Bundesagentur kann Kürzungen kaum erwarten

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Bundesagentur kann Kürzungen kaum erwarten
Sozialistische Tageszeitung
65. Jahrgang/Nr. 236 ● Berlin-Ausgabe ● 1,80 €
Sonnabend/Sonntag, 9./10. Oktober 2010
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Heute mit neuem wochenND
Nobelpreis für Liu Xiaobo
Das Osloer Nobel-Komitee traf nach eigenem Bekunden eine »kontroverse Entscheidung«: Der Friedensnobelpreis 2010
geht an den 54-jährigen Liu Xiaobo, der
in China im Gefängnis sitzt.
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Lesestoff zum Wochenende: Interview mit Ronald Paris – Crossover hier und
anderswo: Gespräch mit Andrea Ypsilanti – Norman Paech zu Nahost – Wie
die beiden Deutschländer zu ihren Hymnen kamen – Streitfrage: Hat die EU
noch eine Existenzberechtigung – Landolf Scherzers Lobrede auf Günter Wallraff – und ein Ortstermin in Abbey Road zum 70. Geburtstag von John Lennon.
Bundesagentur kann Kürzungen kaum erwarten
BA verschickt Bescheide über Streichung des Elterngeldes, obwohl der Bundestag dem Vorhaben noch nicht zugestimmt hat
Derzeit erhalten Eltern im Hartz-IVBezug unangenehme Post von der
Bundesagentur für Arbeit. In einem
Schreiben werden sie über die anstehende Streichung des Elterngeldes informiert. Dabei haben bislang weder
Bundestag noch Bundesrat dem Vorhaben zugestimmt. Wie am Freitag
zudem bekannt wurde, sollen die Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IVBetroffene um maximal 20 Euro pro
Monat steigen.
Berlin (ND-Lambeck/Agenturen).
Die Bundesagentur für Arbeit (BA)
hat es offensichtlich eilig: Bereits
seit September verschickt sie Bescheide, die Hartz-IV-beziehende
Eltern darauf hinweisen, dass ihr
monatliches Elterngeld von 300
Euro ab dem 1. Januar 2011 gestrichen wird – oder wie es im Behördendeutsch heißt: »als sonstiges
Einkommen
angerechnet
wird«. Zwar plant die Bundesregierung tatsächlich die Streichung
des Elterngeldes für nicht berufstätige Hartz-IV-Bezieher. Doch bislang hat der Bundestag den dafür
notwendigen Gesetzesänderungen
noch nicht zugestimmt. Neben der
Streichung des Elterngeldes soll
auch das Übergangsgeld für Erwerbslose wegfallen, das den tiefen Fall vom Arbeitslosengeld I in
Hartz IV etwas abfedert. Zudem
soll der Rentenzuschuss für HartzIV-Betroffene dem Rotstift zum Opfer fallen.
Das Bundesarbeitsministerium
verteidigte am Freitag das Vorgehen der BA: Es handele sich um
einen »Vorgriff auf die geplante
und vom Bundeskabinett schon
gebilligte Gesetzesänderung«, sag-
Unten links
Die deutschen Bierbrauer leiden unter einem ungünstigen Leumund.
Auch Negativkampagnen in der Öffentlichkeit trügen zur Minderung des
Absatzes bei. Diese Beschwerdeführung ist ungerecht. Keine Branche
bekommt doch so viel Unterstützung
durch die Regierung höchstpersönlich! Nehmen wir nur bestimmte
wichtige Fragen. Etwa, wie man endlich der Langzeitarbeitslosigkeit entfliehen kann. Oder wie man seine
Gesundheit sichert. Oder wie man
mit den Arztkosten klarkommt. Wie
man überhaupt sämtliche Sozialkosten austarieren kann. Oder wie man
als Hartz-IV-Empfänger demnächst
die zusätzlichen, spendabel ausgeschütteten fünf Euro wertfördernd
anlegt. Bei all diesen Problemen geht
die Regierung, wie gesagt, mit sehr
gutem Beispiel voran. Sie hilft den
deutschen Brauern, sie stärkt den
deutschen Getränkehersteller. Indem
sie dem ächzenden deutschen Bürger
in vielen Lebensfragen eine klare
Antwort zuprostet: He, das ist aber
nun wirklich – dein Bier!
hades
www.neues-deutschland.de
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Postvertriebsstück / Entgelt bezahlt
Einzelpreise Ausland:
Österreich Mo-Fr 1,60 EUR/Sa 2,00 EUR
Slowakei 1,70/2,10 EUR
Tschechien 61/71 CZK
Polen 6,60/9,50 PLN
ISSN 0323-4940
Gutbezahlte Jobs werden hier selten angeboten.
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Ministeriumssprecher
Jens
Flosdorff. Dies habe computertechnische Gründe. Da es sich um
ein im Bundesrat nicht zustimmungspflichtiges Gesetz handele,
sei davon auszugehen, dass es am
1. Januar in Kraft trete. Sollte dies
nicht der Fall sein, könnten die Be-
troffenen im Februar mit Rückerstattungen rechnen.
