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TITEL
MAI 2013
Foto: Eike Böttcher
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NEUE CHORZEIT
Grundeinsingen für alle!
Eine musikalische Sozialutopie feierte Uraufführung auf einer
Berliner Theaterbühne und tourt nun durch die Republik
as wäre, wenn man,
frei von materiellen
Sorgen und beruflichem Stress, nur noch eine
Aufgabe hätte, nämlich in der
Gemeinschaft zu singen? Für
leidenschaftliche HobbychoristInnen wäre es wohl das
Paradies: Sie könnten nach
Herzenslust proben und auftreten, und sie würden – unabhängig von Leistungen, Honoraren oder Erlösen bei Konzerten – ein existenzsicherndes Einkommen beziehen, ohne dabei den Druck des Berufschorsängeralltags zu haben.
Bernadette La Hengst hat
solch einen Ansatz auf die
Bühne gebracht: Am 28.
März wurde in den Berliner
Sophiensaelen ihre szenische Vision „Bedingungsloses Grundeinsingen“ uraufgeführt. Das eigentliche Thema geht jedoch viel weiter –
und klingt im originellen Titel
bereits an: Es ist das „bedingungslose
Grundeinkommen“, das die Piratenpartei in
W
ihr Wahlprogramm aufgenommen hat und das jahrhundertelang weltweit immer wieder von Philosophen,
Ökonomen und Parlamentariern diskutiert wurde.
Die Idee, jedes Mitglied an
den Einnahmen der Gesellschaft ohne Prüfung der Bedürftigkeit und ohne Bereitschaft zur Erwerbstätigkeit zu
beteiligen, nennt man hierzulande mitunter auch Sozialdividende, Existenzgeld, solidarisches Bürgergeld, negative
Einkommensteuer oder Bandbreitenmodell.
Testlauf in Namibia
Obwohl in westlichen Industrieregionen heute die finanziellen Möglichkeiten für derartige Transferleistungen gegeben wären, gibt es kaum
Feldversuche. Hingegen haben Länder wie Brasilien und
die Mongolei durchaus ernsthafte Bemühungen unternommen und nationale
Fonds eingerichtet. Im Januar 2008 hat Namibia einen
Testlauf gestartet: Die tausend Einwohner der Ortschaft Otjivero-Omitara bekamen ein Basic Income
Grant ausgezahlt. Zu einer
Ausweitung konnte sich die
Regierung letztlich jedoch
nicht entschließen.
Dieses Pilot- oder besser:
Politprojekt wird in der Inszenierung fiktiv auf die brandenburgische Provinz übertragen. Man behauptet, nunmehr den fünften Jahrestag
der Initiative zu begehen.
„Leider ist es nur ein Fake“,
gibt die Musikerin La Hengst
zu, die hier Autorin, Komponistin, Regisseurin, Dirigentin, Sängerin, Instrumentalistin, Schauspielerin und Moderatorin in Personalunion
ist. „Ich hätte die Sache gern
über zwei bis drei Jahre geführt und erforscht, aber ich
habe vergeblich nach einer
Stiftung gesucht, die das Vorhaben fördert.“
Singen fürs Grundeinkommen
So wird der unerfüllte
Traum vor Publikum simuliert
– und wirkt merkwürdig authentisch. Das liegt auch an
den Laiendarstellern, die in Alter, Herkunft, Ausbildung, Habitus und Präsenz sehr unterschiedlich sind, was oft irritiert. Sind sie sie selbst oder
spielen sie eine Rolle? Sieht
man eine „scripted“ Dokusoap
über eine Art Selbsthilfegruppe oder eher ein trashiges OffSpektakel aus der neuen Mitte?
Einzige Bedingung: Singen
Adrienne Goehler, die einstige
Berliner Kultursenatorin, ist
dabei, ebenso ein 20-jähriger
IT-Techniker und ein 60-jähriger Ehrenamtsaktivist, die
Frontfrau der Band „Madonna
Hip Hop Massaker“ und ein
Künstler aus Kamerun. Sie alle
wurden, so täuscht der Plot
vor, seit fünf Jahren mit monatlich tausend Euro unterstützt, an deren Erhalt nur ei-
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Foto: Christiane Stephan
Foto: Eike Böttcher
NEUE CHORZEIT
Der Agitationschor der Laiendarsteller
ne einzige Bedingung geknüpft war – das gemeinsame Singen, dessen Resultate
sie jetzt in einer Gala präsentieren.
