Bertolt Brecht: Leben des Galilei
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Bertolt Brecht: Leben des Galilei
Bertolt Brecht: Leben des Galilei Die Wahrheit ist das Kind der Zeit, nicht der Autorität: Bertolt Brechts Untersuchung des Zusammenhangs von Wissen und Macht kann sich heute nicht mehr allein auf die Wissenschaft beziehen. Es gibt Probleme, die lassen sich in handliche Pakete verpacken und danach in öffentlichen Problemvermittlungsanstalten an interessierte Besorgnisträger preisgünstig abgeben. Theater verwenden als Grundlage dieser Operation vorzugsweise Stücke von Brecht, weil die immer so wunderbar problemorientiert sind: so auch dieses. Verhältnis von Wissenschaft und Politik? Tolles Thema, immer aktuell. Inquisition gleich staatliche Zensur, gleich böse? Passt auch immer; Ukraine, Russland, China etc. Et voila. Wir leben in einer Naissance und zwar in der digitalen Naissance, die sich vollzieht, ohne dass sie bewusst betrieben oder durch Ideale projektiert würde, stellt der Dramatiker Ulf Schmidt 2014 fest. Ein Wortspiel, das zum Verweilen einlädt. Was wird da heute, um ein Re- gekappt, neu geboren? Und was bedeutet das für unseren Blick auf den Renaissance-Menschen Galilei, dessen Bestätigung der kopernikanischen Wende die Erde vor 400 Jahren in kreisende Erregungen versetzte? Bei einem so vehement geschichtlich denkenden Autor wie Brecht ist der Vergleich zwischen historischem Material und theatraler Figur obligatorisch. Denken wir uns den Stoff als einen heutigen, wird vor allem eines offenbar: Die Verhältnisse haben sich seit Galileis und auch seit Brechts Zeiten gründlich geändert. Die Geschichte eines Wissenschaftlers, der für seine Thesen von der Kirche verwarnt und schließlich zum Schweigen gebracht wird, um seine Tage als Gefangener der Inquisition im Exil zu beschließen, ist heute ohne Übersetzung nicht mehr produktiv. Bertolt Brecht wollte seinen Galilei als Modell des Konflikts zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und wissenschaftlicher Wahrheitssuche verstanden wissen. Im antithetischen Zusammenprall von Empirie und Dogma erweist dabei die rationale Erkenntnis ihr revolutionäres Potenzial – Autorität und keine Wahrheit gehören zusammen, und ebenso gehören zusammen: Wahrheit und keine Autorität. Diesem Spannungsfeld des politischen Denkens wohnt eine zweite Dialektik des politischen Handelns inne, namentlich eine Dialektik der Angst: Furcht ist ein zentrales Motiv. Furchtlos begibt sich Galilei in die Höhle des Löwen, furchtlos trotzt er der Pest, Furcht vor dem Tod treibt ihn zum Widerruf und in der Furcht, die sich nur noch als solche ausgibt, in Wahrheit aber ironisch auf den Fortbestand der Subversion verweist, wird der Gegensatz zuletzt aufgehoben. So kann Angst also helfen, Macht zu unterlaufen, und fungiert zugleich als ihr wichtigstes Herrschaftsinstrument. Niemand käme auf die Idee zu behaupten, das sei heute prinzipiell anders. Shock and Awe, Schrecken und Ehrfurcht nannte der US-Generalstab eine der zentralen Taktiken des Dritten Golfkriegs. In feinerer Dosierung findet sich dieselbe Methode in den zivilen westlichen Gesellschaften unserer Zeit. Angst ist ein Mittel gesellschaftlicher Disziplinierung; sie bestimmt die Tagesordnung, rechtfertigt die Mittel. Doch in der digitalen Naissance geht Gewalt schon längst nicht mehr allein von Staaten aus. Die Mechanismen der Vereinnahmung gesellschaftlichen Wissens sind heute weitaus komplexer als noch vor 50 oder gar 400 Jahren. Auch die Inquisition hat sich, zusammen mit der Macht, dispersiv über die Millionen Kanäle der neuen digitalen Netzwelt verteilt. Die Furcht, der Galilei sich zu entziehen sucht, ist daher heute überall; die Rückzugsräume des Exils und Widerrufs sind uns genommen. In handliche kleine Pakete wird man dieses Problem nicht mehr verpacken können: Wie Galilei müssen heute wir alle entscheiden, wann und wovor wir uns fürchten wollen. Und wie er tragen wir mit jeder dieser Entscheidungen zur Neu-Geburt einer Welt bei, an deren Anfang wir erst stehen. AL