»Bewilligen wir für Januar nach
den alten höheren Sätzen und das
Gesetz kommt durch, müssten wir
das Geld zurückfordern«, erläuterte eine Sprecherin der Bundesagentur. Sollte das Gesetz aber
Bombenanschlag auf
Kundus-Gouverneur
Bester Freund der Bundeswehr getötet
Der Gouverneur der afghanischen Unruhe-Provinz Kundus, Mohammad
Omar, und mindestens elf weitere
Menschen sind am Freitag bei einem
Bombenanschlag getötet worden.
Berlin (ND-Heilig). Omars Sprecher Faizullah Tauhidi berichtete,
die Bombe sei in einer Moschee in
Taloqan, der Hauptstadt der benachbarten Provinz Tachar, explodiert, als der Gouverneur und
weitere Gläubige dort beteten. Der
Polizeichef von Tachar, Schah Jahan Nuri, sagte der Nachrichtenagentur Reuters unmittelbar nach
dem Anschlag: »Die Lage ist chaotisch. Wir wissen nicht, ob es ein
Selbstmordanschlag war oder ob
die Bombe bereits in der Moschee
versteckt war.«
Die Region gehört zum nördlichen ISAF-Sektor, in dem die Bundeswehr das Kommando innehat.
Der getötete Gouverneur stammte
aus Taloqan. Er hatte sich stets
hinter die Operationen der Bundeswehr gestellt und ein härteres
Vorgehen gefordert. Auch den
Bombenangriff, den der deutsche
Oberst Georg Klein vor gut einem
Jahr befahl und bei dem vermutlich über 140 Afghanen umgebracht wurden, hat Mohammad
Omar wiederholt gerechtfertigt:
»Es war das Beste, was die Bundeswehr jemals in Kundus gemacht hat.« Immer wieder betonte
Omar, es seien fast ausschließlich
Taliban getötet worden. Das soll er
auch in einem Brief an die Bundesregierung behauptet haben, um
dann einigen Opfer-Familien kleine Dollar-Bündel in die Hand zu
stecken. Deutsche Debatten um
Entschädigungen fand er absurd.
Noch absurder, dass danach an einige Familien 5000 Dollar gezahlt
worden sind.
Omars radikale Einstellung hatte
vermutlich auch sehr persönliche
Ursachen. 2009 tötete ein TalibanKommando seinen Bruder. Der
Gouverneur schwor Rache. Jede
Operation gegen mutmaßliche Taliban fand seither seinen Beifall,
vor allem die nächtlichen Kommandoaktionen der USA.
Der nördliche ISAF-Sektor besteht aus neun Provinzen. Hier leben rund zehn Millionen Einwohner. Anfang des Jahres waren dort
rund 7500 ISAF-Soldaten stationiert, die USA verstärkten die
westlichen Besatzungstruppen unlängst um rund 5000 luftbewegliche Soldaten. Der Sektor galt lange
Zeit als relativ friedlich. In den
vergangenen Jahren ist die Gewalt
jedoch auch hier extrem angestiegen. Erst am Donnerstag war ein
deutscher Soldat bei
einem
Selbstmordanschlag in der Provinz
Baghlan ums Leben gekommen.
Für ihn findet heute eine Trauerfeier statt. Anschließend soll der
Tote nach Deutschland geflogen
werden.
Kommentar Seite 8
Foto: dpa/Burgi
scheitern oder noch verändert
werden, erhielten die Empfänger
eine Nachzahlung. Die Behörde
praktiziert das bereits seit September so.
Nach Angaben der BA sind davon insgesamt 300 000 Familien
betroffen. Vertreter der Kommu-
nen halten das Verfahren für
schlicht »rechtswidrig«, weil es
noch keine gültige Rechtsnorm für
die erlassenen Bescheide gebe. Die
»Süddeutsche Zeitung« zitierte am
Freitag aus einem Schreiben des
Städtetags an das Bundesarbeitsministerium: »Wir befürchten
enorme verwaltungsorganisatorische und ökonomische Auswirkungen aufgrund der Vielzahl der
zu erwartenden Widerspruchsund Klageverfahren.« Die Kommunen sind für die Bescheide mitverantwortlich, weil sie Leistungen
für Unterkunft und Heizung gewähren.
Am Freitag gab es eine weitere
Hiobsbotschaft für viele Hartz-IVBezieher. Die großspurig angekündigte Lockerung der Zuverdienstgrenzen entpuppte sich als
Luftnummer. Nur eine Minderheit
von Hartz-IV-Empfängern soll
künftig etwas mehr in der Tasche
behalten dürfen. Wer von ihnen
arbeiten geht, darf nach dem Willen der Koalition künftig maximal
20 Euro im Monat mehr erwarten
– zumindest bei einem eigenen
Einkommen von mehr als 800 Euro. Union und FDP einigten sich
am frühen Freitagmorgen in Berlin
auf die Neuregelung des Hinzuverdiensts. Von den insgesamt etwa
1,4 Millionen Hartz-IV-Aufstockern verdient ein knappes Drittel
zwischen 800 und 1000 Euro.