Chorkenner werden die
Täuschung schnell erkennen,
denn sowohl klanglich als
auch gruppendynamisch wirkt
der Amateurchor nicht wie ein
über Dauer zusammengewachsenes Team.
„Chorisches Coaching“
Aber das ist auch schon der
einzige – wenn auch ein wesentlicher – Kritikpunkt: Die
Grundannahme wird nicht
ernst genommen! Dabei heißt
es im Untertitel „Ein chorisches Coaching“! Aber gerade
jenes erlebt man nicht. Gezeigt wird nicht, was das gemeinsame Singen mit uns machen kann, wenn es die wichtigste, womöglich einzige oder
letzte Betätigung ist, und was
wir wiederum mit dem Singen
machen können …
Beim „Einsingen“ zu Beginn
der angeblichen Jubiläumsfeier studieren alle Anwesenden
das dreistimmige Lied von den
„Bedingungen der Bedingungslosigkeit“ ein. „Dadurch
kann sich jeder äußern und bekommt Stimme und Resonanz.“ Die Teilnehmer erweisen sich auch in der Folge und
bis zum offiziellen „Aussingen“ als erstaunlich bereitwillig und beharrlich. Sicher liegt
es auch an den eingängigen
Songs, den klugen Texten, der
kraftvollen Interpretation und
der rockigen Gitarrenbegleitung, die die „bedingungslose
Chorleiterin“ aufbietet. Die
zwischen Gospel, Soul und Pop
changierenden Arrangements
stammen aus ihrer Feder, die
Worte hat sie bei den Begegnungen gesammelt, die der
Stückpremiere vorangingen.
„Diskotieren“ mit der
„Agitationschanteuse“
Bei diesen Zusammenkünften
„diskotierten“ Fachleute und
Gäste über Verteilungsmechanismen, redeten – und
trällerten. So entstanden
Tracks wie „Wir singen zur
Senkung der Arbeitsmoral“,
„Lust am Verlust“ oder „Ecommony“ über das alternative
Wirtschaften durch Austauschen. Die Abstraktheit der
Begriffe amüsiert. Wer vertont schon den Terminus „On-
Die „Grundeinkommensbezieher“ um Bernadette La Hengst
togenese“? Akustisch bewältigt, verliert sich jedenfalls die
Angst vor der Theorie. Überhaupt wird man mit Fakten
und Argumenten konfrontiert, die den Denkhorizont
um einige Ecken erweitern.
Die „Agitationschanteuse“
La Hengst provoziert mit ihren
Performances. Seit sich ihre
Band „Die Braut haut ins Auge“ 2000 aufgelöst hat, ist sie
als Solistin und Theatermacherin unterwegs – und zugleich allmählich wieder zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. In
ihrer Heimatstadt Bad Salzuflen sang sie als Kind im Chor,
sowohl in der Schule als auch
in der Kirche, wo der Organist
offen für moderne Einflüsse
war und selbst komponierte.
Zeitweise leitete sie sogar eine
Gruppe von Gleichaltrigen.
„Die Kraft, im Chor zu singen,
hat mich nie losgelassen, das
hat mich sozialisiert.“
Als Mitglied des „Schwabinggrad Balletts“, einer Straßenaktionstruppe, benutzte
La Hengst zunehmend chorische Mittel. „In den letzten
zehn Jahren habe ich dann in
meinen Stücken oft Chöre eingesetzt.“ So bildete sie für die
„Bettleroper“ einen Obdachlo-
senchor, formierte für die
Kampfoperette „Planet der
Frauen“ einen knapp 30-köpfigen Damenchor, rekrutierte
für „Integrier mich, Baby“ ein
Ensemble aus Schülern mit
Migrationshintergrund und
übte unlängst in Mecklenburg
einen „Beschwerdechor“ ein.
Neue Kandidaten gesucht
Das „Bedingungslose Grundeinsingen“ geht übrigens
demnächst auf Tournee. Am
9. und 11. Mai gastiert es in
der Schwankhalle Bremen,
Anfang Juli beim Impulse-Festival NRW im Prinz-RegentTheater Bochum und im September im Forum Freies Theater Düsseldorf und im Ringlokschuppen Mülheim an der
Ruhr. Auch Kampnagel Hamburg und das Theater Freiburg
stehen auf dem Plan. Bei diesen Vorstellungen tritt eine
Stammbesetzung auf, zusätzlich werden aber temporäre
Vor-Ort-Chöre gebildet, für
die noch Kandidaten gesucht
werden!
Kati Faude
Bewerbungen an:
[email protected] oder
[email protected]