zuschrieb. Auch für Littlejohn war der Osteopath lediglich ein ausgezeichneter Handwerker mit der Aufgabe, optimale Rah 31 Physiotherapie med 2 | 2009 | | therapie menbedingungen für das Wirken der Lebenskraft zu schaffen. 1917 kehrte Litt lejohn nach England zu rück und eröffnete mit der British School of Osteopa thy (BSO) in London die erste und lange Zeit ein flussreichste OsteopathieSchule Europas. [11] Neben Still und Little john zählt William G. Sutherland (1873-1954) zu den drei Gründervätern der Osteopathie. 1900 hatte er beim Betrachten der Su Abb. 1: John Martin Littlejohn (1865-1947), „The Brain” unter den turen eines disartikulierten Gründervätern der Osteopathie. Schädels die Eingebung: „Abgeschrägt wie die Kie men eines Fisches …“ und schloss daraus auf eine feine rhythmische Atembewegung der Schädelknochen. In Selbst versuchen bestätigte er diese These und folgerte, dass trau matische Ereignisse, wie etwa die Geburt oder zahnmedizi nische Eingriffe, zu Läsionen innerhalb eines oder zwischen mehreren Schädelknochen führen können. Die daraufhin ein geschränkte Zirkulation des Liquors beeinflusst das Zentrale Nervensystem und begünstigt damit alle Arten organischer und funktioneller Störungen im Gesamtorganismus. Suther land erkannte Gehirn, Rückenmark, Liquor und Gehirnhäu te als eigenständiges, bis hinunter zum Sakrum reichendes Organsystem, in dem mittels feinster Palpation ein unabhän giger Primärer Respiratorischer Mechanismus (PRM) als die eigentliche Heilinstanz wahrnehmbar ist. Damit begründete der ehemalige Still-Schüler bereits in den 1930ern vollständig das Kraniosakrale Konzept als integralen Bestandteil der Osteopathie. [15] 1 Behandlungsphilosophie Die im Menschen stets auf harmonisch balanciertem Aus gleich basierenden Mechanismen sind an sich vollkommen und allein für die Heilung verantwortlich. Einschränkungen oder Erkrankungen stellen demnach keine Pathologien dar, sondern lediglich hyper- oder hypophysiologische Prozesse. [10] Der Osteopath sieht seine Aufgabe in der Verbesserung der anatomisch-physiologischen Rahmenbedingungen, da mit eben jene Prozesse durch das optimierte Fließen der Körperflüssigkeiten wieder in den normal-physiologischen Zustand gelangen und eine Heilung der betroffenen Gebiete bewirken können. [3, 14] Es wird kein Wert auf schnelle und unmittelbar messbare Verbesserungen einzelner Körperab Abb. 3: Die ausführliche Aufklärung der funktionellen Zusammen hänge ist wesentlicher Bestandteil jeder osteopathischen Behand lung. schnitte gelegt, vielmehr werden nachhaltige und integrierte Anpassungen in Bezug auf den Menschen in seiner Gesamt heit angestrebt. Da sich hierbei die sensitiv-intuitive Erfas sung des Gesamtorganismus gegenüber der analytischen Bewertung lokaler Vorgänge als weit überlegen zeigt, spielt die perzeptive bzw. palpatorische Wahrnehmung zusammen mit der ganzheitlich ausgerichteten Visualisierung des Kör pers eine überragende Rolle. [4, 5, 6, 8] Behandlungssetting Da es um die Behandlung eines lebendigen Wesens geht, ist es von größter Wichtigkeit, sich den dynamischen Verän derungen im Organismus optimal und zeitnah anzupassen. Dies gelingt, indem man möglichst viel manuellen Kontakt zum Patienten behält und erklärt, warum Osteopathie ein Be HANDeln im ursprünglichsten und besten Sinn ist und warum Behandlungspläne oder -geräte eine untergeordnete Rolle spielen. Eine Behandlung dauert normalerweise 40-60 Minu ten, bei Kindern 30-40 Minuten. Das Honorar beträgt je nach Ausbildungsstand und Erfahrung zwischen 60 und 100 Euro. Die einzelnen Behandlungstermine werden gewöhnlich zu 32 Abb. 2: William Garner Sutherland (1873-1954), Entdecker der Kraniosakralen Osteopathie Physiotherapie med 2 | 2009 | | therapie sammen mit den Patienten je nach individueller Einschät zung vereinbart, wobei selbst in Akutfällen selten häufiger als ein Mal pro Woche behandelt wird. Schließlich braucht der Körper Zeit, um in Ruhe auf die in ihn gesetzten Impulse zu reagieren und die daraus resultierenden Veränderungen zu integrieren. Im Idealfall wird jeder Patient bei jeder einzel nen Behandlung so wahrgenommen, als käme er zum ersten Mal. Sämtliche Untersuchungs- und Behandlungstechniken werden ausschließlich weich und mit absolutem Respekt vor den Geweben appliziert. Sobald der Patient über be handlungsbedingte