Künftig sollen vom eigenem Arbeitseinkommen zwischen 100
und 1000 Euro durchgängig 20
Prozent nicht mit der Grundsicherung verrechnet werden. Bisher
waren bei Verdiensten über 800
Euro nur 10 Prozent frei. In diesem Einkommensbereich bleiben
dem Betroffenen damit künftig
maximal 40 Euro im Monat vom
eigenen Verdienst übrig – 20 Euro
mehr als aktuell. Die ersten 100
Euro gibt es weiterhin ohne Abzug.
Ein schwacher Trost.
Kommentar Seite 8
Gastkolumne
An den Nöten eiskalt vorbeiregiert
Von Ulrich Schneider
Man könnte es für einen schlechten Scherz halten, wäre es nicht
bitterer Ernst. Fünf Euro sind es
nun also, die die Mächtigen den
Armen zugestehen wollen. Ein
»Heiermann«, wie der Volksmund
den Fünfer nennt. Wer bis heute
geglaubt hatte, schlimmer könnte
es beim Kleinrechnen des Regelsatzes nicht mehr kommen, ist eines besseren belehrt worden.
War es bisher das unterste Einkommensfünftel, das als Vergleichsgruppe für die Stütze diente, sind es nun nur noch die untersten 15 Prozent. Waren bisher
bereits Schmuck, Pauschalreisen,
Campingausrüstung und Fotokamera aus der Liste der Ausgaben
gestrichen, die man auch den
Ärmsten zugestehen mochte, werden nun auch noch Schnittblumen,
die Currywurst am Imbisstand, die
Gartenschere, Kosten für chemische Reinigung, die zwei Zigaretten am Tag und das Bier am Wochenende weggenommen.
Die Botschaft ist klar: Arme,
bleibt am Besten zu Hause. An unserer Gesellschaft braucht ihr jedenfalls nicht teilhaben. Selten
wurde ein Bundesverfassungsgerichtsurteil so offensichtlich und
dreist zugleich unterlaufen. Statt
sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie auch für Hartz IV-Empfänger Teilhabe wenigstens auf allerbescheidenstem Niveau gesi-
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Der 52-Jährige ist
Hauptgeschäftsführer beim Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Foto: Parität. GV
chert werden kann, übt sich die
Bundesregierung darin, auch noch
die letzten Reste an Lebensqualität
aus dem Alltag der Betroffenen zu
vertreiben.
Transparent sei die Rechnung,
freut sich die Regierung. Das ist
wohl wahr. Und jeder, der es bisher nicht glaubte, kann es nun
nachrechnen: Hartz IV ist Armut.
Von Hartz IV leben zu müssen,
heißt »abgehängt« und ausgegrenzt zu sein, nicht dazuzugehören. Und zwar nicht abstrakt und
theoretisch, sondern ganz handfest und konkret. Im Regelsatz finden sich monatlich 6,93 Euro etwa
für Windeln, 29 Cent für einen
Sprachkurs, 1,10 Euro für Sportartikel oder 2,14 Euro für den
Theaterbesuch. Jugendliche bekommen ganze 70 Euro im Jahr für
Schuhe zugestanden, ein 14-jähriges Mädchen bekommt 2,87 Euro
im Monat für den Friseur, zum
Ausgehen mit ihren Freunden stehen ihr ganze 4,78 Euro zur Verfügung.
Statt zu schauen, was ein Kind
braucht, versteckt Politik sich hinter der Statistik. Wenn Politiker
solche Zahlen aber nicht hinterfragen und sie nicht auf ihre Wirklichkeitsnähe
hin
überprüfen,
könnte man Politik auch ganz den
Statistikern überlassen. Nicht besser wird es, wenn die Arbeitsministerin dann auch noch darauf
verweist, dass ein höherer Regelsatz gegenüber den Arbeitenden
mit kleinem Einkommen kaum zu
rechtfertigen sei. Ein letzter Versuch, wenn alle anderen Argumente zerbröseln: Spielen wir doch die,
die es schwer haben, gegen die
aus, die noch ärmer dran sind.
Karlsruhe hat aber eine klare
Sprache gesprochen: Es geht um
das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben. Es geht um
das Existenzminimum und ein
Mindestmaß an Teilhabe, das jedem Menschen in unserem Land
zusteht. Bei einer sach- und realitätsgerechten Berechnung würde
das
Bundesarbeitsministerium
nicht auf 364 Euro sondern auf einen Erwachsenenregelsatz von
über 400 Euro kommen. So aber
wird an den Nöten der Menschen
und insbesondere der Kinder in
unserem Land eiskalt vorbeiregiert. Die Pläne der Regierung
werden in dieser Form kaum Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht haben.