Schmerzen oder Unwohlsein klagt, wird sich der Osteopath unmittelbar anpassen. Somit bestimmt nicht der Osteopath, sondern der Patient oder genauer ge sagt die palpatorisch gewonnene Information den Ablauf ei ner Behandlung. [4, 5, 6, 8] Die Untersuchung In der Osteopathie geht es stets um das Erfassen eines Men schen in seiner individuellen Gesamtheit und nicht um die analytische Befundung einzelner Körperteile. Folglich spie len das sorgfältige manuelle Untersuchen sämtlicher Organ systeme sowie das Erspüren des individuellen Heilpotenzi als gegenüber der übrigen, zumeist allgemeinmedizinisch durchgeführten Anamnese eine weitaus größere Rolle. Da bei erfolgt die allgemeine manuelle Untersuchung durch das sogenannte „Listening“ (Lauschen), das man sich grob als eine Art Sammeln qualitativer Gewebeinformationen bei in terpretationsfreiem Visualisieren vorstellen kann. Das gedul dige „Sich-Einstimmen“ auf sich selbst, den Patienten und den Behandlungsraum, eine entspannte (Selbst-)Wahrneh mung und vor allem das Sich-Lösen vom therapeutischen Erwartungsdruck sind Grundvoraussetzungen für eine gute osteopathische Untersuchung. [5, 6] Sämtliche Gewebe des Körpers neigen bei hyper- oder hypophysiologischen Zuständen oder Reizen zur Kontrak tion. Der Körper versucht diese mechanische Disharmonie gewöhnlich durch fasziale Ableitungen im Körper zu vertei len. Dieses Phäno men macht sich der Osteopath zunutze, indem er besagte Spannungen mit den Händen zu erspüren versucht. Beim initia Abb. 5: Kranio-fasziale Behandlung bei einem Neugeborenen. len Listening legt der Osteopath die Hände an den Körper des Patienten, um v.a. die faszialen Züge zu erkunden. Die sen Zügen folgt er mit seinen Händen bis zu den „soma tischen Dysfunktionen“ (alt: Primärläsionen), die sich häu fig entfernt von den eigentlichen Schmerzgebieten befinden. Hier erkunden die Hände dann beim lokalen Listening vor allem Mobilität und Motilität der betroffenen Organe, wobei gleichzeitig immer in den gesamten Körper gespürt wird. [5, 6, 8] Ein einfaches Beispiel: Ein Patient kommt mit persistie renden PHS-Beschwerden rechts, trotz bereits vor einem Jahr durchgeführter Akromionplastik. Das globale Liste ning ergibt Primärzüge zum rechten Oberbauch, zur rechten Schulter bzw. in Richtung Schädelbasis und Kopfgelenke. Auf Nachfrage gibt der Patient an, in den letzten Jahren immer wieder „mit dem Magen zu tun“ und vermehrt „haubenartige“ Kopfschmerzen gehabt zu haben. Weiß man, dass bei Ma gendysregulationen auch die fasziale Organhülle kontrahiert und kennt man die Faszienverläufe oberhalb des Magens, erklären sich nach kranial rechtslastig verlaufende Zugspan nungen. Da das Schultergelenk überwiegend durch Weich teile geführt wird, kann selbst eine minimale Veränderung der Schulter-Biomechanik auf Dauer eine PHS bewirken. Aus didaktischen Gründen erfolgt die Dokumentation ge wöhnlich in Bezug auf drei Körpersysteme: parietal, viszeral und kraniosakral. In den vergangenen Jahren rückt aber auch verstärkt die Befundung des fluidalen Systems in den Mittelpunkt, was den Entdecker der Osteopathie, A. T. Still, wohl besonders gefreut hätte, vermutete er doch bereits in den 1890ern im freien Fließen der Körperflüssigkeiten DAS Medium des natürlichen Selbstheilungsmechanismus. [14] 3 Dei Behandlungstechniken Abb. 4: Das sog. “Listening” oder “Lauschen” ins Gewebe. Osteopathen verfügen über ein enormes Repertoire an Techniken. Anfänger halten sich bei der Auswahl gewöhn lich an erlernte Leitlinien, erfahrene Osteopathen verlassen sich hingegen ausschließlich auf ihre Intuition. Osteopathen sind sich der Individualität von Heilungsprozessen bewusst, versuchen nicht, diese mit allzu harten oder schnellen Impul Physiotherapie med 2 | 2009 | | 33 therapie 34 Abb. 6: Myofasziale Entspannung der Lendenwirbelsäule. Abb. 7: Viszerale Technik sen zu beschleunigen und erhöhen dadurch die Wahrschein lichkeit einer nachhaltigen Integration. Besteht ein hohes Po tenzial, kann intensiver, schneller und struktureller gearbei tet werden, bei niedrigem Potenzial muss man entsprechend zurückhaltend vorgehen. Gerne werden strukturelle, funktio nelle oder energetische bzw. direkte und indirekte Techniken voneinander unterschieden. Diese Abgrenzung ist allerdings lediglich von didaktischem bzw. akademischem Wert, hän gen doch Struktur und Funktion aufgrund komplexer Regel mechanismen immer zusammen. Jede der nachfolgend auf gelisteten Techniken muss unter diesem Aspekt betrachtet werden: – Strain-/Counterstrain-Techniken: Durch kurze, geziel te Impulse werden „Antworten“ in den behandelten Gewe ben ausgelöst. [7] – Muskel-Energie-Techniken: Unterschiedliche METs ver bessern Tonus und Durchblutung der Muskulatur. [12] – High-Velocity-Low-Amplitude-Techniken (HVLA): Mit kleinen, schnellen Anwendungen wird die Position einer Struktur verändert. Hier besteht eine große Ähnlichkeit zu den historisch wesentlich jüngeren, weicheren chiro bzw. manualtherapeutischen Techniken. [4] – Faszien-Release-Techniken regen die Faszien dazu an, traumatische Muster selbst zu „entwirren“ (unwin ding). [13] – Viszerale Techniken verbessern die allgemeine Mobili tät und Motilität der inneren Organe gegenüber angren zenden Geweben. [1] – Kraniosakrale Techniken beseitigen Einschränkungen im Kraniosakralen System und harmonisieren den Pri märrhythmus. [16] 5 – „Intuitiv“-Technik: Häufig merkt man bereits bei der Palpation feine fluktuierende Bewegungen anatomischer Strukturen. In diesem Fall „reitet“ man mit den Händen auf den Geweben und folgt einfach nur dem Körper. Es gehört zu den bisher ungeklärten Phänomenen der Os teopathie, warum gerade diese „Technik“, insbesondere bei funktionellen Störungen, sehr erfolgreich ist. [8] enten und nach der Bewegungsqualität sämtlicher Gewebe in Bezug auf das Individuum in seiner Gesamtheit. Quan titative bzw. objektive Parameter wie etwa das Bewegungs ausmaß eines Gelenks spielen hierbei keine wesentliche Rolle. Behandlungsdauer und Behandlungserfolg richten sich ausschließlich nach dem subjektiven Empfinden des Pati Physiotherapie med 2 | 2009 | | Indikation und Kooperation Erinnern wir uns nochmals an Stills zentrale Aussage über die Osteopathie: „Gesundheit zu finden sollte die Aufgabe des Arztes sein. Krankheit kann jeder finden.“ Osteopathen geht es also vorrangig darum, normal-physiologische Pro zesse zu aktivieren und nicht selbst aktiv zu „heilen“ bzw. „gesund zu machen“. Insofern erübrigt sich eine Indikati Abb. 8: Miteinander statt Gegeneinander. onsfrage, da jeder Mensch von der Osteopathie profitieren kann, sei es im Rahmen einer adjuvanten Maßnahme bei pri mär schulmedizinisch indizierten Behandlungen (z.B. Che motherapie bei Tumorerkrankungen, Therapien bei syste mischen Erkrankungen wie MS oder ALS oder bei stabilen psychischen Krisen, intensiver Muskelaufbau nach schweren chirurgischen Eingriffen etc.) oder kausal (vor allem bei funk tionell oder psychosomatisch bedingten Beschwerden). Die medizinische Kunst aller an der Behandlung Beteiligten be steht – wie in jedem medizinischen Kontext – in der diffe PHYSIOTHERAPIE med therapie | | | IMPRESSUM renzierten Entscheidungsfindung, wann welche Maßnah men vorrangig sind. Dazu bedarf es der hierarchiefreien Kooperation sämtlicher Beteiligter – selbstverständlich einschließlich des Patienten! Nur so lässt sich dessen indi viduelles Heilpotenzial optimal nutzen und ein Behandlungs erfolg nachhaltig integrieren. Fußnoten Der amerikanische Osteopath John Upledger koppelte diesen Teil der Osteopathie aus und entwickelte ihn seit den 1970ern in Form der Kranio sakralen Therapie weiter. Ausführliches hierzu im entsprechenden Arti kel in der PHYSIOTHERAPIE med 01-2009. 2 Warum dies in den Vereinigten Staaten nicht mehr der Fall ist, erfahren Sie in der PHYSIOTHERAPIE med 3/2009. 3 Siehe auch PHYSIOTHERAPIE med 1/2009, S. 31-34 4 Für eine ausführlichere Beschreibung sei auf die einschlägige Fachlite ratur verwiesen. 5 Siehe Artikel PHYSIOTHERAPIE med 1/2009, S. 31-34 1 Verlag, Abo-Verwaltung und Anzeigenverwaltung KOMMUNIKATION & PUBLIKATION Verlag Dr. Daniela Belhadi Sternstrasse 12 a, 34123 Kassel Tel. 0561/57 99 336 Fax. 0561/570 92-10 E-Mail: [email protected] Redaktion Prof. Dr. Peter Michaelis Dr. Thomas Tischler Dr. Manfred Sturm Druck Grafische Werkstatt von 1980 GmbH, 34123 Kassel Erscheinungsweise 6 Ausgaben pro Jahr ISSN 1435-8441 Bezugsgebühr Jahresabonnement EUR 36,– incl. Mwst. Auslandzustellung EUR 48,– Einzelbezug EUR 9,– (alle Preise zzgl. Versandkosten) Copyright Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Photos übernimmt der Verlag keine Haftung. 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